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DEN GUTEN GEFÜHLEN IN DANKBARKEIT GEWIDMET INHALTSVERZEICHNIS Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 TEIL I NEUROBIOPSYCHOLOGIE DER EMOTIONEN Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 HARALD C. TRAUE und HENRIK KESSLER: Psychologische Emotionskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 GÜNTER KÄMPER: Emotionen bei Tieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 SUSANNE ERK und HENRIK WALTER: Funktionelle Bildgebung der Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 HENRIK WALTER: Liebe und Lust. Ein intimes Verhältnis und seine neurobiologischen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 TEIL II EMOTIONEN IN MEDIZIN UND PSYCHOLOGIE Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 GESINE SCHMÜCKER: Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit 118 CORD BENECKE und GERHARD DAMMANN: Unbewußte Emotionen 139 MICHAEL HÖLZER und HORST KÄCHELE: Emotion und psychische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 HARALD C. TRAUE und RUSSELL M. DEIGHTON: Emotionale Hemmung als Risikofaktor für die Gesundheit . . . . . . . . . . . . . 184 DIRK WEDEKIND und BORWIN BANDELOW: Krankhafte Gefühle. Angst und Depression aus psychiatrischer Sicht . . . . . . . . . . . . . 217 8 Inhalt TEIL III: PHILOSOPHISCHE UND KULTURELLE ASPEKTE DER EMOTIONEN Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 RUSSELL M. DEIGHTON und HARALD C. TRAUE: Emotion und Kultur im Spiegel emotionalen Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 MONIKA BETZLER: Vernunft und Leidenschaft. Zur Erklärung und Rationalität emotionaler Einstellungen . . . . 262 JAN SLABY: Sklaven der Leidenschaft? Überlegungen zu den Affektlehren von Kant und Hume . . . . . 287 ACHIM STEPHAN: Zur Natur künstlicher Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 ANHANG Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 VORWORT Dieser Band hat seinen Ursprung in einem interdisziplinären Kolloquium, das Achim Stephan im Sommersemester 2001 während seiner Zeit als Gastprofessor am Humboldt-Studienzentrum der Universität Ulm gemeinsam mit Henrik Walter aus der Abteilung Psychiatrie III des Universitätsklinikums organisierte. Zu unserer großen Freude war die Resonanz sowohl unter den Kollegen zahlreicher Fachrichtungen als auch unter den Studierenden so groß, daß wir uns entschlossen, die damals präsentierten Überlegungen nun in überarbeiteter Form und durch einige weitere Arbeiten ergänzt, einem größeren Publikum vorzulegen. Die Beiträge spannen einen Bogen von der Psychologie im allgemeinen, der Entwicklungspsychologie im besonderen und der Medizinischen Psychologie über die Biologie und die Neurowissenschaften bis hin zu Psychiatrie, Psychotherapie, Psychoanalyse und Philosophie. Der Band ist somit auch ein Zeugnis für die interdisziplinäre Leistungsfähigkeit der Universität Ulm. Doch nicht nur das Interesse der Teilnehmenden war groß – nicht minder ausgeprägt war die Bereitschaft, einander wohlwollend zuzuhören, und die Fähigkeit, über die eigenen Fachgrenzen hinaus kritisch mitzudenken. Dafür möchten wir allen Teilnehmern herzlich danken. Denn nur in einer guten Mischung dieser drei Elemente – Interesse, Wohlwollen und konstruktive Kritik – hat interdisziplinäres Arbeiten eine Chance. Stimmt die Mischung, wie es in Ulm der Fall war, dann bereitet interdisziplinäres Arbeiten richtig Freude. Osnabrück und Ulm im September 2003 Achim Stephan und Henrik Walter EINLEITUNG D ie vergangenen zehn Jahre wurden wiederholt als die „Dekade des Gehirns“ bezeichnet. Man könnte sie aber auch die „Dekade der Emotionen“ nennen, denn nie zuvor spielten Emotionen gleichzeitig in so verschiedenen Bereichen wie der Philosophie, Psychologie, Medizin sowie den Neuro- und Kognitionswissenschaften eine derart wichtige Rolle. Möglicherweise hat daran aber gerade die sich immens entwickelnde Gehirn-Forschung einen ganz erheblichen Anteil. Denn nicht zuletzt die dort erzielten Ergebnisse führten zu der Erkenntnis, daß den Emotionen auch in zahlreichen anderen, bisher unterschätzten Kontexten eine große Bedeutung zukommt. Noch bis Mitte der neunziger Jahre haben die Emotionen in vielen der oben genannten Disziplinen eher ein Schattendasein geführt. In der Philosophie interessierte sich über Jahrzehnte kaum noch jemand für Emotionen; sie galten als der vom rationalen Kern des Menschen abgespaltene Teil, den der vernünftige Part in angemessener Weise zu zähmen hat. Selbst das, was die Großen der Disziplin wie Descartes, Hume und Kant vor einigen Jahrhunderten über Emotionen beisteuerten, wurde in Forschung und Lehre wenig beachtet (wenn man einmal von der Tradition der Phänomenologie und Existenzphilosophie absieht). Auch für die Schwerpunktsetzung innerhalb der Psychologie läßt sich sagen, daß der Erforschung des Denkens (und Wahrnehmens) für lange Zeit der Vorzug gegenüber der des Fühlens gegeben wurde. Zwar gibt es in der Psychologie schon länger das Fach der Emotionspsychologie, dieses hatte sich aber in immer neuen Theorien über verschiedene Systeme von Basisemotionen oder Grundgefühle festgefahren. Neuen Schwung in die Emotionsforschung brachte dann vor allem die Neurowissenschaft. Einen großen Einfluß in der breiten Öffentlichkeit und in den Geisteswissenschaften hatten und haben die Arbeiten von Antonio Damasio, in der Grundlagenwissenschaft vor allem die Arbeiten von Joseph LeDoux. Auch andere Autoren könnte man hier nennen, wie etwa Richard J. Davidson oder Edmund Rolls. Im Unterschied zu den älteren philosophischen und psychologischen Emotionstheorien erhielt man neben Theorie, Verhalten und subjektiver Erfahrung nun einen weiteren Zugang zu den Gefühlen: nämlich über ihr materielles Substrat, wie etwa die Amygdala (Mandelkern) bei der Angstkonditionierung oder den orbitofrontalen Kortex bei dem Zusammenspiel von Vernunft und Gefühl. Während Damasio seine Theorien noch an hirngeschädigten Patienten entwickelte und LeDoux anhand von Experimenten mit Ratten, nahm sich Ende der neunziger Jahre dann die Gemeinschaft der funktionellen Bildgeber des Themas mit großem Enthusiasmus an – dokumentiert durch eine Flut an Publikationen. 12 Einleitung Die großen Hoffnungen, die sich derzeit mit nicht-invasiven Techniken wie der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRI) verbinden, hat auch die Arbeit vieler Psychologen verändert, die zunehmend psychologische (oder psycholinguistische) Fragestellungen in enger Kooperation mit Neurowissenschaftlern (oder in Personalunion als „Neuropsychologen“) bearbeiten. Ebenso nehmen eher theoretisch orientierte Psychologen und Philosophen die derzeitige Entwicklung zum Anlaß, klassische Ansichten über Emotionen im Lichte des neuen Wissens zu überdenken. Auch viele Psychotherapeuten heißen die Erkenntnisse der Neurowissenschaften willkommen – unter dem vielleicht selbstgerechten, aber durchaus zutreffenden Motto: Haben wir nicht immer gesagt, daß Emotionen und Unbewußtes wichtig sind? Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in der Künstlichen Intelligenzund Robotik-Forschung. Bestimmte die Orientierung an logischen Kalkülen die Anfänge der Forschung – man denke nur an den „General Problem Solver“ –, so hat sich inzwischen herausgestellt, daß künstliche „autonome Agenten“ über so etwas wie gefühlsanaloge Bewertungsmechanismen und motivationale Module verfügen müssen, um auf unvorhergesehene Situationen adäquat reagieren zu können. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Emotionen und Gefühlen in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen endlich wieder das Forschungs-Interesse zuteil wird, das sie verdienen. Der vorliegende Band möchte ein größeres Publikum an dieser Entwicklung teilhaben lassen und eine aktuelle Einführung in das weite Gebiet der Emotionsforschung in Philosophie, Psychologie, Biologie, Medizin und Neurowissenschaft geben. Vollständigkeit konnte leider nicht unser Ziel sein. Die Diskussion schreitet einfach zu rasch voran, als daß wir sie mit der üblichen Trägheit einer Buchpublikation einfangen könnten. So hat sich seit unserem Seminar im Jahre 2001 inzwischen das Gebiet der „Social Neuroscience“ herausgebildet. In diesem Feld werden die neuronalen Grundlagen des Sozialverhaltens untersucht, und es weist große Überlappungen mit der „Affective Neuroscience“, der Neurowissenschaft der Emotionen auf.1 Auch im Bereich der Philosophie ist die Entwicklung nicht stehen geblieben.2 1 Dies wird besonders deutlich an dem kürzlich von John T. Cacioppo, Gary G. Berntson, et al. herausgegebenen voluminösen Reader Foundations in Social Neuroscience (2002), der 82 Originalarbeiten enthält und einer neuen Forschungsrichtung Bahn bricht. Ein guter Übersichtartikel ist Ralph Adolphs “Cognitive Neuroscience of Human Social Behavior” in Nature Reviews Neuroscience 1 (2003), 165-178. 2 Ein hervorragendes Buch zur Phänomenologie der Emotionen ist Aaron Ben-Ze'evs The Subtlety of Emotions (2000). Zur Bedeutung der Emotionen im Bereich der Moralität vgl. man das von Sabine Döring & Verena Mayer herausgegebene Buch Die Moralität der Gefühle (2002) sowie das von uns parallel zu diesem Band konzipierte Buch Moralität, Rationalität und die Emotionen (Ulm 2003), das in Kürze erscheinen wird. Einleitung 13 Die Beiträge in diesem Band lassen sich in verschiedener Weise gliedern. So ließen sich einführende Texte denen gegenüberstellen, die eher spezifische Themen diskutieren. Wir haben uns jedoch dazu entschlossen, Einführungen und spezifische Texte themenbezogen zusammenzustellen: Der erste Teil dient einer Einführung in den Wissensstand über Emotionen aus neurobiologischer und psychologischer Perspektive. Auf einen Überblick über psychologische Emotionstheorien folgt ein Beitrag über entwicklungsbiologische Aspekte der Emotionen. Ferner werden erste Ergebnisse über die Lokalisierung der an emotionalem Verhalten beteiligten Gehirnareale mit Hilfe nicht-invasiver Techniken vorgestellt und ein Einblick in die neurochemischen Grundlagen emotionalen Verhaltens am Beispiel von Lust und Liebe gegeben. Der zweite Teil thematisiert Emotionen aus entwicklungspsychologischer, psychotherapeutischer, psychiatrischer und medizinpsychologischer Blickrichtung. Auf eine Studie zur frühkindlichen emotionalen Entwicklung folgen zwei psychoanalytisch orientierte Beiträge über unbewußte Emotionen und psychische Strukturen. Die folgenden Arbeiten beschäftigen sich mehr mit der Schattenseite von Emotionen und lassen erkennen, wie ungünstig sich Emotionen auswirken können, wenn sie als Depression und Angst erlebt werden oder durch Hemmung zur Entstehung von Krankheiten beitragen Ein kulturvergleichender Beitrag und drei philosophische Aufsätze bilden den Inhalt des abschließenden Teils. Während der erste Text die kulturelle Abhängigkeit unseres emotionalen Erlebens beschreibt, stehen im zweiten Beitrag vor allem empfindungstheoretische und kognitive Theorien der Emotion auf dem philosophischen Prüfstand. Der dritte Text plädiert für eine an Kant orientierte Kontrolle der Emotionen durch die Vernunft. Schließlich wird eine philosophische Analyse unterschiedlicher künstlicher Gefühle geboten, die uns auf eine notorische Schwierigkeit für die Philosophie des Geistes – das Qualia-Problem – verweist. Vielleicht wird der geneigte Leser beim Studium der einzelnen Beiträge bemerken, daß die von uns vorgenommene disziplinäre Einteilung nur eine Schwerpunktsetzung bedeutet und die „Zuständigkeit“ von Disziplinen durchlässig ist. Die gegenwärtige „Themen-fokussierte“ Forschung kann auch gar nicht mehr in den alten Disziplingrenzen verharren – sie erfordert transdisziplinäres Denken. Jedem der drei Teile ist eine kurze Einführung vorangestellt, in der die Inhalte der einzelnen Beiträge näher erläutert werden. Wir würden uns freuen, wenn die Texte dazu beitragen, daß sich möglichst viele Leser mit der faszinierenden Welt der Emotionen weiter beschäftigen werden. Wir wünschen viel Spaß dabei! TEIL I NEUROBIOPSYCHOLOGIE DER EMOTIONEN EINFÜHRUNG D er erste Teil dieses Bandes gibt eine Einführung in den Wissensstand über Emotionen aus neurobiologischer und psychologischer Perspektive. Auf einen Überblick über psychologische Emotionstheorien folgt eine mit neuroanatomischen Befunden einhergehende Darstellung entwicklungsbiologischer Aspekte der Emotionen. Es werden neuere Ergebnisse über die Lokalisierung der an emotionalem Verhalten beteiligten Gehirnareale mit Hilfe nicht-invasiver Techniken vorgestellt und ein Einblick in die neurochemischen Grundlagen emotionalen Verhaltens am Beispiel von Lust und Liebe gegeben. Traue und Kessler: Psychologische Emotionskonzepte. Für lange Zeit stand in der Psychologie die Erforschung des Kognitiven (Denken, Wahrnehmen und Handeln) im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses. Wie sich in neueren Untersuchungen gezeigt hat, sind jedoch Urteilsbildung und Verhaltenssteuerung stärker von emotionalen Prozessen abhängig, als man bisher dachte. So überrascht es nicht, daß Emotionen auch in der Psychologie – nicht zuletzt unter dem Schlagwort der „emotionalen Intelligenz“ – zu einem ernsthaften wissenschaftlichen Gegenstand avancierten. In ihrem einführenden Überblick charakterisieren Traue und Kessler Emotionen oder Gefühle als gestalthafte Grundphänomene menschlichen Verhaltens, denen in der Regel die folgenden Merkmale zukommen: Sie sind subjektiv erlebte, häufig auch sprachlich repräsentierte Bewertungen von inneren und äußeren Stimuli, die im ganzen Körper, besonders aber in Mimik und Gestik, ihren Ausdruck finden, mit physiologischen und endokrinologischen Aktivierungen einhergehen und (häufig: kognitiv kontrolliert) Handlungen bereitstellen bzw. auslösen. Die unbestreitbare Komplexität des Gegenstandes findet in einer Vielzahl von theoretischen Annäherungen ihren Ausdruck, die sich fünf unterschiedlichen Traditionen (Darwin, James-Lange, Cannon-Bard, SchachterSinger, Freud) zuordnen lassen und in sieben Varianten vorliegen, nämlich als Expressionstheorie, Aktivationstheorie, Kognitions-Aktivationstheorie sowie als neurobiologische, psychoanalytische, systemtheoretische und adaptive Reizverarbeitungstheorie. Nach einem Überblick über diese Theorien bieten Traue und Kessler eine integrierende Zusammenfassung dessen, was derzeit als minimaler Konsens unter psychologischen Emotionstheorien gelten kann. 18 Einführung Kämper: Emotionen bei Tieren? Das sehr differenzierte menschliche Gefühlsleben ist wie alle physiologischen und neuronalen Funktionen des menschlichen Organismus das Ergebnis einer langen evolutionären Entwicklung. Es erscheint deshalb sinnvoll, Emotionen als Verhaltensparameter anzusehen, die im Laufe der Phylogenese allmählich an Komplexität gewonnen haben. Beim Menschen ist das limbische System entscheidend an der Emotionsregulation beteiligt. Es zeigt sich, daß fast alle Zwischenhirnbereiche dieser Struktur bereits bei niederen Wirbeltieren wie den Knochenfischen ausgebildet sind. In der über die Amphibien, Reptilien, Vögel und Säuger aufsteigenden Reihe der Wirbeltiere gewinnen zunehmend auch die limbischen Endhirnareale an Komplexität. Vermutlich haben Hirnstrukturen, die zu Emotionen befähigen, einen großen Selektionsvorteil geboten. Kämper spannt in seinem Beitrag einen Bogen von Berichten über tierisches Verhalten, das mit Emotionen einherzugehen scheint, bis hin zu Studien über die neuronalen Grundlagen dieses Verhaltens. Auch wenn bei der Zuschreibung von Emotionen an Tiere Vorsicht geboten ist, da wir oft geneigt sind, Emotionen, die bei uns mit bestimmten Verhaltensweisen einhergehen, schon dann anderen Lebewesen zuzuschreiben, wenn diese sich bloß ähnlich verhalten, sind einige Übereinstimmungen im Verhalten so stark, daß sie die Annahme emotionalen Erlebens zumindest sehr wahrscheinlich machen. Die systematische Erforschung der neuronalen Korrelate emotionalen Verhaltens ist freilich nur sehr eingeschränkt möglich; Kämper berichtet über einige Resultate der Angstforschung sowie über Selbstreizungsexperimente bei Tieren. Erk und Walter: Funktionelle Bildgebung der Emotionen. Die von Kämper vorgelegte neuroanatomische Sicht auf die für Emotionen relevanten Hirnareale findet bei Erk und Walter eine Vertiefung. Anknüpfend an LeDoux werden ein schneller subkortikaler und ein präziser kortikaler Pfad emotionaler Informationsverarbeitung unterschieden. LeDoux gewann seine Ergebnisse vor allem an furchtkonditionierten Ratten; jene sind – ebenso wie Untersuchungen an nicht-menschlichen Primaten – jedoch nur bedingt auf den Menschen zu übertragen. Bis vor wenigen Jahren war es allerdings nur sehr eingeschränkt möglich, etwas über diejenigen Bereiche des menschlichen Gehirns zu erfahren, die an unserem emotionalen Verhalten beteiligt sind. Lediglich Ausfallerscheinungen bei hirngeschädigten Patienten gaben erste Hinweise auf die Bedeutung einzelner Areale. Dies hat sich durch die Möglichkeit nicht-invasiver Techniken wie insbesondere der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) in den letzten zehn Jahren entscheidend geändert. Nun sind auch systematische Untersuchungen am gesunden Gehirn möglich. Erk und Walter geben eine Einführung in diese Technik und präsentieren erste Resultate, Einführung 19 die von verschiedenen Forschergruppen erzielt wurden. Eine besondere Beachtung finden abschließend fMRT-Studien über Areale, die bei moralischen Entscheidungen mit hohem emotionalen Anteil beteiligt sind. Walter: Liebe und Lust. Einleitend präsentiert Walter ältere Theorien, die dem Phänomen der Liebe erklärend zu „Leibe zu rücken“, darunter psychoanalytische, empirisch-psychologische sowie sozialkonstruktivistische Ansätze. Seine Konzentration gilt jedoch hauptsächlich den neurobiologischen Mechanismen von Lust und Liebe. Eine besondere Rolle kommt dabei insbesondere den Sexualhormonen zu. Die Auswirkungen von „Sexualhormonen“ wie DHEA, Testosteron, Östrogen, Progesteron, Pheromone und dem „Liebesmolekül“ PEA auf das Paarungsverhalten, sowie von Prolaktin Oxytocin und Vasopressin auf das Bindungsverhalten werden von Walter detailliert dargestellt. Es zeigt sich, daß es hier eher um hormonelle und neurochemische, denn um elektrophysiologische Prozesse geht. Walter legt großen Wert darauf festzustellen, daß Einsicht in die natürlichen Grundlagen unserer großen Gefühle diese nicht schmälern, sondern eher Bewunderung für die Komplexität unserer Natur erzeugen sollte. Harald C. Traue und Henrik Kessler PSYCHOLOGISCHE EMOTIONSKONZEPTE M cDougall, dem „grand old man“ der wissenschaftlichen Psychologie zufolge sind Emotionen gemeinsam mit Motiven die Energiequellen, „die Ziele setzen und die Richtung der gesamten menschlichen Aktivität bestimmen“ (1928, 3). Trotz dieser Bewertung kam die Emotionsforschung in der Psychologie lange Zeit nicht voran und wurde aus dem Kanon wissenschaftlich zugänglicher Themen ausgegrenzt, weil die Probleme bei der Erforschung emotionalen Verhaltens erheblich sind. Emotionale Phänomene sind nicht leicht zu fassen, sie verändern sich im Zeitverlauf, manchmal subtil, manchmal schnell und aufgrund verschiedener Stimuli, die sowohl aus dem Individuum selbst als auch aus der Umgebung kommen können. Untersuchungen im Labor haben besonders unter dem Problem der Abhängigkeit des Untersuchungsgegenstandes von den Untersuchungsbedingungen zu leiden: Je genauer und experimenteller die Untersuchungsbedingungen kontrolliert werden, um so stärker beeinflußt man den Untersuchungsgegenstand, das „emotionale Verhalten“. Vor allem die Spontaneität, ein wesentliches Merkmal vieler Emotionen, geht im Labor verloren oder kann nicht unter kontrollierten Bedingungen erzeugt werden. Hinzu kommt, daß die Welt der Gefühle in unseren westlichen Denktraditionen seit Descartes einen schlechten Ruf hat. Er habe leider nicht gesagt „Ich fühle, also bin ich.“, stellte Bruce W. Heller (1983) von der University of California einmal ironisch fest. Ob man der cartesianischen Philosophie mit dieser verengten Sicht wirklich gerecht wird, soll hier nicht weiter erörtert werden. Für die Schwerpunktbildung in der Psychologie in den vergangenen hundert Jahren kann man allerdings zu Recht behaupten, daß dem Denken der Vorzug gegenüber dem Fühlen gegeben wurde. Doch wie uns die Neurobiologie heute lehrt, sind Urteilsbildung und Verhaltenssteuerung weit mehr von emotionalen Vorgängen abhängig, als lange Zeit angenommen wurde. Dennoch haben Werturteile, die sich auf Gefühle stützen, im Alltag nur wenig Chancen, aufmerksam beachtet zu werden, als ob Gefühle eine primitivere Art der Urteilsbildung wären und damit menschliches in die Nähe tierischen Verhaltens rücken würden. Dabei haben die Menschen unter allen Spezies das komplizierteste und reichhaltigste emotionale Verhaltensrepertoire. Es wird übersehen, daß Emotionen von Gedanken und Gedanken von Emotionen stark beeinflußt werden, ja daß beide psychischen Psychologische Emotionskonzepte 21 Prozesse untrennbar miteinander verbunden sind. Emotionstheorien hatten in der Geschichte der Psychologie von je her eine starke Konkurrenz von kognitiven, rationalistischen und lerntheoretischen Konzepten. Als ein einflußreicher Theoretiker der Psychologie war Silvan Tomkins davon überzeugt, daß die Interaktion von Kognitionen und Gefühlen die treibende Kraft des Verhaltens ist („out of the marriage of reason with affect comes clarity with passion“). Tomkins (1962) formulierte damit einen psychologischen Sachverhalt, für den erst viel später Neurobiologen eine Erklärung finden sollten. Es gibt nämlich neurologische Patienten, die Schwierigkeiten haben, persönliche Entscheidungen zu treffen, obwohl ihre kognitiven Leistungen durch die Hirnstörung nicht beeinträchtigt sind. Sie leiden unter einer lokalisierten Hirnschädigung der neuronalen Verbindung zwischen präfrontalem Kortex und dem limbischen System – dem Ort der emotionalen Verarbeitung. Diese Verbindung sorgt für eine Beteiligung von Gefühlen an den meisten Denkvorgängen. Bei diesen Patienten aber bleiben die kognitiven Informationen gefühlsmäßig neutral, ihnen fehlt die emotionale Tönung. Dadurch sind die Betroffenen in ihrer Entscheidungsfähigkeit stark behindert, denn sie fühlen nicht mehr, was für sie „gut“ oder „schlecht“ ist, obwohl die Informationen logisch korrekt verarbeitet werden. Antonio Damasio (1994) gelangte aufgrund dieser Beobachtungen zu der Auffassung, daß Gefühle selbst für die Rationalität der Gedanken eine wesentliche Voraussetzung sind. Die traditionelle Vorstellung einer generellen Überlegenheit des Denkens gegenüber dem Gefühl kann nicht mehr aufrecht erhalten werden. Die Emotionsforschung hat dennoch in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt (vgl. z. B. Lewis & Haviland-Jones, 2000). Durch den Begriff der „Emotionalen Intelligenz“ ist ein vorläufiger öffentlicher Höhepunkt entstanden, der durch die Publikation von Daniel Goleman markiert wird. Durch die gewitzte Vereinnahmung der Intelligenz als gefühlsabhängig sind Emotionen hoffähig geworden: Die Emotionen besitzen demnach eine Intelligenz, die in praktischen Fragen von Gewicht ist. In dem Wechselspiel von Gefühl und Rationalität lenkt das emotionale Vermögen, mit der rationalen Seele Hand in Hand arbeitend, unsere momentanen Entscheidungen. Umgekehrt spielt das denkende Gehirn eine leitende Rolle bei unseren Emotionen. Dieses komplementäre Verhältnis von limbischem System und Neokortex, Mandelkern und Präfrontallappen bedeutet, daß all diese Instanzen vollberechtigt am Gefühlsleben mitwirken. Die Wirkungsweise dieser Hirnareale ist maßgeblich für die Steuerung unseres Gefühlslebens, und von ihr hängt es ab, ob wir emotionale Intelligenz besitzen oder nicht (Goleman 1995, 49). 22 Harald C. Traue und Henrik Kessler Ein anderer Motor für die zunehmenden Erkenntnisse sind die neurobiologischen Forschungen zum emotionalen Verhalten. Wie Pilze schießen neurobiologische Ergebnisse aus dem sumpfigen und fruchtbaren Boden emotionaler Vielfalt. Damasio hat mit den beiden Monographien Descartes’ Error. Emotion, Reason and the Human Brain (1994) und The Feeling of What Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness (1999) wichtige Befunde aus der Neurobiologie des emotionalen Verhaltens auch für fachfremde Wissenschaftler verfügbar gemacht, die in eindeutiger Weise dafür sprechen, daß Emotionen einen erheblichen Einfluß auf Entscheidungsprozesse ausüben und daß sich Menschen dieses Einflusses nur begrenzt bewußt sind. Gefühle als psychische Phänomene sind so allgegenwärtig, daß es Laien schwer fällt, die wissenschaftlichen Probleme mit der Welt der Gefühle zu verstehen. Auch wenn es keinen vollständigen wissenschaftlichen Konsens über Emotionen gibt und eine vollständige Objektivierung aller am emotionalen Erleben beteiligten Prozesse derzeit nicht möglich erscheint, kann man sich darauf einigen, daß Emotionen subjektive Erlebnisse sind, die in bestimmten Situationen von verschiedenen Personen in ähnlicher Weise empfunden werden. Offenbar bewerten Menschen Situationen durch ein inneres Erleben sehr differenziert, wobei auch innere Situationen wie Phantasien, Vorstellungen oder Erinnerungen der Gegenstand solcher Bewertungen sind. Diese Bewertungen unterbrechen Verhalten und leiten neue Handlungen oder Zustände ein. Unabhängig von der Dauer des Gefühls entsteht eine Handlungsbereitschaft. Gefühle bewirken eine Annäherung oder Abwendung von der ausgelösten Situation, die man sich nicht nur als äußere Bedingung sondern auch als innere Phantasie denken kann. Für Nico Frijda, den bekannten holländischen Emotionsexperten, macht das Gewahrwerden einer Handlungsbereitschaft den Kern vieler Gefühle aus: Individuen empfinden den Drang sich anzunähern oder abzuwenden, loszuschreien oder zu singen und sich zu bewegen, manchmal aber auch sich zurückzuziehen und nichts zu tun, kein Interesse mehr zu empfinden oder die Kontrolle zu verlieren (Frijda 1988, 351). Für manche Emotionen sind die Handlungsbereitschaften in verschiedenen Individuen sehr ähnlich. Freude ist ein angenehmes Gefühl mit starken Annäherungstendenzen an andere Personen, Sachen oder Zustände. Freude steuert sehr stark die Handlungsbereitschaft zur Bindung. In Form von Lust ist Freude eine äußerst starke, kontaktfördernde Emotion. Angst dagegen löst das Bedürfnis nach Vermeidung aus, aber auch die Suche nach Schutz. Wut und Ärger sind leidvolle Gefühle, die ein Bedürfnis nach Annäherung und Beseitigung der ärgerlichen Ursache erzeugen. Trauer ist eine starke Annäherung an eine Person oder ein Objekt, von dem man weiß, daß es Psychologische Emotionskonzepte 23 einem schon abhanden gekommen ist. Insofern ist Trauer das Auflehnen gegen einen endgültigen Verlust. Ekel und Verachtung lösen eine andere Form der Aversion als z. B. Angst aus. Es ist weniger die Bedrohung von außen als die innerlich erlebte, geradezu körperliche Widerwärtigkeit, die eine Vermeidung von Ekel oder Verachtung erregenden Situationen bewirkt. Andere Emotionen wie Eifersucht, Scham oder Schuld haben weniger eindeutige Handlungsbereitschaften; sie sind viel stärker von gedanklichen Konzepten abhängig als die eingangs erwähnten Gefühle. Das Empfinden von Scham setzt voraus, daß das eigene Verhalten oder das Verhalten nahestehender Personen mit einer Norm kollidiert, die zuvor als Teil des Wertesystems anerzogen und verinnerlicht wurde. Zwar weisen Situationen, die Schuld, Scham oder Eifersucht auslösen, Ähnlichkeiten auf, aber das sind Ähnlichkeiten höherer Ordnung. Meistens entstehen sie, wenn gegensätzliche Handlungsbereitschaften aufeinanderstoßen, Verhalten nicht mit Normen übereinstimmt oder durch Begegnungen zwischen Menschen gegensätzliche Gefühle ausgelöst werden (vgl. Traue 1998). Die angeführten Beispiele ermöglichen eine erste allgemeine Definition: Emotionen oder Gefühle sind gestalthafte Grundphänomene menschlichen Verhaltens, die erlebnismäßig beispielsweise als Freude, Angst, Scham oder Glück für ein Individuum unmittelbar evident sind, sich jedoch einer vollständigen wissenschaftlichen Analyse noch entziehen. Die Analyse emotionalen Verhaltens ist so schwierig, weil daran auf komplexe Weise verschiedene Systeme des Gesamtorganismus beteiligt sind, die auch für sich genommen nicht völlig verstanden werden. In einer groben Einteilung werden Emotionen von Stimmungen und Affekten abgegrenzt. Stimmungen sind überdauernde Zustände, die das individuelle Erleben in seiner Qualität färben, aber wenig intensiv sind. Emotionen sind nach dieser Einteilung dagegen umschriebene Erlebnisqualitäten, die sich aus den eher diffusen Stimmungen herauskristallisieren können oder durch innere oder äußere Reize ausgelöst werden. Affekte schließlich sind emotionale Zustände großer Intensität, die kurzfristig und mit großer Heftigkeit eine Person vollständig ergreifen und beherrschen. Emotionen stehen in enger Beziehung zu körperlichen Empfindungen wie Geschmack oder Geruch und zu motivationalen Zuständen. Während jedoch Motive als Hunger, Durst oder Sexualität zu zielgerichtetem Handeln führen, werden Handlungen von Emotionen eher unspezifisch unterbrochen oder modifiziert. Emotion und Motivation können aber auch als verschiedene Aspekte ein und desselben Prozesses gesehen werden. Für die vollständige Beschreibung von Emotionen sind die folgenden Komponenten ein nützliches Raster, wobei nicht jede Emotion eine Ausprägung (oder Veränderung) dieser Komponenten aufweisen muß: 24 Harald C. Traue und Henrik Kessler 1. 2. 3. 4. 5. Subjektives Erleben Sprachliche Repräsentanz Kognitive Bewertung von inneren und äußeren Stimuli Ausdrucksverhalten der Mimik, der Gestik und des gesamten Körpers Physiologische und endokrine Aktivierungen, die Anpassungsvorgängen und Reaktionen dienen 6. Kognitiver Entwurf von Handlungen und Handlungsbereitschaften Zu diesen Komponenten der Emotionen kommt die Annahme hinzu, daß Emotionen prozeßhaft verlaufen, also als eine zeitliche Folge von sich ändernden Zuständen beschreibbar sind. Mehr oder weniger explizit wird von den meisten Theoretikern ein phylogenetischer Ansatz vertreten, in dem die Evolution emotionaler Prozesse im Sinne einer sich verändernden UmweltOrganismus-Schnittstelle verstanden wird. Die Anpassungsleistungen besonders zwischen sozialer Umwelt und dem individuellen Menschen stehen dabei im Mittelpunkt emotionaler Prozesse. Insbesondere die motorischexpressive Komponente des emotionalen Verhaltens ist in dieser Interpretation zentral, weil mit ihr mögliche Handlungsbereitschaften und Intentionen des Individuums in seine soziale Umwelt hinein kommuniziert werden. Erst dadurch gewinnt das emotionale Verhalten seine regulierende Funktion über das Individuum hinaus. DIE WICHTIGSTEN EMOTIONSTHEORIEN Es gibt weder eine einheitliche Theorie der Emotionen noch eine interdisziplinär akzeptierte Definition. Die Komplexität emotionalen Verhaltens erfordert einerseits die Beteiligung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen am Forschungsprozeß, andererseits tragen die verschiedenen Konzepte dieser Wissenschaften, wenn sie auf Emotionen angewendet werden, zur Heterogenität einer Theorie emotionalen Verhaltens bei. Dieses Dilemma ist vorerst nicht auflösbar. Folgt man zusammenfassenden Übersichtsarbeiten über Emotionstheorien, so kann man die gegenwärtigen Theorien aufgrund ihrer gemeinsamen Wurzeln fünf Traditionen zuordnen. Die Fragen und Hypothesen zum emotionalen Verhalten sind dabei unterschiedlich, ebenso die Untersuchungsmethoden und Meßverfahren, um Hypothesen zu überprüfen. Außerdem überschneiden sich die Erklärungsbereiche des emotionalen Verhaltens. Dabei gewichten die verschiedenen Emotionstheorien die Komponenten unterschiedlich, und in manchen Emotionstheorien kommen einige Komponenten nicht vor. Wie wir sehen werden, kann man den Theorien ein integratives Konzept hinzufügen, das die jeweils betonten Aspekte berücksichtigt und die Gemeinsamkeiten herausarbeitet (Traue 1998; 1999). Psychologische Emotionskonzepte 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 25 Expressionstheorie Emotionen als Aktivation Neurobiologische Emotionstheorie Psychoanalytische Emotionstheorie Kognitions-Aktivationstheorie der Emotionen Systemtheoretische Emotionstheorie Emotionen als adaptive Reizverarbeitung Die EXPRESSIONSTHEORIE der Emotionen basiert auf evolutionären Annahmen (Darwin-Tradition). Sie sieht Emotionen als Anpassungsprozesse des Individuums auf der Ebene der Individuum-Umwelt-Schnittstelle, die einst starre Reiz-Reaktionsmechanismen entkoppeln und sie durch flexible, kommunizierbare Handlungs- und Reaktionsmuster ersetzen. Beteiligt sind motorische, peripher-physiologische und endokrine Aktivierungen, die wesentlich das subjektive Erleben und die nonverbalen Ausdrucksmuster determinieren. Der Expressionstheorie zufolge korrespondieren bestimmte physiologische, expressive und subjektive Muster mit diskreten Emotionen, deren Anzahl definiert und begrenzt ist. Für die Entstehung subjektiven Erlebens wird der Rückkopplung expressiver Muskelaktivität eine besondere Bedeutung zugemessen. Dieser besondere Punkt bedarf der Erläuterung: Man geht davon aus, daß mimisches Verhalten durch besondere Interozeption kontinuierlich abgetastet wird und das Individuum über seine Reaktionen informiert (facial feedback hypothesis; vgl. Levenson et al. 1990). Im Vordergrund der AKTIVATIONSTHEORIE (James-Lange-Tradition) stehen Muster der Aktivität des autonomen Nervensystems (ANS), die als Folge emotionaler Stimuli entstehen und von Individuen als Emotionen wahrgenommen und subjektiv erlebt werden. Obwohl diese Theorie wegen der „ungenügenden Differenziertheit“ des viszeralen Systems schon bald auf kritische Stimmen stieß, hat sie die psychophysiologische Forschung stark beeinflußt: Auf ihr basieren die Annahmen von Reaktionsstereotypien, die Grundlage der psychosomatischen Krankheitslehre sind. Ältere Studien arbeiteten mit starken emotionalen Reaktionen in ihren wissenschaftlichen Experimenten und konnten durch wenige Maße des autonomen Nervensystems erfolgreich Emotionen differenzieren. An der Replikation dieser Untersuchungen sind mehrere Forschergruppen in den USA und Deutschland beteiligt. Der Nachweis emotionsspezifischer ANS-Muster ist aber nicht nur konzeptuell schwierig, sondern auch, weil das ANS selbst sehr komplex ist und immer nur begrenzt vermessen werden kann. Die Muster der Gesichtsmuskelaktivität diskriminieren einige Emotionen hingegen sehr gut. Mehr als vegetative Maße sind sie auch als rückgekoppelte periphere Prozesse am subjektiven Erleben stark beteiligt. Neuere Methoden, die mit Hilfe von Kodiersystemen des Gesichtsausdrucks „reine“ Emotionen identifizieren konnten, erbrachten auch relativ robuste ANS-Patterns für verschiedene Emotionen (vgl. Stemmler 1984). 26 Harald C. Traue und Henrik Kessler NEUROBIOLOGISCHE EMOTIONSTHEORIEN (Cannon-Bard-Tradition) verstehen Emotionen als zentralnervöse Aktivität spezifischer Hirnstrukturen. Im Mittelpunkt steht dabei das limbische System mit seinen Verbindungen in den Kortex, aber auch die differentielle Bedeutung der linken Hirnhemisphäre für positive und der rechten Hirnhemisphäre für negative Emotionen (Hemisphärenlateralität). Während ursprünglich in dieser Theorie von Kernen im limbischen System ausgegangen wurde, die Emotionen in ihrer Gesamtheit steuern, zeigen Studien mit elektrischer Hirnstimulierung dissoziierte emotionale Reaktionen. Von solchen dissoziierten Reaktionen ist dann die Rede, wenn beispielsweise die auf diese Weise erzeugten expressiven Muster nicht mit dem subjektiven Erleben übereinstimmen, z. B. ein trauriger Gesichtsausdruck ohne die Empfindung von Traurigkeit. Strukturen innerhalb und außerhalb des limbischen System müssen deshalb als integrierendes Gesamtsystem gesehen werden. Ganz wesentlich organisiert das limbische System den Vergleich von sensorischer Information mit Gedächtnisinhalten (Walter 1999). In Abhängigkeit von früheren Bewertungen werden dabei Informationen in autonome und motorische Strukturen und in den Kortex gesendet. Daraus folgt, daß subjektives emotionales Erleben und behaviorale Komponenten der Emotionen den autonomen Reaktionen vorausgehen, sie begleiten oder ihnen nachfolgen können. Neben den neuronalen Hirnstrukturen werden die monoaminergen Systeme für die globale Regulation emotionalen Verhaltens diskutiert. Bestimmte Psychopharmaka (z. B. Antidepressiva) beeinflussen das serotonerge System und dämpfen damit Angst und depressive Zustände. Die gleichzeitige Aktivität des dopaminergen und des noradrenergen Systems durch Selbstreizung kann zu lustvollen emotionalen Empfindungen führen (vgl. Traue 1994). Für eine neurobiologische Basis bestimmter Emotionen sprechen auch Befunde, nach denen bestimmte Stimuli, die in der stammesgeschichtlichen Entwicklung als Gefahrensignale gedeutet wurden (wie beispielsweise Schlangen, Spinnen, dunkle Räume oder spitze Gegenstände), zu starken autonomen Reaktionen führen, die nicht oder nur wenig bei wiederholter Darbietung habituieren, obwohl diese Reizmuster heutzutage kognitiv als wenig relevant für den Alltag bewertet werden (prepared emotion). Als das Resultat konfligierender Triebenergien werden Emotionen von der PSYCHOANALYTISCHEN EMOTIONSTHEORIE (Freud-Tradition) gesehen. Die zentralen Aussagen sind: 1. Sinneswahrnehmungen des Organismus werden unbewußt bewertet und mobilisieren relevante Triebenergien. 2. Die aktivierten Triebenergien des „Es“ sind im Konflikt mit anderen Instanzen. 3. Ist wegen der Konflikthaftigkeit der ausgelösten Triebenergien keine Triebbefriedigung möglich, kommt es zu Emotionsausdruck, emotionalem Erleben und zu neurophysiologischen Veränderungen an Stelle von zielgerichtetem Handeln. Diese Phänomene beobachtete die Psychoanalyse vor allem am Beispiel der Angst. Psychologische Emotionskonzepte 27 Die aktuelle Emotionsdiskussion in der Psychoanalyse ist von einer Neuorientierung geprägt (vgl. z. B. Bucci 1995, d’Elia 2001). Einige Forschergruppen beschränken sich auf emotionale Inhalte in der Sprache der Patienten, manche orientieren sich an der Expressionstheorie und untersuchen kommunikative Strukturen, und wieder andere analysieren frühkindliches Bindungsverhalten. Als zentrale Idee der KOGNITIONS-AKTIVATIONSTHEORIE (SchachterSinger-Tradition) werden Emotionen als Interaktionen zwischen unspezifischer autonomer Erregung und kognitiver Bewertung dieser Erregung unter Berücksichtigung von Außenreizen verstanden (vgl. z. B. Reisenzein 1983; Cacioppo et al. 2000). Die am emotionalen Prozeß beteiligten Kognitionen enthalten Objekt- und Selbstrepräsentanzen, Schemata und Pläne, die zur unspezifischen Erregung und zu den sozialen Umgebungsbedingungen in Beziehung gesetzt werden. Die Kognitions-Aktivationstheorie bezieht die folgenden Überlegungen der Aktivationstheorie, der Theorie kognitiven Verhaltens und der Copingforschung in ihre Emotionsvorstellung ein. 1. Periphere physiologische Aktivität ist eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung für emotionales Verhalten. 2. Sind Personen peripher physiologisch erregt, suchen sie nach den Ursachen für diese Erregung. 3. Die Attributionen (Zuordnungen) zu solchen Ursachen sind aus Situationsmerkmalen und Kognitionen zusammengesetzt. 4. Die Kognitionen sind ein notwendiges Element und bestimmen die Emotionsqualität. 5. Emotionen sind das Resultat von Situationsbewertungen, nicht der Situation selbst. In der SYSTEMTHEORIE DER EMOTIONEN werden zwei Affektsysteme angenommen, ein System der Basisemotionen (primary affect system oder basic emotional system) und ein sozial-kognitives Emotionssystem (social emotional system). Die interindividuelle Stabilität, einheitliche Phänomenologie und subkortikale Auslösbarkeit sprechen sehr für ein System der Basisemotionen, das als Teil unseres stammesgeschichtlichen Erbes mit wesentlichen Überlebens- und Reproduktionsfunktionen beschrieben werden kann. Das sozial-kognitive Emotionssystem ist von kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig. Es zeigt dadurch eine erhebliche Variabilität. Es ist offenkundig, daß wir bestimmte Gefühle wie z. B. Angst oder Freude eindeutiger durch Mimik kodieren und erkennen können als andere Gefühle. Das Gefühl von Leidenschaft ist weniger gut an seinen expressiven Äußerungen zu erkennen. Legt man das mimische Verhalten für eine phänomenologische Analyse emotionaler Prozesse innerhalb einer Kultur oder im Kulturvergleich zugrunde, stößt man auf eine Liste primärer Emotionen. In einer viel beachteten Abhandlung von 1962 publizierte Tomkins eine Liste mit neun Basisemotionen. Er war damit nicht der erste, der von Basisemotionen sprach, wohl aber der einflußreichste. Daß verschiedene Emotionsforscher zu ähnlichen Beschreibungen der Basisemotionen gelangt sind, läßt auf die interindividuelle Übereinstimmung dieser Gefühle schließen. 28 Harald C. Traue und Henrik Kessler Erstens konnten zahlreiche interkulturelle Studien zeigen, daß Basisemotionen in einer Vielzahl ethnischer Gruppen als mimisches Verhalten beobachtbar sind (z. B. Ekman 1993). Das spezifische mimische Verhalten kann durch entsprechende Situationen ausgelöst werden, hat also ähnliche kulturunabhängige Bedeutungen und wird von Angehörigen verschiedener Kulturen entsprechend identifiziert, wenn man Bilder oder Filme mit mimischen Gesichtsausdrücken vorführt und bewerten läßt. Zweitens zeigen Studien zur frühkindlichen Entwicklung das sehr frühe Auftreten der meisten primären Emotionen im Ausdrucksverhalten. Freude, Trauer, Ärger und Furcht können schon unmittelbar nach der Geburt in den Gesichtern von Neugeborenen entdeckt werden. Mit diesem Ausdrucksverhalten kann bereits vom Säugling ein Kommunikationssystem mit seinen Bezugspersonen etabliert werden, ohne daß der Säugling damit die „Absicht“ verfolgen muß, spezifische Emotionen mitzuteilen. Welche kognitiven Prozesse daran beteiligt sind, entzieht sich mangels Sprache und Bericht weitgehend der wissenschaftlichen Analyse. Da dieses frühkindliche Ausdrucksverhalten jedoch schon in den ersten Wochen durch Gesichter von Bezugspersonen ausgelöst werden kann, sind komplexe Verarbeitungen der Erkennung und Reproduktion von Gesichtsmimik beteiligt. Das Ausdrucksverhalten selbst ist aber sicher angeboren, denn auch blind geborene Menschen haben das gleiche mimische Ausdrucksverhalten der Basisemotionen wie sehend geborene. Drittens führen bestimmte Läsionen des Kortex zu bestimmten Einschränkungen der willkürlichen mimischen Motorik. Ausdrucksmuster der Basisemotionen können aber dennoch entstehen. Umgekehrt bewirken Läsionen im extrapyramidalen System, z. B. der Basalganglien, eine Störung der spontanen mimischen Ausdrucksbewegungen, während willkürlich die Emotionen noch gezeigt werden können. Das zweite System, das als „sozial-kognitives Emotionssystem“ bezeichnet wird, ist hierarchisch über dem System der Basisemotionen angeordnet und beeinflußt dieses mit Hemm- und Verstärkungsmechanismen (Traue 1998). Die Kontrollmechanismen wirken auf die Wahrnehmungs- und Ausdruckskomponenten. Ihre Wirkung ist jedoch beschränkt, Aktivitäten des Systems der Basisemotionen lassen sich nicht vollständig kontrollieren. Leonard Zegans beschreibt die Funktionen des sozial-kognitiven Emotionssystems so: Es ist dazu bestimmt, die soziale Kommunikation zu erleichtern und die langfristigen Ziele des Individuums zu steuern. Die physiologischen und expressiven Systeme werden moduliert, um den sozialen und kulturellen Konventionen und Zwängen zu genügen. [...] Während des sozialen Lernens lernen die meisten Kinder, wie die Wahrnehmung und Kommunikation von starken Gefühlszuständen verändert, gehemmt oder maskiert werden (1983, 243). Psychologische Emotionskonzepte 29 Das sozial-kognitive Emotionssystem kontrolliert und beeinflußt in begrenztem Maße die primären Emotionen. Diese werden vor allem langfristig günstig reguliert, indem soziale und kulturelle Bewertungen berücksichtigt werden. Deshalb die Bezeichnung „sozial-kognitives Emotionssystem“. Kognitionen bilden die Bewertungen von Individuen und Gesellschaften ab. Sie werden in sozialen Lernprozessen durch Modell-Lernen oder operante Konditionierung im Verlauf der Sozialisation vermittelt. Sie sind deshalb sehr schicht- und kulturabhängig. In umgekehrter Richtung können aber auch primäre Emotionen das gesamte emotionale Verhalten überschwemmen und die gesamte Kontrolle hinwegfegen. Die Prozesse der Emotionsförderung, -kontrolle und -hemmung werden uns bei den folgenden Betrachtungen zur Gefühlswelt weiter beschäftigen. Emotionen können auch als ADAPTIVE REIZVERARBEITUNG im Prozeß des emotionalen Verhaltens gesehen werden, an dem mit zunehmender Komplexität mehr psychische und physiologische Komponenten beteiligt sind. Scherer (1981) interpretiert emotionale Prozesse explizit evolutionstheoretisch als Individuum-Umwelt-Schnittstelle, die starre Reiz-Reaktionsketten durch rasch ablaufende Regelmechanismen ersetzt. Dabei wird die Funktion der Bewertung im emotionalen Prozeß betont. Diesen Bewertungsvorgang sieht Scherer als einen Ablauf in fünf Schritten, die bei externen Reizen hierarchisch ablaufen: 1. Bewertung der Neuartigkeit. Ein Reiz wird auf Neuartigkeit geprüft. Diese Bewertung kann z. B. zum Schreck führen. Vermutlich wird diese Bewertung ohne kortikale Beteiligung über die sogenannte Orientierungsreaktion vermittelt, durch die eine schnelle Reizbewertung erfolgt. Bei den primären Affekten finden wir Überraschung oder Interesse als Äquivalent wieder. 2. Bewertung der Qualität „angenehm – unangenehm“. Diese Bewertung findet sich in den meisten Emotionstheorien, z. B. als Lust-Unlust-Dimension. In einer heftig diskutierten Position behauptet Zajonc (1979) aufgrund seiner experimentellen Arbeiten, daß diese Bewertung ebenfalls ohne kortikale Beteiligung funktioniert, da eine solche Bewertung auch ohne Memorisierung erfolgen kann. Die Bewertung in unangenehme und angenehme Reize kann man als Ausgangswert für mehrere primäre Affekte verstehen, z. B. Freude, Ärger und Furcht. 3. Bewertung der Zielrelevanz. Nach der Bewertung auf der Dimension angenehm-unangenehm wird geprüft, inwieweit der Reiz das Erlangen eines Zieles fördert oder hindert. Furcht und Ärger als Reaktionen auf die Unterbrechung einer zielgerichteten Handlungskette können resultieren. Fördert der Reiz die Zielerreichung, können Zufriedenheit, Freude etc. resultieren. Die Bewertung der Zielrelevanz ist vom zweiten Schritt zu trennen, da auch angenehme Reize zielgerichtete Handlungen behindern können und dann in negative Emotionen münden. 30 Harald C. Traue und Henrik Kessler 4. Bewertung der Bewältigungsfähigkeit. Es wird die Bewältigungsfähigkeit des Organismus hinsichtlich seiner Ziele und Pläne gegenüber Situationen geprüft. Grundlage für diese Einschätzung ist eine Kausalattribution, nämlich die Feststellung, wodurch ein bestimmter Reiz verursacht wurde. Ohne diese Ursachenbestimmung ist die Bewertung der Bewältigungsmöglichkeiten oft nicht möglich. Kann der Organismus mit der jeweiligen Reizkonstellation nicht fertig werden, ohne in seinen wichtigen Zielen gefährdet zu sein, so ist das Resultat Ärger. Kommt der Organismus zu der Bewertung, der jeweiligen Bedrohung zu erliegen, so ergibt sich Furcht oder Angst, bei habitueller Insuffizienz Hilflosigkeit oder Depression. 5. Bewertung der Selbstkonzeptrelevanz. Aus diesem Verarbeitungsschritt resultieren Emotionen wie Scham, Schuld, Peinlichkeit, Triumph oder Schadenfreude. In die komplexe Reizverarbeitung gehen Informationen über den externen Reiz, Aspekte des Selbstkonzepts und vor allem soziale Normen ein. Auf dieser Ebene ist die enge Verknüpfung von Denken und Fühlen am deutlichsten, denn die Vergleiche werden gedanklich vorgenommen, ebenso wie die Schlußfolgerungen zunächst gedanklich realisiert und dann in Handeln umgesetzt werden. INTEGRATIVES KONZEPT VON EMOTIONEN Trotz unterschiedlicher Akzente in den Emotionstheorien, die sich vor allem auf die Gewichtung einzelner Komponenten beziehen, kann folgende Konzeptualisierung emotionalen Verhaltens als minimaler Konsens gelten (Traue 1999): 1. Emotionen dienen der Individuum-Umwelt-Anpassung. Die emotionalen Strukturen und Funktionen haben sich in einem evolutionären Prozeß des Nervensystems und der sozialen Lebensform des Menschen entwickelt. Zwei wesentliche Konsequenzen folgen daraus: Die evolutionsgeschichtlich neueren Strukturen überlagern die alten Strukturen, heben deren Funktion jedoch nicht vollständig auf, sondern machen sie kontrollierbar. Darüber hinaus stehen Emotionen und ihre individuelle Entwicklung in engem Zusammenhang mit der sozialen Lebensform des Menschen. Sie sind ein wichtiges interindividuelles Signalsystem, mit dem internale Zustände und Handlungsabsichten kommuniziert werden. 2. Während ältere Emotionstheorien einzelne Aspekte von emotionalen Regulationsmechanismen in den Vordergrund stellen, betonen neuere Theorien die Bedeutung des gesamten Nerven- und Neurotransmittersystems für emotionale Prozesse. Sensorischer Apparat, subkortikale Areale und der Neokortex sind integriert an Emotionen beteiligt. Dem sensorischen Apparat werden dabei prä-emotionale Phänomene (wie z. B. Schreck) zugeordnet. Psychologische Emotionskonzepte 31 Subkortikal werden frühe „gut-schlecht“-Bewertungen vorgenommen. Dort wird die motivationale Lage des Organismus integriert und zu primären Emotionen mit ihren neuronalen Mustern präaktiviert. Auf kortikaler Ebene verarbeitet hauptsächlich die rechte Hemisphäre diese komplexen Aktivationsmuster der subkortikalen Areale zu primären Emotionen, die als Gestalten subjektiv erlebbar werden. Die linke sprachnahe Hemisphäre verarbeitet durch kognitive Prozesse neben den primären Emotionen besonders alle Emotionen des kognitiv-affektiven Emotionssystems (z. B. Schuld, Scham, Begeisterung, Eifersucht), die eine Berücksichtigung von Normen, Einstellungen, Bewertungen und Antizipationen voraussetzen. 3. Emotionen können als Prozeß verstanden werden, der anderes Verhalten initiiert, reguliert oder unterbricht (Interrupt-Funktion). Die für die somatischen Komponenten (autonomen, endokrinen und motorischen Reaktionen) wichtigen subkortikalen Areale können sowohl von externalen und internalen Stimuli als auch von übergeordneten kortikalen Systemen aktiviert werden. Die an Emotionen beteiligten Prozesse sind hierarchisch strukturiert und umfassen verschiedene Hirnebenen, vom sensorischen Apparat bis zum Neokortex. Auf jeder Ebene gibt es jedoch automatische und selbstregulierende Mechanismen, die eine vollständige Kontrolle durch ein übergeordnetes System vereiteln. Die Subsysteme sind durch Feedback- und Feedforward-Regelmechanismen verbunden. 4. Emotionale Prozesse sind bei geringer Intensität eher spezifisch mit zentraler und motorischer Aktivität und unspezifisch mit autonomer Aktivität verbunden. Dabei sind die zentralen Regulationen wichtiger als das periphere Feedback. Theoretisch leitet sich dieses aus der evolutionär begründeten Kommunikationsfunktion des emotionalen Verhaltens ab. Empirische Evidenz dieser Annahme folgt aus der Stabilität und interindividuellen Übereinstimmung emotionalen Ausdrucksverhaltens und der Unspezifität autonomer Korrelate. Bei Emotionen großer Intensität werden die autonomen und damit lebenserhaltenden Funktionen bedeutsamer und dominieren die kognitiven Prozesse. 5. Nach der Auslösung des emotionalen Prozesses durch externale oder internale Stimuli greifen die kortikalen Mechanismen über Bewertung, Stimuluskontrolle, Ausdrucks- und Verhaltenskontrolle entscheidend in den Prozeß ein. Diese Kontrollmechanismen können ihrerseits durch primäre Emotionen wie Angst (soziale Angst) initiiert werden. Die willkürliche Kontrolle der Gesichtsmotorik kann dabei mit spontanen Mustern, die subkortikal ausgelöst werden, konkurrieren und zur Intensivierung der Emotionen führen (Leventhal-Effekt; vgl. Leventhal & Mosbach 1983). Mechanismen der Emotionshemmung können an motorischer und autonomer Aktivität wesentlich beteiligt sein und zur Entstehung und Aufrechterhaltung psychosomatischer Erkrankungen beitragen (Traue 1998; Traue & Deighton 2000). 32 Harald C. Traue und Henrik Kessler 6. Die subjektive Erlebnisqualität der Emotionen wird aus verschiedenen Quellen gespeist. Im Vordergrund stehen dabei zentralnervöse und autonome Aktivierungen und das Feedback afferenter Information aus der mimischen Muskulatur. Langanhaltende Emotionen wie Ängste, depressive Verstimmungen oder andere affektive Störungen werden ganz erheblich durch dauerhafte Veränderungen des neurobiochemischen Milieus erzeugt. Emotionen können subjektiv aber auch nur auf der Ebene von Vorstellungen, Bildern und sprachlichen Kategorien erlebt werden. Emotionen verleihen situativen Bedingungen Bedeutung. Das Ziel dieses einführenden Kapitels war es, einen Überblick über die wichtigsten psychologischen Emotionstheorien zu geben. Einige dieser Konzepte haben eine lang zurückreichende Geschichte in der Psychologie und sind eher von historischem Interesse, andere sind hochaktuell, werden zur Zeit noch heftig diskutiert und dienen der Hypothesenbildung für empirische Untersuchungen des emotionalen Verhaltens. Abschließend haben wir ein integratives Modell vorgeschlagen, das versucht, die wesentlichen Teile einzelner Theorien zu berücksichtigen und zugleich als eine Zusammenfassung gesehen werden kann. In diesem Rahmen war es uns nicht möglich, vertiefend auf die einzelnen Theorien einzugehen, beziehungsweise sie kritisch vergleichend zu diskutieren. Es finden sich in diesem Band jedoch weitere Artikel, die sich mit einigen der von uns erwähnten Aspekte näher auseinandersetzen. LITERATUR Bucci, Wilma (1995) The power of narrative: A multiple code theory. In: J. W. Pennebaker (Hg.) Emotion, Disclosure & Health. Washington: APA. Cacioppo, John T., G. G. Berntson, J. T. Larsen, Poehlmann & T. A. Ito (2000) The psychophysiology of emotion. In: M. Lewis & J. M. Haviland-Jones (Hrsg.) Handbook of Emotions. New York: Guilford Press. Damasio, Antonio R. (1994) Descartes’ Error. Emotion, Reason and the Human Brain. New York: G. P. Putnam’s Son. – (1999) The Feeling of What Happens. Body and Emotion the Making of Consciousness. New York: Hartcourt Brace & Company. d’Elia, Giacomo (2001) Attachment: A biological basis for the therapeutic relationship? Nord J Psychiatry 55(5), 329-36. Ekman, Paul (1993) Facial expression and emotion. American Psychologist 48(4), 38492. Frijda, Nico H. (1988) The laws of emotion. American Psychologist 43(5), 349-358. Goleman, Daniel (1995) Emotionale Intelligenz. München: Hanser. Psychologische Emotionskonzepte 33 Heller, Bruce W. (1983) Emotion: Toward a biopsychosocial paradigm. In: L. Temoshok, C. van Dyke & L. S. Zegans (Hrsg.) Emotions in Health and Illness. New York: Grune & Stratton. Levenson, Robert W., Paul Ekman & Wallace V. Friesen (1990) Voluntary facial action generates emotion-specific autonomic nervous system activity. Psychophysiology 27(4), 363-384. Leventhal, Howard & Peter A. Mosbach (1983) The perceptual-motor theory of emotion. In: J. T. Cacioppo, R. E. Petty & D. Shapiro (Hrsg.) Social Psychophysiology. New York: Guilford Press. Lewis, Michael & Jeannette M. Haviland-Jones (Hrsg.) (2000) Handbook of Emotions. New York: Guilford Press. McDougall, William (1928) Emotion and feelings distinguished. In: M. L. Reymert (Hg.) Feelings and Emotions. Worchester: Clarke University Press. Reisenzein, Rainer (1983) The Schachter theory of emotion: Two decades later. Psychological Bulletin 94, 239-264. Scherer, Klaus R. (1981) Wider die Vernachlässigung der Emotion in der Psychologie. In: W. Michaelis (Hg.) Bericht über den 32. Kongreß der DGfP in Zürich. Band 1. Göttingen: Hogrefe. Stemmler, Gerhard (1984) Psychophysiologische Emotionsmuster. Frankfurt 1984. Tomkins, Silvan S. (1962) Affect, Imagery, Consciousness. Vol. 1: The positive affects. New York: Springer. Traue, Harald C. (1994) Aktivation: Biologische Rhythmen, neuronale Regulation und vegetative Responsespezifitäten. In: D. Gerber, H. D. Basler & U. Tewes (Hrsg.) Medizinische Psychologie. München: Urban und Schwarzenberg, 93-117. – (1998) Emotion und Gesundheit. Die psychobiologische Regulation durch Hemmungen. Heidelberg: Spektrum Akademie Verlag. – (1999) Emotionen. In: U. Tewes & K. Wildgrube (Hrsg.) Psychologie-Lexikon. München: Oldenbourg Verlag. Traue, Harald C. & Russell M. Deighton (2000) Emotional inhibition. In: G. Fink (Hg.) Encyclopedia of Stress. San Diego: Academic Press. Walter, Henrik (1999) Neurowissenschaft der Emotionen und Psychiatrie. Nervenheilkunde 18, 116-126. Zajonc, Robert B. (1979) Feeling and thinking: preferences need no inferences. American Psychologist 35, 151-175. Zegans, Leonard (1983) Emotion in health and illness: an attempt at integration. In: L. Temoshok, C. Dyke & L. S. Zegans (Hrsg.) Emotions in health and illness. New York: Grune & Stratton, 235-257. Günter Kämper EMOTIONEN BEI TIEREN? W ürde man eine repräsentative Umfrage in der Bevölkerung durchführen, ob es bei Tieren Emotionen gibt, ergäbe sich vermutlich mit deutlicher Mehrheit eine positive Antwort. Die biologische Forschung hat sich bisher jedoch nur wenig mit dieser Frage beschäftigt. Dementsprechend ist die Zahl wissenschaftlich fundierter Studien sehr gering – ein Zustand, über den sich Autoren im populärwissenschaftlichen Bereich gelegentlich heftig beklagen. So schreiben etwa Masson und McCarthy: „After a promising start with Darwin, very few scientists have acknowledged, researched, or even speculated about animal emotions. So persistent are the forces that militate against admitting the possibility of emotions in the lives of animals that the topic seems disreputable, not a respectable field of study, almost taboo“ (1994, 19). Von einem Tabu kann sicher nicht die Rede sein, eher davon, daß das Thema schwer zu fassen und noch schwerer experimentell umzusetzen ist. Staatliche Forschungsförderung setzt aber voraus, daß die einem Förderungsantrag zugrundeliegenden Hypothesen klar formuliert werden können, und daß Tierversuche unmittelbar zu greifbaren Resultaten führen. Angesichts einer so komplexen Thematik ist dies höchstens auf Teilgebieten wie der Angstforschung möglich. Warum suchen wir nach Emotionen bei Tieren? Es gibt unerschöpfliche Sammlungen von Anekdoten insbesondere über Haustiere, die darauf hindeuten, daß nicht nur Menschen, sondern auch Tiere Gefühle besitzen. Für die Wissenschaft besteht hier noch Forschungsbedarf, denn angesichts des offensichtlichen „weißen Flecks“ auf der wissenschaftlichen Landkarte würden neue Studien auf diesem Feld einen substanziellen Erkenntnisgewinn erwarten lassen. Neben dem primär zweckfreien Wissenszuwachs gibt es auch praktische Gründe: Psychologen, Psychiater und Neurologen sind an den Grundlagen der von ihnen an Menschen beobachteten Phänomene interessiert. Findet man geeignete Tiermodelle, an denen die neuronalen und physiologischen Grundlagen emotionalen Verhaltens aufgeklärt werden können, dann werden sich auch neue Behandlungsmethoden ergeben. Auch für unser menschliches Selbstverständnis können Studien zur Emotionalität der Tiere sehr aufschlußreich sein. Wie alle physiologischen und neuronalen Funktionen ist unsere komplexe Gefühlswelt das Ergebnis einer langen Evolution, und wenn wir unsere eigenen Ursprünge erkennen wollen, sollten wir uns auch die entsprechenden Fähigkeiten der Tiere ansehen. Emotionen bei Tieren? 35 Wissen wir eigentlich, wonach wir suchen? Schon bei anderen Menschen fällt es uns oft schwer, vorhandene Emotionen zu erkennen, sie genau zu beschreiben, oder im Krankheitsfall zu behandeln – denken wir nur an die Symptome der Depression. Die zahlreichen Versuche in der Psychologie, Emotionen zu klassifizieren und zu kategorisieren, belegen dieses Problem. So ist man sich zwar darüber weitgehend einig, daß es Basisemotionen gibt, aber die Angaben über deren Anzahl schwanken zwischen zwei und weit mehr als zehn. Um wieviel schwerer muß es dann sein, solche Klassifizierungen bei Tieren vorzunehmen. Auch die bei Menschen noch einigermaßen klare Unterscheidung zwischen Emotionen und Stimmungen kann bei Tieren weit weniger klar durchgeführt werden, und in der Praxis wird dazwischen auch kaum unterschieden. Man kann davon ausgehen, daß bestimmte Emotionen für alle Tiere einen Überlebensvorteil bieten, und in erster Linie sind hier Angst und Furcht zu nennen, Gefühle, die noch am leichtesten zu erkennen und zu messen sind (z. B. an Schreckreaktionen). Sie helfen, potentiell gefährliche Situationen richtig einzuschätzen und adäquat zu reagieren. Die Furcht beim Anblick eines Freßfeindes ist vielen Tieren angeboren. So erzeugt schon bei Enten- und Gänseküken die bewegte Silhouette eines Vogels eine Furchtreaktion (Tinbergen 1951, nach McFarland 1989). Als weiterer wichtiger Schritt ist es ein Vorteil, wenn ein Tier lernen kann, daß bestimmte Reizsituationen Gefahr bedeuten, oder auch daß sie zwar gefährlich erscheinen, tatsächlich aber harmlos sind. Ein Küken lernt z. B. nach einiger Zeit, die Silhouette eines Habichts von der einer Ente zu unterscheiden. Die Fähigkeit zum Lernen ist bei den meisten Tieren vorhanden, nicht nur bei Wirbeltieren, sondern auch bei Wirbellosen wie den Insekten und Mollusken. Die nächsthöhere Stufe stellt die Einbindung kognitiver Mechanismen dar. Dies bedeutet, daß Reizkonstellationen und Erfahrungen, die früher einmal mit Gefahr in Verbindung standen, für längere Zeit gespeichert und bei Wiederholung der Situation neu interpretiert und bewertet werden. Zumindest Säugetiere sind zu solchen Leistungen imstande. Tiere besitzen somit – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – die elementaren Fähigkeiten, welche an der Auslösung von einem Gefühl wie „Angst“ beteiligt sind. Ausgehend davon kann man weitergehende Fragen formulieren, etwa: • • • • Zeigen Tiere neben Angst auch andere „Basisemotionen“ wie Ärger, Trauer, Freude und Ekel? Ist bei Tieren eine Struktur vorhanden, die wie das limbische System beim Menschen entscheidend an der Emotionsregulation beteiligt ist? Gibt es anatomische Abstufungen von höheren zu niederen Tieren? Sind bei Tieren die emotionsbegleitenden Signale und die physiologischen Veränderungen in gleichem Kontext, in gleicher Form und in gleicher Intensität wie beim Menschen vorhanden? Günter Kämper 36 Einige dieser Fragen werden auf den folgenden Seiten beantwortet, auch wenn vieles derzeit noch offen bleiben muß. Die Begriffe Affekt, Gefühl und Emotion werden gelegentlich in eine Kette aufsteigender Komplexität gestellt: Bestimmte Reize führen zu einem unbewußten Affekt; dringt dieser ins Bewußtsein vor, dann erzeugt er ein Gefühl, und wenn zusätzlich auch kognitive Mechanismen beteiligt werden, wird dies als Emotion bezeichnet. Ein solches Schema trennt die Emotionen allerdings zu sehr von den „niederen“ Vorgängen. Viele Autoren benutzen andererseits die Begriffe Affekt, Gefühl und Emotion synonym. Gerade unter dem Aspekt einer allmählichen Evolution erscheint es sinnvoll, die emotionale Komponente eher als einen graduellen Begleitprozeß anzusehen, sowohl individuell als auch zunehmend in der Entwicklungsstufe der Tierarten. Diese Hypothese wird durch Abb. 1 veranschaulicht. Die Eingangsseite des Schemas enthält neben den „Reizen“ als zusätzliche Komponente „spezifische innere Antriebe“; dies sind physiologisch, z. B. hormonell bedingte Motivationszustände, die einen Einfluß auf das emotionale Erleben ausüben. Inwieweit die Wirkung äußerer Reize bei Tieren durch solche Faktoren modifiziert, ergänzt oder ersetzt werden kann, ist in diesem Zusammenhang noch unklar. Affekt • genetisch spezifische innere Antriebe (Motivation) programmierter Ablauf • kurze Dauer Gefühl • Bewusstwerden • begrüßen, des Affekts • modulierbar durch bewerten (+,-) Prägung, Kultur etc. Kognition • Zeit als zusätzliche Dimension • Erinnerungen an frühere Ereignisse dieser Art • kann Gefühl Emotionale Komponente Reize verstärken Abb. 1 Emotion als Begleitprozeß in der Kette Reiz – Affekt – Gefühl – Kognition. Die Bedeutung der emotionalen Komponente nimmt dabei zu. Dieses Schema kann sowohl für die Hierarchie der Phänomene innerhalb eines Organismus gelten wie für die Fähigkeiten, die mit der Höherentwicklung der Tiere erworben wurden. Was sagen ernstzunehmende Zeugen zu der Frage, ob Tiere Emotionen besitzen? Neben vielen Einzelberichten von Personen, die zwar unmittelbar mit Tieren zu tun haben, aber mit wissenschaftlicher Beobachtung und Argumentation weniger vertraut sind, finden sich auch bekannte Wissenschaftler, die diese Frage ganz selbstverständlich bejahen. So nennt Charles Darwin (1872) eines seiner Hauptwerke The Expression of the Emotions in Man and Animals. Er beschreibt darin unter anderem ausführlich den mit Emotionen bei Tieren? 37 Furcht und Aggression einhergehenden Gesichtsausdruck bei Katzen und Hunden sowie die eher subtilen Variationen in der Mimik von Affen (Abb. 2). Später wurde wiederholt versucht, den emotionalen Ausdruck im Gesicht von Schimpansen mit dem von Menschen zu homologisieren (z. B. Abb. 2 C). Das Ergebnis kann allerdings nur teilweise überzeugen: Das Problem liegt darin, daß die feinen Nuancen der Mimik vor allem der innerartlichen Kommunikation dienen; es sind Signale für Artgenossen, und nur die verstehen sie richtig zu deuten. Dies weist auch darauf hin, daß sich die Details der Syntax nach der Aufspaltung der Arten weiter differenziert ha- Abb. 2 Mimik bei Säugetieren. Schimpansen verfügen über ein sehr ausgeprägtes mimisches Repertoire, das vor allem der innerartlichen Kommunikation dient (A, C). Versuche, die Ausdrucksformen und die damit verbundenen Verhaltenssituationen mit denen des Menschen zu vergleichen, sind allerdings nur bedingt überzeugend. Zwischenartliche Signale, wie sie eine bedrohte Katze aussendet, sind dagegen universell wirksam (B). A und B nach Darwin (1872), C nach Tembrock (1975) und Kohts (1935), verändert. 38 Günter Kämper ben. Es bestand in der Stammesgeschichte keine Notwendigkeit dafür, daß andere Tierarten die innerartlichen Signale verstehen. Das Blecken des Gebisses mit heruntergezogenen Mundwinkeln dagegen hat sich als artübergreifendes Warnsignal erhalten; es wird von Katzen ebenso wie von Hunden und Menschen verstanden und angewendet. Auch Konrad Lorenz, Gründervater der Ethologie und Nobelpreisträger, machte angesichts der hitzigen Debatte in den 70er und 80er Jahren über die Haltung von Haus- und Nutztieren kein Hehl aus seiner Meinung, daß Tiere zu Gefühlen fähig sind. Er schreibt in einem Artikel unter dem Titel „Tiere sind Gefühlsmenschen“: „Ein Mensch, der ein höheres Säugetier, etwa einen Hund oder einen Affen, wirklich genau kennt und nicht davon überzeugt wird, daß dieses Wesen ähnliches erlebt wie er selbst, ist psychisch abnorm.“ (Der Spiegel Nr. 47, 1980, 251-262). Allerdings hat er dieses Thema in seinen wissenschaftlichen Arbeiten nicht systematisch verfolgt, sondern er bezieht sich auf seine jahrzehntelangen eigenen Erfahrungen und Beobachtungen an Tieren. DIE GEFAHR DER ANTHROPOMORPHEN BETRACHTUNG Für uns Menschen ist es äußerst schwierig, bei der Beobachtung von Tieren das eigene subjektive Erleben auszuschalten. Bestimmte Signale anderer Lebewesen erzeugen bei uns unweigerlich Gefühle, die wir wiederum in den Sender der Signale hinein interpretieren. Diese Deutung kann falsch sein oder auch richtig. Bekannt ist in diesem Zusammenhang das auf Tiere angewandte Kindchenschema, eine in der Unterhaltungs- und Werbeindustrie vielgenutzte Methode. Gerade für die Generationen, die mit den Comics von Walt Disney aufgewachsen sind, gehören die Abenteuer vermenschlichter Mäuse, Füchse und Hunde zur prägenden Phantasiewelt ihrer Abb. 3 Die Vermenschlichung von Kindheit (Abb. 3). Mit anderen Tieren unter Benutzung überdeutlicher Signale ist durch den alltäglichen Ge- Worten, wir sind es mehr als frühebrauch in der Unterhaltung und Wer- re Generationen gewohnt, menschbung für uns selbstverständlich gewor- liche Gefühle in tierische Verhalden. tensweisen hineinzuinterpretieren. Hinzu kommt, daß der Mensch viele der Tiere, mit denen er täglich umgeht, nach seinen Bedürfnissen und nach seinem Geschmack „geschaffen“ hat, nämlich die Haustiere. Gerade bei Katzen und Hunden geht der Züchtungsdruck oft dahin, den Menschen emotional anzusprechen, sowohl im Emotionen bei Tieren? 39 Aussehen als auch im Verhalten. Eine manchmal überraschend große Lernfähigkeit verhilft den Haustieren zusätzlich zu der Fähigkeit, die Absichten und Erwartungen ihrer Halter „vorauszuahnen“ und sich zum eigenen Nutzen entsprechend zu verhalten. Wenn wir etwas über die natürliche Evolution der Emotionalität von Tieren und Menschen erfahren wollen, sind Haustiere daher nicht die besten Untersuchungsobjekte. Vorzuziehen sind Studien natürlicher Verhaltensweisen an frei lebenden Tieren, und eine wichtige Grundvoraussetzung ist, daß sich der Beobachter nicht in das Geschehen einmischt. Die anthropomorphe Betrachtungsweise birgt zweifellos das Risiko einer falschen Interpretation, sie kann uns aber auch wichtige Hinweise geben, also als Hypothese dienen. So kann man z. B. dem Schimpansenjungen in Abb. 4 Attribute wie kraftlos, teilnahmslos und ungepflegt zuordnen, also etwas, das man auch mit dem Begriff „ein Häuflein Elend“ bezeichnen könnte. Van Lawick-Goodall (1973) beschreibt das Verhalten dieses Tieres so: Es wurde zunehmend lustlos, hörte auf, mit anderen Schimpansen zu spielen und entwickelte stereotype Bewegungsweisen wie Hin- und Herschaukeln. Die Mutter des Tieres war gestorben, und es drängt sich hier die Vermutung auf, daß wir es mit einem Ausdruck von TRAUER zu tun haben. Parallelen zum menschlichen Verhalten bei Trauer sind einfach nicht zu übersehen. Auch Konrad Lorenz (1980) schildert, wie sich der Tod eines engen Bezugstieres auswirken kann. Stirbt bei monogam lebenden Gänsen einer der Partner, dann zeigen Abb. 4 Ein junger Schimpanse, der seine sich bei dem Überlebenden Mutter verloren hat, zeigt alle Anzeichen von Trauer. Nach van Lawick-Goodall ganz ähnliche Symptome wie (1973), verändert. bei dem Schimpansenjungen. Am Beispiel der Trauer wird gleich auch ein Dilemma der wissenschaftlichen Arbeit deutlich: Bei Fragen zum Thema Emotionen ist es aus ethischen Gründen meistens nicht möglich, systematisch Versuche durchzuführen. Ein nach allen Regeln abgesicherter Beweis für eine Hypothese ist unter solchen eingeschränkten Bedingungen nicht zu erbringen. Man muß sich zwangsläufig mit verläßlichen Einzelberichten begnügen, die erst in ihrer Summe die Hypothese erhärten, daß es Emotionen wie z. B. Trauer auch bei Tieren gibt. 40 Günter Kämper PRAKTISCHE FORSCHUNGSANSÄTZE ANATOMIE Wie andere Beiträge in diesem Buch ausführlich belegen, sind Emotionen beim Menschen eng mit dem LIMBISCHEN SYSTEM des Gehirns verbunden. Eine interessante Frage, wenn auch natürlich kein schlüssiger Nachweis eines Gefühllebens, ist, wieweit sich dieses System auch bei Tieren findet. Dieser Frage soll im folgenden nachgegangen werden. Das limbische System umfaßt mehrere Hirnbereiche. Es enthält Teile des Zwischenhirns (Diencephalon), nämlich Thalamus und Hypothalamus und des Endhirns (Telencephalon) mit Amygdala, Hippocampus und weiteren Arealen. Die Amygdala (Mandelkern) wird auch als „emotionaler Computer“ bezeichnet. Eine beidseitige Zerstörung dieser Struktur und des benachbarten Gewebes bewirkt z. B. bei Affen, daß die Assoziation von Reizen mit Belohnung und Bestrafung verloren geht; verallgemeinert bedeutet dies den Verlust der Kontext-Spezifität von Reizen und verbunden damit auch ihrer sozialen Relevanz. Man spricht dann auch von „Seelenblindheit“ (Klüver-BucySyndrom). Die Tiere fressen nach einem solchen Eingriff z. B. Dinge, die sie vorher gemieden haben, und sie zeigen eine untypische Furchtlosigkeit (nach Plutchik 1994). Aus anatomischen Studien der Gehirne verschiedener Tiergruppen sind ausreichend Informationen über Vorkommen und Größe der Komponenten des Abb. 5 Gehirn eines Fisches (Hornhecht, Ansicht von der linlimbischen Syken Seite). Schon auf dieser niedrigen Stufe sind die wesentlistems verfügbar; chen Teile des Diencephalons (Zwischenhirn) gut unterscheidbar: dorsaler Thalamus (schraffiert), ventraler Thalamus (dunkel) diese sind zusätzsowie Hypothalamus (Hy). Auch das Telencephalon (T) ist deutlich vielfach auch lich zu erkennen (P Pallium, Mantel des linksseitigen Telendurch cytologicephalons). Cb Cerebellum (Kleinhirn), BO Bulbus olfactorius sche und physio(Riechhirn), NO Nervus opticus (Sehnerv), OT Optisches Tectum, PO Präoptische Area, Pr Prätectum, PT Posteriores Tuberlogische Befunde culum, S Striatum (nach Butler & Hodos 1996, verändert). ergänzt. Abb. 5 zeigt an dem noch relativ übersichtlich gebauten Gehirn eines Knochenfischs, daß schon bei den niederen Wirbeltieren Di- und Telencephalon ausgebildet und gut unterscheidbar sind. In der aufsteigenden Wirbeltierrei- Emotionen bei Tieren? 41 he über die Amphibien, Reptilien, Vögel und Säuger (Abb. 6) erfährt das Diencephalon relativ wenig weitere Entwicklung, während das Telencephalon, vor allem mit der Ausbildung des Neokortex, eine starke Differenzierung aufweist. Das Diencephalon besteht bei allen Wirbeltieren aus vier Hauptabschnitten: Epithalamus, dorsaler Thalamus, ventraler Thalamus und Hypothalamus. Sie stellen generelle Schaltstellen für Sinnesinformationen dar, und sie sind für die Regelung der Stoffwechselgleichgewichte (Homöostase) zuständig. Der Hypothalamus steuert die sogenannten „Allgemeingefühle“ wie Hunger, sexuelle Appetenz und Atemnot. Wie man an dieser Zusammenstellung sieht, hat das Diencephalon mehrere sehr unterschiedliche elemen- Abb. 6 Höherentwicklung des Gehirns der Wirbeltiere vom Frosch bis zum Menschen. Das bei allen Vertebraten vorhandene Diencephalon (dunkelgrau, Pfeile) wird zunehmend vom Telencephalon verdeckt (nach Birbaumer & Schmidt 1990, und Rosenzweig & Leimann 1982, verändert). 42 Günter Kämper tare Funktionen, von denen nur ein Teil mit gefühlsmäßigem Erleben einhergeht. Da die Grundfunktionen bei den verschiedenen Wirbeltierstämmen ähnlich sind, ist es auch nicht überraschend, daß das Diencephalon bei allen Wirbeltieren ähnlich aufgebaut ist, d. h. sich in der Evolution nicht wesentlich weiterentwickeln mußte. Es ist verführerisch, die oben erwähnten Allgemeingefühle, aber auch Aggression, Werbe- oder Brutpflegeverhalten in Zusammenhang mit Emotionen zu stellen, da sie bei uns Menschen mit oft starken Gefühlen verbunden sind. Hier ist Vorsicht beim Gebrauch des Begriffs Emotion angebracht, denn sonst müssen wir auch einem hungrigen Regenwurm ein Gefühlsleben zugestehen. Sinnvoller erscheint es, diesen eher mechanistischen Antrieben eine noch schwache emotionale Komponente zuzuordnen, wie es Abb. 1 im Bereich der Affekte darstellt. Die Rolle des Hypothalamus bei der Steuerung dieser Verhaltensweisen wurde durch Reizversuche geklärt. Durch elektrische Stimulation bestimmter Bereiche des Hypothalamus lassen sich schon bei Fischen und Amphibien aggressive Verhaltensweisen wie Beißen und Jagen auslösen. Äußere sensorische Reize müssen dafür nicht vorhanden sein. Bei Reizung der Area praeoptica, dem Übergangsbereich zwischen Hypothalamus und Telencephalon, kommt es zu Werbe- und Nestbauverhalten. Auch dieses sind elementare, zum Überleben notwendige Verhaltensweisen. Trotzdem überrascht gelegentlich die Ausprägung des Verhaltens, etwa wenn man beobachtet, wie ein Alligatorenweibchen sein Gelege wochenlang bewacht und die Jungen nach dem Schlüpfen vorsichtig ins Maul nimmt und zum Wasser trägt. Typisch für die vielfältigen Aufgaben des Diencephalons ist auch die Funktion der Hypophyse. Sie ist unter anderem für die Ausschüttung der Hormone Oxytocin und Vasopressin zuständig. Diese dienen bei allen Vertebraten primär der Nierensteuerung, bei Reptilien und Säugern spielen sie dann aber auch eine Rolle im Fortpflanzungsverhalten, und bei Säugern beeinflussen sie schließlich das Sozialverhalten. Die limbischen Anteile des Telencephalons weisen im Gegensatz zu denen des Diencephalons in der Wirbeltierreihe eine größere Variabilität auf. Wesentliche Komponenten sind unter anderem die Hippocampusformation, das Septum und die Amygdala. Trotz aller Unterschiede lassen sich diese Strukturen bei fast allen Wirbeltieren finden (Butler & Hodos 1996). Lediglich bei den Agnatha, parasitisch lebenden niederen Fischen (z. B. Neunaugen) konnte bisher kein der Amygdala entsprechendes Areal identifiziert werden. Homologisierungen aufgrund rein anatomischer Befunde sind zwar gelegentlich nicht ganz eindeutig, aber zusammen mit elektrophysiologischen Daten und immuncytochemischen Färbungen typischer Zellsubstanzen lassen sich eine Reihe von Arealen mit recht hoher Wahrscheinlichkeit zuordnen. So gibt es etwa die bei Säugern sehr auffällige Struktur des Hippocampus bei Fröschen nicht in der gleichen Form. Aber in dem Areal, wo man sie bei Annahme einer einigermaßen linearen Evolution vermuten Emotionen bei Tieren? 43 würde, im medialen Pallium (Abb. 7), findet man Zellen, die typische Hippocampuseigenschaften aufweisen. Ähnlich verhält es sich mit dem zentralen Subpallium der Fische, das vermutlich Teilen oder der ganzen Amygdala höherer Wirbeltiere entspricht. Abb. 7 Querschnitte des Telencephalons bei einem Lungenfisch (links) und einem Frosch (rechts). Areale mit unterschiedlichen zellulären Eigenschaften sind in der jeweils rechten Hälfte voneinander abgegrenzt gezeichnet. Niedere Wirbeltiere besitzen noch keinen ausgebildeten Hippocampus, aber Bereiche des Medialen Palliums gelten als dessen Vorläufer. Neuronen in diesen Arealen besitzen ähnliche Fähigkeiten wie die des Hippocampus höherer Wirbeltiere (z. B. Langzeitpotenzierung als eine Form des Lernens). Nach Butler und Hodos (1996), verändert. Hintergrund der anatomischen Arbeiten ist die Ansicht, daß sich Hirnstrukturen, die zu Emotionen befähigen, wie alle anderen Eigenschaften im Verlauf der Evolution herausgebildet und allmählich weiterentwickelt haben, da sie Selektionsvorteile bieten, und daß sich daher abhängig von der Entwicklungshöhe der Tiergruppen verschiedene Ausprägungen der zuständigen Areale nachweisen lassen. Dazu werden im wesentlichen heute noch lebende Arten studiert, und es wird eine einfache Abstufung von den höheren zu den niederen Wirbeltieren vorausgesetzt (Abb. 8 oben). Hier liegt allerdings ein Problem, denn tatsächlich untersucht man mit dieser Methode Tiere, die eine genauso lange, wenn auch weniger komplexe Evolution wie der Mensch durchlaufen haben (Abb. 8 unten). Mit der Homologisierung versuchen wir also auf subtile Eigenschaften von Gehirnen zu schließen, die längst nicht mehr existieren. PHYSIOLOGIE ELEKTROPHYSIOLOGIE. Elektrophysiologische Versuche ermöglichen es, mit Hilfe von Elektroden im Gehirn die Aktivitäten einzelner Areale oder einzelner Neuronen zu registrieren und durch milde Stromstöße zu modifizieren, um die Ergebnisse dann mit den jeweiligen Verhaltensweisen zu 44 Günter Kämper korrelieren. W. R. Hess führte, beginnend um etwa 1930, systematisch Hirnreizversuche im Diencephalon von Katzen durch. Diese Experimente zeigten sehr überzeugend, daß emotionale Reaktionen durch Stimulation spezifischer Regionen dieses Hirngebietes ausgelöst werden können (Abb. 9 links). Auch ohne die Anwesenheit eines Feindes zeigten die Tiere z. B. ein Abb. 8: Die Entwicklungsstufe der Wirbeltiere wird oft wie eine linear aufsteigende Treppe gesehen (links). Tatsächlich ist der Verlauf der Evolution eher durch einen Baum zu veranschaulichen (unten). Fast alle heute lebenden Tierarten repräsentieren das Ergebnis einer ebenso langen, wenn auch nicht so dynamisch verlaufenen Entwicklung wie der des Menschen. Auf die Eigenschaften von gemeinsamen Vorfahren kann man daher nur indirekt schließen (aus Butler & Hodos 1996, mit Erlaubnis). defensives oder ein aggressives Verhalten. In anderen Versuchsreihen wurden Zentren entdeckt, bei deren Reizung die Katzen einen Schlafplatz aufsuchten und einschliefen. Diese Befunde bestätigten die viel ältere Hypothese, daß das Gehirn nach topologischen Prinzipien organisiert ist. Sie hatten Emotionen bei Tieren? 45 natürlich auch publikumswirksame Demonstrationen zur Folge (Abb. 9 rechts). In der Neurochirurgie ist die exakte Abklärung funktionsspezifischer Areale heute ein wichtiges Standardverfahren, bevor Trakte durchtrennt oder erkrankte Hirnareale entfernt werden (z. B. bei Epilepsie- und Tumorpatienten). Abb. 9 Steuerung aggressiver Verhaltensweisen durch Elektroden im Hypothalamus. Links: Bei einer Katze kann aggressives oder Abwehrverhalten ausgelöst werden, ohne daß ein Beutetier oder eine Bedrohung vorhanden ist (aus Hess 1954, mit Erlaubnis). Rechts: Ein Kampfstier kann durch Reizung spezifischer Areale mitten in seiner Attacke gebremst werden (aus Bloom et al. 1985, verändert). Bei allem potentiellen Nutzen wird die Genehmigung zu elektrophysiologischen Versuchen an höheren Wirbeltieren derzeit sehr restriktiv gehandhabt. Der Anblick von Affen und anderen Tieren mit Elektroden im Schädel hat immer wieder zu massiven Protesten aus der Tierschutzbewegung geführt, mit entsprechenden politischen Konsequenzen im Tierschutzgesetz. Tatsächlich sind derartige Versuche nicht schmerzhaft, und die Elektroden können, wie man es auch von Herzschrittmachern kennt, problemlos über lange Zeit im Körper verbleiben. Aktuelle Forschungen sind jedenfalls derzeit auf wenige Schwerpunktthemen beschränkt. Neben dem Thema Kognition gehört dazu auch die Angst bzw. die Beeinflussung von Angst durch Kognition. ANGSTFORSCHUNG. Angst und Schrecken sind Zustände, die es erlauben, gefahrvolle Situationen zu meiden bzw. ihnen auszuweichen. Sie sind überlebenswichtig, und die damit befaßten neuronalen Verschaltungen und physiologischen Vorgänge sind angeboren. Das heißt jedoch nicht, daß sie invariant sind. Erfahrungen, also Lernvorgänge, können die Ausprägung der Reaktionen wesentlich modifizieren. Typische meßbare Ereignisse sind rückenmarkgesteuerte Extremitätenbewegungen (Zusammenzucken, Hochspringen) und Aktivitäten des autonomen Nervensystems (Sympathikus), Günter Kämper 46 das innere Organe, Eingeweidemuskulatur, Muskulatur der Körperhaare sowie die Schweißdrüsen kontrolliert. Angst läßt sich experimentell auslösen und untersuchen, und Ratten sind ein etabliertes „Tiermodell“ zum Studium der physiologischen Vorgänge, die mit Angst und Schreckreaktionen korreliert sind. Angst ist wohl von allen möglichen Emotionen diejenige, die von allen Autoren als elementar akzeptiert wird (und gleichzeitig wird damit natürlich auch anerkannt, daß Tiere grundsätzlich zu Emotionen befähigt sind). Ein typisches Experiment ist folgendermaßen aufgebaut: Eine Ratte kann über den Käfigboden mit einem Stromstoß einen leichten Schmerzreiz erhalten, auf den sie durch Zusammenzucken oder Hochspringen reagiert. Geht diesem Reiz regelmäßig ein Ton voraus, entwickelt das Tier schon beim Auftreten des Tons typische Angstsymptome, und die Reaktion wird dann bei Eintreffen des Schmerzsignals noch stärker. Man spricht von konditionierter Angst, und es gibt deutliche Parallelen zu entsprechenden psychischen Erkrankungen (Phobien). An einem solchen Tiermodell lassen sich die Prinzipien der Signalverarbeitung im Nervensystem aufklären (Abb. 10; Ewert 1998) und mögliche Behandlungsmethoden für Phobien entwickeln. So können Ratten beispielsweise auch lernen, daß ein zweiter Ton „Entwarnung“ bedeutet (d. h. wenn beide Töne zu hören sind, ist kein Schmerzreiz zu erwarten). Schmerzsignal Rückenmark Hirnstamm Tonsignal Hirnstamm Thalamus Thalamus Amygdala Hörkortex Angstreaktion Abb. 10 Konditionierte Angst. Nachdem eine Ratte gelernt hat, ein Tonsignal mit einem Schmerz zu korrelieren, können im lateralen Nucleus der Amygdala Neuronen nachgewiesen werden, die sowohl auf Ton- wie auf Schmerzreize antworten. Hier laufen die Informationen zusammen, die schließlich zur Angstreaktion führen. Ausgeklügelte Verhaltenstests, kombiniert mit physiologischen Messungen, erlauben Rückschlüsse darauf, in welchem Ausmaß eine Basisemotion wie Angst kognitiv kontrolliert werden kann. Sie können zusätzlich auch einen exakten Einblick in die hormonellen Vorgänge geben (Ohl & Landgraf 2000). Interessant sind in diesem Zusammenhang vor allem die Streßhormone wie das Corticotropin Releasing Hormon, Vasopressin und Corticosteron (bei Nagern; beim Menschen spielt Cortisol eine entsprechende Rolle). Angst muß dabei durchaus nicht durch eine Schmerzerfahrung ausgelöst werden, auch unangenehme Situationen erzeugen Zeichen von Furchtsamkeit. Im sogenannten Offenfeld-Test werden Ratten beispielweise in eine Emotionen bei Tieren? 47 hell erleuchtete Arena gesetzt; als nachtaktive Tiere bedeutet dies für sie eine gefahrvolle Situation, auf die sie mit Angstsymptomen reagieren. In einer solchen Situation läßt sich dann etwa feststellen, wie es sich auswirkt, wenn das Tier allein ist, oder wenn man einen Artgenossen hinzusetzt. Weitere Hinweise auf die Grundlagen von Angst ergaben sich aus erfolgreichen Züchtungsversuchen, mit denen ängstliche und nichtängstliche Rattenstämme erzeugt werden konnten (Landgraf 2003). SELBSTREIZUNGSVERSUCHE. Einen Einblick in die neurophysiologischen Grundlagen Abb. 11 Selbstreizung einer Ratte. Bei Drücken von Stimmungen (weniger des Hebels wird über einen fest mit dem SchäEmotionen) ergaben Selbst- del verbundenen Draht und eine implantierte reizungsversuche, die James Hirnelektrode (Pfeile) ein schwacher Stromstoß Olds in den 40er und 50er erzeugt (nach Olds 1977, verändert). Jahren an Ratten durchführte. Elektroden wurden in verschiedene Hirnareale eingeführt, und die Ratten konnten sich selbst über einen Schalter Stromstöße zufügen (Abb. 11). Saß die Elektrode in bestimmten Arealen des Di- bzw. Telencephalons, drückten die Tiere den Hebel freiwillig bis zur völligen Erschöpfung mehrere tausend mal pro Stunde. Offensichtlich empfanden die Ratten einen Lustgewinn oder ein Glücksgefühl durch die Stimulationen. Olds nannte die dabei gereizten Hirnbereiche „pleasure centers“, und sie wurden schließAbb. 12 Dopaminaktivierung durch Selbststimula- lich als Teile des limbition. In einem Längsschnitt durch das Gehirn einer Ratte ist der Bereich punktiert eingezeichnet, in schen Systems identifidem selbstausgelöste Elektroreize (ICSS intracranial ziert. Selbstreizungsversuself stimulation) eine besonders starke Wirkung che, bei denen statt Strom ausüben. DA dopaminerge Bahn, NA noradrenerge verschiedene Substanzen Bahn. Nach Stellar & Stellar (1985) und Birbaumer über Mikropumpen direkt & Schmidt (1999), verändert. 48 Günter Kämper ins Gehirn appliziert wurden, zeigten, daß Dopamin als Transmitter für dieses „Belohnungssystem“ wirksam ist (Abb. 12). Inzwischen ist bekannt, daß die so entdeckte dopaminerge Bahn auch von gefühls- und stimmungsaktiven Substanzen beeinflußt wird. Amphetamine, Cocain und vermutlich Opiate wirken erregend; Alkohol und Beruhigungsmittel führen indirekt (nämlich durch Aufhebung der Hemmung des dopaminergen Systems durch eine noradrenerge Bahn) zum selben Effekt. Auch von anderen Neurotransmittern wie Noradrenalin und Serotonin ist bekannt, daß sie Einfluß auf die Stimmungslage haben. Allen drei Systemen ist gemeinsam, daß sie weit in verschiedene Teile des Gehirns ausstrahlen (Abb. 13), und daß sie vielfältige Funktionen haben. Sie wirken als globale Modulatoren im Gehirn. Hormone wie Oxytocin und Cortisol sowie endogene Opioide sind hier ebenfalls zu nennen. Studien zu den neuro- und verhaltensmodulatorischen Wirkungen dieser Stoffe werden seit Jahren an Ratten und Mäusen durchgeführt, und die Übertragbarkeit der Befunde auf den Menschen ist allgemein akzeptiert. Trotzdem wäre eine Ausweitung des Spektrums der untersuchten Tierarten sehr wünschenswert, um den Verlauf der Evolution besser rekonstruieren zu können. Schon eine Dokumentation der RezeptorverteiAbb. 13 Dopamin, Noradrenalin und Serotonin sind Neuromodula- lung für die einzelnen Neurohormone toren mit unterschiedlichen Wir- sowie Versuche zur Rezeptorblockierung kungen vor allem auf die Stimmung. und -aktivierung in verschiedenen TierSie werden lokal gebildet und über stämmen wären äußerst aufschlußreich, weitverzweigte Neuronen verteilt. um Ähnlichkeiten und Unterschiede Nach Ewert (1998), verändert. aufzuzeigen. WIRBELLOSE TIERE Wie wir gesehen haben, sind emotionale Vorgänge mit Aktivitäten in bestimmten Hirnarealen korreliert, die es in ähnlicher Form beim Menschen ebenso wie bei den anderen Wirbeltieren gibt. Wie aber steht es mit der Vergleichbarkeit, wenn solche Bereiche des Nervensystems fehlen, etwa bei Emotionen bei Tieren? 49 wirbellosen Tieren? Obwohl es dort keine Strukturen gibt, die dem Di- oder Telencephalon entsprechen, findet man auch hier Verhaltensweisen wie Aggression und Brutpflege. Wirbellose besitzen ein relativ (!) einfach gebautes Nervensystem, und man konnte die Nervenschaltkreise für viele Funktionen wie z. B. Laufen, Fliegen und Hören aufklären. Am Beispiel des Hummers wird seit einigen Jahren auch das Aggressionsverhalten intensiv untersucht. Überraschenderweise fand man zumindest zum Teil eine Beteiligung der gleichen Neurohormone wie bei Wirbeltieren, zum Teil waren es jedoch auch andere. Von besonderer Bedeutung ist offensichtlich Serotonin. Es erhöht die Bereitschaft zum Kampf, und ein Tier, das gerade einen Kampf verloren hat, kann durch Gabe eines Serotoninagonisten veranlaßt werden, den Gewinner erneut zu attackieren (Kravitz 2000). Dieses Neurohormon ist also wie bei den Wirbeltieren an der Steuerung von aggressivem Verhalten beteiligt, allerdings eher mit umgekehrtem Vorzeichen, denn bei uns ist Serotonin mit einer friedlichen, gelösten Stimmung korreliert. Auch bei den wirbellosen Tieren besteht noch viel Forschungsbedarf. So sind die am höchsten entwickelten Wirbellosen, die Tintenfische, bisher kaum untersucht. Dabei weisen sie ein überraschend komplexes Verhaltensrepertoire auf. Kalmare zum Beispiel zeigen bei der Balz dem Weibchen mit einer Körperseite ein „verführerisches“ Farbenspiel, während sie gleichzeitig Männchen, die auf der anderen Seite schwimmen, ein aggressives Muster präsentieren können (Hanlon & Messenger 1996). Man kann dies als Betrug interpretieren und damit als eine Verhaltensweise, die nur unter Kontrolle der tatsächlichen Gefühlslage möglich ist. Eine solche Verhaltensweise wird als durchaus sehr hochentwickelt angesehen. ZUSAMMENFASSUNG Es kann als sicher gelten, daß zumindest höhere Tiere und insbesondere Säugetiere Emotionen besitzen. Wir können jedoch nur indirekte Schlüsse auf das tatsächliche emotionale Erleben von Tieren ziehen, und zwar indem wir ihr Verhalten interpretieren, physiologische Funktionen untersuchen und den Aufbau des Gehirns über die verschiedenen Stufen der Evolution vergleichen. Die Befunde sprechen dafür, daß sich die Fähigkeit zu emotionalem Erleben und Verhalten in der Evolution von den Fischen zu den Säugern ausgehend von den Allgemeingefühlen allmählich weiter entwickelt hat und zu komplexeren Formen führte. Wirbeltiere besitzen die auch beim Menschen für emotionales Verhalten benötigten Hirnstrukturen: die Bestandteile des limbischen Systems lassen sich über fast die gesamte Wirbeltierreihe nachweisen. Neuromodulatoren wie Dopamin haben zumindest bei höheren Wirbeltieren ähnliche Wirkungen auf die Stimmung wie beim Menschen. 50 Günter Kämper LITERATUR Birbaumer, Nils & Robert F. Schmidt (1990) Biologische Psychologie. 1. Auflage. Berlin: Springer. – (1999) Biologische Psychologie. 4. Auflage. Berlin: Springer. Bloom, Floyd E., Arlyne Lazerson & Laura Hofstadter (1985) Brain, Mind, and Behavior. New York: Freeman. Butler, Ann B. & William Hodos (1996) Comparative Vertebrate Neuroanatomy. New York: Wiley-Liss. Darwin, Charles (1872) The Expression of Emotions in Man and Animals. New York: Appleton. Ewert, Jörg (1998) Neurobiologie des Verhaltens. Bern: Hans Huber. Hanlon, Robert T. & John B. Messenger (1996) Cephalopod Behaviour. Cambridge: Cambridge University Press. Hess, Walter R. 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(Fehr und Russell 1984) A uch wenn Emotionen schwierig zu definieren sein mögen, so wissen und spüren wir im allgemeinen doch recht genau, daß wir fühlen, sei es Angst, Trauer oder Freude. Gefühle beeinflussen unser Denken und Verhalten und sind nicht ohne weiteres willentlich zu beeinflussen, vielmehr widerfahren sie uns. Was passiert im Gehirn, dem Zentrum unseres Denkens und Fühlens, wenn wir vor Angst nicht denken können oder vor Freude singen? In der Hirnforschung hat die Erforschung der Emotionen lange Zeit eine untergeordnete Rolle gespielt. Neurowissenschaftler beschäftigten sich in den letzten Jahrzehnten weit mehr mit den einfacher zu erforschenden kognitiven Aspekten des menschlichen Geistes. Erst die Erkenntnis, daß Geist mehr ist als Kognition, daß das subjektive Empfinden nur einen Teilbereich des gesamten emotionalen Prozesses darstellt und daß die Untersuchung der emotionalen Reizverarbeitung und objektiv meßbarer Reaktionen wichtige Erkenntnisse zuläßt, hat die zunehmende Beschäftigung mit den emotionalen Funktionen des Gehirns bewirkt. Für Emotionen spielt die Balance von Neurotransmittern, Hormonen und Neuromodulatoren eine wesentliche Rolle (vgl. dazu Wedekind & Bandelow zu „Depression“ sowie Walter zu „Liebe und Lust“, beide in diesem Band). Inzwischen gibt es aber auch die Möglichkeit, die Aktivität des Gehirns an lebenden Menschen mit Methoden der funktionellen Bildgebung direkt zu untersuchen. Dies ist eine Möglichkeit, Befunde, die an Tieren oder Patienten mit Hirnschädigungen bzw. -erkrankungen erhoben wurden, nun auch bei Gesunden zu überprüfen. Im folgenden wollen wir einen Überblick über die funktionelle Bildgebung von Emotionen und ihre mögliche Relevanz für moralphilosophische Überlegungen geben. Um diese besser einordnen zu können, werden wir zunächst kurz die Strukturen des Gehirns, die für emotionale Informationsverarbeitung eine besondere Rolle spielen, erklären sowie einige wichtige tierexperimentelle Befunde darstellen. 52 Susanne Erk und Henrik Walter NEUROANATOMIE DER EMOTIONEN Die Struktur des Gehirns, die am häufigsten mit Emotionen in Zusammenhang gebracht wird, ist das LIMBISCHE SYSTEM (Abb. 1). Es hat sich entwicklungsgeschichtlich aus dem Riechhirn abgespalten, das eines der ältesten, und für die Nahrungsaufnahme und die Orientierung essentielles Sinnessystem der Wirbeltiere darstellt und beim Menschen weitgehend zurückgebildet ist. Abb. 1: Die wichtigsten Strukturen des limbischen System in der Seitenansicht. Blick auf das Gehirn von der inneren Seite (links = vorne). Bei den Fischen besteht das Endhirn ausschließlich aus den zum Riechapparat gehörenden Anteilen (Palaeopallium), während sich bei Amphibien und Reptilien bereits ein weiterer Hirnabschnitt entwickelt hat, der auch Information aus anderen Sinnesorganen verarbeitet und als Archaeopallium bezeichnet wird. Erst bei den Säugetieren aber entwickelt sich ein neuer Hirnabschnitt, der Neokortex. Dieser schiebt sich im Laufe der Entwicklung zwischen die paläo- und die archenzephalen Anteile und verdrängt diese sowohl nach innen als auch nach unten. Durch die massive Entwicklung des Neocortex wird das Archaeopallium nach innen verschoben und bildet einen großen gekrümmten Bogen, der in der Embryonalentwicklung durch den Balken (Corpus callosum), einer Struktur, die beide Großhirnhälften durch zahlreiche Nervenfasern miteinander verbindet, in zwei Teile gespalten wird. Die Rindengebiete, die aus dem äußeren und inneren Randbogen hervorgegangen sind, bilden das sogenannte limbische System (von lat. limen = Rand, Saum). Dem limbischen System vorne angeschlossen hat sich das Corpus amygdaloideum (Amygdala, Mandelkern), das sich entwicklungsgeschichtlich vom Basalganglion abgespalten hat (Abb. 2). Abb. 2: Die Entwicklung des limbischen Systems im Querschnitt. Funktionelle Bildgebung der Emotionen 53 Das limbische System wird auch als Übergangsregion bezeichnet, da es an der Schwelle zum Neokortex liegt. Während der Neokortex mit der bewußten Verarbeitung von Reizen in Verbindung gebracht wird, wurde das limbische System mehr mit unbewußten, emotionalen Reaktionen, Erinnerungsvermögen und Stimmungen in Zusammenhang gebracht. Inzwischen ist diese strikte Unterteilung jedoch so nicht mehr aufrechtzuerhalten. Zum limbischen System gehören das Indusium griseum, eine dünne Rindenlamelle oberhalb des Balkens, und der Gyrus dentatus, die über zwei Faserbündel, die Striae longitudinalis lateralis und medialis miteinander verbunden sind und die ältesten Teile des limbischen Systems darstellen. Der oberhalb des Balkens gelegene Gyrus cinguli geht am hinteren Ende des Balkens in den Gyrus parahippocampalis über, der an seinem vorderen Ende breiter wird (Pes hippocampi), dann nach hinten umbiegt (Uncus hippocampi) und sich medial wieder verbreitert (Area entorhinalis). Unterhalb des Balkens verläuft der Fornix, eine Faserstruktur, welche im Corpus mamillare entspringt und die Hauptverbindung zwischen der Hippokampusformation und der Zwischen- und Mittelhirnregion darstellt. Die beidseitigen Hippokampusformationen werden durch die Commissura anterior, eine phylogenetisch alte Verbindung zwischen den beiden Hemisphären, die durch den neokortikalen Balken verdrängt wurde, miteinander verbunden. Es existieren zahlreiche Verbindungen zwischen den Regionen des limbischen Systems und dem Neokortex. Über die Hippokampusformation geht die neuronale Information über den Fornix zum Corpus mamillare. Vorher gehen Faserbündel zum Hypothalamus ab. Vom Corpus mammillare ziehen Faserbündel zum Thalamus und zum Mittel- und Rautenhirn. Auf diese Weise kann das limbische System über den Hypothalamus viszeromotorische und über das Tegmentum (Mittelhirn) zentral-autonome Reaktionen auslösen (z. B. Reflexe bei emotionalen Erregungen). Von der Hippokampusformation gehen weitere Faserbündel zum Amygdalakomplex und zum Temporallappen ab. Die Amygdala nimmt eine zentrale Stelle im limbischen System ein. Sie verfügt über zahlreiche Verbindungen zur Hippokampusformation, zum Hypothalamus, zum Mittel- und Rautenhirn und zum Frontalhirn. Die enge Beziehung zum Riechapparat bei Säugern weist darauf hin, daß die Amygdala eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung zwischen Sinneswelt und emotionalen Verhaltensweisen spielt (z. B. beim Sexualverhalten, der Nahrungsaufnahme, bei Abwehrreaktionen etc.). Bei Primaten hat sich dieses Kerngebiet weiter ausdifferenziert und funktionelle Beziehungen zu allen wichtigen Kerngebieten des zentralen Nervensystems entwickelt. Die Amygdala projiziert auch zum Assoziationskortex und zur präfrontalen Hirnrinde und schafft damit eine Verbindung kognitiver, sensomotorischer und emotionaler Reaktionen. Komplexe sensorische Informationen aus Außen- und Innenwelt des Organismus werden so mit entsprechenden Gedächtnisinhalten 54 Susanne Erk und Henrik Walter assoziiert und mit bestimmten Bewegungsabläufen und kognitiven Prozessen in eine funktionelle Beziehung gebracht. Eine weitere wichtige Struktur für emotionale Informationsverarbeitung ist die INSULA. Sie ist eine Region der Hirnrinde, die an der Basis der lateralen Furche hinter dem Temporallappen liegt. Auch das im Mittelhirn liegende zentrale Höhlengrau wird zunehmend als emotionsrelevante Struktur angesehen. Zum weiteren Verständnis der funktionellen Zusammenhänge haben tierexperimentelle Studien und Untersuchungen an Patienten mit Hirnschädigungen wichtige Erkenntnisse beigetragen. TIEREXPERIMENTELLE ERKENNTNISSE UND LÄSIONSSTUDIEN Einer der am besten untersuchten „emotionalen“ Prozesse ist die Furchtkonditionierung. In seinen Untersuchungen an Ratten konnte Joseph LeDoux feststellen, daß der Amygdala, einem Teil des limbischen Systems, dabei die zentrale Rolle zukommt (LeDoux 1996). Er unterscheidet in der Reaktion auf einen emotionalen Reiz einen niederen, subkortikalen und einen höheren, kortikalen Pfad der Informationsverarbeitung (Abb. 4). Der subkortikale Pfad verläuft über den Thalamus als Umschaltstelle aller ankommenden Reize direkt zur Amygdala, die eine „Bewertung“ des jeweiligen Reizes vornimmt. Dieser Weg hat den Vorteil, daß er zwar schneller, jedoch aufgrund der subkortikalen Verarbeitung auch ungenauer ist. LeDoux nennt ihn daher treffend „quick and dirty“. Abb. 3: Die zwei Pfade der Informationsverarbeitung bei der Furchtkonditionierung (nach LeDoux 1996). Subkorti), kortikaler Weg (- - - -) kaler Weg, ( Der kortikale Pfad der Informationsverarbeitung führt vom Thalamus über neokortikale Assoziationsareale sowie über den Hippokampus zur Amygdala. Hierbei kann die Information präziser verarbeitet werden, können also z. B. Objekte genauer erkannt, der Kontext, in dem der Reiz auftritt, beurteilt und Erinnerungen an ähnliche Situationen aktiviert werden, um mit Funktionelle Bildgebung der Emotionen 55 Hilfe dieser Informationen den ankommenden Reiz im Detail bewerten zu können. Dies braucht natürlich mehr Zeit. Daher ist dieser Pfad zwar genauer, aber auch langsamer. An einem Beispiel dargestellt sieht dies folgendermaßen aus: Stellen Sie sich vor, Sie befänden sich bei einem Spaziergang im Wald. Plötzlich entdecken Sie vor sich eine Schlange. Sie werden erschrecken, Ihr Herz wird schneller schlagen, Ihre Nebennieren werden Adrenalin ausschütten und Sie werden vermutlich weglaufen. Dies wäre die Folge einer raschen Reizverarbeitung und sehr sinnvoll, wenn es sich hierbei um eine gefährliche Giftschlange handelt. Hätten Sie nun statt des subkortikalen, raschen Verarbeitungsweges erst „Ihr Großhirn eingeschaltet“, dann hätten Sie vielleicht bei näherer Betrachtung feststellen können, daß die vermeintliche Schlange eigentlich ein gekrümmter Ast ist und sich nur aufgrund des Windes ein wenig bewegt, und weiter bedacht, daß Schlangen in diesen Breitengraden und um diese Jahreszeit eigentlich eher selten sind. In dem Falle, daß es sich aber tatsächlich um eine Schlange gehandelt hätte, hätten Ihre detaillierten Analysen von Farbe und Maserung der Schlangenhaut und der Abruf Ihres Wissen um die Gefährlichkeit von Schlangen allgemein und deren Auftreten in deutschen Waldgebieten unter Umständen dazu geführt, daß die Schlange Sie erwischt. Mit anderen Worten: Bei potentieller Gefahr lieber einmal zuviel weggerannt, als einmal zu gründlich nachgedacht. Evolutionär betrachtet ist diese Strategie dem Überleben höchst förderlich. Diese wichtigen Erkenntnisse von LeDoux beziehen sich jedoch nur auf die Furchtkonditionierung bei Ratten und können nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragen werden. Panksepp (1998) geht davon aus, daß jede Basisemotion (vgl. dazu Traue & Kessler, in diesem Band) eine eigene stammesgeschichtliche Entwicklung mit spezifischen neurophysiologischen Schaltkreisen aufweist. Rolls (1999) weist darauf hin, daß die meisten (emotional wirksamen) Reize beim Menschen komplexer Natur sind und eines kortikalen Verarbeitungsmechanismus bedürfen. Er schlägt ein Modell vor, das er in Untersuchungen an nichtmenschlichen Primaten entwickelt hat. Für Rolls sind Emotionen Zustände, die durch Belohnung oder Bestrafung hervorgerufen werden: Belohnende angenehme Stimuli wollen dabei erreicht, bestrafende schmerzhafte vermieden werden. Die Stimuli können dabei in primäre (angeborene) und sekundäre (erlernte) Verstärker unterteilt werden. Die Funktion der Emotionen liegt Rolls zufolge in der Erzeugung autonomer (z. B. Erhöhung des Herzschlags) und endokriner (z. B. Adrenalinausschüttung) Reaktionen, die den Körper für eine Handlung vorbereiten, d. h. handlungsfähig machen. Darüber hinaus erzeugen sie eine gewisse Flexibilität der Handlung, um ein bestimmtes Ziel (Erwerb von Belohnung oder Vermeiden von Strafe) zu erreichen, indem sie neben einfachen ReizReaktionsmustern auch assoziative Lernvorgänge fördern. Emotionen sind nach Rolls ferner motivierend, wichtig für die Kommunikation und soziale 56 Susanne Erk und Henrik Walter Bindung und beeinflussen die kognitive Evaluation von Ereignissen und Erinnerungen. Darüber hinaus erleichtern sie die Speicherung von Gedächtnisinhalten und „triggern“ den Abruf von Ereignissen. Die zentralen Hirnstrukturen für die Bewertung von eintreffenden Reizen sind für Rolls die Amygdala und der orbitofrontale Kortex (OFC). Beide Strukturen haben zahlreiche Verbindungen zu höheren kortikalen Arealen, über die Verhaltensantworten und autonome Reaktionen gesteuert werden (Abb. 4). Nach Rolls findet assoziatives Lernen bereits in der Amygdala und im orbitofrontalen Kortex statt. Abb. 4: Die Vernetzung von Amygdala und orbitofrontalem Kortex (nach Rolls 1999) Auch wenn nichtmenschliche Primaten dem Menschen ähnlicher sind als Ratten, so können doch erst Untersuchungen am Menschen selbst genauere Auskunft über die emotionale Informationsverarbeitung geben. Bis vor einiger Zeit konnte man jedoch nur durch Studien an Patienten mit Hirnläsionen hierüber Erfahrungen gewinnen. Interessanterweise konnte hier die zentrale Bedeutung der Amygdala und des orbitofrontalen Kortex ebenfalls Funktionelle Bildgebung der Emotionen 57 belegt werden. Patienten, die eine Läsion der Amygdala aufweisen, zeigen kaum kognitive Defizite, aber deutliche Defizite in der emotionalen Informationsverarbeitung (Adolphs et al. 1994). Auch wenn das Verständnis für das Konzept von Angst oder Furcht unbeeinträchtigt ist, zeigen diese Patienten klare Beeinträchtigungen darin, emotionale Gesichtsausdrücke (insbesondere ängstliche) als solche zu erkennen (Adolphs et al. 1999). Darüber hinaus weisen Patienten mit einer beidseitigen Läsion der Amygdala einen Mangel an Furcht auf, der sie aufgrund der mangelnden Fähigkeit, Gefahren zu erkennen, im Alltag deutlich beeinträchtigt. Schädigungen des orbitofrontalen Kortex führen zur sogenannten „erworbenen Soziopathie“ (Damasio 1994). Bei erhaltener Intelligenz handeln die betroffenen Patienten sozial verantwortungslos, sind unfähig, kurzfristige Belohnungen adäquat einzuschätzen und haben im Alltag deutliche Entscheidungsschwierigkeiten. Darüber hinaus finden sich bei diesen Patienten subtile emotionale Defizite, die sich in emotionaler Verflachung, Unbeteiligtsein, Gefühllosigkeit und Störungen des emotionalen Lernens und der emotionalen Wahrnehmung äußern. Die beschriebenen Funde zeigen, daß die in tierexperimentellen Untersuchungen gezeigten Strukturen auch beim Menschen eine bedeutsame Funktion für die Verarbeitung von Emotionen haben. Die Entwicklung der modernen funktionell-bildgebenden Verfahren wie der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT) hat es jedoch erst ermöglicht, nicht nur dem erkrankten (Walter 1998), sondern auch dem gesunden menschlichen Gehirn sozusagen „bei der Arbeit zuzuschauen“ (Erk & Walter 2000) und Hypothesen über emotionale Informationsverarbeitung gezielt zu testen. FUNKTIONELLE BILDGEBUNG DES GEHIRNS Seit mehr als einem Jahrhundert versuchen Wissenschaftler, der funktionellen Organisation des menschlichen Gehirns mit Techniken auf die Spur zu kommen, die Veränderungen im zerebralen Blutfluß messen. Der italienische Physiologe Angelo Mosso zeichnete im Jahr 1881 bei einem Patienten, der nach einer neurochirurgischen Operation einen Defekt des knöchernen Schädels aufwies, Pulsationen des Gehirns auf. Er konnte nachweisen, daß die Pulsation im Gehirn regional ansteigt, nicht aber der periphere Puls, wenn der Patient zum Beispiel eine Rechenaufgabe lösen mußte. Mosso folgerte daraus – zu Recht wie man heute weiß –, daß sich die Durchblutung des Gehirns mit Veränderungen der neuronalen Aktivität ändert. In den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts entdeckten Forscher die Möglichkeit mittels nuklearmedizinischer Techniken den Blutfluß in vivo zu 58 Susanne Erk und Henrik Walter messen. Man bediente sich hierbei eines radiopharmazeutisch hergestellten Materials, 15O-markierten Wassers (H 215O), mit einer kurzen Halbwertszeit von etwa zwei Minuten, die wiederholte Messungen bei ein und der selben Versuchsperson zuließ. Zeitgleich mit der Entwicklung der Positronen-Emissions-Tomographie wurde eine andere Technik zur Messung des zerebralen Blutflusses entwikkelt, die auf dem Verhalten von Wasserstoffatomen in einem magnetischen Feld basiert – die Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT). Die Prinzipien der MRT wurden 1946 entdeckt und 1973 für die Bildgebung weiterentwikkelt. Die Möglichkeit zur funktionellen Bildgebung kam auf, als entdeckt wurde, daß während neuronaler Aktivität auch lokal begrenzte Änderungen im Sauerstoffgehalt des Blutes auftraten. Die Entdeckung von Pauling und Coryell, daß der Sauerstoffgehalt des Hämoglobins den Grad, zu dem Hämoglobin ein magnetisches Feld stört, beeinflußt, nutzte Ogawa, um zu zeigen, daß Veränderungen in der Sauerstoffbeladung des Blutes mit der MRT gemessen werden können. Das Signal, welches dabei entsteht, wurde als Blood-Oxygen-Level-Dependent-Signal oder BOLD-Signal bekannt. Der darauf folgende rasche Nachweis der BOLD-Signalveränderungen bei gesunden Menschen während mentaler Aktivität gab den Anstoß zum sich schnell entwickelnden Feld der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT). Der Vorteil dieser Methode liegt darin, daß hierbei keine radioaktive Substanz benötigt wird und die MRT damit für den Organismus keine Belastung darstellt. Bei der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie wird also die Veränderung der magnetischen Eigenschaften des Blutes genutzt, die sich in Abhängigkeit davon ändern, ob Hämoglobin mit Sauerstoff besetzt ist oder nicht. Je größer der Sauerstoffgehalt des Blutes, desto stärker das gemessene Signal. Bei der neuronalen Aktivierung bestimmter Hirnareale steigt der Sauerstoffgehalt des Blutes an dieser Stelle an (neurovaskuläre Kopplung). Dies erfolgt durch eine reflektorische Erweiterung der Arteriolen bei erhöhter neuronaler Aktivität und einer vermehrten Anflutung arteriellen sauerstoffreichen Blutes in dieser Region.1 Die Standardmethode der PET und fMRT zur Untersuchung geistiger Funktionen basiert auf Methoden der kognitiven Psychologie zur Isolierung mentaler Prozesse. Die ersten Untersuchungen dieser Art gehen auf Donders zurück: Er untersuchte die Geschwindigkeit, mit der Versuchspersonen 1 Bis vor kurzem war noch unklar, mit welchen neuronalen Aktivitäten die Änderung des Blutflusses tatsächlich korreliert. Durch gleichzeitige elektrophysiologische Ableitungen und fMRT am Affen konnte Logothetis dies jedoch vor kurzem klären. In seinen Experimenten zeigte sich, daß das BOLD-Signal nicht mit den Aktionspotentialen (= spikende Neuronen = Output) korreliert, sondern mit dem lokalen, extrazellulären Feldpotential (Logothetis et al. 2001). Dieses spiegelt die Summe synchronisierter synaptischer Aktivität, die wiederum auch die Quelle für das Signal beim EEG ist. Funktionelle Bildgebung der Emotionen 59 auf einen allgemeinen Lichtreiz mit Knopfdruck reagieren, und subtrahierte diese von der Geschwindigkeit, mit der dieselben Versuchspersonen auf einen Lichtreiz einer bestimmten Farbe reagieren (Donders 1868/1969). Er fand heraus, daß die Farbunterscheidungsaufgabe 50 ms länger benötigte. Damit isolierte er als erster einen mentalen Prozeß (Farbunterscheidung) durch Subtraktion einer Kontrollaufgabe (Drücken bei Licht) von einer Aktivierungsaufgabe (Drücken bei Licht und Farbunterscheidung). Ähnlich wie die Reaktionszeitmessung von Donders funktioniert auch die Messung der zerebralen Aktivität: Während einer Ruhemessung (Kontrollbedingung) wird der regionale zerebrale Blutfluß (fMRT oder H 2O-PET) gemessen. Während der Aktivierungsmessung werden die gleichen Parameter erfaßt, während die Versuchsperson eine bestimmte geistige Aufgabe löst. Unterschiede in der hämodynamischen Antwortfunktion bestimmter Regionen zwischen Ruhe- und Aktivierungsbedingung geben Hinweise auf die Hirnaktivität während bestimmter mentaler Prozesse Man schaut dem Gehirn also praktisch bei der Arbeit zu.2 Diese methodischen Voraussetzungen der Untersuchung des gesunden menschlichen Gehirns sind zwar eine notwendige, jedoch noch lange keine hinreichende Bedingung, um die Funktionalität des Gehirns bei der Verarbeitung von Emotionen zu untersuchen. Nachdem wir nun den „Apparat“ (das Gehirn) und die Methode (die funktionelle Bildgebung) näher beleuchtet haben, ist es notwendig den Gegenstand zu definieren, der untersucht werden soll – womit wir wieder auf die Frage zurückkommen, was Emotionen eigentlich sind. FUNKTIONELLE BILDGEBUNG DER EMOTIONEN BEIM MENSCHEN Die neurowissenschaftliche Untersuchung von Emotionen ist vor eine Vielzahl komplexer Probleme gestellt. Um fundierte Erkenntnisse zu erlangen, müssen die Ergebnisse funktioneller Studien vergleichbar sein. Dies stellt jedoch gerade bei der Untersuchung von emotionalen Prozessen ein großes Problem dar. Emotionen sind nicht ohne weiteres objektiv meßbar und sie können nicht zuverlässig und reproduzierbar hervorgerufen werden. Der subjektive Erlebnisaspekt und die kognitive bewertende Komponente ma2 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß die Subtraktionsmethode voraussetzt, daß Hirnfunktionen einfach aufaddiert werden und bei Bedarf einzelne Komponenten subtrahiert werden können. Dies ist natürlich ein vereinfachtes Verständnis komplexer Hirnvorgänge, das den tatsächlichen Verhältnissen nur unter bestimmten Umständen annähernd gerecht wird. Neuere Auswertungsverfahren stellen die wechselseitigen Interaktionen von Hirnarealen in den Vordergrund (Stichwort Konnektivität) und bedienen sich auch nichtlinearer mathematischer Verfahren. Susanne Erk und Henrik Walter 60 chen Emotionen zu einem inter-individuell nur schwer zu vergleichenden Phänomen. Ein weiteres Problem ist die Operationalisierung bei der Untersuchung von Emotionen: Untersucht man das subjektive Erleben einer Emotion oder die Wahrnehmung derselben, deren (positive oder negative) Valenz oder eher deren Intensität? Sind Basisemotionen, die nach Ekman angeborene Gefühle von kurzer Dauer mit charakteristischen Ausdrucks- und Verhaltensmustern sowie distinkten physiologischen Reaktionen darstellen (vgl. Schmücker, in diesem Band), oder eher diskrete Stimmungen, die als eine länger dauernde affektive Tönung verstanden werden können, Gegenstand der Untersuchung? Intensität und zeitlicher Aspekt der untersuchten Emotion spielen dabei eine wichtige Rolle. Hinzu kommt die Wahl der Emotionsinduktion wie z. B. das Erinnern autobiographisch relevanter emotionaler Begebenheiten, das Betrachten von emotionalen Gesichtsausdrücken oder das Lernen emotionaler Worte – kurz: Die Wahl des Paradigmas beeinflußt die Ergebnisse einer Untersuchung beträchtlich! Es ist hilfreich, vor der Untersuchung eines Phänomens, dieses erst einmal vorläufig zu definieren. Dabei hat sich eine integrative Arbeitsdefinition als brauchbar erwiesen: Aufbauend auf den Erkenntnissen der Psychologie, lassen sich Emotionen als komplexe mentale Zustände mit einem bestimmten zeitlichen Ablauf charakterisieren, die • • • • • einen spezifischen subjektiven Erlebnisaspekt haben, mit physiologischen Veränderungen in Körper und Nervensystem einhergehen, über eine motorisch-expressive Komponente verfügen, kognitive bewertende Elemente aufweisen, und eine bestimmte evolutionär entstandene Funktion haben. Alle genannten Aspekte zeigen, daß bei der Untersuchung von Emotionen mit der funktionellen Bildgebung viele Aspekte berücksichtigt werden müssen, um verläßliche und vergleichbare Ergebnisse zu erhalten. Daher mag es nicht verwundern, daß einige der bisherigen Erkenntnisse uneinheitlich sind. Dennoch haben sich, seitdem gegen Ende der 90er Jahre immer intensiver emotionale Prozesse mit PET und fMRT untersucht werden, einige Regionen des Gehirns als besonders bedeutsam für die emotionale Informationsverarbeitung erwiesen. Die Hirnregionen, die am häufigsten und am konstantesten mit emotionalen Prozessen in Zusammenhang gebracht werden, sind die Amygdala, der ventromediale präfrontale (orbitofrontale) Kortex, die Insula und der Nucleus accumbens als Teil des ventralen Striatums, das wiederum einen Teil der Basalganglien darstellt, sowie der Gyrus cinguli anterior. Funktionelle Bildgebung der Emotionen 61 Die AMYGDALA ist eine kleine mandelförmige Struktur, die aus 13 Kernen (nuclei) besteht und im vorderen Anteil des rechten und linken Temporallappens liegt. Sie ist die meistuntersuchte Struktur in der Erforschung der Emotionen und für die Furchtkonditionierung ist ihre Rolle in Tierversuchen gut belegt. Spielt die Amygdala auch beim Menschen eine vergleichbare Rolle? Hierzu wurden mehrere fMRT-Studien veröffentlicht, die zum einen zeigen konnten, daß die Amygdala beim Menschen ebenfalls aktiv an der Furchtkonditionierung beteiligt ist und zum anderen, daß ihre Aktivität mit der Zeit abnimmt, d. h., sie habituiert (Büchel et al. 1998, LaBar et al. 1998). In den genannten Experimenten wurden Versuchspersonen Bilder von neutralen Gesichtern gezeigt, von denen einige mit einem unangenehmen Ton gepaart wurden. Es zeigte sich, daß die Aktivität in der Amygdala jeweils zu Beginn der Darbietung eines unangenehmen Reizes auftrat, jedoch nach einer gewissen Zeit deutlich abnahm. Interessanterweise konnte in einem anderen Experiment nachgewiesen werden, daß die Amygdala ebenfalls aktiviert wird, wenn die konditionierten Gesichter nur so kurz gezeigt werden, daß sie von der Versuchsperson nicht bewußt wahrnehmbar waren (Morris et al. 1998). Nach dem oben beschriebenen Modell von LeDoux kann man postulieren, daß diese Reize über einen subkortikalen Pfad zur Amygdala gelangen. Gesichter, die Basisemotionen ausdrücken, sind aufgrund ihrer evolutionär verankerten Bedeutung häufig verwendete Stimuli zur Emotionsinduktion. Man hat zeigen können, daß die Aktivität der Amygdala – im Vergleich zum Gyrus fusiformis, einer Struktur im visuellen Kortex, die für die Gesichtererkennung spezialisiert ist – unabhängig von der Manipulation der Aufmerksamkeit ist (Vuilleumier et al. 2001). Es ließ sich aber auch zeigen, daß die Aktivität der Amygdala durch Interpretation der Stimuli und Labeling abnimmt und statt dessen der rechte präfrontale Kortex aktiviert wird, das heißt, daß die Aktivität der Amygdala durch den präfrontalen Kortex moduliert bzw. reguliert wird (Hariri et al. 2000). In zwei weiteren Studien wurde untersucht, wie sich die Aktivierung der Amygdala verhält, wenn neutrale Gesichtsausdrücke der eigenen und solche einer fremden Rasse dargeboten werden – hier ging es also um die Rolle der Amygdala bei der Verarbeitung von Stimuli aus unterschiedlichen sozialen Gruppen. Eine der Studien konnte nachweisen, daß die AmygdalaAktivierung bei der Präsentation der Gesichter der eigenen Rasse habituiert, während dies bei denen der fremden Rasse nicht der Fall war (Hart et al. 2000). Die andere Studie zeigte ebenfalls, daß die Aktivierung der Amygdala mit der Fremdheit korrelierte, jedoch nur wenn die Gesichter nicht vertraut waren; bei vertrauten Gesichtern beider sozialer Gruppen fand sich keine Aktivierung der Amygdala (Phelps et al. 2000). Vertrautheit bedeutet Sicherheit und Fremdheit potentielle Gefahr, insofern sind diese Ergebnisse von einem evolutionären Standpunkt aus sehr einleuchtend. 62 Susanne Erk und Henrik Walter Bisher wurde deutlich, daß die Amygdala vornehmlich bei Furcht bzw. negativen Emotionen eine wichtige Rolle spielt. Inzwischen konnte man aber durch bildgebende Studien zeigen, daß dies auch für positive (Hamann et al. 1999) und belohnende Reize (Zalla et al. 2000) gilt. So war eine Aktivierung der Amygdala sowohl dann nachzuweisen, wenn Versuchspersonen sich an negative emotionale Ereignisse erinnerten, als auch dann, wenn sie positive Ereignisse erinnerten. In einem Belohnungsexperiment, in dem Versuchspersonen in einem Reaktionszeitparadigma ein positives oder negatives Feedback über ihre Leistung erhielten (ohne freilich zu wissen, daß dies unabhängig von ihrer tatsächlichen Leistung geschah), fand man in Gewinnphasen eine zunehmende Aktivierung der linken Amygdala, während in Verlustphasen eher die rechte Amygdala aktiviert war (Zalla et al. 2000). Diese Ergebnisse stützen das Modell von Rolls, der die Amygdala als Evaluationsstruktur primärer und sekundärer Verstärker versteht (s. o.) und ihr neben einer Funktion beim assoziativen Lernen auch eine Bewertungsfunktion zuschreibt, für die kognitive Elemente eine Rolle spielen. Die Interaktion von Emotion und Kognition tritt inzwischen auch in funktionell bildgebenden Studien zunehmend in den Vordergrund – zu Recht, denn Emotion und Kognition lassen sich nicht gut voneinander dissoziieren (Erk & Walter 2000). Eine fMRT-Studie zur kognitiven Repräsentation von Furcht untersuchte die neuronalen Korrelate des Bewertungsprozesses. Den Versuchspersonen wurde vor der Untersuchung erklärt, daß sie bei der Präsentation eines blauen Quadrates einen leichten elektrischen Schock verabreicht bekämen, insgesamt aber nicht häufiger als dreimal während des Experiments (Erwartungsbedingung), während ein gelbes Quadrat bedeute, daß sie sicher keinen elektrischen Schock erhalten würden (sichere Bedingung). Die Versuchspersonen wußten nicht, daß sie während des gesamten Experiments keinen dieser aversiven Reize verabreicht bekommen würden. Während der Erwartungsbedingung war im Vergleich zur sicheren Bedingung eine deutliche Aktivierung der linksseitigen Amygdala sichtbar. Zusätzlich fand sich eine Aktivierung zweier weiterer Regionen, der Insula und des Gyrus cinguli anterior, die nach Ansicht der Autoren die kortikale Repräsentation von Furcht vermitteln (Phelps et al. 2001). Die Interaktion von Emotion und Kognition läßt sich gut anhand der Gedächtnisleistung untersuchen. Verschiedene Studien haben den Einfluß von Emotionen auf das Langzeitgedächtnis untersucht. Man konnte nachweisen, daß eine Aktivierung der rechten bzw. linken Amygdala während der Präsentation negativer emotionaler visueller Stimuli (Filmclips, Bilder) mit der Anzahl später erinnerter Stimuli korreliert, und daß der Grad der emotionalen Intensität dabei eine Rolle spielt (Canli et al. 1998, 2000). Dieser Befund ließ sich auch für positive Stimuli nachweisen (Hamann et al. 1999). Wir selbst konnten kürzlich zeigen, daß die Aktivität der Amygdala während der Einspeicherung neutraler, nicht emotionaler Worte in einem Funktionelle Bildgebung der Emotionen 63 negativen emotionalen Kontext die spätere Wiedererinnerung vorhersagt (Erk et al. 2003). Eine Hypothese über die Rolle der Amygdala bei der Bildung des Langzeitgedächtnisses ist, daß diese die Bildung von Langzeiterinnerungen durch die Modulation der Hippokampusaktivität für emotionale Reize beeinflußt (Cahill & McGaugh 1998). Eine fMRT-Studie konnte in Übereinstimmung mit dieser Hypothese zeigen, daß die Amygdala zwar an der Bildung des Langzeitgedächtnisses für emotionale Stimuli beteiligt ist, jedoch nicht an der Bildung des Kurzzeitgedächtnisses (Tabert et al. 2001). Diese Annahme wird durch tierexperimentelle Befunde gestützt (Bianchin et al. 1999). Eine andere Region, deren Bedeutung für die emotionale Informationsverarbeitung in Tierexperimenten und Läsionsstudien gezeigt werden konnte, ist der ORBITOFRONTALE KORTEX (OFC). Funktionell bildgebende Untersuchungen konnten dies auch beim Menschen nachweisen (Elliott et al. 2000). Die medialen und lateralen Anteilen des OFC können getrennt aktiviert werden, je nachdem, ob der Reiz eher ein belohnender oder ein bestrafender ist. So wurde in einem Belohnungsexperiment gezeigt, daß der mediale OFC bei Gewinn und der laterale Anteil des OFC bei Verlust aktiviert wird (O’Doherty et al. 2001). Eine ähnliche Dissoziation fand sich in einem sehr lebensnahen Experiment, in dem Versuchspersonen Schokolade essen mußten, bis sie nicht mehr konnten. Nach jedem Stück mußten sie auf einer 20-stufigen Skala zwischen „unbedingt noch ein weiteres essen“ und „wenn ich noch eines esse, wird mir schlecht“ eine Wertung abgeben. Unmittelbar nach einer Wertung, die mindestens zwei Punkte unter der vorangegangenen sein sollte (der Genuß von Schokoladestücken variierte zwischen einer halben und zweieinhalb (!) Tafeln) wurde eine PET-Aufnahme gemacht. Es zeigte sich, daß der mediale und der laterale OFC gegenläufig aktiviert wurden: Eine Veränderung von belohnend nach unangenehm ging mit einer Reduktion der Aktivierung im medialen und einer erhöhten Aktivierung im lateralen OFC einher (Small et al. 2001). In verschiedenen Untersuchungen zu Ärger und Aggression fand man den OFC involviert, so zum Beispiel dann, wenn autobiographische ärgerliche Erlebnisse erinnert wurden (Dougherty et al. 1999, Kimbrell et al. 1999). Im Unterschied dazu fand sich in einer anderen Studie, bei der die neuronalen Korrelate imaginierter Aggressionserlebnisse untersucht wurden, eine Reduktion des Blutflusses im OFC bei der Imagination von aggressivem Verhalten im Vergleich zu neutralem Verhalten (Pietrini et al. 2000). Wie lassen sich diese offenbar diskrepanten Befunde erklären? Ein Unterschied zwischen diesen beiden Studien war, daß es sich im ersten Fall um erlebten Ärger handelt, während die zweite Studie vorgestelltes, aggressives Verhalten der Versuchsperson selbst untersuchte. Im zweiten Fall war es also nötig, in einer bestimmten Situation Aggression wirksam werden zu lassen. 64 Susanne Erk und Henrik Walter Wenn der orbitofrontale Kortex daran beteiligt ist, aggressives Verhalten eher zu inhibieren, dann sollte er bei der Realisierung aggressiven Verhaltens weniger aktiv sein, was mit der Reduktion des Blutflusses einhergehen würde. Für diese Erklärung spricht unter anderem, daß Schädigungen des orbitofrontalen Kortex mit disinhibiertem, aggressiven Verhalten einhergehen können (Davidson et al. 2000). Die Rolle der Mittlerfunktion des OFC zwischen primären Verstärkern und kognitiv-emotionalen Prozessen, wie sie von Rolls angenommen wird, zeigt sich in Untersuchungen zu verschiedenen Reizmodalitäten. So findet sich eine Aktivierung des OFC bei unangenehmer auditorischer Reizverarbeitung (Frey et al. 2000), der Bewertung angenehmer olfaktorischer Stimulation (Royet et al. 2000), sowie bei angenehmer Berührung und angenehmem Geschmack und Geruch (Francis et al. 1999). Die neuronalen Verbindungen von OFC und somatosensorischen Zentren des Gehirns, die durch tierexperimentelle Befunde gut belegt sind, konnten durch die Ergebnisse einer weiteren funktionellen Studie auch für den Menschen nachgewiesen werden. Hierbei wurde der elektrodermale Hautwiderstand (skin conductance response = SCR) während eines Belohnungsexperiments gemessen und die mit einem Anstieg der SCR einhergehende neuronale Aktivierung untersucht, die im OFC lokalisiert war (Critchley et al. 2000). Bei der Verarbeitung innerer Reize aus dem Körper spielt die INSULA eine wichtige Rolle. Daher verwundert es nicht, wenn diese Region häufig mit der Basisemotion Ekel in Verbindung gebracht wird. Ekel wird verstanden als ein aus der primitiven Empfindung des Widerwillens (distaste) entstandenes Gefühl. Studien mit funktioneller Bildgebung haben eine Aktivierung der Insula beim Betrachten von Gesichtern, die Ekel ausdrücken, nachweisen können (Phillips et al. 1997, Sprengelmeyer et al. 1998). In einer anderen Studie konnte eine Aktivierung der Insula bei der Erinnerung an autobiographische Schulderlebnisse gezeigt werden (Shin et al. 2000). Dies ist insofern interessant, weil Schuld phänomenologisch als „Ekel vor sich selbst“ verstanden werden kann (Power & Dalgleish 1997). Wichtig zu erwähnen ist ferner, daß Studien, die viszerale bzw. somatosensorische Empfindungen untersuchen, ebenfalls eine Aktivierung der Insula berichten, so zum Beispiel beim Genuß von Schokolade, der als angenehm empfunden wird (Small et al. 2001). Sexuelle Erregung (Stoleru et al. 1999), aber auch der Anblick eines Fotos des geliebten Partners gehen ebenfalls mit einer Aktivierung in der Insula einher (Bartels & Zeki 2000). Eine Struktur, die – wie auch der orbitofrontale Kortex – mit Belohnung und in diesem Zusammenhang mit der Dopamin-Ausschüttung in Zusammenhang gebracht wird und in der letzten Zeit zunehmend den Gegenstand funktionell bildgebender Untersuchungen bildet, ist der im ventralen Striatum gelegene NUCLEUS ACCUMBENS, dessen Funktion im dopaminergen Belohnungssystem in tierexperimentellen Untersuchungen an Ratten und Funktionelle Bildgebung der Emotionen 65 Affen gut untersucht ist (Schultz et al. 2000). Eine Aktivierung dieser Region findet sich auch in fMRT-Experimenten an Menschen, die die Belohnung bzw. die Erwartung von Belohnung untersuchen: so zum Beispiel bei natürlichen Verstärkern wie sexuellen Stimuli (Bocher et al. 2001), Schokolade (Small et al. 2001), Kokain (Breiter et al. 1997) – ein Befund, der die Rolle des Nucleus accumbens bei der Sucht näher beleuchtet –, Blickkontakt mit attraktiven Gesichtern (Aharon et al. 2001) oder Geld, dem vermutlich stärksten erlernten Verstärker (Breiter et al. 2001). Vor dem Hintergrund tierexperimenteller Befunde an Makaken, die zeigen, daß der Nucleus accumbens eine wichtige Rolle bei der Entwicklung sozialer Dominanz spielt (Morgan et al. 2002), ist die Aktivierung dieser Region beim Anblick attraktiver Sportwagen, einem der vielen artifiziellen sozialen Verstärker, die wir kürzlich beschrieben haben, bemerkenswert (Erk et al. 2002). Diese wird dann verständlich, wenn man davon ausgeht, daß teure Sportwagen vor allem dazu dienen, soziale Dominanz und Stärke zu signalisieren, auch wenn sie sonst zu wenig nütze sind – ähnlich dem Pfauenrad im Tierreich. Eine ganze Reihe von Studien über Emotionen hat Aktivierungen im GYRUS CINGULI ANTERIOR (ACC, für „anterior cingulate cortex”) und im angrenzenden Bereich des medialen präfrontalen Kortex nachgewiesen, auch wenn diese Region nicht immer im Vordergrund der Untersuchung stand (Bush et al. 2000). Aktivierungen des ACC wurden für Angst (Kimbrell et al. 1999, Morris et al. 1998), Ärger (Blair et al. 1999, Dougherty et al. 1999, Sprengelmeyer et al. 1998), Trauer (Blair et al. 1999, Lane et al. 1998, Mayberg et al. 1999), Freude und Ekel (Lane et al. 1998), Schuld (Shin et al. 2000) und ganz allgemein für positive und negative Emotionen gefunden (Canli et al. 1998, Paradiso et al. 1999, Rauch et al. 1999, Teasdale et al. 1999). Dies legt schon einmal nahe, daß der ACC weniger an der Verarbeitung einer bestimmten Emotion beteiligt ist, sondern eher eine Funktion innehat, die allgemein mit emotionaler Informationsverarbeitung in Zusammenhang gebracht werden kann. Der Gyrus cinguli anterior kann als Schnittstelle zwischen kognitiven und emotionalen Prozessen verstanden werden und ist in die Bewertung emotionaler und motivationaler Information sowie die Regulation emotionaler Reaktionen involviert. Daher ist es nicht verwunderlich, daß er bei der Schmerzverarbeitung entscheidend beteiligt ist. Kürzlich konnte sogar gezeigt werden, daß verschiedene Regionen des Gyrus cinguli anterior an verschiedenen Informationsverarbeitungsprozessen bei der Schmerzverarbeitung beteiligt sind, wie der Reizwahrnehmung an sich, der Intensitätskodierung entsprechend der physikalischen Reizstärke und der subjektiven Schmerzintensität (Büchel et al. 2002). 66 Susanne Erk und Henrik Walter ZUR ROLLE DER EMOTIONEN BEI MORALISCHEN ENTSCHEIDUNGEN Ein Vorteil der funktionellen Bildgebung ist es, daß mit Ihrer Hilfe das, was die experimentelle Psychologie untersucht, nunmehr mit bestimmten Hirnprozessen in Verbindung gebracht werden kann. Da diese Messungen beim gesunden Menschen nicht-invasiv durchführbar sind, ergibt sich, wie geschildert, die Möglichkeit, mit Hilfe eines neuen Fensters dem Gehirn bei der Arbeit zuzusehen. Im Gegensatz zur rein experimentellen Psychologie kann man daher psychologische Fragestellungen substratnäher bearbeiten. Dadurch lassen sich manchmal sogar alte Streitfragen der Philosophie des Geistes mit neuen Ansätzen untersuchen und bringen so mehr empirische Relevanz in die Debatte. Ein Beispiel ist die Frage, welche Rolle Emotionen im Zusammenhang mit moralischen Urteilen bilden. Es ist allgemein bekannt, daß heftige Affekte einem moralisch geleiteten Verhalten eher hinderlich sind. Weniger bekannt ist, daß es inzwischen gute Evidenzen dafür gibt, daß emotionale Bewertungsprozesse höherstufiger Natur für angemessenes soziales und sittliches Verhalten nicht nur nicht hinderlich sind, sondern offenbar sogar unverzichtbar. Dies machen zumindest Studien an Patienten mit Läsionen im Bereich des orbitofrontalen Kortex plausibel (Bechara 1999, Damasio 1994). Die sozialen und sittlichen Defizite dieser Patienten sind vermutlich durch eine Störung emotionaler Bewertungsprozesse bedingt. Doch wie immer ist die Interpretation von Studien bei Patienten mit Hirnverletzungen dadurch eingeschränkt, daß hier eben eine klare Funktionsstörung durch Verletzung, Tumor oder Gewebeuntergang vorliegt und damit die normalen Verhältnisse deutlich gestört sind. Inzwischen hat man begonnen, auch gesunde Probanden Paradigmen auszusetzen, die moralisches Verhalten oder Urteilen operationalisiert untersuchbar machen, beispielsweise anhand moralischer Dilemmata. Im Leben gibt es viele Situationen, die ein moralisches Dilemma enthalten, d. h. Situationen, in denen eine Person ein moralisches Prinzip verletzen muß, um einem anderen gerecht zu werden. Ein klassisches Beispiel ist die Frage, ob es gerechtfertigt ist, ein Menschenleben zu opfern, um viele zu retten. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen an einer Bedienung zum Stellen einer Weiche. Sie sehen einen führerlosen Zug auf die Weiche zurasen. Die Weiche ist so eingestellt, daß der Zug einen Weg nehmen wird, auf dem er fünf auf den Gleisen stehende Menschen töten wird. Es besteht allerdings die Möglichkeit, die Weiche umzustellen, so daß der Zug auf ein Gleis gelenkt wird, auf dem ein einzelner Mensch steht. Was würden Sie tun? Die meisten entscheiden sich dafür, die Weiche umzustellen, um die fünf Menschen zu retten, auch wenn dabei ein Mensch umkommt. Dieses Dilemma läßt sich aber auch anders stellen: Nunmehr geht es nicht darum, eine Weiche umzustellen, sondern die einzige Möglichkeit, die fünf Menschen zu retten, be- Funktionelle Bildgebung der Emotionen 67 steht darin, einen wohlbeleibten Menschen von einer Brücke vor den Zug zu stoßen, und den Zug so zu stoppen. Was würden Sie tun? Die meisten Menschen würden die Person nicht vor den Zug stoßen. Die spannende Frage ist nun: Warum nicht? Die Arithmetik der auf dem Spiel stehenden Menschenleben ist identisch. Der Unterschied zwischen den beiden Varianten besteht darin, daß die „Opferung“ des einen Menschen im ersten Fall zu einem gewissen Grade unpersönlich ist (Umstellen einer Weiche), im zweiten Fall aber ein aktives persönliches hautnahes Eingreifen (Stoßen von der Brücke) erfordert. Nun lassen sich viele Argumente finden, warum man sich so oder so entscheiden sollte, und diese werden je nach moralischem Standpunkt unterschiedlich ausfallen. Interessant wäre aber nicht nur zu wissen, wofür sich die Menschen in der Regel entscheiden, sonder auch, warum sie es tun. Diese Frage wurde von Philosophen und Psychiatern in einem fMRTExperiment gestellt, in dem Versuchspersonen 60 Dilemmata der oben geschilderten Art zu entscheiden hatten (plus nicht-moralische Entscheidungen als Kontrollsituationen; Greene et al. 2001). Dabei zeigte sich folgendes Ergebnis: Handelte es sich um „persönliche Varianten“ des Dilemmas, so waren Regionen des Gehirns aktiv, die mit emotionaler Informationsverarbeitung in Verbindung gebracht werden. Bei den unpersönlichen Entscheidungen waren dagegen eher Regionen aktiv, die bei kognitiven Aufgaben (wie etwa Arbeitsgedächtnisaufgaben) eine Rolle spielen. Außerdem zeigte sich in einem Anschlußexperiment, bei dem die Reaktionszeiten gemessen wurden, ein interessanter Verhaltenseffekt: Moralische Entscheidungen brauchten in ihrer unpersönlichen Variante länger als nicht moralische Entscheidungen, und beide Entscheidungen benötigten mehr Zeit, wenn sie „unangemessen waren“, d. h. von der arithmetischen Lösung, die meisten Menschen zu retten, abwichen (z. B. die Weiche nicht umzustellen). Bei den persönlichen Entscheidungen drehte sich dieser Effekt dagegen um. Bei der „angemessenen“ (arithmetisch besten Lösung, d. h. möglichst viele Menschleben zu retten) brauchten die Versuchpersonen am allerlängsten, bei der Opferung vieler Menschleben (d. h. den Menschen nicht von der Brücke zu stoßen) am kürzesten. Was sagen uns diese Ergebnisse? Sie zeigen, daß – zumindest bei moralischen Dilemmata – emotionale Hirnfunktionen eine Rolle spielen und erklären können, warum Menschen in der Regel eine bestimmte Entscheidung als die moralisch richtige ansehen. Natürlich zeigen sie nicht, was die richtige Entscheidung ist. Aber das Experiment ist deshalb beispielhaft, da es das erste Beispiel seiner Art ist, das hilft festzustellen, wie die Mechanismen moralischen Urteilens funktionieren. Und diese Erkenntnisse sollten, so zumindest die von uns vertretene Ansicht, eine Rolle dabei spielen, wie wir moralische Entscheidungen beurteilen. Inzwischen existieren weitere Studien zu den Hirnmechanismen moralischer Entscheidungen (Moll et al. 2002a, 68 Susanne Erk und Henrik Walter 2002b; vgl. auch Shin et al. 2000) Eine Übersicht bei Greene & Haidt (2002), die auch neuropsychologische Studien und Studien zum SerotoninStoffwechsel einschließt (vgl. auch Davidson et al. 2000), zeigt, daß bei moralischen Entscheidungen vermutlich die folgenden Regionen in der einen oder anderen Weise beteiligt sind: der frontomediale Kortex, die Amygdala, der orbitofrontale Kortex, der hintere Gyrus temporalis superior, der inferior parietale Kortex, der vordere Temporalpol, sowie der dorsolaterale Präfrontalkortex. Ein großer Teil dieser Regionen spielt für die emotionale Informationsverarbeitung eine wichtige Rolle. Natürlich läßt sich fragen: Warum sollte uns all dies – von einem moralischen Standpunkt aus – kümmern? Die eine Frage, so das klassische Argument, sei schließlich rein deskriptiver (beschreibender) Natur: Wie handelt der Mensch? Die andere Frage dagegen, die moralisch relevante normative Frage, sei davon völlig unabhängig: Wie sollte der Mensch handeln? Nun sollte inzwischen klar geworden sein, daß wir nicht der Ansicht sind, daß diese beiden Fragen völlig unabhängig voneinander diskutiert werden sollten – unbestritten der logischen Nichtableitbarkeit normativer aus deskriptiven Aussagen (sonst: naturalistischer Fehlschluß). Die Trennung von Fakten und Normen ist im realen Leben keinesfalls so strikt, wie uns die formale Logik weismachen will. Dies ist immer wieder auch eine These von Philosophen gewesen, von Aristoteles bis hin zum Pragmatismus eines Hilary Putnam (vgl. die Beiträge in Raters & Willaschek 2002, 225–324). Doch ist das Thema des Zusammenhangs von Sein und Sollen zu groß, um hier ausführlich behandelt zu werden.3 Statt dessen wollen wir auf ein Beispiel hinweisen, das unseren Standpunkt plausibel machen und auf die Relevanz empirischer Ergebnisse für moralische Fragen hinweisen soll. In unserer Gesellschaft nehmen die Taten von Patienten mit einer ausgeprägten dissozialen Persönlichkeitsstörung („Psychopathen“) in der öffentlichen Aufmerksamkeit einen großen Raum ein. Inwieweit sind diese Menschen verantwortlich für ihre Taten? Und inwieweit sind sie in der Lage, in Zukunft anders zu handeln, als sie es bis dahin getan haben? Neuere Untersuchungen mit Hilfe der funktionellen Bildgebung an „Psychopathen“ haben Auffälligkeiten der emotionalen Informationsverarbeitung gefunden, die erklären könnten, warum solche Menschen häufiger Gewalttaten begehen als andere Menschen (z. B. Kiehl et al. 2001, Raine et al. 1998, Schneider et al. 2000, Soderstrom et al. 2002). Diese ersten Untersuchungen können noch nicht als gesichertes Wissen angesehen werden, da sie nur an kleinen Kollektiven erhoben wurden, noch widersprüchlich sind und sich nur vereinzelt der Frage nach der Genese dieser Auffälligkeiten widmen. Aber sie legen natürlich die Frage nahe, welche Hirnmechanismen notwendig sind, 3 Zum Zusammenhang von Moralität, Rationalität und Emotionen vgl. Stephan und Walter (2003). Funktionelle Bildgebung der Emotionen 69 damit wir überhaupt moralisch angemessen handeln können. Die normative Frage, wie wir handeln sollten, ist von unseren diesbezüglichen Fähigkeiten offenbar beeinflußt und dies hat auch Auswirkungen auf unsere theoretischen Vorstellungen von moralischer Verantwortlichkeit (vgl. dazu Walter 2003). Wir haben in diesem Artikel dargelegt, welche Hirnstrukturen an emotionaler Informationsverarbeitung beteiligt sind und wie dies mit Hilfe neuer, funktionell bildgebender Verfahren auch beim Menschen direkt nachgewiesen werden kann. Emotionen sind, wie wir an Beispielen gezeigt haben, an kognitiven Vorgängen beteiligt, und sogar selbst teils kognitiver Natur, nämlich über ihre Bewertungsfunktion. Neueste Erkenntnisse legen nahe, daß Emotionen auch beim Fällen moralischer Urteile involviert sind. Trotz einer Vielzahl von Emotionstheorien sind wir von einer integrativen Theorie noch weit entfernt. Eine solche integrative Theorie sollte, ja muß, nicht nur psychologische Aspekte berücksichtigen, sondern auch unsere Erkenntnisse zur Neuroanatomie, Neurophysiologie und Neurochemie emotionaler Vorgänge. LITERATUR Adolphs, Ralph, D. Tranel, H. Damasio & A. Damasio (1994) Impaired recognition of emotion in facial expressions following bilateral damage to the human amygdala [see comments]. Nature 372, 669-72. Adolphs, Ralph, D. Tranel, S. Hamann, A. W. Young, A. J. Calder, E. A. Phelps, A. Anderson, G. P. Lee & A. Damasio (1999) Recognition of facial emotion in nine individuals with bilateral amygdala damage. 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EIN INTIMES VERHÄLTNIS UND SEINE NEUROBIOLOGISCHEN GRUNDLAGEN Nüchtern betrachtet ist das romantische Verliebtsein eine chemisch induzierte Form von Geisteskrankheit und eine denkbar ungünstige Ausgangslage für eine soziale Neuorientierung, wie die Scheidungsraten in den westlichen Ländern belegen. (Carter 1999, 76) I n den letzten Jahrzehnten hat die Erforschung des menschlichen Geistes erhebliche Fortschritte gemacht. Es gibt intelligente Systeme, die fast jeden Schachspieler schlagen können; die Wahrnehmungsforschung verfügt über detailliertes Wissen darüber, wie Form, Farbe und Bewegung verarbeitet werden; wir wissen einiges über die neurochemischen Grundlagen von Schizophrenie und Depression und inzwischen arbeitet die Neurowissenschaft gemeinsam mit anderen Disziplinen gar an der Erforschung der neuronalen Grundlagen unseres Bewußtseins. Auch wenn viele Menschen das Unternehmen der Erforschung des menschlichen Geistes spannend finden, so ist doch oft ein gewisses Unbehagen zu spüren. Dieses hat vermutlich ganz verschiedene Gründe. Dazu zählen etwa so einfache Dinge wie schlichte Unwissenheit und daraus folgende Verunsicherung, so realistische Bedenken wie die Angst vor der Gefahr des praktischen Mißbrauchs solchen Wissens sowie weltanschauliche Gründe wie die Bedrohung eines dualistischen oder religiösen Weltbildes. Trotz alledem scheint es viele Menschen nicht zu stören, daß es Schachcomputer gibt, trotzdem sind Patienten dankbar, daß man psychische Erkrankungen heute professionell und oft sogar erfolgreich behandeln kann und keiner fühlt sich persönlich angegriffen, wenn eine wissenschaftliche Arbeit, sagen wir, zu den neuronalen Korrelaten von Geschwindigkeitswahrnehmung unter wechselnden Reizbedingungen erscheint. Wenn man Menschen danach fragt, wo die Grenzen der Künstlichen Intelligenz liegen, so sehen viele diese nicht in höchsten geistigen Leistungen, sondern eher im Bereich des Emotionalen: Die Idee künstlicher Gefühle erscheint den meisten als absurd, selbst wenn sie komplexere Formen der Künstlichen Intelligenz für möglich halten. Und an die Möglichkeit der Liebe eines Roboters zu denken, erscheint geradezu lächerlich. 76 Henrik Walter Doch was ist mit der menschlichen Liebe? Können wir diese verstehen? Ist Liebe etwas neurobiologisch Erklärbares, das aus verstehbaren Mechanismen unseres Gehirns und unseres Körpers resultiert? Auch dies erscheint vielen Menschen entweder absurd oder, falls möglich, so doch keinesfalls erstrebenswert: Denn die Erforschung der Liebe könnte derselben den Reiz und die Aura des Mysteriösen, des sich jeder Ratio Entziehenden und letztlich Unverstehbaren nehmen – und dies möchten nur die wenigsten. Dieses Schicksal teilt die Liebe zumindest teilweise mit anderen typisch menschlichen Eigenschaften wie dem Bewußtsein, der Willensfreiheit oder der Spiritualität. Jedoch scheint der psychologische Widerstand gegen den Erwerb naturwissenschaftlichen Wissens über die Liebe von einer besonderen Resistenz. Dies ist einerseits überraschend angesichts der Tatsache, daß wir über Liebe und damit verbundene Phänomene wie Zuneigung, Treue, Bindung und Sex inzwischen sehr viel mehr wissen als etwa über Bewußtsein. Wer – aus der Welt der kognitiven Neurowissenschaft kommend – in die Welt der Liebesforschung eintaucht, ist überrascht, wieviel dort schon bekannt ist. Insbesondere unterscheidet sich die Neurobiologie der Liebe von der Neurobiologie anderer Phänomene dadurch, daß hier die neurohumorale Seite unseres Gehirns, also das Reich der Neurotransmitter, Neuromodulatoren und Hormone, eine viel größere Rolle spielt und psychische Phänomene insofern viel enger in Kontakt mit der materiellen Welt der Neurochemie in Verbindung gebracht werden können als im Bereich der Kognition. Anderseits überrascht dieser psychologische Widerstand auch wieder nicht: scheinen doch die Emotionen und die Liebe im besonderen eine der letzten Bastionen, die sich einer reduktionistischen Sicht des Menschen entziehen. Und dies, so die Meinung vieler, sollte möglichst auch so bleiben. Natürlich bleibt es jedem unbenommen, sich nicht für eine Erklärung der Liebe zu interessieren. Wer jedoch Liebe nicht nur erleben, sondern auch verstehen möchte, was die mit dem Liebesleben verbundenen Phänomene sind, was ihnen zugrunde liegt, findet in der Psychobiologie einen immensen Reichtum an Wissen. Im folgenden werde ich einen Überblick über unser heutiges Wissen über die psychologischen und neurobiologischen Grundlagen von Liebe und Lust geben. Die Berücksichtigung der Sexualität ist aus naturalistischer Sicht dabei unvermeidbar, denn die Mechanismen der Liebe sind eng mit denen der Sexualität verbunden. Ferner möchte ich am Beispiel der Liebe dafür argumentieren, daß ein besseres Verständnis der Liebesmechanismen die Möglichkeit der Liebe keinesfalls zerstört. Ganz im Gegenteil: Bei den mit Liebesphänomenen verbundenen Prozessen handelt es sich um derart komplexe, ineinander verwobene Phänomene, daß man immer wieder nur ehrfürchtig erstaunt ist, daß diese überhaupt funktionieren. Darüber hinaus kann ein Verständnis der Neurobiologie der Liebe uns dabei helfen, uns besser zu verstehen, im glücklichsten Fall sogar, besser zu leben. Insofern ist Liebe und Lust 77 die wissenschaftliche Beschäftigung mit solch menschlichen Phänomenen immer auch ein Stück Philosophie: durch ein vertieftes Selbstverständnis zu einem neuen Umgang mit sich selbst und anderen beizutragen. EXPLANANDUM UND EXPLANANS Wenn man einen Aufsatz über ein Thema schreibt, in dem Erklärungen vorkommen, sollte man klarstellen, was deren Gegenstand ist. In der Wissenschaftstheorie wird zwischen dem Explanandum (dem zu Erklärenden) und dem Explanans (dem Erklärenden) unterschieden. Unser Explanandum ist „die Liebe“. Doch was ist das: die Liebe?. Um es klar zu sagen: Der Fokus dieses Artikels liegt auf der Liebe zwischen Mann und Frau, der – neurobiologisch betrachtet – unweigerlich mit Aspekten der Sexualität und Bindungsmechanismen verbunden ist. Dabei gehe ich davon aus, daß die Erfahrungsräume der Leser sich weit genug überlappen, und somit den Lesern die Phänomene, über die ich im folgenden schreibe und für die ich Erklärungen anbiete, hinreichend bekannt sind. Soweit also zum Explanandum. Was aber ist das Explanans? Zunächst einmal wollen wir grundsätzlich festhalten, daß es überhaupt um ein Explanans geht. Das ist nicht selbstverständlich. Viele Bücher über die Liebe sind deskriptive Schilderungen, d. h. also beschreibende Darstellungen von Liebeserfahrungen und/oder persönliche Ansichten darüber, was Liebe ist. Deren Wirkung und Überzeugungskraft beruhen vor allem darauf, daß sie das Gefühl hervorrufen, daß hier jemand etwas sehr Wahres mit sehr schönen Worten gesagt hat und wir ein Aha-Erlebnis haben und denken: Ja, genauso so ist es. Hier aber geht es darum, Phänomene der Liebe zu erklären. Solche Erklärungen sind vielfältig. Viele große (und weniger große) Philosophen haben Theorien der Liebe formuliert. Am bekanntesten ist wohl der Mythos von Plato, der den Urmensch als vollkommene Kugelgestalt dreierlei Geschlechts schildert (männlich, weiblich, bisexuell). Da sie die Götter bedrohten, zerteilte sie Zeus in zwei Hälften. Seitdem sind die Menschen von dem Verlangen bzw. der Sehnsucht getrieben, sich wieder zu einem Ganzen, Vollkommenen zu vereinen. Praktisch alle mythischen und philosophischen Theorien der Liebe sind jedoch zu einer Zeit entstanden, als man noch nichts über die Mechanismen von Sexualität und Liebe wußte. Es gibt ferner psychoanalytische Theorien, die Liebe (oder zumindest Verliebtheit) auf ein „Wiederfinden“ zurückführen, d. h. auf die Steuerung der Objektwahl durch die unbewußte Ähnlichkeit des Objektes mit infantilen Vorbildern. Empirisch-psychologische Theorien ermitteln mit Hilfe von Fragebögen oder sozialpsychologischen Verhaltensexperimenten Ansichten und Einstellun- 78 Henrik Walter gen zur Liebe und formulieren dann ein empirisch gestütztes Konzept der Liebe. Darüber hinaus finden sich sozialkonstruktivistische Theorien, die davon ausgehen, daß die Idee der Liebe von der jeweiligen Gesellschaft vorgegeben wird und daß ihr Erleben sozial geformt und konstruiert ist. Außerdem existieren evolutionäre Ansätze, die versuchen, das Phänomen der Sexualität und Strategien der Auswahl und Gewinnung eines Partners mit evolutionstheoretischen Mechanismen zu erklären. Und schließlich gibt es unzählige Liebestheorien in psychologischen Ratgebern, die aus einer idiosynkratischen Mischung dieser Theorien mit persönlichen therapeutischen Erfahrungen bestehen. Hier aber geht es um mehr. Es geht darum, die neurobiologischen Mechanismen der Liebe darzustellen, d. h. bestimmte Phänomene der Liebe auf neurobiologische Ursachen zurückzuführen. Es wird also weniger auf die Unterschiede von Liebesphänomenen, sondern mehr auf deren gemeinsame Grundlagen eingegangen. Trotz der erheblichen kulturellen Unterschiede zwischen den Menschen, ist deren neurobiologische Ausstattung fast völlig identisch. Neurobiologische Erklärungen sind proximate und nicht ultimate Erklärungen. Was bedeutet das? Diese Unterscheidung stammt aus der Biologie bzw. der Evolutionstheorie. Proximate Erklärungen nehmen Bezug auf proximate Ursachen (Nahursachen) im Gegensatz zu ultimaten Erklärungen, die bezug auf ultimate Ursachen (Fernursachen) nehmen. Ein Beispiel mag den Unterschied verdeutlichen: Eine ultimate Erklärung für das Phänomen „Durst“ liegt darin, daß es für Organismen evolutionär vorteilhaft war, zu „wissen“, wann sie Wasser brauchten, daß sie „motiviert“ waren, Wasser zu suchen, daß sie dabei ein starkes „Bedürfnis“ nach Wasser empfanden und daß dieses Bedürfnis nach seiner „Befriedigung“ verschwand. Organismen, die Mechanismen des Durstes entwickelten, haben überlebt, und die Existenz von Durst erklärt sich aus ihrer Überlebensfunktion. Eine proximate Erklärung des Durstes bezieht sich auf die nunmehr existierenden Mechanismen des Durstes, d. h. die neurobiologischen Mechanismen der Regulation des Wasserhaushaltes: nämlich die Existenz von Rezeptoren im Hypothalamus, die die Osmalarität des Blutes messen, was wiederum Verhaltensprogramme steuert, die in Wassersuche münden. Eine ultimate Erklärung erklärt also, warum etwas der Fall bzw. warum es zustande gekommen ist, eine proximate Erklärung gibt darüber Auskunft, wie etwas funktioniert. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, daß eine neurobiologische Erklärung andere Erklärungen nicht ausschließt. Sie bildet vielmehr die Basis, auf der sich das Phänomen der Liebe ereignet. Etwas genauer sollte man sagen: Eine neurobiologische Erklärung schließt andere Erklärungen nicht notwendigerweise aus. Sie kann aber sehr wohl einer Theorie anderen Ursprungs widersprechen. Wenn zum Beispiel eine sozialkonstruktivistische Theorie behaupten würde, daß die Wichtigkeit des Körperkontaktes für den Liebe und Lust 79 Aspekt der Bindung in der Liebe eine gesellschaftliche Konstruktion sei, so könnte man dies unter Hinweis auf noch zu erläuternde proximate Mechanismen, bei dem Oxytocin eine wesentliche Rolle spielt, mit Fug und Recht zurückweisen. Und noch ein Hinweis: Selbstverständlich ist es so, daß, wenn erst einmal Mechanismen in der Welt sind, diese zu allen möglichen Zwekken benutzt (und mißbraucht) werden können. So ist das Bedürfnis nach Süßspeisen evolutionär erklärbar, es gibt Mechanismen dafür und diese sind bei Kindern nun einmal anders ausgebildet als bei Erwachsenen. Dies macht sich etwa die Süßwarenindustrie zunutze, verdient damit eine Menge Geld und verschafft nicht zuletzt der Zunft der Zahnärzte eine solide Existenzgrundlage. Daraus folgt jedoch nicht, daß das Bedürfnis nach Süßigkeiten ein kulturelles bzw. gesellschaftliches Artefakt ist. Im Gegenteil: Der jetzige Zustand unserer Kariesgesellschaft ist nur dadurch möglich geworden, daß das Verlangen nach Süßem auf solch stabilen neurobiologischen Füßen steht. Auch die romantische Liebe, die erst im 18. Jahrhundert zur Idee der Liebesheirat führte, beruht auf stabilen neurobiologischen Fundamenten, die eine unverzichtbare Rolle in der Erklärung von Liebesphänomenen einnehmen. Kurz, unser primäres Explanans ist die Neurobiologie mit all ihren reichhaltigen Facetten. Doch bevor wir uns der Neurobiologie der Liebe nähern, will ich zunächst Erklärungsansätze der Partnerliebe aus der Sicht der Psychoanalyse, der akademisch-wissenschaftlichen Psychologie und der Evolutionstheorie vorstellen, die sozusagen das Hintergrundmuster für die neurobiologischen Erkenntnisse über Liebe und Lust bilden. FRÜHKINDLICHE PRÄGUNGEN DURCH MUTTER-KINDBEZIEHUNGEN Die Psychoanalyse vertritt bekanntermaßen die These, daß frühkindliche Erfahrungen entscheidend für unser Verhalten im Erwachsenenleben sind. Dies sollte dann auch, oder vielmehr: erst recht, für unser Liebesleben gelten. Sie hat zwar keine allgemein akzeptierte, explizite Theorie der Liebe entwickelt, ihre Grundannahmen legen eine solche Theorie allerdings nahe (Bergmann 1994): Liebesbeziehungen sind der Versuch, eine intime Nähe zu Personen zu gewinnen, wobei dieser Versuch durch die in der frühen Kindheit erworbenen inneren Symbolisierungen von Liebesobjekten (Repräsentanzen), d. h. letztlich der Eltern oder ihrer Ersatzpersonen, geprägt wird („Übertragungsliebe“). Dabei stehen zwei Bedürfnisse in einem Spannungsverhältnis zueinander. Einerseits soll das neue Liebesobjekt dem frühen Bild der Eltern so ähnlich wie möglich sein, andererseits besteht das Bedürfnis, daß der Liebespartner die von wesentlichen Objekten der Kind- 80 Henrik Walter heit zugefügten Wunden heilen soll. Glückliche Liebe wird dann möglich, wenn zwischen diesen entgegengesetzten Wünschen eine hinlängliche Balance erreicht wird. Zu anderen Zeiten bleibt der Konflikt ungelöst und führt zu den verschiedensten Kompromißbildungen, d. h. verschiedenen Spielarten der Liebe. Die Bedeutung von Erfahrungen in der frühen Kindheit für das spätere Verhalten und Erleben in Beziehungen Erwachsener ist inzwischen auch experimentell nachgewiesen worden. Dazu hat unter anderem die Bindungsforschung beigegetragen (Bierhoff & Grau 1999, 22-44, Strauß, Buchheim & Kächele 2002). Die Bindungstheorie (attachment theory) wurde von dem Psychoanalytiker John Bowlby in den siebziger Jahren entwickelt und befaßte sich zunächst mit der Bindung zwischen Kleinkindern und deren primärer Bezugsperson (in den meisten Fällen: der Mutter). Mit Bindungsverhalten ist das Verhalten von Kindern gemeint, das diese in Situationen zeigen, in denen sie Angst, Streß oder Trauer empfinden (z. B. Weinen, Nachlaufen) und durch das diese die Nähe der Mutter sicherstellen wollen, die darauf in der Regel mit Fürsorgeverhalten (Beruhigung, Trösten, Beschützen) reagiert. Der Ansatz von Bowlby unterschied sich von herkömmlichen psychoanalytischen Ansätzen vor allem dadurch, daß er die biologische Funktion des Bindungsverhaltens betonte und entsprechendes Verhalten im Erwachsenenalter nicht als regressiv, sondern als Bestandteil vertrauter Beziehungen ansah (für weitere Ausführungen vgl. Schmücker, in diesem Band). Später wurden Verfahren entwickelt, um den Bindungsstil bei älteren Kindern zu messen, sowie Interviews, mit denen man auch Erwachsene Bindungsstilen zuordnen kann. Mit Hilfe dieser Instrumente wurden eine Vielzahl von Untersuchungen durchgeführt. Dabei zeigte sich, daß der Bindungsstil über lange Phasen des Lebenslaufs stabil ist und auch über Generationen weitergegeben werden kann. Zudem hat er, wie zu erwarten, Auswirkungen auf das Paarverhalten: Sichere Personen sind häufig mit sicheren Partnern liiert und ängstliche mit vermeidenden. Bindungsstile ermöglichen die Vorhersage der Beziehungsqualität und -stabilität und hängen mit dem Verhalten in Streßsituationen zusammen. Die Bindungstheorie liefert daher ein gutes Erklärungsmodell für Paarkonflikte. Daß frühe emotionale Faktoren ihre Wirkungen auf späteres Verhalten durch Änderungen der Hirnorganisation ausüben, wurde durch neuere tierexperimentelle Untersuchungen direkt nachgewiesen (Braun et al. 2002). So kommt es etwa durch wiederholten stundenweisen Elternentzug während der ersten Lebenswochen bei Ratten zu bleibenden Verschiebungen von Synapsengleichgewichten im cingulären und infralimbischen Kortex, also Hirnarealen, die für die emotionale Informationsverarbeitung zuständig sind. Aber auch viele der Neurotransmittersysteme verändern ihre Empfindlichkeit durch frühkindliche Trennungserlebnisse. Liebe und Lust 81 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sowohl psychoanalytische, als auch entwicklungspsychologische und neurobiologische Experimente dafür sprechen, daß frühe emotionale Erfahrungen entscheidenden Einfluß auf unsere späteren intimen Beziehungen haben. Doch welcher Art sind diese Beziehungen eigentlich? Welche Formen der Liebe gibt es? Damit beschäftigt sich wissenschaftlich die akademische Liebesforschung. LIEBE AUS AKADEMISCHER SICHT Die akademische Liebesforschung ist inzwischen 25 Jahre alt (Bierhoff in „Lust und Liebe“ 2002, 42 ff.). Einer ihrer Grundsteine wurde von dem Soziologen John Alan Lee im Jahr 1973 gelegt. Er unterschied sechs „Liebesstile“, die er aus philosophischen und literarischen Texten extrahierte und mit griechischen Namen belegte. Wie jede (psychologische) Kategorisierung ist auch diese natürlich idealisiert – Lee selbst hat niemals behauptet, daß Menschen entweder dem einen oder anderen Stil zugehörig sind. Deshalb bezeichnete er die verschiedenen Liebesstile auch als „Farben“, die in bestimmten Mischungsverhältnissen auftreten. Insofern ähneln die Liebesstile den Grundfarben, aus denen jeder existierende Farbton gemischt werden kann. Lee nennt die sechs „Grundfarben/formen“ der Liebe: EROS – die romantische Liebe, LUDUS – die spielerische Liebe, STORGE – die freundschaftliche Liebe, MANIA – die eifersüchtige Liebe, PRAGMA – die pragmatische Liebe und AGAPE – die selbstlose Liebe (vgl. Tab. 1). Diese Einteilung ist Grundlage sozialpsychologischer Forschungen über die Liebe geworden. Der Sozialpsychologe Hans-Werner Bierhoff entwikkelte mit Kollegen 1993 auf der Grundlage amerikanischer Fragebögen einen umfangreichen Test, mit dessen Hilfe errechnet werden kann, wie stark jemand verschiedenen Liebesstilen zuneigt. Dabei kann ein und dieselbe Person mehrere Liebesstile gleichzeitig in sich vereinen. Bierhoff (2002) zufolge stellt sich die heutige Situation auf der Grundlage von mehr als zwanzigtausend untersuchten Personen folgendermaßen dar. Am höchsten im Kurs steht bei uns derzeit der romantische Liebesstil. Altruismus, Freundschaft und Eifersucht folgen, während das Pragmatische und das Spielerische eindeutig tiefer rangieren. Diese Reihenfolge hätte in den siebziger Jahren sicher anders ausgesehen! Es zeigen sich auch kulturelle Unterschiede: Chinesen schätzen die romantische Liebe zwar ebenso, bewerten aber die altruistische und die pragmatische Liebe höher als die Menschen im Westen. Sie verbinden diese beiden Stile zu einer eigenen Form der Liebe, die man als gegenseitige Verpflichtung der Partner interpretieren könnte. Wie Menschen lieben, scheint also eng mit den sich stetig ändernden kulturellen Einflüssen zusammenzuhängen. 82 Henrik Walter Eros – nach dem griechischen Gott der Liebe Die romantische Liebe wird in unzähligen Filmen und Romanen thematisiert. Sie ist gekennzeichnet durch Leidenschaft und sexuelle Zuneigung. Romantisch Liebende nehmen den Partner als physisch attraktiv und ihr Sexualleben als intensiv und befriedigend wahr. Storge – kooperative Liebe Die freundschaftliche Liebe ist eher das Ergebnis gemeinsamer Interessen und Gewohnheiten; oft erwächst sie aus einer bereits bestehenden Freundschaft. Die Partner kooperieren gut und streiten selten; Vertrauen und Sicherheit stehen im Mittelpunkt der Beziehungen. Agape – von griech.-lat. Nächstenliebe Beruht eine Partnerschaft hingegen in erster Linie auf Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit, spricht Lee von altruistischer Liebe: Hier steht das Wohl des Partners vor dem eigenen. Mania – von griech. Raserei und Wahnsinn Die Besitz ergreifende Liebe ist durch das Gefühl der Eifersucht bestimmt. Emotionale Höhen und Tiefen wechseln einander ab, je nachdem, ob sich der Eifersüchtige seines Partners momentan sicher ist oder nicht. Gedanken an mögliche Untreue des Partners erlebt der Eifersüchtige als quälend und bestimmend. Ludus – nach dem Festspiel in der Antike In der spielerischen Liebe manifestiert sich das Ausleben sexueller Freiheit. Der spielerisch Liebende sieht mit jeder neuen „Eroberung“ seine Attraktivität bestätigt. Er sucht daher Affären und nicht wirklich eine langfristige Bindung. Oft unterhält er mehrere Beziehungen gleichzeitig. Pragma – der Nutzen Die pragmatische Liebe wählt den Partner aus Vernunft und zum Zweck einer vorteilhaften Beziehung. Gefühle werden eher verdrängt oder weniger wichtig genommen. Pragmatisch Liebende haben eine genaue Vorstellung von ihrer Zukunft, mit der die Partnerschaft vereinbar sein muß. Tab. 1. Sechs Liebesstile nach Lee 1967 (nach Bierhoff 2002, 44) Diese beschreibende Unterteilung in Liebesstile gewinnt Erklärungskraft, wenn sie als Grundlage empirischer Untersuchungen dient, mit anderen theoretischen Ansätzen verwoben und/oder für Vorhersagen verwendet wird (Bierhoff & Grau 1999). So können sich widersprechende Alltagsweisheiten auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden: „Gleich und gleich gesellt sich gern“ und „Gegensätze ziehen sich an“ – was gilt für das Reich der Liebe? Hier spricht die Forschung eindeutig für die zuerst genannte Volksweisheit. Zwar kommt es vor, daß jemand einen Menschen mit völlig konträren Eigenschaften besonders anziehend findet. Meist ähnelt der andere dabei aber einer Idealvorstellung von einem selbst (Ich-Ideal), das man nicht erfüllt. In der Kombination der Liebesstile zeigt sich jedoch keine Gegensätzlichkeit. Vielmehr tendieren beide Partner häufig zum selben Liebesstil. Bierhoff versucht diese Tatsachen dadurch zu erklären, indem er Liebesbeziehungen in Begriffen der sozialpsychologischen Theorie der Austauschbeziehungen (nach Harold Kelly) erklärt. Ihr zufolge können Menschen nur Liebe und Lust 83 dann eine dauerhafte Beziehung aufbauen, wenn sie sich gegenseitig belohnen können. Analog zu wirtschaftlichen Tauschbeziehungen entstehen in einer Beziehung Gewinne und Kosten, die sich in einer Beziehungsbilanz bündeln lassen. Wenn sich nun Liebesstile ähneln, führt dies dazu, daß beide Partner daraus etwas gewinnen – zumindest gilt dies für die romantische, freundschaftliche, pragmatische und altruistische Art zu lieben. Die eifersüchtige und spielerische Liebe dagegen führen, aus jeweils verschiedenen Gründen, eher zu einer negativen Bilanz, was sich daran zeigt, daß die darauf gründenden Beziehungen meist weniger dauerhaft sind. Deshalb eignet sich eine solche Theorie (in Kombination mit anderen empirisch feststellbaren Merkmalen) recht gut für die Vorhersage von Trennungen (Bierhoff & Grau 1999). Zwar muten Termini wie Austausch oder Gewinn sehr nüchtern und abschreckend an. Allerdings zeigt sich in der Beratungspraxis, daß eine illusionslose Kosten-Nutzen-Analyse Paaren zu verstehen hilft, warum Ihre Partnerschaft nicht funktioniert. Und, vielleicht noch wichtiger, sie zeigt auch auf, was beide bei einer Trennung verlieren würden und damit auch, warum sie nicht voneinander loskommen. Intimität Gefühle und Erfahrungen, die Nähe und Verbundenheit fördern. Dazu gehören: 1) Wohlwollen, d. h. der Wunsch, das Wohlergehen des Geliebten zu fördern; 2) gemeinsames Erleben von Glück; 3) Respekt; 4) Verläßlichkeit, d. h. auf den Anderen in Zeiten der Not zählen zu können; 5) wechselseitiges Verständnis; 6) Teilen des Besitzes; 7) Erhalt emotionaler Unterstützung; 8) Gewährung emotionaler Unterstützung; 9) intime Kommunikation; 10) Wertschätzung. Leidenschaft Zustand des intensiven Verlangens nach Einheit mit dem Anderen. Ausdruck einer Anzahl von Wünschen und Bedürfnissen, wie die nach Selbstachtung, Ernährung, Affiliation, Dominanz, Unterwerfung und sexueller Erfüllung. Variabel, ausgeprägt, meist verbunden mit einer psychophysiologischen Erregung, oft mit sexueller Leidenschaft gleichgesetzt. Es gibt aber auch andere Arten der Leidenschaft, die mit psychophysiologischer Erregung einhergehen, z. B. der leidenschaftliche Wunsch, zu einem Menschen oder einer Gruppe zu gehören. Wichtigster Mechanismus ist die intermittierende, insbesondere frühkindliche Verstärkung, d. h. die periodische, manchmal zufällige Belohnung einer spezifischen Verhaltensantwort auf einen Stimulus. Für die Leidenschaft gilt, was für die Verstärkung gilt: Wenn eine intermittierende Verstärkung durch eine kontinuierliche, vorhersagbare Verstärkung abgelöst wird, vermindert sie sich, so wie sich der Belohnungswert der Verstärker vermindert. Mit anderen Worten: Gewöhnung verringert die Leidenschaft. Entscheidung und Selbstverpflichtung Der Kurzzeitaspekt dieser Komponente besteht in der Entscheidung, einen anderen zu lieben, der Langzeitaspekt darin, diese Liebe aufrechtzuerhalten. Beide Aspekte können unabhängig voneinander in Erscheinung treten, z. B. bei arrangierten Heiraten (Langzeit ohne Kurzzeitaspekt). Das heutige Ideal der „Liebesheirat“ ist eine Institutionalisierung der Langzeitkomponente auf der Basis des Kurzzeitaspektes. Tab. 2: Die drei Komponenten der Liebe (nach Sternberg 1999) Henrik Walter 84 Eine weitere, inzwischen recht bekannte psychologische Theorie geht nicht von Liebesstilen aus, sondern versucht, Liebesbeziehungen durch drei grundlegende Dimensionen zu charakterisieren. Diese Drei-Komponentenoder Dreieckstheorie der Liebe (triangle theory of love) wurde von Robert Sternberg (1988), einem Psychologen aus Yale formuliert. Sie hat insofern einen generellen Anspruch, da sie versucht, auch andere Arten der Liebe als die zwischen Mann und Frau zu charakterisieren, und außerdem in Anspruch nimmt, fehlgeschlagene Formen der Liebe zu umfassen. Die drei grundlegenden Dimension der Liebe nach Sternberg (vgl. Tab. 2) sind Intimität (intimacy), Leidenschaft (passion) und Entscheidung/(Selbst-)Verpflichtung (decision/commitment). Die drei Komponenten haben unterschiedliche Charakteristika. So sind etwa Intimität und Selbstverpflichtung in engen Beziehungen relativ stabil, während die Leidenschaft dazu tendiert, eher instabil zu sein und in unvorhersagbarer Weise zu fluktuieren. Weitere Unterschiede finden sich in den Eigenschaften der bewußten Kontrollierbarkeit, der Stärke der Empfindung, der Wichtigkeit für Kurz- bzw. Langzeitbeziehungen, der Häufigkeit, in der diese Komponenten in verschiedenen Liebesarten (Liebesstilen) auftreten, dem mit ihnen einhergehenden psychophysiologischen Arousal und der Empfänglichkeit für bewußte Überlegungen. Entsprechend den Mischungsanteilen dieser drei Komponenten charakterisiert Sternberg schließlich sieben Arten der Liebe (vgl. Tab. 3). Art der Liebe Intimität Leidenschaft Entscheidung Verpflichtung Keine Liebe - - - Mögen + - - Betörende Liebe - + - Leere Liebe - - + Romantische Liebe + + - Kameradschaftliche Liebe + - + Törichte Liebe - + + Vollkommene Liebe + + + Tab. 3: Sieben Arten der Liebe (Sternberg 1988, 1998) Die Einteilung von Sternberg scheint einen großen Teil tatsächlich existierender Liebesbeziehungen abzubilden. Wie alle Kategorisierungen kann sie Liebe und Lust 85 natürlich nicht jede individuelle Variation in Liebesbeziehungen abbilden. Sie weist jedoch darauf hin, daß Liebe nicht ein einzelner, sondern eher ein Mischzustand ist, so daß verständlich wird, warum so viele Menschen so Unterschiedliches meinen, wenn sie das Wort Liebe benutzen. ZUR NATURGESCHICHTE DER LIEBE Auch die menschliche Liebesfähigkeit ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hat ihre Naturgeschichte (vgl. zum folgenden Hülshoff 1999). Auch unsere Vorfahren und unsere tierischen Verwandten zeig(t)en liebesähnliche Verhaltensweisen. Diese entspringen vermutlich zwei Wurzeln: Einerseits aus dem Verhalten gegenüber potentiellen Sexualpartnern und andererseits aus dem Verhalten gegenüber dem eigenen Nachwuchs, kurz: aus Brunstverhalten, dem Vorläufer der Partnerliebe, und Brutpflegeverhalten, dem Vorläufer der Elternliebe. Die bei Tieren zu beobachtenden Strategien der Werbung eines Paarungsgenossen wie z. B. Balzverhalten und Imponiergehabe sind ebenso wie die dafür entwickelten optischen und chemischen Signale Charakteristika, die ihren Ursprung weit vor der Entstehung des Menschen haben. Der Mensch hat diese Merkmale geerbt bzw. sie weiterentwickelt und ausdifferenziert. Ein tieferes Verständnis von Liebe setzt die Kenntnis dieser Verhaltensweisen voraus. Das gleiche gilt für das Brutpflegeverhalten. Darunter sollen hier alle Verhaltensweisen verstanden werden, die dazu führen, daß Mutter und Kind bzw. teilweise auch Vater und Kind verschiedenster Spezies eine enge Beziehung eingehen, d. h. solche Phänomene wie Prägung, Kindchenschemata, Hilfeappelle, Regression auf Seiten des Kindes sowie alle Instinkte, Verhaltensweisen und Einstellungen, die dem Überleben und Gedeihen des Nachwuchses förderlich sind. Es ist umstritten, inwieweit Brunst- und Brutpflegeverhalten zusammenhängen. Manche Psychologen wie etwa Norbert Bischof sind der Ansicht, daß sie streng auseinandergehalten werden müssen. (Bischof sieht dies im generellen Vorhandensein eines Inzesttabus auch im Tierreich bestätigt.) Andere wiederum postulieren wenigstens Wechselwirkungen zwischen beiden Bereichen, etwa derart, daß die mehr bzw. weniger liebevolle Behandlung, die wir als Kind erfahren haben, sich auf unsere Liebesfähigkeiten im Erwachsenenalter deutlich auswirkt. Bevor wir im weiteren auf die proximaten Erklärungen von Liebesfähigkeit eingehen, möchte ich zunächst noch einmal die Frage nach den ultimaten Ursachen der Liebesfähigkeit beantworten: Warum haben sich die später zu besprechenden Mechanismen der Liebesfähigkeit überhaupt entwickelt? Die Antwort auf diese Frage ist nicht möglich, ohne das Wesen der Sexualität zu erörtern. 86 Henrik Walter Die Mechanismen von Liebe, Sexualität und Fortpflanzung sind unauflösbar miteinander verbunden. Sexualität kann aus evolutionstheoretischer Sicht als eine Strategie angesehen werden, die zu einer besseren Genmischung führt. In der Evolution haben sich auf Dauer nur solche Strategien der Fortpflanzung erhalten, die „ökonomisch“ sind, d. h. bei denen Investition (an Zeit, Energie, Aufwand) in einem angepaßten Verhältnis zum Ertrag (Anzahl von erfolgreichen Nachkommen) steht. Im Bereich der Wirbeltiere zeigen sich zwei unterschiedliche Strategien der Fortpflanzung, nämlich eine qualitative (weibliche) und eine quantitative (männliche). Die qualitative Strategie läuft darauf hinaus, viel in eine geringe Anzahl von Nachwuchs zu investieren, die quantitative besteht darin, wenig in viele Nachkommen zu investieren. Dieser grundlegende Unterschied zeigt sich schon auf der Ebene der Keimzellen. Weibliche Eizellen sind groß, enthalten nicht nur das Genom, sondern auch viele Nährstoffe und die Energiekraftwerke der Zelle (Mitochondrien). Sie werden selten gebildet und ihr Lebenszyklus ist aufwendig organisiert. Die männliche, quantitative Strategie besteht in der Produktion möglichst vieler, sehr kleiner und kurzlebiger Keimzellen, von denen sich nur ein Bruchteil fortpflanzen kann. Aus dieser Sicht haben Evolutionsbiologen auch das Fortpflanzungsverhalten interpretiert. Frauen, so ihre These, investieren quantitativ viel mehr in einzelne Nachkommen, da sie aufgrund von Schwangerschaft und Stillzeit notwendigerweise sehr viel Zeit und Mühe für einen einzelnen Nachkommen aufwenden müssen. Die Fortpflanzung ist zudem ein Gesundheitsrisiko mit höherer Infektionsgefährdung, Schwangerschaftskomplikationen und Gefahren bei der Geburt. Daraus ergeben sich Folgerungen für das Verhalten bei der Partnerwahl. Weibliche Individuen müssen wählerischer sein, d. h. sehr genau darauf achten, ob der männliche Partner äußere Anzeichen dafür bietet, daß er eine gute genetische Ausstattung mitbringt, so daß die Wahrscheinlichkeit steigt, daß ihr Nachwuchs überlebt und sich ihre Investition lohnt. Männliche Individuen müssen dies beweisen, indem sie einerseits Dominanz, andererseits Gesundheit und biologischen Reichtum demonstrieren. Einige zeigen dies durch solch überflüssige Dinge wie einen Pfauenschwanz, ein prächtiges Geweih oder ein teures Auto. Der männliche Anteil an der Fortpflanzung beschränkt sich nicht selten auf das Zeugen der Nachkommen, nur in den wenigsten Fällen kümmern sich Männchen auch um diese. Wichtig für männliche Individuen ist daher, daß das betreuende Weibchen gesund genug ist, ein Nachkommen zu gebären und aufzuziehen und außerdem, daß sie einigermaßen sicher sein können, daß sie in der Tat auch der Vater sind. Aus diesen allgemeinen Prinzipien erscheint es verständlich, daß sich bei Männchen und Weibchen Mechanismen entwickelt haben, die diese Dinge gewährleisten – und die bei der Partnerwahl eine entscheidende Rolle spielen. Die Evolutionspsychologie untersucht Partnerwahlstrategien unter den Liebe und Lust 87 genannten Prämissen auch beim heutigen Menschen. Dazu zählt etwa die Neigung von Frauen, bei der Partnerwahl vor allem auf körperliche Attribute der Gesundheit als auch auf Faktoren zu achten, die Schutz, Geborgenheit und materielle Sicherheit signalisieren. Umgekehrt besteht bei Männern die Tendenz, auf Vitalität und Jugendlichkeit bei Frauen zu achten, die mit der potentiellen Fähigkeit einhergehen, gesunde Kinder auf die Welt zu bringen und aufzuziehen. Dabei spielt das Aussehen der Brüste, TaillenBecken-Relationen, das Aussehen der Haut und anderes mehr eine wesentliche Rolle. So existieren biologisch fest verankerte Präferenzschemata, die natürlich unter den heutigen Bedingungen kulturell überformt werden können: Die Finanzkraft eines Mannes dürfte heute sicher eine größere Rolle spielen als seine Körperkraft. Natürlich sind diese Überlegungen heftig umstritten, zum Teil werden sie massiv bekämpft. Allerdings gibt es für den Einfluß einiger dieser Faktoren, die das gegenseitige Werbeverhalten beeinflussen, starke empirische Argumente aus Verhaltensuntersuchungen, wie etwa die Taillen-BeckenRelationen oder die Bedeutung der materiellen Situiertheit des Mannes. In den wenigsten Fällen jedoch sind die Mechanismen bekannt, die solches Verhalten vermitteln. Und so kann man lange darüber streiten, ob das nachweisbare Verhalten nun Erbe unserer evolutionären Vergangenheit ist oder Merkmal einer geschichtlich jungen gesellschaftlichen Entwicklung. Wie fast immer, sind solche Dichotomien falsche Alternativen. In gewissem Sinne ist beides wahr. Natürlich haben sich bestimmte Verhaltensweisen und die ihnen zugrunde liegenden Mechanismen im Laufe unserer Stammesgeschichte entwickelt. Ebenso natürlich ist es jedoch, daß die Mechanismen unter anderen Bedingungen anders genutzt werden können. Die Attraktivität evolutionärer Erklärungen, nämlich ihre Sinnhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit ist zugleich ihre Schwäche: Allein daraus, daß etwas einleuchtend und gut begründet erscheint, folgt noch nicht, daß es auch wahr ist. Zudem leiden evolutionäre Erklärungen darunter, daß sie nicht direkt experimentell überprüft werden können. Deshalb ist für ein Verständnis ultimater Erklärungen die Kenntnis der Mechanismen, die ein bestimmtes Verhalten bewirken, so nützlich. Im folgenden soll daher auf die zur Zeit bekannten Mechanismen von Liebe, Lust und Fortpflanzung eingegangen werden. Daß diese Vorgänge mit positiven Gefühlen einhergehen, ist aus evolutionärer Sicht ausgesprochen sinnvoll: Da Sexualität und Fortpflanzung im Regelfall viel Mühe, Verzicht, Gefahr, Stress, u. ä. mehr bedeuten, ist es nicht verwunderlich, daß ein körpereigenes Belohnungssystem für die damit verbundenen Anstrengungen existiert, dem wir uns nun zuwenden wollen. 88 Henrik Walter DAS GEHIRN ALS ORGAN DER LIEBE Eine Erläuterung von Gehirnmechanismen der Liebe und Lust stößt auf das Problem, daß das Gehirn eines der komplexesten Systeme ist, das wir kennen. Es ist auf vielen Ebenen organisiert, deren Kenntnis man eigentlich voraussetzen müßte, bevor man Erklärungen geben kann. Da wir in diesem Rahmen nicht erst das Gehirn erklären können, müssen wir uns auf die Erläuterung einiger weniger Grundannahmen beschränken. Grob unterscheidet man das zentrale Nervensystem (Gehirn und Rükkenmark), das periphere Nervensystem (Nervenstränge) und das autonome Nervensystem (spezielle, unwillkürliche neuronale Systeme, die unsere vegetativen Funktionen steuern, im Gehirn ihren Ursprung haben, oder in unseren Eingeweiden relativ autonom, d. h. unabhängig vom ZNS, aktiv sind). Das Gehirn kann auf verschiedenen Organisationsebenen betrachtet werden: von grob anatomisch unterscheidbaren Hirnstrukturen, über Sinnessysteme (Geruch, Geschmack, visuelles System, etc.), neuronale Netzwerke, hin zu Nervenzellkolumnen, einzelnen Neuronen bis hin zur Synapse, Neurotransmittern und Rezeptoren, d. h. zur Molekülebene. Zudem ist das Gehirn eng mit dem hormonellen System und dem Immunsystem verwoben. Im Zentrum dieser Arbeit steht vor allem die Ebene der Moleküle, da sie offenbar für Lust und Liebe eine entscheidende Rolle spielen (für eine Übersicht vgl. Tab. 4). Natürlich spielt für unser Liebesleben auch die Qualität und Intensität unserer Sinne eine Rolle: Wir können uns auf einen Blick verlieben, der Geruch anderer Menschen ist für unsere Sympathien von großer Bedeutung, unser Gehör ist für erotische Stimulantia offen, und unser Tastsinn spielt in unserem Liebesleben eine wichtige Rolle, wie die Bedeutung erogener Zonen klar macht. Doch auf diese Themen wird im Rahmen dieses Aufsatzes nur eingegangen, insofern wir Kenntnis über spezifische Mechanismen auf molekularer Ebene besitzen. Erst zum Schluß wird noch einmal ein großer Sprung auf die Ebene makro-anatomischer Systeme des Gehirns gemacht, da uns neue Techniken der funktionellen Bildgebung seit kurzem erlauben, dem Gehirn auch bei Liebe und Sex zuzuschauen. Die Vielzahl von Stoffen, die bei Liebe und Lust eine Rolle spielen, lassen sich nach Miketta & Tebel-Nagy (1996) grob in zwei Klassen einteilen: zum einen in die „Bühnenarbeiter“, die die Voraussetzungen für Sexualität und damit Liebe schaffen, d. h. die Sexualhormone; zum anderen in die „Hauptdarsteller“, die aus anderen Substanzen wie PEA oder Oxytocin bestehen. Eine wichtige Botschaft, die uns die Funktionen all dieser Substanzen vermitteln, ist, daß Sexualität mit Liebe einerseits und Eltern-Kindmit Partner-Liebe andererseits eng und fast untrennbar zusammenhängen. Der Grund dafür ist schlicht und einfach, daß in all diesen Bereichen stets die gleichen Bühnenarbeiter und Schauspieler mitspielen. Beginnen wir mit der Bühnenarbeit. Liebe und Lust 89 Neurotransmitter sind chemische Botenstoffe, die Signale zwischen Nervenzellen übertragen. Diese synaptische Datenübertragung funktioniert schnell („elektronische Post“). Mittlerweile kennt man mehr als 30 verschiedene Neurotransmitter. Neurotransmitter bestehen meist nur aus einem einzigen Molekül, einer Aminosäure. So auch das für die Liebe wichtige Adrenalin und sein kleiner Bruder, das Noradrenalin. Beide sind Neurotransmitter im (unwillkürlichen) sympathischen Nervensystem. Beide Botenstoffe steigern blitzschnell die Herz-Kreislauf-Funktionen und versetzen den Körper so in eine Art Alarmzustand. Weitere wichtige Neurotransmitter für Lust und Liebe sind Dopamin und Serotonin. Dopamin gilt als das zentrale Belohnungshormon. Ein Mangel kann Parkinson, ein Überschuß Schizophrenie bewirken. In der richtigen Konzentration sorgt Serotonin für innere Ausgeglichenheit, ein Mangel kann Depression und Aggression bewirken. Hormone sind chemische Botenstoffe, die von endokrinen Drüsen in die Blutbahn ausgeschüttet werden. Deshalb wirken sie langsamer als die Neurotransmitter („hormoneller Briefversand“). Die Steuerzentrale der Hormonregulation ist die 0.5 g schwere Hypophyse, die wiederum über den Hypothalamus gesteuert wird (vgl. Abb. 1). Nur wenige Hormone produziert die Hypophyse selbst. Sie steuert jedoch die Freisetzung von Sexualhormonen, die überwiegend in den Eierstöcken (Östrogene, Progesteron) bzw. in den Hoden (Testosteron) gebildet werden. Ein geringerer Anteil von allen Sexualhormonen wird sowohl bei Männern als auch bei Frauen in der Nebenniere produziert. Adrenalin und Noradrenalin sind nicht nur Neurotransmitter, sondern auch Hormone, die im Nebennierenmark produziert werden. Sowohl Neurotransmitter als auch Hormone wirken über spezifische Rezeptoren. Daher bestimmt nicht allein die Konzentration der Botenstoffe, sondern auch die Menge und Empfindlichkeit der jeweiligen Rezeptoren die Effekte von Neurotransmittern und Hormonen. Neuropeptide bestehen aus einer Aneinanderreihung von relativ wenigen Aminosäuren. Sie wirken modulierend auf Neurotransmitter bei der synaptischen Übertragung, aber auch über die Blutbahn als Hormone. Wichtige Vertreter in der Liebesbrigade sind Oxytocin, Vasopressin und Prolaktin, die im Hypothalamus bzw. in der Hypophyse gebildet werden. Weitere Botenstoffe, die an der Regulation von Lust und Liebe beteiligt sind: Neurotransmitter: Acetylcholin, Histamin, GABA (Gamma-Amino-Butter-Säure). Steroidhormone: Kortison. Neuropeptide: ACTH (Adrenokortikales Hormon), a-MSH und verwandte Peptide, opioide Peptide (Endorphine), LH (Luteinisierendes Hormon), CRF (Corticotropin-releasing-factor), Neuropeptid Y, Galanine, Cholecystokinin, Substanz P und andere Tachykinine, VIP (Vasoactive intenstinale peptide) und Angiotensin II. Tab. 4.: Moleküle der Gefühle (nach Rauland 2001, Argiolas 1999, Meston & Frohlich 2000) SEXUALHORMONE UND GESCHLECHTSROLLEN Es gibt wohl kaum Punkte im Leben, in denen Menschen sich in so kurzer Zeit so drastisch dauerhaft ändern wie in der Pubertät. Diese Änderungen sind durch Modifikationen im Hormonhaushalt bedingt, d. h. vor allem (aber nicht nur) der Sexualhormone Testosteron und Östrogen. Sexualhormone sorgen für die Ausprägung der sekundären Geschlechtsmerkmale, sie 90 Henrik Walter steuern den Zyklus der Frau und sie regeln den Ablauf der Schwangerschaft. Außerdem machen sie uns vom Kind zu Mann bzw. Frau und verändern damit auch unser Denken entscheidend. Erst unter dem Einfluß der Sexualhormone beginnen wir, uns für Liebe und Sexualität zu interessieren und unser Leben anders einzurichten. Sexualhormone beeinflussen unser Befinden jedoch auch über die Pubertät hinaus: Beschwerden in den Wechseljahren, wenn die Hormonproduktion versiegt, Stimmungsschwankungen während des Menstruationszyklus, Lustverlust durch die Antibabypille, Depression nach der Geburt. Glatzenbildung, Potenz und Aggression hängen mit Testosteron zusammen, wenn auch in einer nicht immer einfach zu durchschauenden Weise. Eigentlich beginnt alles jedoch noch viel früher. Sexualhormone können nämlich ihre Effekte auf unsere Psyche nur dann entfalten, wenn das Gehirn auf die Flut der Hormone in der Pubertät vorbereitet ist. Im Prinzip erfolgt die weibliche bzw. männliche Prägung des Gehirns nämlich schon vor der Geburt. Und auch hier spielen die Sexualhormone die entscheidende Rolle. In der Embryonalentwicklung wird das Gehirn zunächst weiblich angelegt. Und so würde es auch bleiben, wenn nicht der Einfluß von Testosteron dafür sorgen würde, daß sich bei genetisch männlichen Individuen das Gehirn im letzten Drittel der Schwangerschaft verändert. Bleibt die Testosteronausschüttung in dieser kritischen Phase aus, z. B. durch hormonelle Störungen oder medikamentöse Einflüsse bei der Mutter, so entwickelt sich auch bei genetischen Männern ein weibliches Gehirn. Kurioserweise ist bei dieser Hirnprägung nicht das Testosteron selbst wirksam, sondern es wird zuvor in Östrogen umgewandelt. Bei genetisch weiblichen Individuen wird Testosteron deshalb nicht wirksam, da diese durch das Vorhandensein eines Eiweißstoffes, des sogenannten Alpha-Fetoproteins, geschützt werden. Die Hormoneinwirkung auf das fetale Gehirn hat auch Einfluß auf das Paarungsverhalten. Einigen Theorien zufolge werden die Sexualpräferenz (welches Geschlecht als Partner bevorzugt wird) und das Sexualverhalten (eher „männliche“ oder „weibliche“ Sexualität) zu verschiedenen Zeitpunkten geprägt (Moir & Jessel 1989, 114-125).. Eine der sicher nachgewiesenen Wirkungen der fetalen hormonalen Prägung besteht in der geschlechtsspezifischen Ausprägung der vorderen (präoptischen) Region des Hypothalamus: Diese ist bei männlichen Individuen wesentlich größer und neuronenhaltiger als bei weiblichen und ist für die Sexualorientierung und das Sexualverhalten besonders bedeutsam, wie experimentelle Untersuchungen an Nagern bewiesen haben. Diese Hirnregion wird z. B. dann aktiv, wenn ein männliches Tier sich einem potentiellen Partner nähert und mit ihm kopuliert. Sind diese Neuronen zerstört, ist auch das Kopulationsverhalten stark beeinträchtigt. Allerdings zeigen die Männchen immer noch Interesse an den Weibchen. Liebe und Lust 91 Die Tatsache, daß das Sexualverhalten bei genetisch männlichen Individuen von einer zeitlich kritischen Einwirkung von Testosteron abhängt, könnte erklären, warum die Neigung zur Homosexualität bei Männern häufiger vorkommt als bei Frauen. Bei der Entwicklung des weiblichen Gehirns geht alles auch ohne Testosteron seinen normalen Gang. Beim männlichen Gehirn gibt es dagegen viele Möglichkeiten, wie die zeitliche Abstimmung der embryonalen Testosteroneinwirkung, d. h. die vorgeburtliche hormonelle Prägung anders als üblich verlaufen kann (Moir & Jessel 1989).1 Auch Streß kann die sexuelle Prägung beeinflussen: Ist eine Rattenmutter gestreßt, so zeigen ihre genetisch männlichen Nachkommen im Durchschnitt weniger männliche Eigenschaften, sind häufiger homosexuell interessiert und zeigen mehr mütterliches Verhalten. Dies ist vermutlich dadurch bedingt, das eine streßbedingte Vermehrung körpereigener Opiate (Endorphine) eine zeitlich verfrühte Ausschüttung von Testosteron bewirkt. Ob diese Tiere tatsächlich homosexuell werden, hängt aber auch von ihren Lernerfahrungen ab. Werden die verweiblichten männlichen Nachkommen mit sexuell aktiven Weibchen aufgezogen, entwickeln sie sich in der Regel doch zu heterosexuell orientierten Männchen. Nun kann man auch fragen, warum (und nicht: wie) Streßsituationen zu einer höheren Ausprägung an Homosexualität führen. Mit anderen Worten: Hat die Homosexualität einen tieferen naturgeschichtlichen Sinn? Oder ist sie, wie manche Konservative gerne argumentieren, ein widernatürliches Verhalten? Diese Frage bezieht sich auf ultimate Erklärungen – und für sie existiert auch eine Antwort. Diese kommt aus der Soziobiologie. Mit Hilfe der Homosexualität können sich Populationen an schwierige Lebensbedingungen anpassen. Aufgrund der engen physiologischen Verflechtung von Brunst- und Brutpflegeverhalten zeigen homosexuell orientierte Männchen auch vermehrt mütterliches Verhalten. Unter schwierigen Lebensbedingungen ist es vorteilhaft, wenn der ohnehin geringzahlige Nachwuchs gut versorgt wird. Und dies ist nicht nur von Vorteil für den Nachwuchs: Wie populationstheoretische Überlegungen verdeutlichen, hat der brutpflegende Verwandte einen Vorteil davon: So wie Eltern 50% ihrer genetischen Ausstattung über ihre Kinder weitergeben, so gibt auch ein direkter Verwandter 25% seiner genetischen Ausstattung über seine Geschwister weiter. Dies erklärt, warum Homosexualität evolutionär vorteilhaft sein kann, obwohl dies auf den ersten Blick nicht möglich erscheint, da sich homosexuell orientierte Lebewesen im Regelfall nicht fortpflanzen. Vor allem erklärt es, warum sich Homosexualität in der Naturgeschichte erhalten hat: Schließlich bringt sie, evolutionstheoretisch gesehen, auch Vorteile. Insofern kann nicht 1 Beim Menschen gibt es neuropathologische Hinweise bei an AIDS verstorbenen homosexuellen Männern, daß Homosexualität mit einer veränderten Größe hypothalamischer (präoptischer) Kerngebiete zusammenhängen könnte (LeVay 1993). 92 Henrik Walter behauptet werden, sie sei widernatürlich – ganz abgesehen von der trivialen Tatsache, daß eine mögliche „Widernatürlichkeit“ eines Verhaltens, für sich genommen, kein (moralisches) Argument gegen dieses Verhalten darstellt. DIE ALCHEMIE VON LUST UND LIEBE – SEXUALHORMONE UND PAARVERHALTEN DHEA (Dehydroepiandrosteron) ist „die Mutter aller Hormone“, d. h. die chemische Vorstufe der meisten anderen Geschlechtshormone.2 Es hat von allen Hormonen sowohl bei Männern wie bei Frauen die höchste Konzentration, bei erwachsenen Männern etwa das 100 bis 500-fache von Testosteron. Im Gegensatz zu anderen Hormonen erreicht es schon im 25. Lebensjahr seinen Höhepunkt und fällt dann im weiteren Verlauf des Lebens kontinuierlich ab. In gewisser Weise teilt DHEA uns mit, wann wir zum Sex bereit sind oder nicht. Falls Ergebnisse aus Tierstudien auch für uns gelten, so ist DHEA am Geschlechtstrieb beteiligt, am Orgasmus und am SexAppeal. Orale Empfängnisverhütungsmittel senken den DHEA-Spiegel, was Anlaß zu der Frage gibt, wie und warum diese eigentlich wirken. DHEA hat auch vielfältige andere Wirkungen, so verbessert es kognitive Fähigkeiten, schützt das Immunsystem, beugt Krebs vor, wirkt antidepressiv, bewirkt Abbau von überflüssigen Fettsäuren, senkt den Cholesterinspiegel und fördert das Knochenwachstum. Daher ist es nicht verwunderlich, daß es in der Medizin vielfältig eingesetzt wird und als Jungbrunnen gilt. Die Wirkung von Testosteron auf unser Sexualverhalten ist nach einem plastischen Vergleich von Crenshaw am ehesten mit dem jungen Marlon Brando vergleichbar – erotisch, sinnlich, verführerisch, dunkel, aber mit gefährlichem Unterton. Testosteron ist, übrigens bei Männern wie Frauen, für unseren aggressiven Geschlechtstrieb verantwortlich, der uns dazu bringt, Sex zu suchen, die Initiative zu ergreifen und zu beherrschen. Es stimuliert das Verlangen auch unmittelbar, vielleicht weil es den Dopamin-Spiegel erhöht. Allerdings wirkt es, entgegen einer weit verbreiteten Meinung, mehr auf den Trieb als auf die Potenz oder die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs. Testosteron ist auch unser „Kriegshormon“: Es löst Angriffslust, Konkurrenzgefühle und sogar Gewalt aus. Es macht reizbar und risikobereit. Ohne Testosteron markiert ein Wolf weder sein Revier, noch greift er Eindringlinge an. Und es ist, so läßt sich hier nahtlos anfügen, sicherlich kein Zufall, warum junge Männer sehr viel leichter zu Gewalttaten und kriegerischen Tätigkeiten zu motivieren sind, als ältere Männer oder Frauen. 2 Einen Überblick über den Zusammenhang des neuroendokrinen Systems (des Systems der inneren Drüsen) gibt Abb. 1. Liebe und Lust 93 Testosteron wirkt als starkes Aphrodisiakum – für beide Geschlechter – ist dabei aber seltsam widersprüchlich. Einerseits fördert es das Verlangen nach Geschlechtsverkehr und Orgasmus, andererseits bewirkt es eine Reizbarkeit (insbesondere wenn es jäh in die Höhe schnellt) und Rücksichtslosigkeit, die einen für das andere Geschlecht unter Umständen gerade unattraktiv machen. Auf jeden Fall bewirkt es einerseits das Verlangen nach Sex, anderseits aber auch das Bedürfnis, allein zu sein und sexuelle Situationen vollkommen unter Kontrolle haben zu wollen. Deshalb fördert es nachgewiesenermaßen besonders die Masturbation oder Abenteuer für eine Nacht. Abb. 1: Neuroendokrines System (verändert nach Hülshoff 1999, 136) Im Hypothalamus werden Freisetzungshormone (releasing hormones = RH) gebildet, die dazu führen, daß Hormone aus dem Vorderlappen der Hypophyse freigesetzt werden, die auf innere Drüsen wirken (ACTH = Adrenocorticotropes Hormon, FSH = Follikelstimulierendes Hormon, LH = Luteinisierendes Hormon). Oxytocin (und Vasopressin, hier nicht gezeigt) werden im Hypothalamus gebildet und werden einerseits in verschiedene Hirnareale ausgeschüttet, andererseits in den Hinterlappen der Hypophyse transportiert und von dort ins Blut abgegeben. PEA = Phenylethylamin. In der Hypophyse werden noch weitere, hier nicht gezeigte Hormone gebildet wie das TSH, STH und MSH. Östrogen ist dagegen die „Marilyn Monroe“ der Hormone. Es ist verantwortlich für eine gewisse Weichheit, sowohl körperlich als auch seelisch, und verstärkt die Anziehungskraft von Frauen auf Männer. Östrogen be- 94 Henrik Walter wirkt das Wachstum der Brüste und stattet die Frau mit den grundlegenden körperlichen Merkmalen des Sex-Appeals aus. Der Geruch und der Geruchssinn einer Frau stehen unter dem Einfluß von Östrogen. Wenn Östrogen am Werk ist, nimmt eine Frau ihren Partner in die Arme und sehnt sich nach Penetration. Es steuert ihre Empfänglichkeit und läßt sie nachgiebig gegenüber dem Mann werden, der, unter dem Einfluß von Testosteron stehend, nicht anders kann, als ihr nachzustellen. Interessanterweise hat Östrogen auch einen Einfluß auf kognitive Funktionen, wie etwa die räumliche Vorstellungskraft. Viele der kognitiven Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind davon abhängig, in welcher Phase des Menstruationszyklus sich diese befinden. Oder, wie es der Kognitionspsychologe Güntürkün (1999) einmal pointiert ausgedrückt hat: In der Regel denken Frauen anders. Dies gilt im übrigen nicht nur für kognitive, sondern auch und gerade für emotionale Funktionen, wie die Existenz des PMS (prämenstruelles Syndrom) zeigt. Das Progesteron, das andere am weiblichen Menstruationszyklus beteiligte Hormon, ist ein natürlicher „Triebtöter“. Es läßt das sexuelle Verlangen erlöschen, in erster Linie, indem es, wiederum bei beiden Geschlechtern, Testosteron reduziert. Gestagen, das synthetische Progesteron wird u. a. zur chemischen Kastration bei Triebtätern eingesetzt. Außerdem ist es der Hauptwirkstoff der sogenannten Minipille. Vermutlich wirkt die Minipille vor allem auf eine Weise empfängnisverhütend, die ursprünglich nicht vorgesehen war, nämlich durch Beendigung des sexuellen Interesses. Überdies verringert Progesteron bei Tieren positive sexuelle Geruchsstoffe (Pheromone) und kann sogar dazu führen, daß eine Frau für den männlichen Geruchssinn abstoßend wirkt – was natürlich die Wahrscheinlichkeit einer reizvollen Begegnung am Samstagabend stark herabsetzt. Im Bereich des Brutpflegeverhaltens wirkt Progesteron paradox. Einerseits macht es – ähnlich wie Testosteron – Weibchen reizbar und aggressiv. Andererseits ist es am mütterlichen Reflex, den Nachwuchs zu schützen, wesentlich beteiligt. Doch bei näherem Hinsehen (aus ultimater Perspektive) sind diese Wirkungen zusammengenommen gar nicht so „unsinnig“. Im Tierreich greifen Männchen oft ihre Jungen an und fressen sie mitunter sogar auf. Daher ist es sinnvoll, daß Weibchen ihre Jungen gegen männliche Artgenossen, die ja potentielle Sexualpartner sind, aggressiv verteidigen. Zu diesem Zweck ist es natürlich hilfreich, wenn gleichzeitig ihr sexuelles Verlangen drastisch reduziert ist. Auch Pheromone sind Derivate des DHEA. Sie sind Lockstoffe, sexuelle Signale, die über den Geruch von einem Individuum zum anderen weitergeleitet werden. Bei Tieren steuern Pheromone die Balz und die Paarung in ganz entscheidender Weise. Beim Menschen sind visuelle Signale vermutlich wirksamer als Geruchssignale. Aber auch beim Menschen beeinflussen Pheromone durch unterschwellige Wirkungen auf das sexuelle Geruchs- Liebe und Lust 95 empfinden möglicherweise die Wahl des Partners (Rauland 2001). Die Düfte, die hier eine Rolle spielen, werden vor allem über den Schweiß abgesondert. Männlicher Schweiß enthält das moschusartig duftende Androstenon oder das eher nach Urin riechende Androstenol in sechsfach höherer Konzentration als Frauenschweiß. Daher riechen Männer auch strenger. Allerdings heißt dies nicht, das verschwitzte Männer besonders attraktiv sind. Im Gegenteil: Eigentlich wirkt dieser Duft in hohen Konzentration eher abstoßend. Allerdings ändert sich die Empfindlichkeit der Frauennase in Abhängigkeit vom Zyklus. Sind sie kurz vor dem Eisprung, wird dieser Duft nicht als so unangenehm empfunden. Fehlen die männlichen Ausdünstungen in der Umgebungsluft, wie etwa in Internaten und Klöstern, haben die Frauen ihre erste Menstruation später und seltener einen Eisprung. Frauen strömen hauptsächlich über ihre Vagina sogenannte Kopuline aus, einen Geruchscocktail aus verschiedenen Fettsäuren. Diese wirken anziehend auf Männer vor allem dann, wenn die Frau kurz vor dem Eisprung steht. Zugleich erhöhen Kopuline die Ausschüttung von Testosteron beim Mann. All diese Mechanismen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, daß es zur Paarung dann kommt, wenn die Frau empfängnisbereit ist. Die (unbewußte) Attraktionskraft von Androstenon und Kopulinen auf das jeweils andere Geschlecht läßt sich direkt nachweisen. Dies zeigen psychologische Experimente, bei denen Stühle in einem leeren Raum mit menschlichen Pheromonen ausgezeichnet waren: z. B. durch die Befestigung eines benutzten Tampons unter einem Stuhl oder durch das Einsprühen von Stühlen mit Androstenon. Es zeigte sich, daß Männer und Frauen, ohne daß sie dies wußten, beim Betreten eines leeren Raumes mit mehreren Stühlen genau diese bevorzugten, die mit Lockstoffen imprägniert waren. Tatsächlich gibt es sogar ein Organ für diesen sechsten Sinn, das sogenannte Nasovomeral-Organ (Rauland 2001). Dabei handelt es sich um eine 0,2 bis 2 mm große Struktur, die in der Nasenscheidewand unten auf dem Boden der Nase sitzt und die eng mit dem Hypothalamus, der Produktionsstätte vieler Hormone, verbunden ist. Die Reichweite der Pheromone ist allerdings auf wenige Zentimeter begrenzt, so daß sie erst dann richtig wirksam werden, wenn potentielle Partner sich körperlich näherkommen. Interessanterweise gibt es abgesehen von den Achselhöhlen noch eine andere Region, die pheromonreich ist: Dies ist der Ort zwischen den Nasenflügeln und unserem Mund, die Stelle also, der wir beim Küssen mit unserer Nase besonders nahe kommen. Der Kuß, so Rauland, wird somit auch „nasentechnisch“ zu einem angenehmen und elektrisierenden Erlebnis. Damit bewegen wir uns von der Sexualität mehr in Richtung Liebe. Und an dieser Stelle müssen wir ein Molekül besprechen, das einen außerordentlichen Ruf als Liebemolekül erlangt hat. Was hat es damit auf sich? 96 Henrik Walter DAS „LIEBESMOLEKÜL“ PEA PEA (Phenylethylamin) wurde mit der romantischen Liebe in Verbindung gebracht, genauer gesagt, mit dem Phänomen der Verliebtheit. Wenn Sie auf Wolken schweben, laut singen und euphorisch verliebt sind, dann ist wahrscheinlich PEA am Werk. PEA ist eine natürliche amphetaminähnliche Substanz – eine pflanzliche amphetaminähnliche Substanz ist das Kokain! PEA ist in Schokolade, im Blut von Verliebten und Diätgetränken enthalten. Ein niedriger PEA-Spiegel oder ein jähes Absinken seiner Konzentration könnte eine Erklärung für Liebeskummer sein. Entdeckt wurde PEA in den sechziger Jahren. Bei Ratten bewirkt die Gabe von PEA, daß sie vergnügt hin und herspringen und lauthals quieken, was von den Forschern als Popcorn-Verhalten bezeichnet wurde. RhesusAffen begeistern sich in Vergnügungsschreien oder Glücksrufen und schmatzen mit den Lippen. Sie fühlen sich sichtlich wohl. Doch bekannt als Liebesmolekül wurde PEA erst später. Im Jahre 1979 veröffentlichten die beiden New Yorker Psychiater Michael Liebowitz und Donald Klein eine Studie über Liebessüchtige, in der Mehrzahl Frauen. Sie vermuteten als Ursache eine Störung des PEA-Stoffwechsels. Der zu niedrige PEA-Spiegel, so die These, ließ die Patienten wie Süchtige immer wieder nach dem neuen PEA-Kick gieren. Richtig populär wurde diese These, als Liebowitz 1983 sein Buch The Chemistry of Love veröffentlichte. Plötzlich schien das Phänomen Verliebtsein reduzierbar auf ein einziges Molekül. Wie aufregend! Durch die Gabe spezieller Antidepressiva (MAO-Hemmer) ist es möglich, die Konzentration von PEA zu erhöhen. Liebowitz behandelte einige seiner Liebessuchtpatienten mit MAO-Hemmern und in der Tat begann zum Beispiel ein Mann, seine Partnerinnen sorgfältiger auszuwählen und weniger unter dem suchtähnlichen Phänomen zu leiden. Vorher hatte ihm keine Verhaltens- und Gesprächstherapie helfen können. PEA ist, wie oben schon erwähnt, unter anderem in Schokolade enthalten. Immer wieder wird behauptet, daß man bei Liebeskummer dem süßen Genuß von Schokolade frönt, um den PEA-Spiegel anzuheben. Dies leuchtet unmittelbar ein. Diese These hat nur einen Schönheitsfehler: PEA in der Schokolade gelangt überhaupt nicht ins Gehirn. Wahrscheinlich beschränkt sich der beruhigende Effekt von Schokolade daher auf den Magen und den Darm. Auch wird PEA nicht nur mit positiven Effekten in Verbindung gebracht. So konnte eine erhöhte Ausschüttung von PEA in Phasen hohen Stresses nachgewiesen werden, nämlich bei Ehepaaren in Scheidung und bei Fallschirmspringern. Was ist also von PEA in Bezug auf Lust und Liebe zu halten? Nun, es gibt, wie geschildert, klare Evidenzen für eine Rolle des PEAs beim Phänomen des Liebeskicks. Kritisch anzumerken ist jedoch, daß einige dieser Evidenzen auch anders erklärt werden können, so etwa die Wirkung von Anti- Liebe und Lust 97 depressiva auf Liebessüchtige. Zudem gibt es trotz vieler Spekulationen zur Zeit keinen Nachweis von PEA-Rezeptoren im Gehirn. Auch gibt es wenig Wissen über die Wechselwirkung von PEA mit anderen Liebesmolekülen. Dies ist ganz anders bei den zuvor geschilderten Hormonen, über die man sehr viel mehr weiß. Insofern muß man die Rolle des PEAs relativieren. Einige der Liebeskickphänomene lassen sich auch ohne PEA erklären, etwa über die ACTH-vemittelte Freisetzung von Cortison und Adrenalin, wie es Miketta und Tebel-Nagy ausgeführt haben. Der Adrenalinstoß, dem wir uns bei Begegnungen mit unserem Objekt der Begierde ausgesetzt sehen, kann viel vom Liebeskick – das Herzklopfen, die Aufregung, die schweißnassen Hände – erklären. Die adrenalinvermittelte Erregung kann dabei nicht nur Teil der Verliebtheit sein, sondern auch erst dazu führen; dies zeigten sozialpsychologische Experimente der sechziger Jahre, die die Grundlage für die Zwei-Faktoren-Theorie der Emotion waren (Emotion = unspezifische physiologische Erregung plus spezifischer Inhalt). Wenn sich zwei Menschen gemeinsam in einer Situation befinden, die eine allgemeine Erregung hervorruft (z. B. Stehen auf einer schwindelerregenden Hängebrücke) so führt das zu einer höheren gegenseitigen Attraktivitätseinschätzung. Nicht umsonst verlieben sich in vielen Filmen die Protagonisten in gemeinsam durchlittenen gefährlichen Situationen ineinander. Allerdings kann es genauso gut sein, daß man in Zukunft weitere und bessere Evidenzen über die Rolle von PEA beim Verliebtsein entdecken kann. Was sich jedenfalls festhalten läßt, ist, daß ein so komplexes Phänomen wie Verliebtheit – von der Liebe ganz zu schweigen – mit Sicherheit nicht auf ein einziges Molekül zurückgeführt werden kann. Dies wäre genauso falsch, wie die Schizophrenie mit nichts anderem als einem DopaminMangel und die Depression mit einem Serotonin-Mangel zu identifizieren, oder Schmerzen ausschließlich mit der Erregung von C-Fasern. Solche verkürzenden Aussagen müssen eher unserem verständlichen Drang nach Vereinfachung zugeschrieben werden oder dem Wunsch, durch provozierende Thesen Popularität zu gewinnen. Wie Miketta und Tebel-Nagy schreiben, gebührt Liebowitz und Klein trotz allem ein großes Verdienst. Sie haben Anfang der achtziger Jahre die Neurochemie der Liebe zu einem Forschungsgebiet erhoben und eine kontroverse Diskussion in Gang gesetzt. Auch wenn wir Verliebtsein oder Liebe nicht auf die Wirkung eines Moleküls reduzieren können, folgt daraus keineswegs, daß wir Lust und Liebe nicht durch ein komplexes Zusammenspiel einer Vielzahl von Molekülen zu wesentlichen Teilen erklären könnten. Zu dieser Erklärung gehören unbedingt das Verständnis weiterer Moleküle und ihrer Wirkungen, die die enge Verbindung von Elternliebe und Partnerliebe aufzeigen. Ihnen wollen wir uns nun zuwenden. 98 Henrik Walter BINDUNGSMOLEKÜLE Unter Bindungsmolekülen sollen hier Moleküle verstanden werden, die sowohl bei der Mutter-Kind-Beziehung als auch bei Frau-Mann-Beziehungen von Relevanz sind. Prolaktin ist ein „sanftes“ Hormon, das wie der Name schon andeutet, vor allem dazu dient, die Milchproduktion bei Müttern in Gang zu setzen. Wenn der Prolaktin-Spiegel ansteigt, nimmt der Geschlechtstrieb ab. Wenn es bei Männern zu einer abnorm hohen Prolaktin-Konzentration kommt, verlieren sie ihren Sexualtrieb und werden impotent. Diese Entwicklung ist nach Normalisierung des Prolatkin-Spiegels reversibel. Dopamin steigert indirekt das sexuelle Verlangen, indem es Prolaktin hemmt. Umgekehrt können bestimmte Dopamin-Hemmer, wie sie etwa bei der Behandlung der Schizophrenie eingesetzt werden, zu einem Prolaktin-Anstieg führen, der als ungewünschte Nebenwirkung zu Libidoverlust und – bei Frauen – zu einer Milchsekretion führt. Östrogen erhöht die Prolaktin-Ausschüttung nach und nach und mindert daher den aggressiven Geschlechtstrieb, so daß das rezeptive Verlangen bei der Frau überwiegt. Die Wirkung des Prolaktins erscheint aus evolutionärer Perspektive sinnvoll. Prolaktin selbst hält einerseits die Milchproduktion in Gang. Andererseits ist es so, daß das Saugen des Babies den Prolaktin-Wert auf das bis um Zehnfache erhöht. Bei Frauen, die ihr Kind regelmäßig stillen, verändert sich der Prolaktin-Spiegel – und damit ihr sexuelles Verlangen – erheblich. Es ist eine geradezu „weise“ Einrichtung der Natur, daß junge Mütter erst wieder ein Kind empfangen können, wenn das vorhergehende abgestillt ist. Was könnte eine Mutter besser vor einer erneuten Schwangerschaft schützen als eine verringerte Libido, oder, falls das noch nicht ausreicht, die Unterbindung des Eisprungs? Diese Wirkung hat Prolaktin. Prolaktin spielt auch beim Geschlechtsakt eine Rolle, indem es nach dem Orgasmus jäh und steil ansteigt. Vermutlich ist es für die reduzierte bzw. fehlende Lust nach dem Orgasmus verantwortlich. Das Wissen um solche Zusammenhänge kann für viele Beziehungen von höchster praktischer Relevanz sein. Viele Paare, insbesondere nach Geburt ihres ersten Kindes, leiden darunter, daß sich mit dem Kind nicht nur das Leben im Allgemeinen, sondern auch das Sexualleben im besonderen stark verändert. Dies hat keineswegs nur mit der neuen sozialen Rolle der Mutter zu tun, sondern ist – bei stillenden Müttern – eine direkte Konsequenz proximater Mechanismen: Je intensiver eine Frau stillt, desto höher ihr Prolaktin-Spiegel und desto geringer ihre Libido. Wichtig dabei ist zusätzlich zu wissen, daß Prolaktin lediglich die initiale Phase des Sexualverhaltens beeinträchtigt, die Libido. Die sinnliche Genußfähigkeit und die Orgasmusfähigkeit werden durch Prolaktin dagegen nicht beeinträchtigt. Liebe und Lust 99 Zwei Hormone, die viel mit der Entwicklung der emotionalen Bindung zwischen Mutter und Kind, sowie zwischen Mann und Frau zu tun haben, sind Oxytocin und Vasopressin. Als Kurzcharakterisierung benutzt Crenshaw die Stichworte „hormoneller Superkleber“ (Oxytocin) und „Monogamiemolekül“ (Vasopressin). Miketta spricht ganz ähnlich und ebenfalls sehr passend vom „Kuschelhormon“ bzw. „Treuehormon“. Beide Hormone sind Polypeptide, die aus neun Aminosäuren bestehen und sehr eng miteinander verwandt sind (sie unterscheiden sich nur durch zwei Aminosäuren). Wie so viele der nützlichen und wichtigen Moleküle unseres Seelenlebens (z. B. das Serotonin), sind diese entwicklungsgeschichtlich uralt und kommen schon bei einfachen Organismen vor. Beide sind in der Medizin schon länger bekannt und werden therapeutisch genutzt. So wird Oxytocin zur Weheneinleitung in der Geburtshilfe eingesetzt, Vasopressin dient der Regulierung des Wasserhaushaltes und des Durstes und kann als Nasenspray gegeben werden, um eine Form des Diabetes, der mit starkem Wasserverlust einhergeht (Diabetes insipidus), zu behandeln. Doch das Wissen um ihre Rolle für das Sexualverhalten und den Aufbau menschlicher Bindungen ist jünger und noch längst nicht so verbreitet. Oxytocin ist ein gutes Beispiel dafür, daß ein evolutionär altes Molekül in den proximaten Mechanismen sowohl der Brutpflege als auch der Brunst eine wesentliche Rolle spielt. So wirkt es bei Frauen in verschiedenen Phasen der Mutterschaft: Während der Geburt sorgt es z. B. dafür, daß sich der Uterus zusammenzieht. Deswegen wird es als Wehenmittel eingesetzt. Allerdings zeigt sich hier, wie wichtig die genaue zeitliche Feinabstimmung für seine Wirkung ist: Oxytocin wird in Kernen des Hypothalamus produziert, in die Hypophyse transportiert und dort in die Blutbahn abgegeben. Es wird innerhalb weniger Minuten abgebaut. Die Freisetzung erfolgt allerdings nicht kontinuierlich, sondern pulsatil, d. h. in Schüben. Deshalb wirkt Oxytocin auch als Wehenmittel besser, wenn man es schubförmig verabreicht. Nach der Geburt spielt Oxytocin eine Rolle beim Stillen. Das Saugen des Säuglings (!) bewirkt eine Oxitocin-Freisetzung, diese wiederum einen erhöhten Milchfluß. Doch Oxytocin hat beim Stillen nicht nur mechanische Wirkungen (Milchfreisetzung), sondern wirkt auch auf die Stimmung der Mutter: Es verschafft angenehme, manchmal nahezu lustvolle Gefühle. Viele Frauen berichten, daß Stillen sie beruhigt und in gewissem Sinne erotisierend auf sie wirkt. Diese emotionale Wirkung schafft vor allem eines: Sie verstärkt die emotionale Bindung von der Mutter an ihr Kind. Die positive Wirkung von Oxytocin auf Brutpflegeverhalten läßt sich im Tierversuch experimentell demonstrieren: Spritzt man einer jungfräulichen Ratte das Hormon in eine bestimmte Hirnregion, leckt sie sofort fürsorglich neugeborene Ratten ab. Ohne Oxytocin würde sie die Kleinen gar nicht beachten, sondern unter Umständen sogar töten. Auch bei Männchen bewirken solche Injektionen, daß sie sich viel zärtlicher um ihre Jungen küm- 100 Henrik Walter mern, das Nest sorgfältiger bauen und die Jungen selbstlos beschützen. Bei Schafen ist Oxytocin an der Prägung von Mutterschafen auf ihr Junges beteiligt. Wenn Schafe mit Oxytocin-Hemmern behandelt werden, kümmern sie sich nicht um ihre Lämmer. Die Gabe von Oxytocin führt dagegen zu mütterlichem Verhalten. Wenn einem Schaf ein neugeborenes Lamm als Pflegekind vermittelt werden soll, so geht dies relativ einfach: Es muß in Kontakt mit dem Lamm gebracht werden bei gleichzeitiger Stimulation der Vagina (die zu einer Oxytocin-Ausschüttung führt). Dies ist australischen Schafzüchtern schon seit Generationen bekannt. Doch Oxytocin (und Vasopressin) wirken auch auf das Partnerverhalten. So wurde bei männlichen menschlichen Versuchspersonen der Plasmalevel von Vasopressin und Oxytocin während sexueller Aktivitäten gemessen (Murphy et al. 1987). In Phasen sexueller Erregung zeigte sich ein deutlicher Gipfel des Vasopressin-Spiegels (ein erhöhter Vasopressin-Spiegel geht durch seine Kopplungen mit Testosteron auch mit erhöhter Aggressivität einher.) Vor der Ejakulation fällt der Vasopressin-Spiegel ab und während der Ejakulation zeigt sich ein Oxytocin-Peak. Wird Männern vor der Ejakulation ein Oxytocin-Hemmer verabreicht (der die Wirkungen des Oxytocin neutralisiert) so ist der Orgasmus zwar noch möglich, aber deutlich weniger lustvoll. Bei Frauen steigt der Oxytocin-Spiegel während des Orgasmus ebenfalls an und führt zu den typischen muskulären Kontraktionen des Uterus während des weiblichen Orgasmus. Die sexuell stimulierende Wirkung von Oxytocin ist bei Tieren gut beschrieben. So erhöht seine Gabe die Paarungsbereitschaft und die entsprechenden Aktivitäten sowohl bei Weibchen wie bei Männchen. Vermutlich ist es aber auf das Zusammenspiel mit Testosteron angewiesen, da Oxytocin diese Wirkungen bei kastrierten Männchen nicht zeigt. Auch beim Menschen ist die sexuell stimulierende Wirkung von Oxytocin beschrieben. Bei Forschungen zu den kognitiven Wirkungen von nasal appliziertem Oxytocin zeigte sich, daß bei Männern eine Nebenwirkung auftrat, nämlich ungewollte Erektionen. Oxytocin wird öfter auch als Orgasmushormon bezeichnet. Die beim Orgasmus freigesetzten hohen Oxytocindosen bewirken übrigens eine Entspannung und Müdigkeit – hohe künstlich zugeführte Dosen lösen einen Gähnreflex aus. Ist Oxytocin so etwas wie die „chemische Zigarette danach“? Auf jeden Fall ist es vermutlich am Gefühl der engen persönlichen Verbundenheit nach einer befriedigenden sexuellen Begegnung beteiligt, so ähnlich, wie es die Bindung zwischen stillender Mutter und ihrem Säugling verstärkt. Es ist nachgewiesen worden, das Oxytocin auch durch Zärtlichkeit gesteigert werden kann. Die moderate Ausübung taktiler Reizung auf das Hautorgan in rhythmischen Abständen, mit anderen Worten: das Streicheln, bewirkt eine Freisetzung von Oxytocin und führt zu einer Beruhigung und einem Wohlgefühl, das die Bindung der beteiligten Personen verstärkt. Liebe und Lust 101 Oxytocin und Vasopressin haben auch Wirkungen auf das Sozialverhalten gegenüber Partnern. Dafür existiert ein Tiermodell, das deshalb interessant ist, da es aus zwei Spezies besteht, die sich sehr ähnlich sind, sich aber im Sozial- und Bindungsverhalten drastisch unterscheiden (Carter et al. 1999). Es handelt sich um zwei Arten der Lemminge, nämlich die Präriewühlmaus aus Illinois und die Bergwühlmaus aus Wyoming. Die plakative Story dazu lautet: Die Präriewühlmaus ist monogam, die Bergwühlmaus nicht. Und dies, so die Botschaft für die Regenbogenpresse, sei allein durch das „Monogamiemolekül“ Vasopressin bedingt. Doch ganz so simpel ist die Sache natürlich nicht. Monogamie ist, auch bei Tieren, immer eine relative Sache. Ungefähr drei Prozent der Säugetierarten sind monogam. Unter Monogamie versteht man in der Ethologie eine Form des Sozialverhaltens, das charakterisiert ist durch Paarbindung (die selektiv, d. h. auf ein Individuum bezogen ist), elterliche Fürsorge und Nestverteidigung. Auch monogame Tiere gehen öfters „fremd“, wie genetische Untersuchungen nachgewiesen haben. Die Wühlmäuse sind aus zwei Gründen ein interessantes Studienobjekt: Zum einen gewöhnen sich wilde Wühlmäuse relativ leicht an die Gefangenschaft, so daß es möglich ist, mit ihnen quantitative Versuche zum Sozialverhalten durchzuführen. Zum anderen existieren zwei Arten mit deutlichen Unterschieden bezüglich der Monogamie bei sonst sehr starker Ähnlichkeit. Die Präriewühlmaus verbringt nach der ersten Kopulation mit ihrem Partner viel Zeit; sie sitzen häufig aneinandergeschmiegt herum, sie verteidigen ihr Nest gegen fremde Eindringlinge gemeinsam und das Männchen hilft fleißig beim Nestbau und der Jungenaufzucht. Beim Tod des Partners sucht die Präriewühlmaus nur höchst selten einen neuen Partner. Ganz anders die Bergwühlmäuse: Sie teilen nicht ihr Nest, leben nicht in einem sozialen Verband, suchen kaum Körperkontakt und zeigen überhaupt keine Partnerpräferenz. Man wunderte sich schon lange, daß man die Präriewühlmäuse meist nur in Paaren fing. Die Tiere entwickeln ihre Partnerbindung nach der ersten Kopulation. Trennt man die Tiere künstlich, so behalten sie eine Vorliebe für Ihren Partner fast eine Woche lang. Nach etwa 15 Tagen ist diese besondere Anhänglichkeit des Paares allerdings gelöscht. Was sind die zugrundeliegenden Mechanismen dieses Verhaltens? Wie man herausfand, spielen hierbei die Bindungshormone eine entscheidende Rolle, wobei Vasopressin vor allem bei Männchen, Oxytocin vor allem bei Weibchen beteiligt ist. Wenn es bei Präriewühlmäusen zur Kopulation kommt – in der Regel etwa 100 Kopulationen in 36 Stunden –, wird das Gehirn des Männchens mit Vasopressin überflutet. Daraufhin fängt es an, sein Weibchen bzw. das Nest zu verteidigen, bleibt seiner „Gattin“ treu, kümmert sich um die Jungen und ist ausgesprochen aggressiv gegen fremde Männchen. Bei der Bergwühlmaus findet sich dieses Verhalten nicht. Autoradiographische Studien zeigen völlig unterschiedliche Verteilungen der Vasopressin-Rezeptoren bei 102 Henrik Walter beiden Arten. Außerdem läßt sich das postkoitale monogame Verhalten der Präriewühlmaus durch Gabe eines Vasopressin-Blockers in das Gehirn vor der Kopulation verhindern. Wie erzeugt Vasopressin diese Effekte? Nun, zum einen bewirken Vasopressin-Infusionen auch bei „jungfräulichen“ Tieren aggressives Verhalten, was die Nestverteidigung und die Aggression gegen Nebenbuhler erklärt (gegenüber Jungen wird ein Vasopressininfundiertes Männchen jedoch nicht aggressiv). Zum anderen ist Vasopressin bekannt für seine positive Wirkung auf das Gedächtnis. Dies könnte dazu führen, daß das Männchen seine „Gattin“ und seine Jungen besser geruchlich erkennen und sich an sie erinnern kann. Diese Erklärung, wenn sie denn zutrifft, zeigt sehr schön, wie sich ein komplexes Verhalten („Monogamie“) dadurch erklären läßt, daß neurochemische Änderungen, Verhaltenskomponenten beeinflussen, aus denen sich das komplexere Verhalten zusammensetzt. Beim Weibchen übernimmt offenbar das Oxytocin die Hauptrolle. Hier zeigt sich, daß eine Blockade des Oxytocins zu einer Aufhebung der Partnerpräferenz führt (ohne Beeinflussung des Kopulationsverhaltens). Auch hier zeigen Prärie- und Bergwühlmäuse ein unterschiedliches Rezeptorprofil. Bei Präriewühlmäusen kommt es unter anderem zu einer höheren Rezeptorkonzentration im Nucleus accumbens, dem Belohungszentrums des Gehirns. Dies kann so interpretiert werden, daß das Weibchen dem Männchen deshalb treu bleibt, weil es durch die Kopulation belohnt wurde, sich dies merkt und mehr davon haben möchte. Die Wirkungen der Bindungshormone sind vermutlich nur im Zusammenspiel mit der Kaskade anderer Hormone und Transmitter zu verstehen. So hängt die Aggressivität bei der Nestverteidigung einerseits mit dem Testosteron zusammen, andererseits weiß man, daß Prolaktin dabei ebenfalls eine Rolle spielt. Das Streßhormon Corticol wirkt ebenfalls auf das Bindungsverhalten der Wühlmäuse, allerdings in unterschiedlicher Weise bei den Geschlechtern. Zur Zeit arbeiten die Forscher daran, die genetische Regulation dieser Hormone zu untersuchen. So wurde ein Gen mit dem Rezeptor, der Vasopressin bindet, von monogamen Präriemäusen auf Labormäuse verpflanzt. Wenn man diesen Mäusen Vasopressin injiziert, zeigen sie vermehrt gesellige Verhaltensweisen (Young et al. 1999). Da sich die Genfamilie, die Vasopressin und Oxytocin umfaßt, bei allen Säugetieren und Vögeln nachweisen läßt, ist es wahrscheinlich, daß diese auch bei Primaten und auch beim Menschen eine Rolle bei Bindungsphänomenen spielt. Zur Zeit wird dies experimentell bei nicht-menschlichen Primaten untersucht. Die Bedeutung des Oxytocins für Bindungsverhalten beim Menschen kann als gesichertes Wissen gelten. Doch erst zukünftige Forschungen werden weitere Klärungen darüber liefern können, worin beim Menschen die Zusammenhänge zwischen Sexualverhalten, Kindesliebe und Partnerliebe im einzelnen liegen. Liebe und Lust 103 Im Bereich der Sexualität und der Bindung sind noch weitere Überträgerstoffe an der Verhaltensregulation beteiligt, wie z. B. die körpereigenen Opiate, das Stickstoffoxid, die klassischen Neurotransmitter und weitere Neuropeptide. Auf sie kann hier nicht alle eingegangen, sondern nur auf die Literatur verwiesen werden (Argiolas 1999, Meston & Frohlich 2000). Schon jetzt sollte aber klar geworden sein, daß sich sowohl Sexualität als auch emotionale Zuneigung (von der Mutter-Kind- bis hin zur Partnerbindung) ganz ähnlicher proximater Mechanismen bedienen, die eine gute Erklärungsgrundlage für viele Phänomene in diesen Bereichen bieten. LIEBE ZWISCHEN DEN OHREN Dieser Artikel begann mit psychologischen Betrachtungsweisen der Liebe und endete (vorerst) bei den Molekülen der Gefühle. Von der Psychologie zu den Molekülen ist es allerdings ein weiter Weg. Dazwischen liegen eine Reihe von intermediären Organisationsebenen des Gehirns. Eine neue Methode, Gehirnfunktionen auf einer gröberen Auflösungsebene beim Menschen direkt und nicht-invasiv zu erforschen, sind die Methoden der funktionellen Bildgebung (vgl. Erk & Walter, in diesem Band). Zunächst wurden diese Techniken hauptsächlich für Untersuchungen kognitiver Funktionen wie z. B. Wahrnehmung, Gedächtnis oder Sprache eingesetzt. Erst seit kurzem werden auch emotionale Funktionen erforscht und inzwischen existieren erste Arbeiten zu funktionellen Gehirnaktivierungen bei der Präsentation sexueller Stimuli oder während des Orgasmus (vgl. z. B. Redoute et al. 2000). Im Jahr 2001 wurde die erste fMRT-Studie zu den neuronalen Grundlagen der romantischen Liebe veröffentlicht (Bartels & Zeki 2001). Per e-mail forderten die Autoren tausend Studenten aus London und Umgebung auf, sich zu melden, wenn sie sich „wahrhaft, wahnsinnig und tief“ verliebt fühlten. Sie erhielten ca. 70 Antworten, drei Viertel davon kamen von Frauen. Nach ausführlichen Interviews suchten die Autoren insgesamt elf weibliche und sechs männliche Probanden aus elf verschiedenen Nationalitäten aus. Interessanterweise war keiner der Teilnehmer frisch verliebt – alle liebten ihre Partner seit mindestens zwei Jahren. Auf einem Testbogen, der in einer früheren Studie verwendet worden war, erreichten die Teilnehmer höhere „Liebeswerte“ als die „Besten“ der früheren Studie und in einem Vorversuch zeigte sich, daß ein Foto des Partners die Teilnehmer buchstäblich zum Schwitzen brachte: Der Anblick des Fotos bewirkte einen Anstieg der galvanischen Hautantwort, ein Test, der auch beim Lügendetektor eingesetzt wird. Es handelt sich also wirklich um „schwere Fälle“. 104 Henrik Walter Die Präsentation des Fotos war auch der entscheidende Stimulus, während dessen die Hirnaktivität der Liebenden im fMRT untersucht werden sollte. Als Kontrollbedingung dienten Fotos von Mitstudenten, die sich von Alter, Geschlecht und an Äußerlichkeiten (für andere) nicht von dem geliebten Partner unterschieden. Wenn die Teilnehmer im Scanner lagen, ein Foto ihres Partners sahen und dabei liebevoll an ihn dachten, zeigte sich Aktivität in vier kleinen, voneinander getrennten Arealen des Gehirns im Vergleich zur Kontrollbedingung, d. h. den Fotos von Kommilitonen. Alle vier Bereiche gehörten zum limbischen System. So fanden sich Aktivierungen im cingulären Kortex, im Insellappen und in den Basalganglien (Nucleus caudatus und Putamen). Über die Funktionen dieser Areale im Rahmen romantischer Gefühle läßt sich nur spekulieren, allerdings fundiert: Der cinguläre Kortex etwa ist am Erkennen der Gefühle anderer beteiligt, eine bei der Liebe wesentliche Funktion. Im Bereich der Insel werden Signale aus dem Vegetativum (Magen-Darm-Trakt) verarbeitet. Die Schmetterlinge im Bauch bei Verliebten finden dadurch eine neuronale Erklärung. Außerdem zeigen andere Untersuchungen, daß die Insel um so aktiver ist, je attraktiver Gesichter eingeschätzt werden. Interessanterweise zeigten sich gleichzeitig deutliche Deaktivierungen in Bereichen, die mit negativen Emotionen (und damit mit Abwendung im allgemeinen) in Verbindung gebracht werden, so etwa im Bereich des rechten präfrontalen Kortex, der bei Trauer und Depression beteiligt ist, sowie der Amygdala, die insbesondere bei der Angstverarbeitung eine zentrale Rolle spielt. Im Vergleich zu unserem Wissen über hormonelle und neurochemische Mechanismen sind die Ergebnisse funktionell bildgebender Untersuchungen noch sehr spärlich. Doch steht diese Forschung auch erst am Anfang. Trotz ihrer methodischen Probleme stellt sie einen großen Fortschritt gegenüber vielen anderen Untersuchungen dar, da hier die Gehirnaktivität am lebenden Menschen nicht-invasiv (und damit prinzipiell beliebig oft) dargestellt werden kann. Vermutlich sind aus diesem Bereich in Zukunft weitere spannende Erkenntnisse über die Mechanismen von Lust und Liebe zu erwarten. Inwieweit sie einen wirklichen Erkenntnisfortschritt darstellen, wird stark davon abhängen, ob sich die Wissenschaftler Experimente ausdenken werden, die an psychologische Theorien anknüpfen und somit dazu beitragen, rein psychologische Theorien anhand der objektivierbaren Mechanismen unseres „Organs des Geistes“ (Kant) zu überprüfen. Ein Versuch, die geschilderten physiologischen proximaten Mechanismen, psychologische Kategorien und evolutionäre, ultimate Ursachen zu einer Theorie der Liebe zu verbinden, findet sich bei der Anthropologin Helen Fisher. Sie wurde bekannt durch ihr Buch Anatomie der Liebe (1993). In diesem Werk hat sie anhand der Daten des Demographischen Jahrbuchs der Vereinten Nationen die Scheidungsmuster in 62 Industrie- und Agrargesellschaften für alle verfügbaren Jahre zwischen 1947 und 1989 untersucht. Liebe und Lust 105 Danach zeigt sich, daß es nicht etwa das „verflixte siebte Jahr“ ist, in dem Ehen scheitern, sondern daß der Gipfel der Scheidungen weltweit im vierten Jahr liegt, um dann stetig abzufallen. Dies entspricht dem traditionellen Abstand zwischen zwei aufeinanderfolgenden Geburten beim Menschen von ebenfalls vier Jahren. Fischer nimmt deshalb an, daß die weltweite Tendenz beim Menschen, ein Paar zu bilden und für etwa vier Jahre zusammenzubleiben, eine alte Fortpflanzungsstrategie der Hominiden widerspiegelt, ein Paar zu bilden und zumindest während der Zeit zusammenzubleiben, in der das Kind von der Mutter gestillt wird und die frühe Kindheit andauert. Danach trennten sich viele Partner, um denselben Prozeß mit einem anderen Gefährten von neuem zu beginnen. Die moderne serielle Monogamie, die man in den verschiedensten Gesellschaften beobachten kann, ist wahrscheinlich das letzte späte Erbe einer einstigen Fortpflanzungssaison. Helen Fisher (2001) vertritt die Auffassung, daß man „Liebe“ als drei grundlegende, voneinander verschiedene, aber untereinander zusammenhängende emotionale Systeme im Gehirn betrachten kann: Lust, Anziehung und Verbundenheit. Der Sexualtrieb (beim Menschen: Lust oder Libido) ist durch ein heftiges Verlangen nach sexueller Belohnung charakterisiert, er ist vor allem an Östrogene und Androgene geknüpft. Evolutionär entwickelte er sich hauptsächlich, um Individuen zu motivieren, sich mit irgendeinem passenden Mitglied der eigenen Art sexuell zu vereinigen. Das System der Anziehung (beim Menschen vor allem in der leidenschaftlichen Liebe ausgeprägt) zeichnet sich dagegen durch gesteigerte Energie und konzentrierte Aufmerksamkeit für einen bevorzugten Geschlechtspartner aus. Beim Menschen geht die Anziehung mit Gefühlen der Hochstimmung einher, mit eindringlichem Nachdenken über das Liebesobjekt und einem heftigen Verlangen nach gefühlsmäßiger Vereinigung mit einem bestimmten Partner oder einem potentiellen Partner. Anziehung, so Fishers Hypothese, ist vor allem an ein hohes Niveau von Dopamin und Noradrenalin sowie an ein niedriges Niveau von Serotonin im Gehirn gebunden. Dieses emotionale System entwickelte sich vor allem, um es Individuen zu ermöglichen, zwischen verschiedenen potentiellen Geschlechtspartnern zu wählen, dabei die Paarungsenergie zu erhalten und sie dazu zu stimulieren, ihre Aufmerksamkeit bei der Werbung auf ein genetisch überlegenes Individuum zu konzentrieren. Das System der Verbundenheit (beim Menschen: kameradschaftliche Liebe) weist bei Vögeln und Säugetieren besondere Merkmale wie gegenseitige Territorialverteidigung, und/oder gegenseitiges Nestbauen auf, ebenso sind gegenseitiges Füttern und soziale Hautpflege, die Aufrechterhaltung enger Nachbarschaft, Trennungsangst, geteilte elterliche Routinetätigkeiten und andere, davon abgeleitete Verhaltensweisen typisch. Bei den Menschen ist Verbundenheit auch durch das Gefühl der Ruhe, der Sicherheit, des sozialen Behagens und gefühlsmäßigen Einsseins gekennzeichnet. Verbundenheit beruht Fisher zufolge vor allem auf den uns inzwischen gut 106 Henrik Walter bekannten Neuropeptiden Oxytocin und Vasopressin. Dieses emotionale System entwickelte sich, um Individuen zu motivieren, positive soziale Verhaltensweisen auszubilden und/oder ihre verwandtschaftlichen Beziehungen lange genug aufrechtzuerhalten, um artspezifische elterliche Pflichten zu erfüllen. Die drei neuronalen Schaltkreise der Liebe variieren in Häufigkeit und Dauer von einer Art zur anderen, von einem Individuum zum anderen und während des Lebens eines jeden Individuums. Sie agieren im Zusammenspiel miteinander und mit anderen Körpersystemen. Im Laufe unserer menschlichen Geschichte sind sie zunehmend unabhängiger voneinander geworden. Vor allem aber, so Fisher (2001), tragen sie bei zu den weltweit ähnlichen Mustern von Ehe, Ehebruch, Scheidung und Wiederverheiratung, zu der großen Häufigkeit von sexueller Eifersucht, Stalking und Gewalt gegen Ehegatten sowie zur weiten Verbreitung von Mord, Selbstmord und klinischer Depression im Fall der Zurückweisung durch einen Geschlechtspartner. REFLEKTIONEN In diesem Artikel wurde deutlich, daß die Liebe ein Gebiet ist, das die psychologische und neurowissenschaftliche Forschung schon längst in Angriff genommen hat. Unser Wissen in diesem Bereich ist viel größer (und auch anwendungsrelevanter) als in vielen Bereichen der kognitiven Neurowissenschaft; dennoch ist es natürlich vorläufig. Vieles von dem, was hier steht, könnte sich morgen schon als falsch oder zumindest als revisionsbedürftig darstellen. Doch das ist die Natur empirischen Wissens. Das fehlbare Wissen um die „wetware“, die Moleküle der Gefühle, spielt jedoch für (gute) Paar- und Sexualtherapeuten schon heute eine bedeutende Rolle. Die Biologie der Liebe macht manches Beziehungsproblem verständlich. Crenshaw (1999) etwa schildert, wie die natürliche Abfolge der hormonellen Lebensphasen (neben den typischen Herausforderungen der Lebensphasen) mit dazu beiträgt, warum gleichaltrige Männer und Frauen in der Regel nicht gut zusammenpassen. Doch hier soll nicht weiter auf therapeutische Implikationen eingegangen werden. Vielmehr möchte ich das Augenmerk auf die meta-philosophische Frage richten, was die oben geschilderten Erkenntnisse für unser Selbstbild bedeuten können. Miketta und Tebel-Nagy (1996) schreiben dazu in ihrem Buch zum Oxytocin: Der Siegeszug des Liebeshormones in der Öffentlichkeit begann 1991, als die Wissenschaftsjournalistin und Pulitzer-Preisträgerin Nathalie Angier einen Artikel in der New York Times über das „Kuschelhormon“ veröffent- Liebe und Lust 107 lichte. Hunderte hoffnungsvoller Leser erkundigten sich danach in den genannten Forschungsinstituten, ob sie eine Oxytocinspritze gegen Impotenz bekommen könnten. In Deutschland beschwerten sich besorgte Philosophen über die reduktionistische Sichtweise der Liebe. Sollte all das, was uns Menschen zu Menschen macht, von einem kleinen unscheinbaren Stoff aus unserem Hirn gesteuert werden? Der Begriff „Oxytozinismus“ wurde geprägt, als Synonym für das, was Menschen nicht wahrhaben wollen. Hier werden zwei typische Reaktionen angesprochen, die man in diesem, wie auch in vielen anderen Bereichen, die die Erforschung unseres Seelenlebens betreffen, finden kann. Die einen sind besorgt, die anderen begeistert. Wenden wir uns zunächst den Begeisterten zu. Endlich hat man herausgefunden, wie diese komplizierten Dinge funktionieren! Und nicht nur das: Man kennt sogar Moleküle, die etwas bewirken können. Nichts wie her damit! Oft sind es kranke oder leidende Menschen, die so reagieren. Die Sexualität ist ein bedeutender Bestandteil des menschlichen Lebens, und viele Menschen, die damit Problem haben, stürzen sich natürlich sofort auf jede mögliche neue Therapie. Dies wurde z. B. bei der Einführung von Viagra® deutlich. Doch nicht nur wirklich Kranke und Leidende reagieren oft eher enthusiastisch auf solche Neuentwicklungen. Viele verbinden damit auch die Hoffnung auf eine neue Art von Droge, auf einen Stoff, der Glücksgefühle, vielleicht sogar Mega-Orgasmen verschaffen kann. Und das vielleicht ohne die gefährlichen Nebenwirkungen, die die bekannten Drogen haben. Diese Reaktion ist zunächst einmal verständlich. Tatsächlich wurden viele Wirkungen der „Moleküle der Gefühle“ durch ihren Einsatz in der Medizin entdeckt. Mit der richtigen Indikation und der richtigen Anwendung können diese Neuentdeckungen kranken Menschen tatsächlich helfen. Allerdings ist hier folgendes zu bedenken: Die Einnahme eines Medikamentes gleicht im Prinzip einer Ganzkörperdusche mit dem Ziel, den Raum zwischen zwei Zehen naß zu machen. Dies kann durchaus sinnvoll sein: Wenn ich eine eiternde Wunde im Zehenzwischenraum habe, kann es helfen, in Desinfektionsmitteln zu baden. Besser wäre es allerdings, den Zeh lokal zu behandeln. Dies ist bei psychoaktiven Substanzen allerdings oft unmöglich, obwohl es gerade hier vorteilhaft wäre. Die Evolution ist sparsam und benutzt die einmal in die Welt gekommenen Moleküle für viele Funktionen. Viele der Neurotransmitter und -peptide werden an vielen unterschiedlichen Stellen für unterschiedliche Funktionen genutzt. Deshalb gilt für psychoaktive Substanzen, wie eigentlich für fast jedes Medikament: keine Wirkung ohne Nebenwirkung. Die Indikation zum Einsatz eines Medikamentes liegt dann vor, wenn die erwarteten positiven Wirkungen die möglicherweise auftretenden Nebenwirkungen in einem Maß überwiegen, das einen Einsatz rechtfertigt. Im Bereich der Liebesmoleküle ist die Sache noch viel kompli- 108 Henrik Walter zierter. Hier liegen Substanzen vor, die in einer nicht durchschauten – und vielleicht auch nicht vollständig durchschaubaren – Wechselwirkung miteinander stehen. Zudem werden diese Substanzen in zeitlich feiner Abstimmung freigesetzt und funktionieren als „Liebeskaskade“ eben nur dann richtig, wenn sie im richtigen Verhältnis zueinander stehen und das richtige Timing ausweisen. Dies ist durch eine medikamentöse Gabe nicht nachzubilden. Diese Zusammenhänge sollte man sich deshalb klar machen, weil der Reflex: „Aha, hier ist ein Mechanismus, also kann ich die damit einhergehenden Wirkungen auch künstlich hervorrufen“, meist verfrüht und praktisch immer verfehlt ist. Die Gefahr, daß ein proximater Mechanismus, ist er einmal entdeckt, manipuliert werden kann, besteht natürlich immer. Warum sonst ist die Drogenindustrie ein derart florierendes Geschäft? Kokain, so der wissend Süchtige, ist besser als jeder Orgasmus. Dies ist vermutlich wahr, allerdings sind die Nebenwirkungen des Kokains auch gravierender als die „Nebenwirkungen“ eines natürlichen Orgasmus. Insofern liegt die eigentliche Gefahr weniger in der Entdeckung von Mechanismen, sondern mehr in der Verfügbarkeit von Stoffen, die uns häufig die Natur zur Verfügung stellt. Das Wissen um Kausalzusammenhänge und Effekte, insbesondere der schädlichen, kann auch dazu beitragen, einen möglichen Mißbrauch zu reduzieren – oder ihn zumindest in öffentlichen Mißkredit zu bringen. Ein gutes Beispiel ist Ecstacy, das noch vor Jahren als „friedliche Partydroge“ angesehen wurde. Heute weiß man, daß Ecstacy zwar einen friedfertigen Zustand erzeugt, aber das Gehirn stark und teilweise irreversibel schädigen kann. Das Wissen um Mechanismen kann hier nicht schaden. Es kann unter Umständen auch dazu beitragen, eine wohlüberlegte Entscheidung für die Anwendung einer Substanz zu treffen. Doch ist es ja vielleicht gar nicht die Sorge um den Mißbrauch von Mechanismen, die die zweite Reaktion, die Besorgnis, hervorruft. Vielleicht ist es eher die Sorge, daß ein komplexer psychischer Prozeß auf so etwas Profanes wie Hirnmechanismen reduziert wird. Was steckt hinter dieser Sorge? Nun, dies können ganz verschiedene Dinge sein. Häufig sehen Menschen (zu Recht) ihr Weltbild in Frage gestellt, das mit den neuen Erkenntnissen entweder in Widerspruch steht oder nicht vereinbar ist. Dies kann zum Beispiel ein dualistisches Weltbild sein, das die Existenz einer Seelensubstanz oder, allgemein gesagt, einer nicht materiell-energetischen geistigen Wirkkraft postuliert. Oft sind es aber gar nicht Dualisten, die ihre Besorgnis am lautesten kund tun. Es kann sich dabei auch um Materialisten reinsten Wassers handeln, die die Sorge umtreibt, daß eine neurobiologische Betrachtungsweise den sozialen oder historischen Kontext vernachlässigt, in dem ein Verhalten steht. Doch diese Besorgnis verwechselt allzuoft die Fragen nach dem „Warum“ und „Wie“. So erklärt uns die noch so exakte Physiologie des Brutpflegeverhaltens nicht, warum es zustande gekommen ist. Wir erinnern uns an die Unterscheidung proximater und ultimater Erklärungen. Liebe und Lust 109 Doch natürlich ist nicht jede proximate Erklärung eine evolutionäre Erklärung. Wenn etwa ein seelischer Zustand, sagen wir eine Niedergeschlagenheit, dadurch erklärt wird, daß bestimmte Veränderungen im Gehirn stattfinden, so ist diese Tatsache durchaus vereinbar damit, daß diese Veränderung durch ein Verlusterlebnis entstanden ist. Die – nicht dualistisch motivierte – Angst vor naturalistischen Erklärungen, wird allzuoft durch ein unangemessenes Entweder-Oder gespeist. Entweder findet ein Vorgang eine alltagspsychologische intentionale Erklärung oder er ist durch einen neurobiologischen Vorgang bedingt. Oft haben Menschen die Ansicht, daß sie nur im ersten Falle an den Geschehnissen der Welt beteiligt wären, während sie im zweiten Fall zum ohnmächtigen Zuschauer objektiver Naturtatsachen herabgewürdigt würden. Doch diese Vereinfachung wird der Welt nicht gerecht: Nicht die Tatsache, daß alle psychischen Vorgänge ihre neurobiologischen Mechanismen haben, ist relevant, sondern die Frage, was die Entstehungsbedingungen der in Frage stehenden Ereignisse sind. Ein schönes Beispiel ist das Oxytocin. So könnte man natürlich beunruhigt und besorgt darüber sein, daß ein Molekül an der Entstehung von Bindung und der Wirkung von Zärtlichkeit beteiligt ist. Doch warum eigentlich? Fühle ich mich zu jemandem hingezogen, weil mein Oxytocin-Spiegel hoch ist? Oder ist mein Oxytocin-Spiegel hoch, weil ich mich zu jemandem hingezogen fühle? Diese Fragen sind unsinnig, oder besser: schlecht gestellt, wenn sie etwa im Rahmen von „Streichelereignissen“ gesehen werden. Wie wir wissen, erhöht Streicheln die Oxytocin-Ausschüttung und führt über diesen Mechanismus (und vermutlich einige weitere) dazu, daß sich die Bindung zwischen zwei Organismen verbessern kann. Die Frage nach der „eigentlichen Ursache“ von Bindung wird hier obsolet. Wie sollen denn Veränderungen des Seelenlebens bewirkt werden, wenn nicht über materiellenergetische Träger? Ist es wirklich schlimm, daß hier Oxytocin eine Rolle spielt? Oder daß es für Muttergefühle eine Rolle spielt? Nein, dies ist, im rechten Licht betrachtet, keine wirkliche Bedrohung. Was interessiert, ist nicht, ob Bindung durch Oxytocin vermittelt wird. Was interessiert, ist, auf welchem Wege dies zustande kommt. Bindungsgefühle werden nicht dadurch herabgewürdigt, daß sie durch Oxytocin vermittelt sind. Allerdings macht es einen gewaltigen Unterschied, ob eine Oxytocin-Ausschüttung durch Streicheln zustande kommt, durch eine Infusion oder eine gewaltsame Zuführung durch die Nase. Aber dennoch: Ist es nicht so, daß uns die wissenschaftliche Erklärung unseres Seelen-, erst recht unseres Liebeslebens, irgendwie ein ungutes Gefühl bereitet? Nun, das muß jeder für sich selbst feststellen. Ich denke, das Wissen um diese komplexen Zusammenhänge kann nicht nur Unbehagen, sondern auch Bewunderung für die Komplexität der Natur erzeugen. Doch woher stammt das mögliche Unbehagen? Es hat vermutlich damit zu tun, daß wir befürchten, die Kontrolle über uns zu verlieren, oder die Privatheit 110 Henrik Walter und Eigenheit unserer Empfindungen an einen allgemein verstehbaren Mechanismus einzubüßen. Zudem wird es von der (falschen) Vorstellung bzw. Furcht gespeist, daß eine neurobiologische Erklärung der Liebe bedeuten würde, daß dadurch andere Verstehensarten der Liebe, wie sie etwa die Literatur, das unmittelbare Empfinden oder der verbale Austausch darstellen, entwertet würden. Doch dies folgt in keinster Weise. Der Wissenschaft von der Liebe ist es geradezu inhärent, die Details, die Individualität und die Nuancen der Liebe zu vernachlässigen und sich vielmehr auf das Allgemeine, Überindividuelle und Überprüfbare zu fokussieren. Bis jetzt gibt es keine ernstzunehmenden Klagen darüber, daß unser Wissen über die Mechanismen der Sexualität dieselbe weniger aufregend macht – es sei denn, man verwechselt theoretisches Wissen mit praktischer Erfahrung. Mit derselben entspannten Haltung sollte man auch unser zunehmendes Wissen über die Liebe betrachten. Natürlich soll hiermit nicht geleugnet werden, daß für die Neurobiologie der Liebe gilt, was auch für andere Selbsterkenntnisse zutrifft: Wissen über sich selbst führt im Rahmen der Selbstreflektion immer zu einer Veränderung des Selbstverständnisses. Dabei kommt es unvermeidlich auch zu Verlusten, nämlich zum Verlust oder zumindest zur Veränderung früherer, vereinfachter und unmittelbar verständlicher Vorstellungen über reale Phänomene. Wissen ist in einem gewissen Sinne unhintergehbar: Man kann nicht mehr das frühere, naive Verständnis von sich selbst haben. Doch dies folgt aus jeder reflektierten Einsicht in die Bedingungen des eigenen Seins. Nichts spricht dagegen, ein vertieftes, verfeinertes Verständnis seiner selbst zu kultivieren. Und wer wollte sich davor fürchten? LITERATUR Argiolas, Antonio (1999) Neuropeptides and sexual behavior. Neurosci Biobehav Rev 23, 1127-1142. Bartels, Andreas & Semir Zeki (2000) The neural basis of romantic love. Neuroreport 11, 3829-3834. Bergmann, Martin (1994) Eine Geschichte der Liebe. Vom Umgang des Menschen mit einem rätselhaften Gefühl. Frankfurt: Fischer. Bierhoff, Hans-Werner & Ina Grau (1999) Romantische Beziehungen. Bindung, Liebe, Partnerschaft. Bern: Huber. Bierhoff, Hans-Werner (2002) Spielarten der Liebe. Gehirn & Geist 3, 42-47. Braun, Anna K., J. Bock, M. Gruss, C. Helmeke, J. W. Ovtscharoff, R. Schnabel, I. Ziabreva & G. Poeggel (2002) Frühe emotionale Erfahrungen und ihre Relevanz für die Entstehung und Therapie psychischer Erkrankungen. In: B. Strauß, A. Buchheim & H. Kächele (Hrsg.) Klinische Bindungsforschung. Theorien, Methoden, Ergebnisse. Stuttgart: Schattauer, 121-128. Liebe und Lust 111 Carter, Rita (1999) Atlas Gehirn. Entdeckungsreisen durch unser Unterbewußtsein. München: Schneekluth. Carter, Carol S., Izja Lederhendler & Brian Kirkpatrick (1999) The integrative neurobiology of affiliation. Cambridge, MA: MIT Press. Crenshaw, Theresa L. (1999) Die Alchemie von Liebe und Lust. München: dtv. Erk, Susanne & Henrik Walter (2003) Funktionelle Bildgebung der Emotionen. In diesem Band. Fisher, Helen (1993) Anatomie der Liebe. Warum Paare sich finden, sich binden und auseinandergehen. München: Droemer Knaur. – (2001) Lust, Anziehung und Verbundenheit. Biologie und Evolution der menschlichen Liebe. In: H. Meier & G. Neumann (Hrsg.) Über die Liebe. Ein Symposion. München: Piper, 81-112. Güntürkün, Onur (2000) In der Regel denken Frauen anders – steroidabhängige Veränderungen lateralisierter Wahrnehmungsleistungen. Abendvortrag auf der 3. Tübinger Wahrnehmungskonferenz, 25. Februar 2000. Hülshoff, Thomas (1999) Emotionen. 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Redoute, Jerome, Serge Stoleru et al.(2000) Brain processing of visual sexual stimuli in human males. Human Brain Mapping 11, 162-77. Schmücker, Gesine (2003) Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit. In diesem Band. Sternberg, Robert J. (1998) Cupid’s Arrow: The course of love through time. Cambridge; MA: Cambridge University Press. Strauß, Bernhard, Anna Buchheim & Horst Kächele (2002) Klinische Bindungsforschung. Theorien, Methoden, Ergebnisse. Stuttgart: Schattauer. Young, Larry J., R. Nilsen, K. G. Waymire, G. R. MacGregor & T. R. Insel (1999) Increased affiliative response to vasopressin in mice expressing the V1a receptor from a monogamous vole. Nature 400, 766-768. TEIL II EMOTIONEN IN MEDIZIN UND PSYCHOLOGIE EINFÜHRUNG D er zweite Teil dieses Bandes thematisiert Emotionen aus entwicklungspsychologischer, psychotherapeutischer, psychiatrischer und medizinpsychologischer Perspektive. Auf eine Präsentation von Studien und Theorien zur frühkindlichen emotionalen Entwicklung folgt ein psychoanalytischer Beitrag über unbewußte Emotionen und Affekte. Die weiteren Arbeiten beschäftigen sich dann mehr mit der Schattenseite von Emotionen und lassen erkennen, wie dysfunktional Emotionen sein können, wenn sie als Depression und Angst erlebt werden, durch Hemmung zur Entstehung von Krankheiten beitragen oder im Verein mit fundamentalen psychischen Strukturen (FRAMES) wiederholt zu situations-unangemessenem Verhalten führen. Schmücker: Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit. Die Frage, welche unserer Eigenschaften und Fähigkeiten angeboren sind und welche erst unter dem Einfluß kultureller Besonderheiten erworben werden, wird auch im Hinblick auf Emotionen kontrovers diskutiert. Schmücker stellt verschiedene Richtungen vor: In Darwins Tradition stehen Izard, Ekman und Friesen. Sie nehmen an, daß frühes affektives Verhalten angeboren ist und daß es Basisemotionen gibt (wie z. B. Ekel, Freude, Ärger, Traurigkeit und Angst), deren Ausdruck in allen Kulturen gleichermaßen gut erkannt wird. Im Gegensatz dazu vertreten Schachter und Singer, Lewis und Michalson sowie Sroufe einen konstruktivistischen Ansatz. Ihrer Ansicht nach sind Emotionen vor allem das Resultat kognitiver Vorgänge (Erkennen und Bewerten) und insofern vom jeweiligen Stand der kognitiven Entwicklung abhängig. Im Zentrum von Schmückers Beitrag stehen mehrere Studien, die die große Bedeutung belegen, die der emotionale Austausch zwischen Mutter und Kind für dessen spätere Entwicklung hat. Dabei sind Mutter und Kind aktive Partner, die die Interaktion gegenseitig bestimmen. Bowlby zufolge haben das Verhalten (und der emotionale Ausdruck) des Kleinkindes vor allem die Funktion, eine im Idealfall sichere Bindung zu den Eltern herzustellen. Die Qualität der ersten Bindungsbeziehungen (es werden sicher gebundene, unsicher-vermeidende, unsicher-ambivalente und desorganisiertdesorientierte Bindungsmuster unterschieden) ist auch für alle weiteren sozialen Beziehungen prägend, wenngleich bedeutende Lebensereignisse in späteren Jahren den typischen Ablauf sozialer Interaktionen noch beeinflussen können. 116 Einführung Benecke und Dammann: Unbewußte Emotionen. Die zentrale und für lange Zeit heftig umstrittene Annahme Freuds, daß zahlreiche psychische Zustände und Vorgänge unbewußt vor sich gehen, wird durch neuere Ergebnisse der Neuro- und Kognitionswissenschaften bestätigt. Nach wie vor kontrovers wird hingegen diskutiert, ob es auch unbewußte Emotionen gibt. Während das Vorliegen unbewußter Emotionen unter Neurobiologen als gesichert gilt, behaupten einige Vertreter der kognitiven Psychologie, daß Emotionen schon aus begrifflichen Gründen bewußt sein müßten. Benecke und Dammann, die in ihren in der Tradition der Psychoanalyse stehenden Überlegungen auch an die moderne Säuglingsforschung (und damit an Schmückers Beitrag) anknüpfen, wenden sich sowohl dem begrifflichen Problem zu, wie unbewußte Emotionen zu konzeptualisieren sind; sie zeigen aber auch, welche Hinweise es für ihre Existenz gibt und wie wir ihrer gewahr werden können. Da es ihnen jedoch nicht nur um deskriptiv unbewußte Emotionen geht, sondern auch um dynamisch Unbewußtes, diskutieren sie darüber hinaus die Auswirkungen unbewußter Emotionen auf das psychische Geschehen. Dabei erörtern sie auch das Verhältnis von Affekten, Motiven und Trieben. Hölzer und Kächele: Emotion und psychische Struktur. Der Begriff der psychischen Struktur ist für die Psychotherapie-Forschung im allgemeinen und die Psychoanalyse im besonderen von großer Bedeutung. Unter anderem werden darunter „pathologische“, von der Akkomodation im Alltagsleben ausgeschlossene Schemata verstanden, die für eine neurotische Einengung der Sichtweise sorgen und folglich zu inadäquaten Handlungen führen können. Unter den verschiedenen Versuchen, die psychische Struktur in adäquater Weise zu erfassen, gilt die von Hartvig Dahl vorgeschlagene Analyse mit Hilfe von sogenannten FRAMES (Fundamental Repetitive And Maladaptive Structures) in der neueren Therapieforschung als besonders aussichtsreich. Hölzer und Kächele geben eine Einführung in diese Methode und illustrieren sie anhand eines Beispiels aus der therapeutischen Praxis. Sie zeigen aber auch Schwierigkeiten auf, die es bei der Identifikation von FRAMES gibt und plädieren dafür, die FRAMES-Analyse durch eine systematische Emotionsanalyse zu ergänzen. Dabei deuten sie Emotionen als intentionale Einstellungen, die nach drei Dimensionen (Objekt/Selbst, Positiv/Negativ, Aktiv/Passiv) kategorisiert werden können. Da nach verbreiteter Ansicht alle psychischen Störungen in irgendeiner Weise als Affektstörungen zu deuten sind, erscheint die Orientierung an den von den Patienten erlebten und verbalisierten Emotionen auch aus therapeutischer Perspektive als besonders fruchtbar. Einführung 117 Traue und Deighton: Emotionale Hemmung als Risikofaktor für die Gesundheit. Verschiedene Krankheitsprozesse hängen mit der Verarbeitung von Emotionen und ihrer Hemmung zusammen. Traue und Deighton gehen der Frage nach, warum dies so ist, und auf welche Weise sich die Hemmung von Gefühlen nachteilig auf den menschlichen Organismus auswirkt. Die beiden Autoren beginnen mit einem allgemeinen Überblick über die Natur und Funktion von Emotionen als Modulatoren menschlichen Verhaltens. Nach einem historischen Exkurs zum Begriff der Hemmung, in dem auf wichtige Arbeiten von Sherrington, Pawlow und Freud eingegangen wird, wenden sich Traue und Deighton ausführlicher den gesellschaftlichen Anforderungen zu, die an unser Gefühlsleben gestellt werden: Welche Formen emotionalen Ausdrucks sind erwünscht, welche verpönt oder untersagt? In vielen Berufsfeldern und sozialen Beziehungen spielt die Kontrolle von Emotionen – „Gefühlsarbeit“ –, die nicht selten mit der Hemmung von Gefühlen einhergeht, sogar eine immer größer werdende Rolle. Die äußerst komplexen Vorgänge emotionaler Hemmung liegen in verschiedenen Formen vor. Traue und Deighton unterscheiden in ihrer Arbeit genetische, repressive, suppressive und dezeptive Typen der emotionalen Hemmung und zeigen, wie diese über neurobiologische, sozial-behaviorale und kognitive Pfade zu gesundheitlichen Störungen führen können. Schließlich schildern sie, in welcher Weise verschiedene Psychotherapien mit und an Emotionen arbeiten, um körperliche Streßreaktionen zu mildern: Je nach Therapieform wird den Methoden der emotionalen Entladung, der emotionale Einsicht, des emotional adaptiven Verhaltens oder der Exposition ein unterschiedlicher Stellenwert beigemessen. Wedekind und Bandelow: Krankhafte Gefühle. Angststörungen und Depressionen zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Die beiden Störungen sind oft miteinander verflochten und nur schwer kategorial zu trennen. Ihr Auftreten ist ein Zeichen dafür, daß den betroffenen Patienten in belastenden Situationen keine angemessene Bewältigungsstrategie mehr zur Verfügung steht. Wedekind und Bandelow vergleichen in ihrem Beitrag die beiden Störungen miteinander, stellen Behandlungsmöglichkeiten vor, beschreiben die mit ihnen einhergehenden neurochemischen Veränderungen, insbesondere Imbalancen im noradrenergen und serotonergen System, und berichten über Ergebnisse mit bildgebenden Verfahren. Darüber hinaus gehen die beiden Autoren ausführlich auf die Entstehungsbedingungen von Angststörungen und die Phänomenologie verschiedener Phobien ein. Die „Fähigkeit“, Angst zu erleben, geht in der Regel mit der Fähigkeit einher, lebenslang zu lernen. Wedekind und Bandelow schließen mit einem integrativen Modell, das neurochemische, neuroanatomische und psychologische Einsichten miteinander verbindet. Gesine Schmücker EMOTIONALE ENTWICKLUNG IN DER FRÜHEN KINDHEIT I n diesem Beitrag soll ein Überblick über die empirischen Ergebnisse der emotional-kommunikativen Fähigkeiten in den ersten Lebensjahren vermittelt werden. Unterschiedliche theoretische Ansätze werden gegenübergestellt und die Signifikanz des emotionalen Austauschs in der Mutter-Kind-Interaktion für die spätere Entwicklung diskutiert. GESICHTSAUSDRUCK UND GEFÜHLSZUSTAND Kurz nach ihrer Geburt haben Säuglinge schon die Fähigkeit, auf differenzierte Weise mit der Umwelt zu kommunizieren. Sie können vokalisieren, sich mit Blick oder Körper hin- oder wegwenden und unterschiedliche Gesichtsausdrücke zeigen. Studien, die sich mit der frühen emotionalen Entwicklung befassen, fokussieren meist den Gesichtsausdruck als denjenigen Ausdruckskanal, der am deutlichsten Emotionen zeigt (Oster 1978; Izard 1979a; Izard et al. 1983). Ab welchem Entwicklungsstadium diese Gesichtsausdrücke als Indizien für Emotionen angesehen werden können, insofern sie einen Gefühlszustand reflektieren, wird freilich unterschiedlich interpretiert. Diese Diskussion soll hier kurz, am Beispiel von drei theoretischen Ansätzen, umrissen werden. Charles Darwin (1872) war einer der ersten, der sich systematisch mit dem Affektausdruck im menschlichen Gesicht befaßte, indem er systematische Beobachtungen bei seinen Kindern dokumentierte. Als ein Vertreter der discrete emotions theory knüpfte Izard (1971) mit seiner differential emotions theory (DET) an die Theorie Darwins an. Er entwickelte Kodierungsschemata, um die frühen Gesichtsausdrücke und Gesichtsbewegungen bei Säuglingen zu klassifizieren (AFFEX: Izard et al. 1983; MAX: Izard 1979a). Entscheidend ist dabei Izards Annahme, daß frühes affektives Verhalten angeboren und stereotyp ist. Die differential emotions theory nimmt an, daß es eine angeborene Übereinstimmung zwischen Ausdruck und Gefühl gibt. So wird Weinen aus Schmerz von dem Gefühl des Schmerzes begleitet. Die genetische Grundlage von Gesichtsausdrücken scheint auch durch die Arbeit von Ekman & Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit 119 Friesen (1971) bestätigt zu werden. In unterschiedlichsten Kulturen können sogenannte basic emotions (Primäraffekte oder basale Emotionen) identifiziert werden. Die meisten Forscher haben sich auf die folgenden fünf basic emotions geeinigt: Freude, Ekel, Traurigkeit, Ärger und Angst. Ihr mimischer Ausdruck wird interkulturell gezeigt und erkannt. Auch wenn sich das Affektsystem vermutlich aus dem Instinktsystem entwickelt hat, lassen sich menschliche Reaktionen auf affektive Signale nicht instinktiv im Sinne vorprogrammierter Handlungen, sondern eher als Handlungsdispositionen verstehen (Dornes 1997). Sehr hilfreich ist die von Krause (1983; 1985) vorgeschlagene Definition des Affektsystems, wonach dieses als eine aus fünf Komponenten bestehende funktionelle Einheit aufgefaßt werden kann: (1) (2) (3) (4) (5) Neurophysiologische Komponente Handlungskomponente (Innervation der Skelettmuskulatur) Ausdruckskomponente (Gesichtsausdruck, Vokalisation und Körperhaltung) Subjektive Empfindung der ersten drei Komponenten Interpretation der subjektiven Empfindung Die unterschiedlichen kindlichen Emotionen zeigen sich zu verschiedenen Entwicklungsstadien (wobei sich nicht alle Autoren über den Zeitpunkt des Erscheinens einig sind). Es ist wichtig, zwischen einem Gesichtsausdruck, der eine Emotion darstellt, und einem Gesichtsausdruck, der gleichzeitig von dem dazugehörigen Gefühl begleitet wird, zu differenzieren. Emotionen wie Überraschung (Field 1982), Interesse (Izard 1979b) und Ekel (Rosenstein & Oster 1988) scheinen schon kurz nach der Geburt im Gesicht des Säuglings funktionell präsent zu sein. Izard (1979b) rechnet auch das Lächeln zu den Emotionen, die bereits nach der Geburt sichtbar sind, während Field et al. (1982) diese Emotion erst für ein Säuglingsalter von 3 Wochen bestätigen würden. Emde & Harmon (1972) sehen das Lächeln eines Neugeborenen als endogen an, d. h. es folgt nicht als Reaktion auf externe Reize. Wenn Neugeborene lächeln, so die Autoren, wird die Augenmuskulatur der Neugeborenen nicht innerviert, das Lächeln ist hauptsächlich in den Mundwinkeln zu sehen. Die typische Innervation der Augenmuskulatur mit Faltenbildung um die Augen, die bei dem Gesichtsausdruck der Freude identifiziert worden ist, (sogenanntes Duchenne-Lächeln) ist erst mit 4-6 Wochen sichtbar. Es ist schwierig zu klären, ab wann in diesem frühen Stadium der menschlichen Entwicklung ein Gesichtsausdruck von einem kongruenten Gefühl begleitet wird. Doch Davidson und Kollegen (Davidson & Fox 1982; Fox & Davidson 1984) konnten zeigen, daß bei Neugeborenen das autonome Nervensystem und das Gehirn emotionsspezifische Aktivitäten aufweisen. 120 Gesine Schmücker Hiermit könne zumindest die Möglichkeit des emotionalen Ausdrucks gleich nach Geburt auf neuronaler Ebene bestätigt werden. Oster & Rosenstein (1996) adaptieren das von Ekman & Friesen (1978) zur Auswertung von Gesichtsausdrücken Erwachsener bereitgestellte Manual. Sie berichtet, daß fast alle Muskelbewegungen, die für erwachsene Gesichtsausdrücke notwendig sind, um unterschiedliche emotionale Zustände zu enkodieren, bereits bei Geburt oder davor vorhanden sind. Dies weist auf eine genetische Prädisposition zur emotionalen Kommunikation hin. Mit zunehmendem Alter konnten weitere Gesichtsausdrücke identifiziert werden: Ärger war mit 3 Monaten klar sichtbar (Malatesta 1985) und auch Traurigkeit zum Zeitpunkt von 3-4 Monaten (Gaensbauer 1982). Ein voll ausgeprägter Ausdruck von Furcht war mit 6-8 Monaten zu differenzieren (Emde et al. 1976). Ein großer Konsens besteht darin, daß die sogenannten secondary emotions (z. B. Scham, Eifersucht) erst mit zunehmender Entwicklung und Sozialisation des Kindes präsent sind. Aber auch hier gibt es Studien die behaupten, z. B. Eifersucht schon im fünften Monat identifiziert zu haben (DraghiLorenz 2000). Doch nur weil eine Situation (im Beisein ihres Kindes wendet sich die Mutter liebevoll einem anderen Kind zu) Eifersucht auslösen könnte, und ein Kind mit negativem Affekt reagiert (Weinen), sollte nicht darauf geschlossen werden, daß dies ein Ausdruck von Eifersucht ist. Die Mehrzahl der Autoren sehen als Voraussetzung von Eifersucht nämlich einen sense of self an, dieser ist jedoch erst ab dem 2. Lebensjahr zu erwarten (Dunn 1994; Lewis 1995). Die von Schachter & Singer (1962), Lewis & Michalson (1983) sowie Sroufe (1979) vertretene konstruktivistische Theorie stellt einen Gegensatz zu der Position Darwins und dessen Nachfolgern dar. Prominente Vertreter jener Ansicht postulieren, daß Emotionen ein Resultat und eine Folge kognitiver Prozesse sind (Schachter & Singer 1962). Der Schwerpunkt liege nicht auf Emotionen als etwas Angeborenem, sondern als einem Produkt von Kognitionen, welches als solches eine gewisse kognitive Entwicklung voraussetze. So könnten Neugeborene noch keine Emotionen zeigen oder Gefühle haben, da die kognitiven Voraussetzungen noch nicht bestehen. Demnach kommt ein spezifisches Gefühl dadurch zustande, daß die Person einen unspezifischen Erregungszustand aufgrund des Kontextes als ein spezifisches Gefühl interpretiert. Nach Sroufe (1979) sind Emotionen anfangs undifferenzierte VorläuferZustände (precursor states) von Unbehagen und keinem Unbehagen (distress and non distress), die sich erst mit der Zeit in verschiedene Emotionen differenzieren. Kognition wird als der zentrale Mechanismus in dieser Entwicklung der Differenzierung gesehen. So postulieren die Konstruktivisten, daß sich „diskrete“ Emotionen erst im Alter von 2-3 Monaten entwickeln Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit 121 können. Diese benötigen als notwendige Bedingung elementare Formen von kognitiver Aktivität, die das Bewußtsein fördern. Emotionale Erfahrungen werden erst als möglich erachtet, wenn kognitive Faktoren wie Erkennung und Bewertung stattfinden können. Dies ist abhängig von dem Stand der kognitiven Entwicklung. Lewis & Michalson (1985) nehmen eine Mittelposition ein: Ein Gesichtsausdruck kann differenziert sein, ohne daß diesem unbedingt differenzierte Gefühle korrespondieren müssen. In den ersten Monaten ist der Ausdruck differenzierter als der innere Zustand. Gesichtsausdrücke können ein Zeichen des emotionalen Zustands sein, doch dies ist nicht zwingend. Bowlby, der Vater der Bindungstheorie (1969), sieht Emotionen in Zusammenhang mit einem Bewertungsprozeß, der emotional ist und bewußt oder auch unbewußt erlebt werden kann. Mit der Bindungstheorie gelang Bowlby eine Synthese aus Prinzipien der Ethologie und der Psychoanalyse, welche die Bindung des Kindes an seine Eltern beschreibt: Das Kind verhält sich so, daß sein Verhalten die Nähe seiner Bezugspersonen gewährleistet. Dieses Verhalten ist angeboren und nicht gelernt und besteht z. B. im Weinen, Blickkontakt aufnehmen, Lächeln oder Vokalisieren. Wenn Eltern nicht beeinträchtigt sind (z. B. durch psychische Belastung), zeigen sie ein komplementäres Verhalten, d. h. sie reagieren auf das kindliche Verhalten in angemessener Weise z. B. durch Kontaktaufnahme, Zuwendung oder emotionale Reaktionen. Auch das elterliche Verhalten ist der Bindungstheorie nach angeboren und nicht erlernt. Es gibt angeborene Signale, die einen spezifischen emotionalen Ton haben. Sie sind nicht nur graduell abgestuft, sondern differenziert, d. h. sie variieren nicht nur in Intensität, sondern auch in Qualität und liegen auf einem Kontinuum mit einem positiven und negativen Pol. Säuglinge werden als vorgeprägt (pre-adapted) angesehen, differenzierte Signale auszusenden, die von entsprechenden Stimuli aktiviert werden. Diese Signale lösen unterschiedliche Reaktionen bei der Bezugsperson aus, die für das Überleben des Säuglings essentiell sind. Den Zusammenhang zwischen Gefühlszuständen und Gesichtsausdrükken sieht Bowlby ähnlich eng wie Darwin, aus dessen Werk er die folgende Passage zitiert: „there is an intimate relation which exists between almost all emotions and their outward manifestation“ (1969, 104). Darüber hinaus betont er die überlebensrelevanten Funktionen (den evolutions-ethologischen Ansatz) der Bindung zwischen Säugling und Mutter. Emotionen stehen für Bowlby im Zusammenhang mit einem Bewertungsprozeß; dieser ist emotional und kann gefühlt (bewußt erlebt) werden oder auch nicht. Im Gegensatz zu den Konstruktivisten, die behaupten, daß Emotionen nur dann als Emotionen gelten können, wenn sie bewußt erlebt werden, akzeptiert Bowlby also auch unbewußte Gefühle. 122 Gesine Schmücker Die erste Kommunikation zwischen Mutter und Kind beschreibt Bowlby mit dem Ausdruck expressive movements (Ausdrucksbewegungen), und vermeidet so die Verwendung des Terminus „Emotionen“. Diese angeborenen Signale haben einen spezifischen emotionalen Ton und sind differenziert. Drei Signale, die schon gleich nach Geburt identifiziert wurden, sind Weinen, Orientierung und Lachen. Durch diese Signale werden der Bindungstheorie zufolge Reaktionen bei Bezugspersonen ausgelöst, die für das Überleben der Spezies notwendig sind. Die Gefühlsausdrücke der Kinder und die Reaktionen der Bezugspersonen sind beobachtbar und bestimmen den Aufbau der Bindungsbeziehung. Daß Emotionen sichtbar sind und mit den Gefühlen übereinstimmen, ist eine zentrale Annahme und ermöglicht die Operationalisierung der Bindungsbeziehung (siehe den Abschnitt „Methoden der Erfassung von Mutter-Kind-Interaktionen“). Der Gesichtsausdruck von Säuglingen ist schon früh differenziert, was auf die Fähigkeit zur emotionalen Kommunikation schließen läßt. Ab welchem Entwicklungsstand von einem begleitenden Gefühl gesprochen werden kann, ist noch eine offene Frage. Doch scheint es wahrscheinlich, daß eine frühe Kongruenz zwischen Gesichtsausdruck und Gefühlen besteht (Dornes 1997). Ein Gesichtausdruck hat die Funktion der Kommunikation, denn er ist von außen sichtbar. Ein den Ausdruck begleitendes Gefühlserleben dient dagegen der inneren Handlungsmotivation. EMOTIONALER AUSTAUSCH ZWISCHEN MUTTER UND KIND Von Geburt an wird dem emotionalen Austausch zwischen Mutter (bzw. primärer Bezugsperson) und Säugling eine große Bedeutung für die soziale und kognitive Entwicklung des Kindes zugeschrieben (Bowlby 1969; Stern 1985; Murray et al. 1996). Der emotionale Austausch ermöglicht dem Kind, sich zu einem sozial adaptiven Wesen zu entwickeln. Studien der Mutter-Säuglings-Interaktion in den ersten Monaten zeigen, daß Mütter und ihre Kinder in ausgewogener Weise miteinander kommunizieren können (Beebe & Lachmann 1988; Brazelton et al. 1974). Mutter und Säugling sind beide aktive Partner, die einen Beitrag leisten und die Interaktion gegenseitig bestimmen (Cohn & Tronick 1988; Murray & Trevarthen 1985; Stern 1974; Trevarthen 1979). Emotionen spielen eine wichtige Rolle im Leben eines Individuums. Sie motivieren dazu, Interaktionen im sozialen Umfeld aufzunehmen oder aufrechtzuerhalten. Auch wird in Interaktionen der affektive Zustand reguliert und an die sozialen oder kulturellen Gegebenheiten angepaßt. Das Verhalten der Eltern ist darauf angelegt, die kindlichen Regulationsund Entwicklungsprozesse teilnehmend zu begleiten, zu stimulieren und Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit 123 kompensatorisch zu unterstützen. Papousek & Papousek (1978) prägten den Begriff „intuitive parenting“. Das heißt, daß Eltern sich in ihrem Verhalten an den kindlichen Signalen orientieren, die Selbstregulationsprozesse erkennen lassen. Wenn keine störenden Faktoren auf die Interaktion einwirken, ist das Zusammenspiel der elterlichen und kindlichen Prädispositionen für beide harmonisch und befriedigend. Diese optimalen Bedingungen erleichtern den Prozeß der kindlichen Entwicklung und fördern dessen Selbstwertgefühl (Papousek & Papousek 1979). Welcher Aspekt der emotionalen Entwicklung prädiktiv für die spätere Entwicklung des Kindes zu sein scheint, ist Fragestellung vieler Studien. Wie der emotionale Austausch in der Mutter-Kind Beziehung definiert und gemessen wird, ist oft von Studie zu Studie verschieden, doch gibt es auch einige Gemeinsamkeiten. DEFINITION UND MESSBARKEIT DER MUTTER-KIND-INTERAKTION Frühe wissenschaftliche Studien, die sich mit der Gestaltung der MutterKind-Beziehung befassen, fokussierten ausschließlich die Seite der Mutter, wobei die Charakteristika von Risikogruppen, wie z. B. delinquente Kinder, von besonderem Interesse waren. In einer Übersichtsarbeit unterteilte beispielsweise Symonds (1939) das Elternverhalten in zwei Kategorien: Akzeptanz-Zurückweisung und Dominanz-Unterwürfigkeit, dabei wurde das Verhalten der Kinder während der Interaktion nicht betrachtet. Später berücksichtigte z. B. Baumrind (1971) bei der Interaktion Eltern und Kind. Sie unterschied folgende Muster von Eltern-Kind-Interaktionen: autoritär, autoritativ, freizügig und restriktiv-vernachlässigend. Eine autoritative Beziehung wurde beispielsweise als eine Interaktion definiert, in der Eltern rationale Kontrolle über ihr Kind ausüben, doch das Kind ermuntern, verbal zu interagieren, d. h. das Kind wird in die Bewertung miteinbezogen. Neuere Klassifizierungsschemata zur Beurteilung der Qualität einer Mutter-Kind-Interaktion berücksichtigen meist affektive Aspekte des Mutter- und Kindverhaltens (Schmücker 1997). Die detaillierte Auswertung des mimischen Ausdrucks im Vergleich zum verbalen oder körperlichen Ausdruck von Emotionen hat besonders viel Forschungsinteresse geweckt (Ekman et al. 1972; Oster 1978; Izard et al. 1991) – nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen: Emotionen sind mimisch vergleichsweise leicht zu erkennen, dagegen ist der emotionale Inhalt bei verbalen Äußerungen oft nicht so eindeutig zu definieren und wurde somit eher vernachlässigt (Scherer 1986). Andere Autoren setzten einen Schwerpunkt auf die temporalen Merkmale der Interaktion. In ihrer Pionierstudie filmten Brazelton et al. (1974) den Gesichtsausdruck von Mutter und Kind und analysierten diesen sekundenge- 124 Gesine Schmücker nau. Eine Interaktion wurde als reziprok bezeichnet, wenn Mutter und Säugling sich synchron von positiven zu negativen Verhaltenszuständen (behavioral states) bewegten. So wurde nicht nur untersucht, wie affektiv positiv oder negativ die Interaktion gestimmt, sondern auch, wie Mutter und Kind in ihrem Affekt zeitlich aufeinander abgestimmt waren. Anfangs wurde eine synchrone Interaktion als ein optimaler Zustand erachtet (Condon & Sander 1974); auch zeigten sich synchrone Interaktionen eher mit positiven Emotionen und weniger mit Ärger oder Traurigkeit gekoppelt. Spätere Arbeiten in diesem Feld bestätigten, daß Säuglinge und Mütter ihr Verhalten mit meßbarer zeitlicher Verzögerung aufeinander abstimmen. Interaktionen von gesunden Dyaden waren gekennzeichnet durch einen ausgewogenen Grad an Synchronizität, einem moderaten positiven Affekt und einem schwachen negativen Affekt (Tronick & Cohn 1989; Cohn & Tronick 1987). Es zeigte sich, daß das Verhalten in den beobachteten Interaktionen zum Teil aus dem eigenen vorherigen Verhalten sowie aus dem Verhalten des Interaktionspartners abgeleitet werden kann. Typische Mutter-Kind-Interaktionen sind charakterisiert durch ein Oszillieren zwischen koordinierten (synchronen) und unkoordinierten Zuständen. Der unkoordinierte Zustand wird als normal interactive communicative error bezeichnet, der in der Regel gegenseitig korrigiert wird (mutual reparation). Dieses Korrigieren von sogenannten interaktiven Fehlern, so Tronick & Weinberg (1997), wird als ein kritischer und einflußreicher Prozeß in normalen Interaktionen bezeichnet. Durch das Erleben von erfolgreichen reparativen Prozessen, in denen ein negativer Affekt in einen positiven Affekt umgewandelt wird, ist es dem Säugling möglich, einen positiven affektiven Kern zu etablieren (Emde 1983; 1985). Beebe & Lachmann (1994) bestätigen ebenso, daß eine normale Interaktion einen Prozeß des „Korrigierens“ darstellt und deuten auf einen Zusammenhang zwischen einem mittleren Niveau der Feinfühligkeit und dem Vorhandensein von Abweichungen und Korrekturen in der Mutter-KindInteraktion hin. Bei fehlender Feinfühligkeit oder übermäßiger Feinfühligkeit sind diese Prozesse ungünstiger ausgeprägt. Ein mittleres Ausmaß an Feinfühligkeit scheint optimal zu sein, da dieses mit einer sicheren Bindung assoziiert ist. METHODEN DER ERFASSUNG VON MUTTER-KIND-INTERAKTIONEN Um eine bessere Einschätzung der Forschungsergebnisse zu gewährleisten, werden einige der Methoden, mit denen die Qualität der Mutter-KindInteraktion erhoben wird, vorgestellt. Eine weit verbreitete mögliche Meßmethode beobachtet Mutter und Kind in der Interaktion miteinander und Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit 125 videographiert sie. In der Kodierung wird auf spezifische Aspekte der Interaktion fokussiert und diese nach einem definierten Schema ausgewertet. In der Regel erfolgt die Auswertung entweder durch time-sampling, indem man eine festgelegte Zeiteinheit für den Auswertungsrahmen bestimmt, oder durch event-sampling, bei dem die Auswertung nach der Häufigkeit eines definierten Parameters erfolgt. Folgende Variationen lassen sich dabei zusammenfassen: Manche time-sampling-Methoden werten jeden sog. Frame eines Films aus (d. h. 25 Frames pro Sekunde), andere vergeben eine Kodierung pro Minute (Esser et al. 1986) oder sie vergeben eine Kodierung für eine 10-minütige Interaktion (Pawlby & Schmücker 1992). Eine Interaktion kann danach ausgewertet werden, wie oft ein spezifisches Lächeln auftritt (z. B. ein Duchenne-Lächeln, d. h. ein Lächeln mit Falten um die Augen) oder wie feinfühlig sich eine Mutter auf einer Skala von 1-9 (Ainsworth et al. 1974) gegenüber dem Kind verhält. Eine andere Methode hat sich z. B. in den Arbeiten von Ekman & Friesen (1978) und Izard et al. (1980) durchgesetzt. Hier werden anhand von Fotos oder dem Frame eines Films, das Zusammenspiel von Gesichtsmuskeln ausgewertet und die daraus entstehenden Emotionen benannt. Je nach Komplexität des einzuschätzenden Konstrukts kann die Reliabilität sehr unterschiedlich ausfallen. Verhaltensnahe, konkrete Konzepte erleichtern beispielsweise eine nachvollziehbare Auswertung, doch je abstrakter das Konzept ist, desto schwieriger wird sich jene gestalten. CollegeStudenten wurden Emotionsausdrücke von Säuglingen zwischen 1-9 Monaten vorgeführt (Izard et al 1980). In 50% der Fälle stimmte die Einschätzung mit objektiven muskulären Analysen überein (bei rein zufälliger Einschätzung wäre die Quote nur 12.5%). Freude wurde am besten erkannt, dann Trauer, Überraschung, Interesse, Furcht, Ärger und am schlechtesten Ekel. Je nach Forschungsparadigma fällt die Situation, in der Mutter und Kind gefilmt werden, mehr oder weniger strukturiert aus: Die Spanne reicht von einer möglichst naturgetreuen Interaktion (trotz Anwesenheit der Beobachterin) bis hin zu einer Interaktion nach dezidierter Anleitung. Zwischen diesen Extremen befindet sich die sogenannte semi-strukturierte Interaktion, zu der die Fremde Situation gezählt werden kann. Mit dieser Methode wird die Bindungssicherheit des Kindes erfaßt. Hier werden in einer Folge von acht dreiminütigen Episoden Mutter, Kind und Fremde Person in unterschiedlicher Abfolge getrennt und wieder vereinigt. Die Mutter wird aufgefordert, sich so normal wie möglich zu verhalten, und das Kind wird dazu ermuntert, sich frei zu beschäftigen. Die Umgebung, in der eine Untersuchung stattfindet, kann ebenfalls variieren: Mutter und Kind werden in einer vertrauten Umgebung gefilmt (zu Hause), oder sie befinden sich in einem Forschungslabor. Hausbesuche können den Vorteil haben, daß sich Eltern und Kind entspannter geben als 126 Gesine Schmücker in einer ihnen fremden Umgebung, wenn alltägliche Interaktionen beobachtet werden sollen. Für Untersuchungen, die eine präzise Standardisierung erforderlich machen, ist ein Setting in einem Labor vorzuziehen. De Wolff & van IJzendoorn (1997) konnten jedoch keinen Unterschied bezüglich der Ausprägung von mütterlicher Feinfühligkeit und dem Bindungsmuster des Kindes feststellen, je nachdem ob Untersuchungen zu Hause oder in einer Forschungseinrichtung durchgeführt wurden. SOZIALISATION VON EMOTIONEN Mit zunehmendem Alter des Kindes entwickelt es ein eigenes emotionales Repertoire, was durch kontinuierliche Interaktionen mit der Umwelt geformt wird. Hierbei spielen seine Bezugspersonen eine zentrale Rolle. In den meisten Studien übernimmt die Mutter diese Funktion, was sich durch ein Übergewicht an Interaktionsforschung bei Kindern und ihren Müttern zeigt. Nach der differential emotions theory werden die intensiven und unregulierten Emotionen, die das Säuglingsalter charakterisieren, durch gedämpftere d. h. weniger intensive Emotionen ersetzt. Im ersten Lebensjahr scheinen Emotionen nicht bewußt moduliert zu werden. Weinen z. B. wird im Lauf der Entwicklung weniger intensiv, da sich durch das kontingente Verhalten der Bezugsperson Erwartungen etabliert haben. Der Säugling hat gelernt, daß auf sein Weinen eingegangen wird, was die Intensität seiner emotionalen Äußerung weniger intensiv werden läßt (Malatesta & Haviland 1985). Mit zunehmendem Alter scheint der enge Zusammenhang zwischen Gefühlsausdruck und Gefühlszustand nicht mehr gegeben, da Kinder durch den Prozeß der Sozialisierung lernen können, Gesichtsausdruck und Gefühl voneinander zu trennen. Ekman (1982) identifizierte 4 Kategorien expressiver Transformation: Übertreibung, Minimisierung, Maskieren und Neutralisation. Jedoch ist die Forschungsaktivität in bezug auf diese Transformationen eher gering. Vertreter der konstruktivistischen Position sehen zunächst keinen Zusammenhang zwischen dem Gesichtsausdruck und Gefühlen (Lewis et al. 1984). Säuglinge könnten differenzierte Gesichtsausdrücke zeigen, doch dies würde nicht zwingend eine differenzierte Gefühlswelt beinhalten (Lewis & Michalson 1985). Eine Konkordanz zwischen Gesichtsausdruck und Gefühlen sei erst durch einen Lernprozeß möglich. Ab dem 6. bis 18. Monat jedoch bestehe ein Zusammenhang, der durch Einflüsse der Sozialisation danach wieder diskonkordant werde. Diese Autoren vertreten die Position, daß sich erst durch Sozialisation ein Zusammenhang zwischen emotionalem Ausdruck und einem Gefühlszustand etabliere. Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit 127 Da die Bindungstheorie in den letzten Jahren viel zum Verständnis der entstehenden Mutter-Kind-Beziehung beigetragen hat, soll auf deren Untersuchungsmethodik und Ergebnisse hier etwas genauer eingegangen werden. Je nachdem, wie die Bezugsperson sich auf das Kind einlassen kann, entwickelt das Kind eine sichere oder unsichere Bindungsbeziehung. Nach Bowlby ermöglicht eine sichere Bindung dem Kind, sich der Umwelt und dem Fremden zu nähern und beides zu explorieren. Durch seine Erfahrung im ersten Lebensjahr hat das Kind die Gewißheit, daß es die Bezugsperson bei Gefahr als Hafen der Sicherheit aufsuchen kann und dort emotional sowie physisch geschützt wird. Mit dem Verfahren der Fremden Situation wird das Bindungsmuster des Kindes festgestellt. In dieser standardisierten Laborsituation (acht dreiminütige Sequenzen) werden die emotionalen Ressourcen des meist einjährigen Kindes untersucht. Das Kind wird in einer ihm fremden Situation (unbekannter Raum mit ihm fremder Person) zweimal einer kurzen Trennung (max. 3 Minuten) von seiner Bezugsperson ausgesetzt. Anhand der Reaktion des Kindes bei der Wiedervereinigung mit seiner Bezugsperson, wird das Kind in eine von vier Bindungsmustern klassifiziert (sicher-gebunden, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent und desorganisiert-desorientiert). Grossmann (1981) zeigte Neutralisierung von expressivem Verhalten mit 12 Monaten in der Fremden Situation. Einige Kinder zeigten als Reaktion auf eine Wiedervereinigung mit ihrer Bezugsperson ein Vermeiden an Nähe (Klassifikation: unsicher-vermeidend). Sie demonstrieren weniger negativen Affekt, wenn die Mutter sich räumlich trennt, oder weniger positiven Affekt, wenn sie wiederkommt. Doch Analysen des Kortisolspiegels zeigen, daß diese Kinder sehr gestreßt sind. Der Streß ist jedoch nicht sichtbar, weil diese Kinder vermehrt ihre Umgebung explorieren und so nicht offensichtlich unter der Trennung von der Mutter leiden (Spangler 1995). Bindungsforscher (Grossmann et al. 1985; Simó et al. 2000) erklären das kindliche Verhalten damit, daß diese Kinder eine Bezugsperson haben, die nicht unterstützend auf ihre emotionale Befindlichkeit eingeht. Die Mütter sind meist emotional zurückweisend oder abwehrend. Diese Kinder erfahren Bestätigung von ihrer Bezugsperson, indem sie unabhängiges Verhalten zeigen, d. h. sie werden in ihrem Explorationsverhalten unterstützt und haben weniger positive Erfahrung in ihrem Bedürfnis nach Sicherheit gemacht. Aus Sicht der Bindungstheoretiker, haben unsicher-ambivalent gebundene Kinder unterstimulierend oder wenig responsive Mütter (Belsky & Isabella 1988), die zudem oft widersprüchlich handeln. Sie zeigen intrusivstörendes Verhalten, können aber auch feinfühlig sein. Für die Kinder ist das mütterliche Verhalten schwer voraussagbar (Cassidy & Berlin 1994). Bezugspersonen hingegen, die feinfühlig mit ihrem Kind in Interaktionen zu beobachten sind oder auch Gemeinsamkeit und Synchronizität zeigen (de Wolff & van IJzendoorn 1997), haben mit größerer Wahrscheinlichkeit 128 Gesine Schmücker Kinder, die sicher gebunden sind. Feinfühliges Elternverhalten wird anhand von vier Merkmalen definiert: Wahrnehmen der Signale und Bedürfnisse des Säuglings, angemessenes Interpretieren der Signale, angemessenes Reagieren und promptes bzw. kontingentes Reagieren. Das Bindungsmuster eines Kindes sollte nicht als determiniert erachtet werden. Im Laufe der kindlichen Entwicklung zum Erwachsenenalter gibt es viele Faktoren die Kinder in ihrer Bindungsbeziehung beeinflussen und zu einer Veränderung im Bindungsmuster führen können (Becker-Stoll 1997; Zimmermann et al. 2000). Dies sind meist Veränderungen von Interaktionserfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen, sei es der Verlust dieser Beziehung oder ein Neuanfang (Egeland & Farber 1984). EMOTIONEN UND DIE KINDLICHE ENTWICKLUNG Daß der emotionale Austausch ein wichtiger Baustein der kindlichen Entwicklung ist, wurde bereits erläutert. Inwiefern die Fähigkeiten des Kindes, sich kognitiv und sozial zu entfalten, mit der Qualität dieses Austausches zusammenhängen, ist vielfach untersucht worden. Im folgenden werden Ergebnisse aus der Bindungsforschung sowie Erkenntnisse aus Studien an klinischen Stichproben dargestellt. Frühe Studien bringen das Bindungsmuster des Kindes in einen engen Zusammenhang mit einer Reihe von kindlichen Fähigkeiten. Ob ein Kind sicher oder unsicher gebunden ist, scheint eine gewisse Voraussagekraft bezüglich der individuellen Unterschiede in sozialen und PersönlichkeitsDimensionen zu haben, z. B. wie hoch die Frustrationstoleranz in Problemlösesituationen ist (Matas et al. 1978); wie die Qualität des Affekts im Spiel ist (Main 1973); oder wie neugierig sich ein Kind zeigt (Arend et al. 1979). Zweijährige, die mit 12 Monaten in der Fremden Situation als sicher gebunden eingestuft wurden, konnten in einer Überforderungssituation die Hilfe der Mütter besser nutzen, um die Aufgabe zu lösen, und blieben konzentrierter als Kinder mit unsicherer Bindungsqualität (Schieche 1996). Im Kindergartenalter zeigen sicher gebundene Kinder (mit 1 Jahr klassifiziert) mehr soziale Kompetenz, sie lösen Konflikte mit Gleichaltrigen selbständiger, sie spielen konzentrierter und sie unterstellen anderen weniger oft feindselige Absichten (Suess et al. 1992). Studien mit klinischen Stichproben ermöglichen eine Untersuchung der Mutter-Kind-Interaktion unter erschwerten Bedingungen. Sie zeigen, wie z. B. durch eine Depression der Mutter oder durch eine Frühgeburt die Mutter-Kind-Interaktion beeinträchtigt werden kann. Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit 129 Wie Mutter und Kind in dem beobachtbaren Aspekt ihrer Beziehung, der Interaktion, emotional miteinander interagieren, erweist sich als prädiktiv für die weitere Entwicklung des Kindes (z. B. Murray et al. 1993, Miller et al. 1993; Esser et al. 1995). Wenn die Mutter beeinträchtigt ist, kann nicht nur die emotionale Entwicklung des Kindes in Mitleidenschaft gezogen werden, sondern auch dessen spätere soziale und kognitive Entwicklung. So zeigen Murray et al. (1993), daß postnatal depressive Mütter weniger säuglingszentriert sind als gesunde Mütter, und stellen einen Zusammenhang mit der schlechteren kognitiven Entwicklung ihrer 18 Monate alten Kindern im Vergleich zu Kindern gesunder Mütter her. Sogar im Alter von 4 Jahren können sich noch Beeinträchtigungen in der kognitiven Entwicklung zeigen, wenn die Mütter im ersten Lebensjahr des Kindes depressiv waren (Sharp et al. 1995). Eine Erklärung für diese Beeinträchtigung ist die Annahme, daß Mütter mit postnataler Depression im Vergleich zu gesunden Müttern weniger zugänglich sind. Depressive Mütter kontrollieren ihre Kinder mehr (Mills et al. 1985), machen mehr kritische Aussagen, engen ihre Kinder körperlich mehr ein (Schmücker 1997) oder ziehen sich emotional und körperlich zurück (Weissman & Paykel 1974). Studien zeigen weiterhin, daß die Qualität der Mutter-Partner-Beziehung einen Einfluß auf die Entwicklung des Kindes haben kann: Je positiver der Affekt zwischen Mutter und Partner, desto mehr Wärme zeigt sich in der Eltern-Kind-Beziehung und desto weniger wahrscheinlich sind externalisierende Verhaltensauffälligkeiten des Kindes (Miller et al. 1993). In der Mannheimer Risikokinderstudie, in der die Entwicklung von Kindern mit unterschiedlichem psychosozialen und biologischen Risiko untersucht wurde (siehe Esser et al. 1993; Laucht et al. 1992; Schmidt et al. 1992) zeigte sich, daß in der Mutter-Kind-Interaktion insbesondere das sogenannte „negative Erziehungsverhalten“ der Mutter (Esser et al. 1995) die weitere psychosoziale Entwicklung ihrer Kinder mitbestimmte.1 Die psychosozialen Risiken in den untersuchten Familien wirken sich über das Erziehungsverhalten der Mutter als Mediator-Variable auf die psychosozialen Probleme der Kinder aus. Weitere Untersuchungen derselben Stichprobe ergaben, daß Mütter und Kinder, deren Interaktionen mit 2 und 4,5 Jahren als „gestört“ definiert wurden, schon in ihren Interaktionen mit 3 Monaten auffällig waren. Besonders bei den Müttern zeigte sich, daß sie ihr Kind weniger anlächelten und sich nicht so oft der Ammensprache bedienten. Diese Ergebnisse unterstreichen, daß die Qualität der frühen Mutter-Kind-Interaktion bereits in den ersten Monaten als prädiktiv für die fortlaufende Entwicklung des Kindes angesehen werden kann. 1 Was genauer unter „negativem Erziehungsverhalten“ zu verstehen ist, bleibt allerdings vage und wird weder durch Begriffsbestimmungen präzisiert noch an typischen Beispielen illustriert. 130 Gesine Schmücker Die sozioemotionale Entwicklung von Frühgeborenen im ersten Lebensjahr wurde sehr intensiv untersucht. Frühgeborene, die durch ihre physische Unreife organischen Risiken ausgesetzt sind, unterscheiden sich in ihrer affektiven Entwicklung häufig von Reifgeborenen, doch sind hier die Ergebnisse nicht ganz einheitlich. Im ersten Lebensjahr zeigen Frühgeborene in der Interaktion mit ihrer Mutter mehr negativen Affekt (Brachfeld et al. 1980), weniger positiven Affekt (Garner & Landry 1992), sind passiver und nicht so sozial zugewandt wie Reifgeborene (Malatesta et al. 1986). So scheint das Gestationsalter, d. h. die Dauer der Reifung im Mutterleib, die emotionale Expressivität der Säuglinge zu beeinflussen. Frodi & Thompson (1985) hingegen finden keinen Unterschied hinsichtlich des affektiven Gesichtsausdrucks oder der affektiven Regulation bei Frühgeborenen im Vergleich zu Reifgeborenen; aber die frühgeborenen Kinder dieser Studie waren in der Mehrzahl weniger belastet: Die Frühgeborenen-Stichprobe in Garner & Landrys Studie (1992) hatten ein niedrigeres Geburtsgewicht und Gestationsalter. Dies weist daraufhin, daß das Ausmaß der Belastung entscheidend für die affektive Entwicklung des Kindes zu sein scheint. Nicht nur Frühgeborene, sondern auch deren Mütter weisen in ihrem affektiven Verhalten im Vergleich zu Müttern von Reifgeborenen weniger optimale Interaktionen auf. Auch hier sind die Ergebnisse zum Teil widersprüchlich: In einer Studie von Barnard et al. (1984) zeigten sich Mütter im ersten Lebensjahr ihrer frühgeborenen Kinder passiver und weniger liebevoll. Sie zeigten weniger positiven Gesichtsausdruck als Mütter von Reifgeborenen (Crnic et al. 1983; Malatesta et al. 1986). Auch in der Studie von Goldberg et al. (1990) waren Mütter von Frühgeborenen weniger emotional einfühlsam als Mütter von Reifgeborenen. Andere Studien dagegen zeigen, daß Mütter Frühgeborener mehr Körperkontakt aufnahmen (Brachfeld et al. 1980; Malatesta et al. 1986) und zärtlicher waren als Mütter von Reifgeborenen (Crawford 1982). Field (1977) und auch Crnic et al. (1983) stellen fest, daß Mütter von frühgeborenen Säuglingen aktiver waren als Mütter von Reifgeborenen. So scheinen sich manche Mütter auf die sensiblen Bedürfnisse ihrer frühgeborenen Säuglinge einstellen zu können. Diese sich widersprechenden Ergebnisse können nur dann erhellend in den Wissensstand über die Einflüsse der Frühgeburtlichkeit integriert werden, wenn die Merkmale der Stichproben (wie z. B. das organische Risiko der Kinder und die psychische Verfassung der Mütter) miteinbezogen werden. Die verminderte Interaktionssensibilität der Mütter könnte zum Teil auf die eingeschränkte Expressivität des Frühgeborenen zurückgeführt werden, aber auch auf die vorzeitige Geburt, die für Mütter den Verlust einer normalen Schwangerschaft und eine große psychische Belastung darstellt (Meyer et al. 1995). Mütter reagieren oft mit Angst und Depression auf die Frühgeburt (Gennaro 1988; Locke et al. 1997). Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit 131 Inwiefern die Interaktionsauffälligkeiten bei frühgeborenen Kindern und deren Müttern für Entwicklungsverzögerungen mit verantwortlich gemacht werden können, ist nicht geklärt. Doch Ergebnisse von anderen klinischen Stichproben wiesen auf den signifikanten Beitrag hin, den die affektive Kommunikation auf die Entwicklung des Kindes leistet (Esser et al. 1995; Murray et al. 1993; Miller et al. 1993). Welche Parameter die Interaktionsqualität als optimal oder für das Kind förderlich definieren, ist von der jeweiligen Studie und der zugrundeliegenden Theorie abhängig. Dix (1991) beurteilt den Affekt als den möglicherweise wichtigsten Aspekt in der Erfassung der Eltern-Kind-Beziehung und faßt die Erkenntnisse der Zusammenhänge zwischen der Eltern-KindBeziehung und dem Affekt in folgenden vier Punkten zusammen: (1) (2) (3) (4) Negativer sowie positiver Affekt begleiten das Pflegeverhalten (parenting) der Affekt der Eltern spiegelt die Qualität des Umfelds wider, in dem das Kind aufwächst Eltern werden von unterschiedlichen Stressoren sowie Unterstützung beeinflußt chronischer und intensiver negativer Affekt der Eltern ist ein Zeichen einer dysfunktionalen Familie. Ein Zusammenhang zwischen der Interaktionsqualität bei Mutter und Kind und der Entwicklung des Kindes konnte in einigen Studien gezeigt werden. Wenn Eltern lernen, in der Interaktion feinfühliger und angemessener auf ihr Kind einzugehen, vergrößert sich vermutlich die Chance für eine bessere Entwicklung des Kindes (z. B. de Wolff und van IJzendoorn 1997). Dies wäre ein Ansatzpunkt für Interventionen. SCHLUSSFOLGERUNG Der frühe emotionale Austausch zwischen Mutter und Kind ist ein Grundbaustein, auf den die weitere Entwicklung des Kindes aufbaut. Daß Säuglinge in den ersten Lebenswochen die Möglichkeit haben, differenziertes Emotionsausdrucksverhalten zu zeigen ist unbestritten, doch ab welchem Entwicklungsschritt mit dem Zeigen von Emotionen auch das Erleben von Gefühlen einhergeht, ist noch offen. Einige Studien haben den Zusammenhang zwischen einem spezifischen Interaktionsverhalten und einer besseren Entwicklung gezeigt. In der Mutter-Kind-Interaktionsforschung sind die Meßmethoden eher heterogen was die Methoden des Datenerhebens sowie die zu untersuchenden Konstrukte anbelangt. Die prima facie Widersprüchlichkeit einiger Ergebnisse kann aus 132 Gesine Schmücker diesem Grunde oft nicht geklärt werden, da die Methodik selten einheitlich ist. Doch zeigt sich ein gewisser Konsens, was eine gelungene Interaktion zwischen Mutter und Kind ausmacht. Eine zeitliche sowie affektive Komponente scheint bedeutend, doch die exakte Definition dieser Parameter ist noch nicht geklärt. In der Bindungsforschung ist die Meßmethode einheitlicher, und die Konstrukte sind nicht so vielfältig. Eine feinfühlige Bezugsperson trägt zu einem großen Maß dazu bei, daß sich ein Kind als sicher gebunden entwickelt, was wiederum eine optimale Voraussetzung für einen positiven Entwicklungsverlauf darstellt. Doch sollten frühe Interaktionserfahrungen nicht immer als determinierend für den ganzen Lebenslauf angesehen werden. Wichtige Lebensereignisse im Laufe der Entwicklung, wie der Verlust einer Bezugsperson oder der Aufbau einer Vertrauensbeziehung, können den Verlauf beeinflussen. LITERATUR Ainsworth, Mary, S. Bell, & D. Stayton (1974) Infant-Mother attachment and social development: ‘Socialisation’ as a product of reciprocal responsiveness to signals. In: M. Richards (Hrsg) The integration of a child into a social world. New York: Cambridge University Press. Arend, Richard A., F. Gove, & L. A. Sroufe (1979) Continuity of individual adaptation from infancy to kindergarten: A predictive study of ego-resiliency and curiosity in pre-schoolers. Child Development 50, 950-959. Barnard, Kathryn E., H. L. Bee, & M. A. Hammond (1984) Developmental changes in maternal interactions with term and preterm infants. Infant Behavior & Development 7, 101-113. Baumrind, Diana (1971) Current patterns of parental authority. Developmental Psychology Monograph 4. Chicago: Chicago University Press. 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Noch heute wird insbesondere von kognitiven Psychologen die Ansicht vertreten, daß es Emotionen ohne bewußtes Erleben nicht geben kann: „In agreement with Freud, I would argue that it is not possible to have an unconscious emotion because emotion involves an experience, and one cannot have an experience that is not experienced“ (Clore 1994, 285). Für führende Neurobiologen wie Joseph LeDoux oder Gerhard Roth steht die Existenz von unbewußten Emotionen dagegen außer Frage: Evolutionär sind die Emotionen nicht als bewußte, sprachlich oder sonstwie differenzierte Gefühle entstanden, sondern als Hirnzustände und körperliche Reaktionen. Die Hirnzustände und körperlichen Reaktionen sind die grundlegenden Tatsachen einer Emotion und die bewußten Gefühle sind die Verzierungen, die dem emotionalen Kuchen zu einen Zuckerguß verhalfen (LeDoux 1998, 325). 1 Gerhard Roth unterzieht die zentralen Aussagen der Freudschen Theorie einer dezidierten kritischen Prüfung anhand der Befundlage der Neurobiologie und kommt zu dem Schluß, daß „die Übereinstimmungen zwischen der Psychoanalyse Freuds und den neueren Erkenntnissen der Hirnforschung [...] zumindest so weit gehen, daß sich ein intensives Gespräch zwischen beiden ‚Lagern‘ lohnt“ (Roth 2001, 376). Bezieht man die Entwicklungen seit Freud mit ein (z. B. Krause 1997, 1998; Sandler & Sandler 1999; Zepf 2000; Fonagy et al. 2002), so stellt sich die Psychoanalyse als eine lebendige, moderne Wissenschaft dar, auch wenn viele ihrer Begrifflichkeiten einen etwas verstaubten Klang zu haben scheinen. 140 Cord Benecke und Gerhard Dammann Im folgenden Beitrag soll sich der Frage zugewandt werden, wie unbewußte Emotionen konzeptualisierbar sind, welche Hinweise es auf ihre Existenz gibt, welchen Stellenwert und welche Wirkungen unbewußte Emotionen im psychischen Geschehen haben und wie wir unbewußter Emotionen gewahr werden können. PSYCHOANALYTISCHE EMOTIONSTHEORIE Obwohl in der klinischen Arbeit von Psychoanalytikern unbewußte „Gefühle“ (z. B. unbewußte Schuldgefühle, unbewußte Aggression usw.) von je her eine große Rolle spielen, existiert bis heute keine einheitliche psychoanalytische Emotionstheorie. Dies liegt darin begründet, daß Freud in seiner Theoriebildung dem Trieb die zentrale Bedeutung beimaß und Emotionen, Affekte, Gefühle im wesentlichen als abgeleitete Größen betrachtete (vgl. Kruse 2000). Affekte werden als Entladungsvorgänge von Triebregungen betrachtet. Das Wesentliche sind die Triebe und diese finden durch Affektrepräsentanzen und Vorstellungsrepräsentanzen ihren Ausdruck (Freud 1915b). Erst sehr viel später gesteht Freud (1926) den Affekten, insbesondere der Angst, einen von den Trieben in gewisser Weise unabhängigen Status zu. Die Angst dient dem Ich nun als Signal zur Mobilisierung von Abwehrmechanismen. Hier sind die Affekte kein bloßes Epiphänomen von Triebregungen, sondern haben bedeutsame Funktionen innerhalb der unbewußten Dynamik. Zwar meinte Freud (1926), daß Affekte wie die Angst eine biologische Notwendigkeit seien. Dennoch hat sich in der Psychoanalyse lange und zum Teil bis heute die Vorstellung erhalten, daß keine evolutionär entstandenen, biologisch vorgeprägten Emotionen existieren, sondern daß sich die diskreten Emotionen durch Sozialisationserfahrungen aus der undifferenzierten Lust-Unlust-Matrix entwickeln (vgl. Zepf 2000). In den letzten Jahren gab es, insbesondere unter dem Eindruck der Ergebnisse der Säuglingsforschung, verschiedene Revisionsversuche der psychoanalytischen Konzeption von Emotionen. Dabei wurde zum einen versucht, das durch die duale Triebtheorie angelegte Primat zweier Hauptemotionen (Liebe und Haß) zu überwinden bzw. die erdrückende Evidenz für die Existenz eines früh vorhandenen, biologisch vorgeprägten Emotionssystems zu integrieren. Zum anderen richten sich die Bemühungen auf die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Trieben/Motiven und Emotionen. Damit einhergehend finden die spezifischen beziehungsregulierenden, interaktiven Funktionen der verschiedenen Emotionen eine immer stärkere Beachtung. Unbewußte Emotionen 141 Eine an das biologische Erbe anknüpfende Emotionskonzeption, inklusive einer funktionalen Spezifität von Affekten und den daraus resultierenden Handlungsdispositionen wurde von Krause (1990) unter Verweis auf eine „Propositionale Struktur der Affekte“ vorgelegt. Jedem der Primäraffekte kann eine spezifische Auslösekonfiguration, d. h. eine bestimmte subjektive Bewertung einer Situation bzw. eines Objektes, zugeschrieben werden sowie ein spezifischer Regulierungswunsch bzw. eine spezifische Botschaft an den jeweiligen Interaktionspartner (Krause et al. 1992).2 Im Kontext der Interaktionsregulierung bedeutet dies, daß die negativen Affekte Wünsche nach veränderter Objektbeziehung beinhalten, während der positive Affekt „Freude“ eine belohnende und verführende Funktion inne hat, also den Wunsch nach Fortführung der laufenden Aktivität.3 Über den Affektausdruck können Regulationswünsche und Handlungsbereitschaften dem Interaktionspartner mitgeteilt werden; gleichzeitig kann der Interaktionspartner dadurch Rückschlüsse auf den subjektiven Bedeutungsgehalt einer Situation für den Sender ziehen. Krause et al. (1992) untergliedern „Emotionen“ bzw. das „Emotionssystem“ in zwei Bereiche mit jeweils mehreren Komponenten, wodurch auch eine Unterscheidung von Affekt, Gefühl und Selbst- bzw. Fremdempathie möglich wird. Zum Bereich der „occurring emotions“ gehören drei Komponenten: (1) eine motorisch-expressive Komponente (z. B. Mimik), (2) eine physiologische und (3) eine motivationale Komponente (Handlungsbereitschaft in der Willkürmotorik). Zum Bereich der „experienced emotions“ zählen (4) die Komponente der Wahrnehmung der körperlichen Korrelate, (5) die Benennung und Erklärung der Wahrnehmungen, und (6) die Wahrnehmung der situativen Bedeutung (Krause 1997). Das Vorhandensein der ersten drei Komponenten bedarf keiner selbstreflexiven Anteile und wird als Affekt bezeichnet. Bei Hinzutreten der Wahrnehmungs- bzw. Erlebenskomponente wird von Gefühl gesprochen, wobei dies noch keine sprachlichsemantische Fassung erhalten muß. Erst wenn auch letzteres gegeben ist (5), 2 Trotz der Vielzahl unterschiedlicher Gefühlszustände und emotionalen Reaktionen beim Menschen (die meisten Sprachgemeinschaften verzeichnen gewöhnlich mehrere hundert verschiedene Emotionswörter), hat sich innerhalb der Emotionsforschung die Vorstellung von sogenannten Primär- oder Basisaffekten durchgesetzt. Unter „Primäraffekten“ (Krause 1990), „primary motives“ (Tomkins 1982), „basic emotions“ (Ekman 1992) werden eine begrenzte Anzahl von Affekten verstanden, die, ausgehend von Untersuchungen des motorisch-expressiven Anteils (insbesondere der Mimik), als zu einem hohen Grade kulturinvariant angesehen werden (Ekman, Friesen & Ellsworth 1972). Ekman (1992) nennt Ärger, Angst, Trauer, Freude, Ekel und Überraschung, für welche die Kulturinvarianz als gesichert erscheint; gewöhnlich wird auch Verachtung (z. B. Krause 1990) zu den Primäraffekten gezählt. 3 Ausführliche Diskussionen der Funktionen der Primäraffekte finden sich in Ulich & Mayring (1992), Krause (1990; 1998; 2002) und Benecke (2002). 142 Cord Benecke und Gerhard Dammann mit „einem ‚realen’ Wissen über den Verursacher und den Erleber des Affekts“ (Krause et al. 1992, 242), wird von Selbst- bzw. Fremdempathie gesprochen. Bei gesunden Erwachsenen ist Krause zufolge unter normalen Randbedingungen keine Kongruenz der verschiedenen Bereiche zu erwarten. Die Unbewußtheit des Emotionsprozesses ist demnach der Normalfall. Von einer voll bewußt erlebten Emotion kann also nur gesprochen werden, wenn alle Komponenten gegeben sind.4 MOTIVE UND EMOTIONEN Für das Verständnis der Funktion von Emotionen, nicht nur aus psychoanalytischer Perspektive, ist das Verhältnis zwischen Trieb/Motiv einerseits und Emotion andererseits entscheidend. Die weitgehende Anerkennung der biologischen Präformierung von Affekten hat innerhalb der Psychoanalyse zu einer Tendenz geführt, „die Triebtheorie ganz durch eine Emotionstheorie zu ersetzen“ (Kruse 2000, 67). Kernberg (1991) beispielsweise dreht das Verhältnis von Trieb und Affekt um, indem er Triebe als hierarchisch übergeordnete Integrationsprodukte der entsprechenden „hedonischen“ bzw. „anhedonischen“ Affekte betrachtet; Affekte seien die Bausteine der Triebe. Krause betrachtet Affekte als „die psychischen Repräsentanzen von hierarchisch organisierten, aus dem Körperinneren und durch externe Reize aktivierbaren zielorientierten Motivsystemen“; weiter schreibt er: „Die Triebe zeigen sich also meist in Form spezifischer Appetenzen, d. h. als Affekte“ (Krause 1998, 49). Dornes (1997, 42) regt an, „Affekte und nicht Triebe als primäre Motivationssysteme“ zu betrachten und zu akzeptieren, daß „Motive wie Interesse/Neugier, Freude, Furcht und Überraschung nicht Umwandlungen von Trieben sind, sondern selbständige und triebunabhängige Antriebskräfte“. Auch Zepf (1997a; 1997b; 2000) schafft das Freudsche Triebkonzept unter der Hand ab, indem er die Bedürfnisstruktur eines jeden Menschen als ausschließlich sozial hergestellt betrachtet. Es wird deutlich, daß das Verhältnis zwischen Affekten und Motiven/ Trieben letztlich nicht geklärt ist, was vor allem daran liegt, daß der Motivbzw. Trieb-Begriff sehr unterschiedlich verwendet wird. Versteht man unter Motiv eine aktuelle, konkrete Handlungsbereitschaft, dann ist das Motiv eher ein Teil des Affekts. Wird unter Motiv/Trieb ein hierarchisch übergeordnetes Ziel verstanden, wie z. B. das nach Bindung oder Status oder, noch weiter oben angesiedelt, das nach Selbsterhaltung oder Fortpflanzung, dann 4 Die weiter unten erwähnten Studien zum mimisch-affektiven Verhalten zeigen entsprechend, daß das sehr reichhaltige interaktive Geschehen weitgehend ohne bewußtes „Monitoring“ abläuft (Krause 1997). Unbewußte Emotionen 143 erscheint eine Gleichsetzung von Motiv und Affekt wenig glücklich: Die Annahme, es gebe ein biologisch verankertes Motiv, sich zu ärgern, Angst zu haben oder zu trauern, erscheint wenig plausibel. Die Zepfsche Position, wonach der Mensch als Tabula rasa geboren wird, ohne jegliche biologisch vorgeprägte motivationale Grundausrichtung oder emotionale Ausstattung, erscheint ebenfalls unangemessen. Unserer Ansicht nach sind Affekte weder mit Motiven gleichzusetzen, noch sind sie deren Repräsentanzen oder Bausteine. In Relation zu hierarchisch übergeordneten, biologisch verankerten Motivsystemen verstehen wir Affekte als Werkzeuge der Motive. Je nach aktiviertem Motivsystem und situativen Bedingungen bzw. deren Interpretation durch das Subjekt stellen Affekte mehr oder weniger adäquate Werkzeuge zur Bewältigung der Situation im Hinblick auf das Motiv dar (Benecke 2002). Die einem spezifischen Individuum eigene dominante Motivkonstellation, die individuellen Bewertungs- und Interpretationsmuster und die entsprechenden emotionalen Reaktionsmuster sind allerdings in hohem Maße von individuellen, insbesondere frühkindlichen Erfahrungen abhängig und bilden sich in den sogenannten Repräsentanzen ab. REPRÄSENTANZEN UND EMOTIONEN In den letzten Jahren wurde eine Fülle von Forschungsergebnissen vorgelegt (vornehmlich aus der Bindungsforschung und der sog. Neuen Säuglingsforschung; Übersichten bei Dornes 1997 und Strauß et al. 2002), die in beeindruckender Weise zeigen, wie frühe Beziehungserfahrungen verinnerlicht werden und sich als psychische Repräsentanzen abbilden. Lorenzer (1972) sprach von „Interaktionsformen“, Bowlby (1973) von „inneren Arbeitsmodellen“, Jacobson (1964) und Kernberg (1976) von „Selbst- und Objektrepräsentanzen“, Stern (1985) von „RIGs“,5 Sandler & Sandler (1984) von „dynamischen Schablonen“, Thomä (1999) von „unbewußten Schemata“. Diese Konzepte sind zwar nicht identisch,6 aber das Gemeinsame ist, daß sie sich auf den Aufbau einer psychischen Innenwelt und die Ersetzung von äußeren Handlungsregulationen durch subjektinterne Regulierungen bezie5 RIG := Representation of Interactions that have been Generalized. 6 Der wesentliche konzeptionelle Unterschied findet sich darin, inwieweit die Repräsentanzen tatsächliche Erfahrungen widerspiegeln oder durch intrapsychische Prozesse verändert sind. So orientieren sich die Repräsentanzkonzepte von Bowlby und Stern am tatsächlichen Geschen: Bowlby betrachtet die innere Welt als „einigermaßen genaue Widerspiegelung dessen, was eine Person in der äußeren Welt erfahren hat“ (Bowlby et al. 1986, 43 f., zitiert aus Dornes 1998). „Eine RIG ist etwas, das noch nie in genau dieser Weise geschehen ist, und doch enthält sie nichts, das nicht schon einmal wirklich geschehen wäre“ (Stern 1985, 110). 144 Cord Benecke und Gerhard Dammann hen, wobei die Emotionen eine bestimmende Rolle einnehmen. Der Aufbau der Repräsentanzen erfolgt durch Abstraktion und die innere Verarbeitung realer Interaktionen. Laut Kernberg (2001) bilden sich die Repräsentanzen unter dem Einfluß von „Spitzenaffekten“, d. h. Affektzuständen höchster Intensität. Wir gehen dagegen davon aus, daß in der normalen frühkindlichen Entwicklung intensive Affektzustände durch die Pflegeperson hinreichend „herunter“-reguliert werden (mastering), wodurch es dann zu einer Verinnerlichung eben dieser Regulierungsfunktion von Affekten kommt.7 Findet dagegen kein oder nur ein unzureichendes Mastering der Affekte des Kindes statt, führt dies zu extrem bedrohlichen Repräsentanzen, wie sie für Borderline-Patienten beschrieben wurden (vgl. Clarkin et al. 1999). Psychische Repräsentanzen umfassen affektiv aufgeladene Vorstellungen über das Selbst, die Objekte und die Interaktionen zwischen beiden. Diese Repräsentanzen manifestieren sich in aktuellen Beziehungsmustern, sie werden re-inszeniert. Die Außenwelt wird dabei recht konsistent auf der Grundlage dieser inneren Schablonen wahrgenommen und interpretiert. Meist begegnet uns die Außenwelt in Form von persönlichen zwischenmenschlichen Begegnungen, welche nach Maßgabe der inneren Schemata verarbeitet werden. Diese innere Verarbeitung bestimmt schließlich das Interaktionsverhalten des Subjektes, worauf dann die jeweiligen Interaktionspartner wiederum reagieren, was meist zu einer Stabilisierung des unbewußten Musters führt. Der (maladaptive) Zirkel schließt sich (in Variationen). Im Kern dieses Zirkels stehen die psychischen Repräsentanzen – sie bestimmen die Wahrnehmung, die Interpretation, die inneren Schlußfolgerungen und Erwartungen und schließlich auch das Verhalten. Entscheidend für das Verständnis eines jeden Menschen ist also die individuelle Beschaffenheit der jeweiligen Repräsentanzenwelt: Welche Bilder existieren vom Selbst, welche Bilder existieren von anderen, welche Affekte sind mit diesen Bildern verknüpft.8 7 In diesem Umgang mit Affekten spiegelt sich die Abwehr der Bezugsperson. So beschreiben Fonagy et al. (1995), wie z. B. Mütter die durch ihre Säuglinge in ihnen ausgelösten Affektzustände abzuwehren versuchen und wie diese Abwehr zu einem den kindlichen Bedürfnissen unangemessenen Interaktionsverhalten führt. Diese Affektabwehr wiederum kann vom Kind verinnerlicht werden. Dornes (1997, 79 f.) beschreibt die Auswirkungen einer elterlichen, abgewehrten Depression auf die Affektivität des Kleinkindes. 8 Dabei ist zu vermuten, daß die Affekte die am wenigsten variablen Elemente der Innenwelt darstellen. So führt beispielsweise das Nichteintreten der jeweils gefürchteten Katastrophen bei Patienten mit schweren Angsterkrankungen keineswegs zu einer Verminderung der Angst – der Patient (bzw. die Angst) sucht sich sofort eine neue Bedrohung. Der Affekt macht die Welt. Die Patienten erleben das freilich anders herum – sie haben Angst, weil die Welt so schlimm ist. Gleiches dürfte für andere Affekte gelten. Unbewußte Emotionen 145 Auch wenn eine differenzierte Repräsentanzenwelt sich nach heutigem Kenntnisstand schon sehr früh entwickelt, so wird üblicherweise angenommen, daß sich ein Bewußtsein darüber erst mit dem Spracherwerb, die an die Entwicklung der Symbolfunktion gekoppelt ist, bildet. Mit der Entwicklung der Symbolfunktion, der Bildung von Begriffen, ist die Voraussetzung gegeben, daß psychische Repräsentanzen selbstreflexives Bewußtsein erlangen können (Zepf 1997a). Das heißt aber nicht, daß sich das Subjekt von nun an seines Handelns und seiner Innenwelt durchgängig bewußt wäre. Im psychodynamischen Verständnis sind die Repräsentanzen keine einfachen Abbilder der realen Interaktionen, sondern stellen vielmehr immer auch konflikthafte Kompromißbildungen dar. Zudem werden sie bei ihrer Aktualisierung den gegebenen Umständen angepaßt. Sandler & Sandler unterscheiden zwischen dem Vergangenheitsunbewußten und dem Gegenwartsunbewußten. Das Vergangenheitsunbewußte enthält „die ganze Stufenleiter unmittelbarer, drängender Wünsche, Impulse und Reaktionen des Individuums, die früh in seinem Leben entstanden sind“ (1984, 802), inklusive der damals entwickelten Konfliktlösungen, die eine „imperative Qualität“ erhalten und reaktiviert werden, „wann immer die mit dem spezifischen Konflikt (oder dem Signal eines unlustvollen Affektes) verbundene Pein oder Angst sich meldet“ (ib., 803). Die (immer auch objektbezogenen) Inhalte des Vergangenheitsunbewußten werden in eine „erwachsene Form“ gebracht. Diese in eine für den Erwachsenen angemessene Form übersetzten infantilen Impulse bzw. Phantasien bilden die Inhalte des Gegenwartsunbewußten. Das Gegenwartsunbewußte stellt also „Modifikationen der phantasierten Interaktion zwischen Selbst und Objekt dar“ (ib., 806). Führen diese modifizierten Phantasien und Impulse zu keinen Konflikten, können sie ungehindert ausgelebt werden. Üblicherweise lösen aber auch die in eine erwachsene Form gebrachten Kindheitsimpulse negative Affektsignale aus, so daß eine „zweite Zensur“ greift; der modifizierte Impuls muß erneut bearbeitet oder abgewehrt werden. Aus einer neurobiologischen Perspektive kommt Henningsen (2000) ebenfalls zu dem Schluß, daß die Repräsentanzen keine statischen, im Gedächtnis gespeicherten Einheiten sind, sondern daß vielmehr davon ausgegangen werden muß, daß die Selbst- und Objektbilder in einer je gegebenen Situation immer wieder neu, dynamisch und kontextabhängig konstruiert werden.9 Ergebnis dieser „Neukonstruktion“ sind im Wesentlichen mehr oder weniger realitätsangemessene Phantasien über das Selbst und die Objekte und die mit diesen Phantasien verbundenen Emotionen. 9 Diese Prinzipien der Dynamik und Konstruktivität gelten wohl für Gedächtnisleistungen generell (vgl. z. B. Rusch 1991; Leuschner et al. 1998). 146 Cord Benecke und Gerhard Dammann EMOTIONEN UND PHANTASIEN Zum Verständnis der menschlichen Emotionalität ist es deshalb unumgänglich, die Wechselwirkungen zwischen Phantasien und Emotionen zu betrachten. Während Emotionen vor dem Erwerb der Symbolfunktion von der aktuellen (interaktionellen) Realität abhängen (siehe unten), können sie später durch die Kopplung an die Phantasie auch durch aktuell nicht vorhandene Realitäten ausgelöst oder aufrechterhalten werden. Das Verhältnis von Emotion und Vorstellung läßt sich folgendermaßen hypostasieren: Ebenso wie Beziehungen und Handlungen in der Realität von Emotionen begleitet und gesteuert werden, werden auch die Beziehungen und Handlungen in der Phantasie von Emotionen begleitet gesteuert. In vielen Konzepten dominiert die Sichtweise, daß Emotionen durch kognitive Operationen ausgelöst werden. So spricht Bischof (1989) in diesem Zusammenhang von einem internen Umweltsimulator, von einem Probehandeln in der Phantasie zur Auswahl von Handlungen, ebenso der Philosoph Dennett (1999), aber auch schon Freud (1933). Dornes schreibt: „Unter einem symbolisierten Affekt verstehe ich, daß wir uns Personen und Situationen vorstellen können, und daß solche Vorstellungen einen Affekt auslösen können“ (Dornes 1995, 34). Die Möglichkeit der phantasiebedingten Affektauslösung verändert die Gefühlswelt des Menschen also in mehrfacher Hinsicht. Zum einen können aktuelle Zustände/Affekte durch das Evozieren von Phantasien reguliert werden; zum anderen können die Affekte durch Kopplung an entsprechende Phantasien erheblich intensiviert werden und durch die anhaltende oder wiederholte Aktivierung einer Phantasie zu einer Art Dauerzustand werden, wodurch die ursprünglich adaptive Funktion des Affektes verloren gehen kann. Letzteres trifft natürlich auch und gerade dann zu, wenn es sich um eine unbewußte Phantasie handelt oder um ein unbewußtes Schema (Thomä 1999), wodurch die aktuellen Beziehungen gemäß dieses Schemas dauerhaft affektiv eingefärbt werden können. Aber Denkprozesse haben nicht nur Einfluß auf die Affektivität, auch das Umgekehrte gilt. So geht z. B. Bower (1981) in seinem assoziativen Netzwerkmodell des stimmungsabhängigen Erinnerns von einer bidirektionalen Aktivierbarkeit zwischen Emotionsknoten und den damit verknüpften Komponenten (z. B. Ereigniseinheiten) aus. Auch die neurophysiologische Forschung legt eine Beeinflussung von kognitiven Vorstellungsinhalten durch Emotionen nahe: „Wie die Dinge heute liegen, hat die Amygdala einen größeren Einfluß auf den Kortex als der Kortex auf die Amygdala, so daß emotionale Erregung das Denken dominieren kann“ (LeDoux 1998, 325). Ciompi, der den Zusammenhang von Affekt und Kognitionen unter chaostheoretischer Perspektive betrachtet, spricht von „Schaltwirkungen von Affekten auf Denken und Verhalten“ (1997, 262). Unbewußte Emotionen 147 Man muß aber wohl annehmen, daß diese Schaltwirkungen noch über die Selektion und emotionale Einfärbung von Kognitionen hinausgehen, und zwar in dem Sinne, daß Affekte eine aktive Rolle bei der Gestaltung von Phantasien haben können.10 Man könnte von einer Gestaltungswirkung der Affekte auf die Vorstellungswelt sprechen (Benecke 2002). Es ist von einem echten Wechselwirkungsprozeß zwischen Vorstellungen und Affekten auszugehen. Phantasien können Affekte auslösen, gleichzeitig haben Affekte wiederum organisierende Gestaltungswirkung auf die Wahrnehmung, das Denken und Handeln. Werden Emotionen allgemein als biologisch sinnvolle Einrichtung angesehen (s.o.), so kann die Adaptivität durch die Verknüpfung mit unbewußten Phantasien verloren gehen. Thomä verdeutlicht dies anhand der Unterscheidung zwischen Aggression und Destruktivität. Während Aggression biologisch sinnvoll ist und auch im Tierreich vorkommt, ist Destruktivität etwas spezifisch Menschliches und erfüllt keinen biologischen Zweck. Thomä betrachtet Aggression und Destruktivität als nicht-triebhafte Prozesse, was gerade ihr Zerstörungspotential konstituiert. „Was der menschlichen Aggressivität ihre Bösartigkeit verleiht und sie so unerschöpflich macht, ist ihre Bindung an bewußte und unbewußte Phantasiesysteme, die sich selbst scheinbar aus dem Nichts generieren und zum Bösen degenerieren“ (1990, 37). Scheinbar harmlose Kränkungen „setzen destruktive Prozesse in Gang, weil diese harmlosen äußeren Reize durch unbewußte Phantasien zu einer schweren Bedrohung werden“ (ib.). Destruktivität ist in eine Polarität von Ohnmacht und Allmacht eingebunden und dient dann der „Wiederherstellung des beschädigten Selbstwertgefühls“ (ib., 33). Eine Konzeption des Menschen ohne die Annahme solcher lebensgeschichtlich entstandenen, unbewußten, emotionalen Dynamiken kann unse- 10 So konnte in mehreren Studien gezeigt werden, daß Kinder mit unterschiedlichen Bindungsqualitäten (erhoben im Alter von 1 Jahr) sich später sehr in ihrer Phantasie unterscheiden: Dreijährige sollten bspw. Puppengeschichten (die um bindungsrelevante Themen zentriert waren) zu Ende spielen; Sechsjährigen wurden Bilder vorgelegt, auf denen Trennungssituationen dargestellt waren, und die Kinder wurden gefragt, wie sich das Kind auf dem Bild fühlen könnte und was es als nächstes vermutlich tun werde. Während sicher gebundene Kinder bereitwillig die Trennungsgeschichten zu Ende spielten, verweigerten sich unsicher gebundene häufiger dem Spiel; sie hatten z. B. keine Idee, wie es weitergehen könnte oder wollten etwas anderes spielen. Die anfänglich zu beobachtende Antwort- bzw. Spielverweigerung unsicher gebundener Kinder zeugt von einer Abwehr schon in frühem Alter. Ist diese Weigerung erst einmal überwunden, zeigen sich affektiv hoch aufgeladene Phantasien: Häuser brennen, Eltern haben tödliche Autounfälle, Kinder bringen sich am besten um (Bretherton et al. 1990; Main 1995; Übersicht bei Dornes 1998). Die drastischen Phantasien unsicher gebundener Kinder geben den mit Bindungssituationen verbundenen Affekten eine kognitive Gestalt, einen zum Affekt passenden kognitiven Rahmen. 148 Cord Benecke und Gerhard Dammann rer Ansicht nach keine plausiblen Erklärungsansätze für Geschehnisse wie beispielsweise den Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium bieten, da es sich nicht mehr um eine raptusartige, aus einem kurzfristigen Affekt entstandene Tat handelt. Der Mensch ist ein Homo symbolicus (Thomä 1990), mehr noch: ein Homo symbolicus subconscientivus. FRÜHE UNBEWUSSTHEIT VON EMOTIONEN Angesichts der Ergebnisse der modernen Säuglingsforschung, die ein reichhaltiges, differenziertes affektives Ausdrucksverhalten schon beim Kleinkind dokumentieren, hat sich heute die Ansicht weitgehend durchgesetzt, daß der Mensch mit einer biologisch vorgeprägten emotionalen Grundausstattung auf die Welt kommt. Daß von der Affektausdrucksfähigkeit eines Kleinkindes auf das Vorhandenseins des entsprechenden Gefühls geschlossen werden kann, wurde verschiedentlich kritisiert (z. B. Sroufe 1979; Lewis et al. 1984). Entsprechend der Unterscheidung innerhalb des Emotionssystems in occurring und experienced emotions (siehe oben), machen die Kritiker einer initialen Konkordanz von Gesichtsausdruck und Gefühl das Vorhandensein eines Ich- bzw. Selbstbewußtseins zur Voraussetzung eines emotionalen Erlebens. So unterschieden bspw. Lewis & Brooks-Gunn (1978) zwischen „emotional state“ und „emotional experience“, wobei letztere ein IchBewußtsein zur Voraussetzung hat, was nach Meinung der Autoren erst mit neun Monaten gegeben ist. So könnten Säuglinge zwar emotionale Zustände haben, aber keine Gefühle erleben. Für Basch (1976) beginnt echtes emotionales Erleben erst im Alter von eineinhalb Jahren, da er dies von dem Erwerb der Symbolfunktion abhängig macht. Auch für Moser können die Komponenten 1-3 des Emotionssystems (occurring emotion) aktiviert sein, ohne daß damit das Erleben eines Affekts einhergeht: „Das Kind ist wohl fähig zum Ausdruck von Affekten, man nimmt jedoch nicht an, daß bereits ein Prozeß des Erlebens von Affekten vorliegt“ (1983, 9). Dornes geht dagegen davon aus, „daß die Konkordanz von Ausdruck und Gefühl der primäre, nicht erlernte Zustand ist“ (1993, 121). Für diese Sichtweise sprechen mehrere Argumente: Während die Ausdruckskomponente eines Affekts Signalfunktion hat, hat die Erlebenskomponente eine motivierende Funktion und schafft Handlungsdispositionen. Im Falle einer Diskonkordanz von Ausdruck und innerem Zustand würde die dem Ausdrucksverhalten entsprechende, zu adaptivem Verhalten motivierende, Komponente fehlen. Zum anderen würde das Objekt zu „falschen“ Pflegehandlungen veranlaßt, da ein Zustand signalisiert wird, der nicht vorhanden ist. Eine solche Konstellation scheint evolutionär höchst unwahrscheinlich, da der adaptive Wert des Affektsystems eingeschränkt wäre. Die Studien an Unbewußte Emotionen 149 schwer mißhandelten oder vernachlässigten Kindern (Gaensbauer 1982a, 1982b; Gaensbauer & Hiatt 1984) zeigen, daß sich der Affektausdruck, abweichend von der normalen zeitlichen Entwicklung, in diesen Fällen entsprechend den gemachten Erfahrungen entwickelte und als angemessene, ontogenetisch adaptive emotionale Reaktion in entsprechenden Situationen betrachtet werden kann. Zudem sind die mimischen Affektexpressionen der Kleinkinder von anderen, zum gezeigten Affekt passenden Verhaltensweisen begleitet.11 Es scheint also deutlich, daß schon in frühester Kindheit eine adaptiv sinnvolle, differenzierte Innenwelt emotionaler Zustände besteht. Die Frage, ob und in welcher Form von einem emotionalen Erleben gesprochen werden kann, wird dann eher zu einem terminologischen Problem, z. B., wenn argumentiert wird, daß Erleben ein Ich-Bewußtsein zur Voraussetzung hat. Auch wenn im frühen Säuglingsalter die Fähigkeit zur selbstreflexiven Wahrnehmung noch nicht entwickelt ist und damit auch noch kein selbstreflexives, bewußtes Erleben von Affektzuständen, so ist doch klar, daß emotionale Erfahrungen in irgendeiner Form gespeichert werden, sonst wären die gemachten Erfahrungen bis zur Ausbildung des Ich-Bewußtseins für die psychische Entwicklung irrelevant. Zudem kann die Entwicklung des IchBewußtseins und der Aufbau der Repräsentanzenwelt, nicht getrennt von emotionalen Erfahrungen gesehen werden (Stern 1985; Emde 1983; Zepf 1997a). Das emotionale Geschehen vor der Ausbildung der Sprachfunktion muß also insofern als unbewußt angesehen werden, da die Voraussetzungen für ein selbstreflexives Erleben nicht gegeben sind. Nichtsdestotrotz finden diese Erfahrungen ihre Niederschläge im „emotionalen Erfahrungsgedächtnis“ (Roth 2001, 372) und bestimmen ganz entscheidend das psychische Geschehen auch in späteren Lebensphasen (Beutel 2002). DESKRIPTIV UNBEWUSSTE EMOTIONEN Für zahlreiche Kognitions- und Emotionsforscher ist das Vorhandensein von unbewußten Emotionen ein Widerspruch in sich, da eine Emotion immer eine bewußte Erfahrung oder ein subjektives Gefühl voraussetzen müsse. Die traditionale emotionspsychologische Sichtweise definiert Emotionen immer als subjektive Erfahrungen, die selbstverständlich ein Bewußtsein voraussetzen (James 1884; Clore 1994). 11 Das Ärgergesicht wird von schlagenden Arm- und tretenden Fußbewegungen begleitet, das Trauergesicht von einer zusammengesunkenen Körperhaltung usw. 150 Cord Benecke und Gerhard Dammann Eine wesentliche Entwicklung innerhalb der Kognitionspsychologie stellte die Konzeption eines „kognitiven Unbewußten“ durch Kihlstrom (1999) dar, unter dem er eine Reihe psychischer Phänomene zusammenfaßte, bei denen kognitive Prozesse in Abwesenheit von bewußter Wahrnehmung stattfinden. Kihlstrom und andere Vertreter dieses Modells haben sich dabei insbesondere auf Analogien zum impliziten Gedächtnis gestützt, bei dem Effekte früher gelernter Wörter beobachtet werden können, obwohl diese nicht mehr aktiv erinnert werden. Kihlstrom schlägt aus diesem Grund vor, das „emotionale Unbewußte“ und die „impliziten Emotionen“ als korrespondierende Begrifflichkeiten für unbewußte affektive Reaktionen zu benützen (Kihlstrom 1999; Kihlstrom et al. 2000). Einige der stärksten Belege für das Vorhandensein von unbewußten Emotionen stammen aus Untersuchungen zum subliminalen affektiven priming, also der wiederholten Darbietung affektiven Materials unterhalb der bewußten Wahrnehmungsschwelle. Zajonc, der zahlreiche dieser Studien durchgeführt hat, spricht ebenfalls von „unconscious emotions“ (2000, 32), betrachtet aber im Wesentlichen die Verursachung (causation) und Zuschreibung (assignment) des Affekts als unbewußt; der affektive Zustand selbst scheint auch für Zajonc weiterhin eine bewußte Erfahrung vorauszusetzen (Berridge & Winkielman, im Druck). Der Neurobiologe Joseph LeDoux dagegen definiert „Emotionen als unbewußte Prozesse [...], denen manchmal bewußte Inhalte entspringen“ (1998, 290). Trotz dieser weitgehenden Unbewußtheit finden emotionale Prozesse in nahezu jeder Alltagssituation statt und beeinflussen unser Denken und Handeln. Die regulierende und verhaltenssteuernde Bedeutung dieser unbewußten Emotionen wird erst dann sichtbar, wenn sie ausfallen. Die dramatischen Auswirkungen auf das Verhalten von Patienten mit Läsionen der entsprechenden Hirnregionen (z. B. des Stirnlappens und der Amygdala) wurden u. a. von Damasio (1994; 2000) beschrieben. Die Patienten sind nicht nur gefühlskalt, sondern verhalten sich äußert unvernünftig; z. B. vermeiden sie Gefahren nicht mehr, betragen sich rücksichtslos und verlieren allgemein die Fähigkeit, aus den Konsequenzen ihres Verhaltens zu lernen. Solche Patienten sind durchaus zu kognitiven Einsichten über ihr Verhalten in der Lage, diese Einsichten können aber nicht in die Tat umgesetzt werden, weil ihnen die emotionale Relevanz fehlt. Umgekehrt läßt sich bei Patienten, die unter einer läsionsbedingten anterograden Amnesie leiden, nachweisen, daß sie durchaus in der Lage sind, neue Fertigkeiten zu erlernen und im prozeduralen Gedächtnis zu speichern. Aber auch bei gesunden Versuchspersonen kann durch Emotionen gesteuertes prozedurales Lernen erfolgen, ohne daß ihnen etwas davon zu Bewußtsein gelangt (Bechara et al. 1997, zitiert nach Roth 2001). Im Alltagsleben beinhalten Emotionen in erster Linie die subjektive Bewertung einer sozialen Situation. Gleichzeitig hat jede Emotion eine motiva- Unbewußte Emotionen 151 tionale Komponente (sie gibt die Richtung der Handlung vor). Über das Ausdrucksverhalten (z. B. Mimik) werden diese inneren Bewertungen und Handlungsabsichten dem Sozialpartner wahrnehmbar, der nun wiederum darauf emotional reagiert und seine Intentionen und sein Handeln entsprechend darauf abstimmen kann. Von diesen Regulierungsprozessen wird allenfalls nur ein kleiner Teil bewußt, das meiste bleibt unbewußt. Solche interaktiven Abstimmungsprozesse wurden von Bänninger-Huber (1996), Merten (1996) und Steimer-Krause (1996) untersucht. Dabei konnte gezeigt werden, daß auch sehr kurze mimisch-affektive Ereignisse (mit einer Dauer von weniger als 0,3 sec) zu spezifischen Reaktionen beim Interaktionspartner führen. Weder diese mimischen Verhaltensweisen noch der systematische Zusammenhang mit den Reaktionen sind den Interaktanden bewußt; sie werden auch von ungeschulten Beobachtern nicht wahrgenommen (im Überblick: Merten & Benecke 2001). Über die Existenz und Wirkung unbewußt ablaufender emotionaler Prozesse bestehen also heute wenig Zweifel. Noch offen ist allerdings, ob diese Prozesse lediglich deskriptiv unbewußt sind und damit dem Bewußtsein prinzipiell zugänglich wären. Unseres Erachtens reicht aber zum Verständnis menschlichen Verhaltens die Annahme von deskriptiv unbewußten, impliziten oder prozeduralen emotionalen Prozessen nicht aus. Dieses Konzept sollte um eine psychodynamische Komponente erweitert werden. „Psychodynamisch“ heißt, daß die unbewußt ablaufenden Prozesse der Regulierung von inneren Konflikten dienen, und die Unbewußtheit dieser Regulierungen inklusive der darin wirkenden Emotionen ein Ziel dieser Regulierungen darstellt. DYNAMISCH UNBEWUSSTE EMOTIONEN Ein in der Psychoanalyse zentrales Konzept zum Verständnis (nicht nur neurotischen) menschlichen Verhaltens, ist das der Abwehr bzw. der Abwehrmechanismen. Traditionell werden diese dem unbewußten Teil des Ichs mit der Funktion zugeschrieben, dafür zu sorgen, daß (Trieb-) Konflikte unbewußt gemacht werden (Freud 1926). Die dann unbewußten Anteile der abgewehrten Triebregung können nur noch in entstellter Form als Ersatzbildungen (z. B. als Symptome) an die Bewußtseinsoberfläche gelangen. Freud nahm dabei an, daß Abwehrmechanismen immer durch Angst bzw. Unlust ausgelöst werden: Ein verpönter Triebimpuls erzeugt ein Angstsignal und die Angst mobilisiert die Abwehr. Bei einer stabilen Abwehr wird weder der Impuls noch die Angst bewußt. Die Palette Abwehr auslösender unbewußter Affektsignale wurde mit der Zeit erweitert, z. B. um depressive Affekte (Brenner 1982), Kränkung 152 Cord Benecke und Gerhard Dammann (Hoffmann 1987) und Scham (Wurmser 1990). König (1996) nimmt an, daß alle Affekte und Stimmungen Abwehrmechanismen auslösen können: Eine gegebene reale oder phantasierte Situation aktiviert eine spezifische Repräsentanz, dabei ausgelöste Affekte (wie z. B. Angst, Wut oder Kränkung) mobilisieren dann innerpsychische Abwehrprozesse und/oder Handlungsoperationen. Diese prozedurale Abfolge kann durchaus mit dem impliziten Gedächtnis in Verbindung gebracht werden. Im Unterschied zu anderen Handlungsprozeduren wie beispielsweise dem Autofahren, die nur deskriptiv unbewußt sind und prinzipiell wieder bewußt werden können, ist die Unbewußtheit des Geschehens bei Abwehrvorgängen gerade das Ziel der Operation. Die an der Auslösung von Abwehr beteiligten oder selbst abgewehrten Affekte sind dann zwar unbewußt, aber deshalb nicht verschwunden – sie wirken weiterhin im dynamischen Unbewußten. Die abgewehrte konflikthafte Repräsentanz wirkt weiterhin als eine Art Eingangsfilter, als Folie für die unbewußte Interpretation einer je gegebenen Situation, wodurch die Notwendigkeit zur Abwehr bestehen bleibt – die unbewußten Emotionen triggern die inneren Abwehroperationen. Dabei ist zu bedenken, daß Abwehrmechanismen ubiquitäre Phänomene sind und nicht nur bei psychisch Kranken vorkommen.12 Ebenso wie das Wirken impliziter Gedächtnissysteme nicht direkt beobachtet werden kann, sondern aus dem Verhalten (z. B. der Geschwindigkeit und Fehlerquote bei der Absolvierung bestimmter Aufgaben) erschlossen werden muß, kann auch das Wirken dynamisch unbewußter Emotionen nur erschlossen werden. Im Grunde dienen alle in der klinischen Literatur beschriebenen Abwehroperationen dem Unbewußtmachen von Emotionen. Schon Freud (1915a, 277) sah das „eigentliche Ziel“ der Abwehr in der „Unterdrückung der Affektentwicklung“. Neuere psychoanalytische Ansätze (Zepf 1997a; 2000) gehen aber im Gegensatz zu Freud davon aus, daß die abgewehrten, unbewußt gemachten Affekte ebenso wie die abgewehrten Vorstellungen im dynamischen Unbewußten bestehen bleiben. Dabei spielen sich die Abwehroperationen rein innerpsychisch oder auch in Interaktionen ab, wenn die Sozialpartner in die Abwehrprozesse mit einbezogen werden. Bedenkt man die interaktionellen Folgen eines durch Abwehr veränderten Verhaltens, so sind immer beide Bereiche betroffen.13 Bei der Reaktionsbildung beispielsweise werden Gefühle und die damit verbundenen Handlungsimpulse durch ihr Gegenteil abgewehrt, z. B. „in12 König (1996) nennt zu jedem der über dreißig beschriebenen Abwehrmechanismen ein bewußtes oder vorbewußtes Pendant im „normalen“ Alltagsverhalten. 13 Bänninger-Huber (1996) beschreibt die interaktive Regulierung von Schuldgefühlen in Psychotherapien, Merten (1996) interaktive Regulationsprozesse zwischen schizophrenen Personen im Gespräch mit Gesunden. Unbewußte Emotionen 153 dem der Person gegenüber, die einen aggressiv machen könnte, Gefühle besonderer Sympathie oder starken Mitleids erzeugt werden“ (König 1996, 28). Die abgewehrte unbewußte Emotion findet meist dennoch ihren Ausdruck, z. B. indem das aus der Reaktionsbildung resultierende Verhalten von den Interaktionspartnern als quälend überfürsorglich erlebt wird oder sogar tatsächlich schädigende Auswirkungen hat (Krause 1998, 234). Eng verwandt mit der Reaktionsbildung ist die sogenannte Affektersetzung. Moser (1978) zufolge kann z. B. Aggression der Angstabwehr und Angst der Aggressionsabwehr dienen. Krause (1998, 245 f.) beschreibt die Blockierung von Scham durch die Einnahme von damit unvereinbaren Körperhaltungen (wie z. B. chronische Triumph- oder Stolzhaltungen), die er als eine Form der Reaktionsbildung betrachtet. Durch die oben beschriebenen Wechselwirkungen zwischen Emotion und Kognition wird auch die Möglichkeit der Abwehr eines Affektzustandes durch einen anderen Affekt verständlicher. Dabei wird nicht einfach ein Affekt durch einen anderen ersetzt, so daß man ersteren nicht mehr empfinden muß, vielmehr werden mit der Mobilisierung eines Affektes eben auch bestimmte kognitive Repräsentanzen aktiviert. So ist aus der klinischen Erfahrung bekannt, daß Scham durch Wut abgewehrt werden kann. Scham ist mit einer bestimmten, defizitären Selbsteinschätzung verbunden, Moser & v. Zeppelin (1995) zufolge mit einem beeinträchtigten „Kern-Selbst“. Durch die Mobilisierung von Wut wird gleichzeitig eine Selbstrepräsentanz aktiv, in der das Subjekt über Handlungsmacht verfügt, jemand anderes kann nun als Urheber des Selbstwertdefizits erscheinen, und dieser andere kann jetzt, wenn auch vielleicht nur in der Phantasie, bekämpft werden. Wut ist insofern mit einem intakten Kern-Selbstempfinden verbunden. Die Abwehr von Aggression durch Angst findet sich z. B. bei Patienten mit einer Panikstörung. Zentral für diese Patienten wird übereinstimmend die Problematik im Bereich von Abhängigkeit und Autonomie gesehen, verbunden mit ängstlich-anklammerndem, allerdings von unbewußten Ambivalenzen begleiteten Beziehungsverhalten. Es bestehen ausgeprägte Wünsche nach Unabhängigkeit und Autonomie, die aber nicht realisiert werden, da die Patienten dadurch die Bindung der Objekte an sie zu gefährden meinen. Abgrenzung oder gar der Ausdruck von Ärger und Wut führen in der Phantasie der Patienten unweigerlich zum Verlassenwerden durch die gekränkte Person. Bewußtseinsfähig ist dann die Panik – die Patienten beschreiben sich in der Regel als extrem unaggressiv. Die aggressiven Anteile finden dann allenfalls Eingang in die „Katastrophengedanken“ wie z. B. ausgebaute Phantasien über tödliche Unfälle ihrer Partner oder dergleichen.14 14 In den Behandlungen zeigt sich der vormals unbewußte Zusammenhang von Aggression und Panik in der Weise, daß mit dem Bewußtwerden und psychischen Integrieren der Aggressionen auch die Panikattacken verschwinden (Milrod et al. 1997). 154 Cord Benecke und Gerhard Dammann Bei der Rationalisierung werden die durch unbewußte Motive und Emotionen generierten Handlungen vermeintlich „vernünftig“ begründet. Ist beispielsweise das Anstreben einer Vorgesetztenposition durch die unbewußte Angst vor mangelnder Bedeutung motiviert, wodurch jene Tätigkeit zugleich der Abwehr von Unwertgefühlen dient, dann ist es wahrscheinlich, daß dieser Mensch jegliches selbständige Handeln seiner Mitarbeiter unbewußt als Herausforderung oder Angriff deutet und entsprechend emotional darauf reagieren wird. Er wird aber in der Regel nicht sagen können: „Ich erlebe das als Angriff auf meine bröckelige Autorität und habe Angst davor, mich unwert zu fühlen“ – statt dessen wird er rationale Begründungen für seine aggressiv-restriktiven oder entwertenden, also der Abwehr dienenden, Verhaltensweisen finden. Rationalisierungen können ebenfalls als ein ubiquitäres Phänomen betrachtet werden. So vergleicht Roth allgemein das bewußte Ich mit einem „Regierungssprecher, der Dinge interpretieren und legitimieren muß, deren Gründe und Hintergründe er gar nicht kennt“ (2001, 370). Zepf (1997a) legt eine allgemeine begriffstheoretische Konzeption der Abwehr von Emotionen vor und erläutert eine mögliche Abfolge am Beispiel des „Kleinen Hans“, der bekanntlich unter einer Pferdephobie litt (Freud 1909). Ausgangspunkt ist die bewußte Angst vor dem aufgrund ödipaler Wünsche an die Mutter als bedrohlich erlebten Vater. Mit der DeSymbolisierung der problematischen Interaktionsformen,15 d. h. der Entfernung der Vorstellung des bedrohlichen Vaters aus dem Umfang des Begriffs „Vater“ und der sexuellen Wunschvorstellung aus dem Begriff „Mutter“ sind diese dem Bewußtsein entzogen, bleiben aber als Extension (Umfang) des Angstbegriffs erhalten. Werden die unbewußt gewordenen Interaktionsformen durch einen szenischen Auslöser aktiviert, dann wird die damit verbundene Angst erlebt und kann auch als Angst erkannt werden. Aufgrund der subjektiv nicht verfügbaren Verknüpfung zu den aktivierten unbewußten Interaktionsformen wird sie allerdings als freiflottierende Angst erlebt. Diese freiflottierende Angst kann dem Umfang anderer Begriffe eingefügt werden (z. B. dem Begriff „Pferd“), was einer falschen Re-Symbolisierung der abgewehrten Interaktionsformen gleichkommt. Subjektiv ist nun das „beißende Pferd“ die Angstbedingung, objektiv gründet sie in der Befürchtung, daß die Interaktionsform des bedrohlichen Vaters wieder ins Bewußtsein gelangt. Hier wird Angst bewußt erlebt, die Unbewußtheit besteht in der Verknüpfung mit einer „falschen“ Vorstellung. Wird nun in einem weiteren Schritt der Angstaffekt de-symbolisiert, also der Angstbegriff um die Extension „beißendes Pferd“ und die darin enthaltenen Interaktionsformen verkürzt, so bleiben nur die „autonomen Imageries“ (die Angstäquivalente) 15 Interaktionsformen „sind seelische Repräsentanzen der verschiedenen Interaktionen, sind Vorstellungen von Handlungsvollzügen mit einem Objekt“ (Zepf 1997a, 67). Unbewußte Emotionen 155 wahrnehmbar, wodurch sich der Angstbegriff in den Begriff „körperliche Sensationen“ wandelt. Diese können wiederum falsch re-symbolisiert werden, z. B. als „lustvolle Erregung“ oder „Streß“. Damit ist die Angst gänzlich unbewußt gemacht. Die Affektsymbole können verschoben und unter einem anderen Namen gelesen werden, so daß statt Wut, Angst und Haß „Streß“, „Erschöpfung“ oder „Spannung“ etc. erlebt wird, sie lassen sich sublimieren, indem sie unter Gefühlsbegriffe gefaßt werden, welche die Sprache unserer Gesellschaft für bestimmte Situationen für angemessen hält [...]. Affekte können ohne eine sprachliche Verfügung über sie und ihre Bedingungen erfahren werden. Ohne einen sprachlichen Prädikator, der sie bezeichnet, können sie aber nicht als ein „bestimmter Affekt“ Bewußtsein gewinnen (Zepf 1997a, 154-155). Wurden die Emotionen oben als biologisch vorgeprägte Werkzeuge der Motive bezeichnet, so könnte man die Abwehrmechanismen als einen zweiten Werkzeugkoffer verstehen, deren Instrumente eingesetzt werden, wenn eine einfache Motivrealisierung aus psychodynamischen Gründen nicht möglich ist. Im „gesunden“ Fall kommt es zu stabilen innerpsychischen und interpersonellen Kompromißbildungen, die sowohl dem Subjekt als auch seinen Sozialpartnern eine, wenn auch oft entstellte, Realisierung bedeutsamer Motive ermöglicht. Auch die oben erwähnten repetitiven Beziehungsmuster sind als Kompromißbildungen, die sowohl die Abwehr als auch das Abgewehrte enthalten, zu verstehen. Letztlich wird die individuelle Persönlichkeit eines Menschen durch stabile Konfigurationen von Repräsentanzen inklusive Abwehroperationen bestimmt (Hoffmann 1979; König 1992; Zepf 2000). Psychische Symptome, aber auch Persönlichkeitskonfigurationen können allgemein als Mittel/Lösungen betrachtet werden, bestimmte Vorstellungen und Emotionen unbewußt zu machen bzw. zu halten – gleichzeitig bewirken die unbewußten Vorstellungen und Emotionen die Aufrechterhaltung eben dieser Phänomene. ZUGÄNGE ZU UNBEWUSSTEN EMOTIONEN Während deskriptiv unbewußte emotionale Prozesse dem Bewußtsein im Prinzip zugänglich sind (z. B. durch eine entsprechende Aufmerksamkeitsfokussierung), ist dies bei dynamisch unbewußten Emotionen nicht der Fall. Wie können wir dennoch Kenntnis über diese abgewehrten, unbewußten Emotionen erlangen? Mittlerweile existieren einige experimentelle Ansätze zur Untersuchung von unbewußten Konflikten bzw. Abwehrprozessen, von denen hier eine kleine Auswahl vorgestellt werden soll. 156 Cord Benecke und Gerhard Dammann Ausgehend von der Überlegung, daß eine ausgesprochene Aversion gegen homosexuelle Personen des eigenen Geschlechts mit einer unbewußten eigenen homosexuellen konflikthaften Thematik zusammenhängen könnte, untersuchten Adams et al. (1996) 35 homophobische Männer und eine heterosexuelle Kontrollgruppe. Allen Männern wurde explizit sexuelles Videomaterial (mit heterosexuellen, lesbischen und schwulen Szenen) vorgespielt und die physiologische Reaktion der Männer mit Hilfe der Penisplethysmographie erfaßt. Im Unterschied zu den nicht homophobischen Männern zeigten sich die homophobischen heterosexuellen Männer, entsprechend der psychoanalytischen Hypothese, gerade von den homosexuellen Videos hoch signifikant erregt (gemessen durch die erektile Zirkumferenz). Subjektiv „leugneten“ (oder verdrängten) die homophobischen Männer die stattgefundene Erregung. Neben der experimentellen psychoanalytischen Traumforschung, die ihre Anfänge bereits bei Plötzl (1917) hatte, sind es insbesondere Studien mit Subliminalisierungsverfahren, bei denen „Reize in das vorbewußte Processing eingeschleust werden“ (Leuschner et al. 1998, 824) die für die experimentelle Erforschung unbewußter Prozesse wichtig sind. Versuche, die subliminale Darbietung individuell konflikthafter Wörter zu untersuchen, wurden u. a. von Shevrin et al. (1997) vorgenommen. Dabei wurden aufgrund von Interviews für neurotische Patienten zwei Wortlisten zusammengestellt. Die eine Liste bestand aus (bewußten) Konfliktwörtern, d. h. aus Ausdrücken, die die Patienten während des Interviews explizit verwendet hatten. Die unbewußte Konfliktliste wurde von psychoanalytischen Experten aus dem jeweiligen Interviewmaterial komplementär dazu zusammengestellt. Beide Listen wurden den Patienten optisch im Labor, zunächst subliminal und später supraliminal vorgespielt. Nur bei der subliminalen Darbietung der unbewußten Konfliktwörter kam es zu Verarbeitungsverzögerungen, was von den Autoren als Ausdruck des Wirkens aktivierter Abwehrmechanismen interpretiert wurde. Ein weiterer Befund demonstrierte, daß auf der Basis der (physiologischen) Gehirnreaktionen die unbewußten Konfliktwörter subliminal besser als zusammengehörig kategorisiert wurden als supraliminal, wo offensichtlich Hemmungsprozesse eine Rolle spielten. Dieser Unterschied war bei Probanden besonders groß, die zur Verdrängung neigten. „Durch dieses Ergebnis wird das Konzept eines interaktiven Unbewußten über die vorbewußte Aktivierung und das Gegenwartsunbewußte hinaus auf das dynamische, konflikthafte ältere, infantile Unbewußte erweitert“ (Shevrin 2002, 106). Solche Untersuchungen liefern Hinweise auf das Wirken unbewußter Dynamiken. Für den Zugang zum Unbewußten in der Psychotherapie (und auch im Alltag) sind wir nach wie vor auf „herkömmliche“ Verstehensprozesse angewiesen. Unbewußte Emotionen 157 Für Freud (1900) war die via regia zum dynamischen Unbewußten der Traum bzw. die Traumdeutung. In den letzten Jahren hat die interpersonelle Perspektive auf die Behandlungsprozesse ein immer stärkeres Gewicht bekommen, wodurch sich auch ein anderer Schwerpunkt im Hinblick auf das Verstehen unbewußter Inhalte entwickelte. Die in diesem Zusammenhang wesentlichen Verstehensprozesse wurden unter die Begriffe „Szenisches Verstehen“ (Argelander 1970), „Empathie“ und „Gegenübertragung“ gefaßt.16 Auch wenn die Konzepte von Empathie und Gegenübertragung im therapeutischen Kontext ausformuliert wurden, können sie doch als ubiquitäre Prozesse angesehen werden, die in jeder interaktiven Alltagssituation mitspielen. „Empathie“ bezeichnet die „Erfahrung, unmittelbar der Gefühlslage eines anderen teilhaftig zu werden und sie dadurch zu verstehen. Trotz dieser Teilhabe bleibt das Gefühl aber anschaulich dem anderen zugehörig“ (Bischof-Köhler 1989, 26). Bischof-Köhler unterscheidet zwei Wege der Emotionsübertragung, die ausdrucksvermittelte und die situationsvermittelte. In beiden Fällen kommt es zu einer Emotionsinduktion beim Gegenüber, wobei die Verortung der induzierten Emotion beim anderen die Voraussetzung ist, um von Empathie sprechen zu können. Die Autorin verwendet den Begriff „Induktion“, um deutlich zu machen, daß die empathische Wahrnehmung unmittelbar, sehr schnell und ohne „höhere“ kognitive Operationen erfolgt und daher auch nicht bewußt werden muß.17 Gleichwohl bildet dieses „Verstehen“ die Grundlage aller interaktiver Antworten (Benecke 2002). „Gegenübertragung“ bezeichnet die reaktiv im Gegenüber (Therapeuten) entstehenden Emotionen, Phantasien und Handlungsimpulse. Beispielsweise: Ein Patient gebärdet sich stark und selbstständig – im Therapeuten entstehen Gefühle von Schwäche und Hilflosigkeit (Argelander 1970, 65), wodurch dem Therapeuten etwas von den abgewehrten Emotionen des Patienten gewahr wird. Allerdings fließt in diese Gegenübertragungsreaktionen immer auch die Subjektivität des Therapeuten mit ein, so daß sie nicht unbedingt deckungsgleich mit den abgewehrten Anteilen des Patienten betrachtet werden können, was eine „Zuschreibung“ u. U. schwierig macht.18 Während in Alltagssituationen die Interaktionspartner 16 Eine Übersicht inklusive Klärungsversuch der notwendigen psychologischen Mechanismen findet sich bei Benecke (2002). 17 Nach den Untersuchungen von Bischof-Köhler (1989) entwickelt sich Empathiefähigkeit ca. im Alter von eineinhalb Jahren. 18 Manchmal ist diese Zuschreibung recht eindeutig möglich: Streeck (1998) berichtet von einem Patienten auf einer Station, der binnen kurzem sowohl das Klinikpersonal als auch sämtliche Mitpatienten zur Weißglut trieb, indem er sich bspw. bei seinen Mitpatienten in kurzen Abständen versicherte, ob es sie auch nicht störe, wenn er Zeitung lese (solange bis die Fragerei störte) oder indem er sich bei jedem Formular, das er ausfüllen sollte, mehrfach beim Personal rückversicherte, ob er auch alles richtig gemacht habe. 158 Cord Benecke und Gerhard Dammann gewöhnlich gemäß ihren eigenen (unbewußten) Schemata und im Interesse ihrer eigenen Selbstregulation handelnd reagieren, werden die empathischen und Gegenübertragungsreaktionen in der analytischen Behandlung idealiter einer sorgfältigen Reflexion unterzogen und als Bausteine des Verstehens der unbewußten emotionalen Innenwelt des Patienten genutzt. Ohne diese „reflektierende Funktion“ (Kernberg 1999), ohne das Einnehmen der „exzentrischen Position“ (Thomä 1999) des Therapeuten wirken die Emotionen als wesentliche Teile der interaktiven Verstrickung an der Aufrechterhaltung und ständigen Neuinszenierung der unbewußten Muster mit und bleiben therapeutisch unwirksam. Die reflektierende Funktion ermöglicht dem Therapeuten einen „Ausstieg“ aus den emotionalen Verstrickungen und die therapeutische Nutzung der eigenen emotionalen Reaktionen, mit dem Ziel, dem Patienten eine (oft zunächst belastende) bewußte Verbindung zwischen Emotion und Vorstellung zu ermöglichen und die vormals unbewußten Emotionen und Phantasien psychisch integrierbar werden zu lassen. Dadurch, daß sie subjektiv verfügbar werden und nicht mehr nur unbewußt dynamisch-prozedural wirken, kann ihnen ihre das ganze Sein bestimmende Macht genommen werden. Benecke (2002) konnte zeigen, daß Therapeuten in Behandlungen mit unbefriedigendem Ergebnis eine deutlich höhere direkte, mimisch-interaktive Zurückspeisung ihrer negativen Affekte aufweisen (was als Mißlingen des Ausstiegs aus der affektiven Dynamik, mithin als Agieren der Gegenübertragung interpretiert wurde) als Therapeuten in Behandlungen mit gutem Ergebnis. In einer Einzelfallstudie wurde zudem das emotionale Erleben, das mimisch-affektive Verhalten und die Sprache eines Patienten und seines Therapeuten im Verlauf einer als erfolgreich eingestuften psychoanalytischen Fokaltherapie untersucht (Benecke & Krause 2001; Benecke 2002). Dabei konnte gezeigt werden, wie sich die anfangs vom subjektiven Erleben dissoziierten und an keine bestimmten Sprachinhalte geknüpften negativen mimischen Affektausdrücke des Patienten im Verlauf der Behandlung mit spezifischen, sprachlich vermittelten Objektrepräsentanzen verkoppelten und die anfangs unbewußte Affektivität sich nun bewußt mit bestimmten und dazu passenden Vorstellungen seiner historischen und aktuellen Bezugspersonen verband. In jüngster Zeit legte die Londoner psychoanalytische Forschergruppe um Peter Fonagy unter den Stichworten „mentalization“ und „reflective function“ verschiedene Studien vor, die die protektive Wirkung der Bewußtheit über die eigene Geschichte, der darin enthaltenen Motive und Emotionen, sowohl von den eigenen als auch denen signifikanter Bezugspersonen, in bezug auf Gewaltverhalten, Borderline-Störungen etc. bei Vorliegen psychischer Kindheitstraumata eindrucksvoll demonstrieren (Fonagy et al. 2002; Daudert 2002). Grande et al. (2002) konnten zeigen, daß Einsicht in die maladaptiven emotionalen Beziehungsmuster und die darauf Unbewußte Emotionen 159 folgende Übernahme von Eigenverantwortung für deren Veränderung zu besseren Behandlungsergebnissen führte. Diese Befunde verdeutlichen, daß die Gewinnung von selbstreflexiver Bewußtheit über die eigene emotionale Innenwelt, die „einzige Leuchte im Dunkel der Tiefenpsychologie“ (Freud 1923, 245), mehr ist, als der „Zukkerguß“ der Evolution (LeDoux 1998, 285). Diese Leuchte ermöglicht es dem Menschen, sich aus seinen dynamisch-prozeduralen Determinismen zumindest ansatzweise zu lösen und sein Leben freier und selbstbestimmter zu gestalten. LITERATUR Adams, Henry E., L. W. Wright & B. A. Lohr (1996) Is homophobia associated with homosexual arousal? Journal of Abnormal Psychology 105(3), 440-445. Argelander, Hermann (1970) Das Erstinterview in der Psychotherapie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 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Ein Blick in die philosophische Literatur belehrt, daß die Idee, Schemata als strukturelle Bausteine der psychischen Organisation, als Träger wichtiger mentaler Funktionen anzunehmen, als solche nicht neu ist; sie findet sich bereits bei Kant; in der Psychologie spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts (z. B. bei Selz 1913; 1922). Bartlett (1932) gab die erste Definition eines Schemas. Ihm zufolge handelt es sich dabei um: ... an active organization of past reaction, or of past experiences, which must always be supposed to be operating in any well-adapted organic response. That is, whenever there is any order or regularity of behavior, a particular response is possible only because it is related to other similar responses which have been serially organized, yet which operate, not simply as individual members coming one after another, but as unitary mass (1932, 43). Zwei Punkte dieser Definition sind herauszuheben: (1) (2) Ein Schema ist eine aktive mentale Organisation, die bei jedem geordneten Verhalten wirksam wird. Schemata als das Verhalten und Erleben eines Individuums regulierende Größen beziehen sich damit auf die Organisation von prozeduralen und deklarativen Gedächtnisinhalten, Phantasien, Affekten, Überzeugungen und Handlungsbereitschaften, die die jeweils typischen, normalen wie pathologischen Reaktionsweisen eines Individuums ausmachen. Der Begriff der psychischen Struktur, in dem diese Schemata aufgehen, ist vor allem im Bereich der psychoanalytischen Konzeptbildung theoretisch nicht unvorbelastet. Freud zufolge bezieht er sich auf das Funktionieren des psychischen Apparates und bezeichnet die bekannten, darin enthaltenen Instanzen bzw. deren jeweils charakteristisches Zusammenwirken. Dem Begriff der psychischen Struktur liegt die Überzeugung zugrunde, daß prototypische Erfahrungen, die mit der äußeren Welt und äußeren Objekten gewonnen werden, in einen irgendwie gearteten strukturbildenden Prozeß Emotion und psychische Struktur 165 einmünden. Freud (1923) spricht in diesem Zusammenhang vom Ich als sich gründend auf die „Niederschläge früherer Identifizierungen“. Kernberg (1968) redet von der „Metabolisierung elterlicher Imagines“, Kohut (1971) von einer „transmutierenden Internalisation“. Internalisierungen wie Introjektion und Identifizierung sind die gemäß der psychoanalytischen Theorie klassischen strukturbildenden Prozesse (Schafer 1968). Immer handelt es sich um einen Prozeß der Hereinnahme und der Integration. Konkretisiert werden können diese Internalisierungsprozesse durch Bezugnahme auf die Konzepte der Assimilation und der Akkomodation (zwei fundamentale Entwicklungsprinzipien), wie sie von Piaget (1976) im Zusammenhang mit kognitiven Schemata beschrieben worden sind. Der Begriff der Assimilation bezieht sich dabei auf die Wahrnehmung, die Aneignung von Erfahrungen und das Erleben der Umwelt auf der Grundlage präexistenter Wissensstrukturen. Die Akkomodation geht dagegen von der prinzipiellen Änderbarkeit solcher Strukturen aus. „Läßt sich eine Erfahrung nicht in das bestehende kognitive Schema einfügen, so führt dies unter Umständen – von der Mißachtung bzw. Abwehr dieser ‚unpassenden’ neuen Erfahrung abgesehen – zu einer Veränderung des Schemas“ (Thomä und Kächele 1985). Kognitiv-emotionale Schemata im Sinne Piagets lassen sich somit durch den Rückgriff auf die Begriffe der Assimilation und Akkomodation zu einer entwicklungs-psychologischen Perspektive in Beziehung setzen und damit auch zu allgemein-psychologischem Wissen. Inwieweit die Anwendung solcher Konzepte auch auf das klinische Denken von Nutzen sein könnte, kann hier nur angedeutet werden. Slap (1986; vgl. auch Slap & Saykin (1983)), der Schemata auf dem Abstraktionsniveau der klinischen Theorie der Psychoanalyse ansiedelt, spekuliert über Abspaltungs- und Sequestrationsvorgänge, durch die „pathologische“, von der Akkomodation ausgeschlossene Schemata entstehen könnten, die für eine Einengung der Sichtweise und Selektivität der Wahrnehmung sorgen. Dieses Denken führt zwangsläufig zu einer interessanten Neu-Formulierung neurotischen Geschehens. Die Wahrnehmung der Umwelt, ihre Interpretation, passiert in Kongruenz mit einem solchen pathologischen sequestrierten Schema; die aus der Umwelt wahrgenommenen Daten werden als störend, ängstigend, schmerzhaft usw. assimiliert, sie führen jedoch nicht zur Akkomodation, zur Modifikation der Struktur. Psychotherapie würde damit zur Möglichkeit, Akkomodationsvorgänge nachholen und neurotische Schemata korrigieren zu können. Das Erkennen solcher pathologischer Schemata und die Herstellung einer geeigneten Situation zur Veränderung solcher Schemata wäre demnach die entscheidende Aufgabe eines Therapeuten. „Struktureller Wandel“, eine bei Psychotherapeuten psychoanalytischer Provenienz beliebte Formulierung würde in der Sprache der Schemata beschreibbar werden. 166 Michael Hölzer und Horst Kächele Vor allem auf den Prozeß des Erkennens soll im folgenden näher eingegangen werden. Slap spricht in diesem Zusammenhang (u. E. etwas unreflektiert optimistisch) von „clinically inferable structures“, also von: klinisch erschließbaren Strukturen, offensichtlich ohne daß sich für ihn dabei irgendwelche Probleme systematischer Art ergeben. Zwar darf vermutet werden, daß Verstehens- und Erkenntnisprozesse im Therapeuten diesen prinzipiell dazu befähigen, relevante Verhaltensmuster wahrzunehmen und diese intern abzubilden. Über die dabei im Kopf des Therapeuten ablaufenden kognitiven und emotionalen Vorgänge ist allerdings wenig systematisches Wissen verfügbar (Kächele 1985; Meyer 1988). Verlangt wird von ihm jedenfalls neben theoretischen Kenntnissen ein Gespür für Passendes, für Ähnlichkeitsbeziehungen, für Wiederholungen. Seine Aufgabe ist es, aus der durch falsche Anfänge und Unterbrechungen bzw. syntaktische und semantische Unregelmäßigkeiten gekennzeichneten Sprache des Patienten Ordnung, sinnvolle Konfigurationen und Regelmäßigkeiten herauszuhören, quasi zu destillieren, um daraus Rückschlüsse auf leitende Wünsche, inadäquate Überzeugungen und deren individuell-charakteristische Verkettung zu ziehen. Möglich wird die Lösung dieser Aufgabe allerdings nur, wenn sich hinter der scheinbaren Unordnung und Unregelmäßigkeit in der spontanen Rede des Patienten Ordnung und Regelmäßigkeit, eben Struktur, verbirgt. 2. FRAME-ANALYSIS – EIN OPERATIONALER ZUGANG ZUR PSYCHISCHEN STRUKTUR Der Ausdruck „frame“ oder „frames of mind“ wurde von dem MITProfessor Marvin Minsky (1975) geprägt, der als einer der Mitbegründer der Künstlichen Intelligenzforschung betrachtet werden muß. Er hat versucht, den Vorgang der visuellen Wahrnehmung mit Hilfe prä-formierter, stereotyper Wissensstrukturen zu erklären. Für die Psychotherapieforschung wurde dieser Ansatz von Dahl (1988) fruchtbar gemacht. Seine an dieses Konzept angelehnte „frame-analysis“ gehört einer allgemeinen Forschungsrichtung an, die sich seit Mitte der 70er Jahre als sinnvolle und notwendige Ergänzung der zumindest in den USA das Feld beherrschenden OutcomeForschung etablieren konnte. Den historischen Ausgangspunkt der „frames of mind“-Methode markiert eine gemeinsame Studie von Dahl und Rubinstein (Dahl et al. 1978), in der Arbeits- und Denkweise des klinisch tätigen Analytikers empirisch modelliert wurden. Ergebnis dieser Studie waren die sogenannten „microstructures“ (Teller und Dahl 1981a), die später dann als FRAMES – Fundamental Repetitive And Maladaptive Structures – apostrophiert wurden. Von diesen Emotion und psychische Struktur 167 Mikrostrukturen, die sich aus der freien Assoziation einer Patientin isolieren ließen, nahm Dahl an, daß sie die Strukturen sind, die das therapeutische Denken eines Psychoanalytikers überhaupt erst möglich machen. Als FRAMES gelten nach Dahl sogenannte „event-sequence-structures“; wir übersetzen diesen Ausdruck als „strukturierte Ereignis-Sequenzen“, wobei die Ereignisse (events) Variablen sind, die alle möglichen verschiedenen Aspekte des Erlebens und Verhaltens bezeichnen können: Handlungen, Wahrnehmungen, Überzeugungen, Annahmen, Wissen, Phantasie, Gefühle, Erinnerungen, usw. Als „Ereignis“ können nach Dahl alle mentalen wie realen Tätigkeiten eines Individuums fungieren. E1 E2 E3 Abb. 1: Die Beziehung der einzelnen Ereignisse untereinander wird durch ihre Reihenfolge, durch die Pfeile festgelegt. Der Wert („value“) eines Ereignisses ist dann durch die jeweils in dem Kästchen erscheinende konkrete, mentale oder reale Tätigkeit definiert. Die Werte der einzelnen Ereignisse werden auch als summarische Prädikate („summary predicates“) bezeichnet, da sie, wenn es sich nicht um wörtliche Zitate handelt, einfache Paraphrasierungen oder geringgradig abstrahierte Zusammenfassungen der jeweiligen, manifesten Patientenäußerung der primären Prädikate („primary predicates“) darstellen. 168 Michael Hölzer und Horst Kächele Zu jedem FRAME gehören ein sogenannter Prototyp und – meist mehrere – Instantiierungen. Der Prototyp ist die vollständige Fassung eines FRAMES, d. h. jedes im FRAME erscheinende Ereignis hat einen eindeutig spezifizierten Wert. Die wesentliche Bedingung für die Erstellung bzw. Konstruktion eines Prototypen ist, daß sich jedes, ein Ereignis kennzeichnendes summarisches Prädikat eindeutig durch entsprechende Textstellen im manifesten Textinhalt des Patienten rechtfertigen läßt. Instantiierungen sind Wiederholungen, also neu auftretende Beispiele eines Prototypen in mehr oder weniger vollständiger Form. Bleibt eine Instantiierung unvollständig, d. h. weist sie auch leere, nicht nur durch summarische Prädikate eindeutig spezifizierte Ereignisse auf, so werden die entsprechenden Werte des Prototypen als Voreinstellungen („default values“), d. h. als zu erwartende Prädikate eingesetzt. Die Ableitung solcher Erwartungen, d. h. Hypothesen über das weitere Verhalten eines Individuums wird von Dahl als „reasoning by default“ bezeichnet. Die vielleicht etwas unübersichtliche Terminologie soll an dieser Stelle an einem einfachen FRAME-Beispiel veranschaulicht werden. Die Textpassage, die der Konstruktion dieses FRAMES (von Dahl (1988) als „critical-friendly frame“ bezeichnet) zugrunde liegt, erscheint in der fünften Stunde der Psychoanalyse von der Patientin Mrs. C (eines in der US-psychoanalytischen Prozeßforschung vielfältig untersuchten Musterfalls); sie stellt eine Selbstbeobachtung dieser Patientin dar: „Und das macht mich nachdenklich, hm, über Freundschaften, die ich mit anderen Leuten hatte und, etwas, das ich nicht gerne zugebe, weil ich es nicht leiden kann (nervöses Lachen), also ich kann mir auch nicht vorstellen, daß ein anderer das tut, aber es sieht so aus, daß ich eigentlich an fast jedem herumnörgeln muß, mit dem ich befreundet bin, zum gewissen Grad jedenfalls, mal mehr, mal weniger. Und, selbst wenn ich mich diesen Leuten irgendwie unterlegen fühle, und ich glaube, ich fühle mich einer Menge Leute unterlegen, trotzdem muß ich an denen herumnörgeln und sie gegenüber David (Ehemann) kritisieren, ich weiß nicht. Ich muß sie immer offen kritisieren, und das muß ich auf alle Fälle so machen, und dann kann ich erst anfangen, mh, eine Art freundliche Beziehung mit denen. Und wenn ich das nicht getan habe, kann ich jemanden nicht richtig akzeptieren als jemanden, mit dem ich irgendwie was zu tun haben will. Und, wenn ich nicht, wenn ich sie in keiner Hinsicht kritisieren kann, kann ich mich denen scheinbar einfach nicht nähern. Ich, ich, ich weiß nicht, es ist mehr, daß, hm, es ist keine Scheu. Ich fühl mich bloß sehr ungemütlich, denk ich, in deren Beisein.“ Der aus diesem Textabschnitt konstruierte Prototyp weist drei Ereignisse auf. Emotion und psychische Struktur 169 „Critical-Friendly-FRAME“ E1 Nachdenken über Freundschaft E2 Kritisches Verhalten gegenüber X E3 Freundliches Verhalten gegenüber X Abb. 2 In diesem Prototyp sagt die Patientin explizit, daß sie, wenn sie an die Möglichkeit einer freundschaftlichen Beziehung zu jemandem denkt, Kritik üben muß, bevor sie sich freundschaftlich verhalten kann. Die Reihenfolge der Ereignisse ist eindeutig vorgegeben, die Hypothese folgt, daß sich dieses Verhalten nach eben diesem vorgegebenen Muster wiederholen wird. Die im Prototyp erscheinenden summarischen Prädikate repräsentieren nicht nur den manifesten Inhalt der Selbstbeobachtung der Patientin, sie sind gleichzeitig auch die inhaltliche Vorgabe, nach der sich nun die Suche nach Instantiierungen des Prototypen auszurichten hat. Tatsächlich, ohne daß wir an dieser Stelle detailliert auf die einzelnen Instantiierungen eingehen können, finden sich in der gleichen Stunde vier Wiederholungen desselben FRAMES. Die therapeutisch relevanteste sei hier wiedergegeben: Unmittelbar nach der Selbstbeobachtung der Patientin folgt die Äußerung des Therapeuten: „So, vorher haben Sie darüber nachgedacht, ob ich das wohl billige oder nicht, die Dinge, über die Sie gerade geredet haben. Gibt’s da irgendeine Verbindung? Folgt möglicherweise daraus, daß Sie irgendeine Kritik gegen mich haben, die Ihnen eingefallen ist?“ 170 Michael Hölzer und Horst Kächele Die Patientin entgegnet: „Ich denke, wenn ich sie hätte, würde ich sie viel zu sehr (nervöses Lachen) unterdrückt haben, um sie zuzugeben. (Pause) Hm, vielleicht eine – ich fang mal mit etwas an, das weniger (nervöses Lachen) persönlich ist, etwas, da bin ich sicher, das mir von Zeit zu Zeit einfällt, obwohl ich nicht denke, daß es mich immer noch so stark beeinflußt, wie es mal hat – das ist, hm, manchmal frage ich mich, ob das hier wirklich zu irgend etwas führt, und, ich weiß nicht, ob das hier nicht nur ein schlechter Witz ist. Aber das ist wirklich, teilweise, weil meine Erziehung hat dazu geführt, daß ich so denke, daß ich denke, daß das niemandem etwas bringt und daß es einfach nur einen Haufen Geld kostet. Ich glaube nicht, daß mich das jetzt noch so beeinflußt.“ Wenig später folgt eine freundlich klingende Äußerung der Patientin: „Weil das (nervöses Lachen), hm gut, selbst das fällt mir schwer zu sagen, und es ist, es ist dumm, aber wenn ich über Kleidung und das Tragen von Sachen nachdenke, wie man’s nimmt, hm, einfach beim, beim Wahrnehmen was Sie so tragen, seit ich herkomme und, die Möglichkeit und die Freiheit, die Sie anscheinend haben und, ich glaube, ich bin irgendwie darauf neidisch. Das ist mir sehr peinlich (nervöses Lachen), das zu sagen.“ Dann später über ihre Arbeitskollegin sprechend, fährt sie fort: „... und das ist wirklich eine Art Geste der Freundschaft, ich glaube, jemandem das zuzugestehen, daß man das mag, was der anhat.“ Die Äußerung des Analytikers ist klar als eine auf die therapeutische Beziehung abzielende Intervention zu verstehen; er vermutet, daß das, was die Patientin als ihr charakteristisches Beziehungsverhalten (erst kritisch und dann freundlich) schildert, auch in bezug auf ihn zum Tragen kommen wird. Die so hergestellte Vermutung bzw. Voraussage bewahrheitet sich, indem die Patientin erst ihre Kritik an der Psychoanalyse (und damit dem Therapeuten gegenüber) äußert, um dann im Anschluß daran dem Analytiker „als Geste der Freundschaft“ ein Kompliment über seine Kleidung zu machen. Wie erwähnt, basiert der „critical-friendly frame“ auf einer generalisierten Selbstbeobachtung der Patientin, die bei der FRAME-Konstruktion eigentlich nur auf ihre wesentlichen Elemente hin reduziert worden ist. Bei der Verwendung von Generalisierungen dieser Art handelt es sich somit um eine vergleichsweise durchsichtige Suchstrategie für FRAMES; sie setzt allerdings voraus, daß der manifeste Textinhalt, daß das, was jemand explizit über sich selbst sagt, auch tatsächlich ernstgenommen wird. Dieses Vorgehen, Emotion und psychische Struktur 171 d. h. die Analyse der FRAMES auf der Ebene des manifesten Textinhalts unter Verzicht auf die Exploration latenter Bedeutungen ist überhaupt ein wesentliches Charakteristikum der Suche nach FRAMES. Sie stellt sich allerdings nicht immer ganz so „problemlos“ dar wie im Fall des „criticalfriendly frame“. Um diese Suche zu systematisieren und Schlußfolgerungsprozesse, die damit verbunden sind, nachvollziehbar zu machen, wurde von Dahl’s Kollegin Teller eine sogenannte Kategorien-Kartierung („categorymap“) entwickelt, ein Verfahren zur inhaltlichen Kategorisierung von Texten und der Veranschaulichung ihrer syntaktischen Struktur. Thema 1 1-26 Thema 2 Thema 3 27-87 88-112 113-146 Abb. 3 In der Kartierung (als einer Art „Landkarte der freien Assoziation“) erfolgt eine Repräsentation der thematischen Abfolge der Inhalte, wie sie in jeder freien Assoziation erscheinen. Für jedes vorkommende Thema gibt es dabei eine eigene Kategorie; führt der Sprecher ein inhaltlich neues Thema ein, wird an der rechten Seite der Kartierung eine neue Kategorie eröffnet. Kommt er auf ein vorher erwähntes Thema zurück, wird die Äußerung in der ihr entsprechenden bereits vorhandenen Kategorie auf der linken Seite der Kartierung eingetragen. Durch diese Repräsentation erfolgt also eine inhaltliche Gliederung der freien Assoziation unter Beibehaltung der Abfolge der Themen, der sequentiellen Textstruktur. So werden auch Aussagen über die Art und Weise, wie über ein bestimmtes Thema geredet wird, möglich. Wir fassen zusammen: • • • FRAMES sind „sequenzierte Ereignis-Strukturen, die aus dem Text der spontanen Rede eines Individuums isoliert werden. Das summarisches Prädikat, d. h. die inhaltliche Füllung eines Ereignisses, ist ein Zitat, eine Paraphrasierung oder geringfügige Abstraktion einer Patientenäußerung. Die Ereignisse eines vollständigen FRAMES sind durch eindeutige summarische Prädikate spezifiziert; eine vollständige Sequenz wird als Prototyp bezeichnet, mehr oder weniger vollständige Wiederholungen gelten als Instantiierungen dieses Prototypen. 172 • Michael Hölzer und Horst Kächele FRAMES erlauben Vorhersagen, Hypothesen über das Verhalten einer Person, indem die Ereignisse des Prototypen als voreingestellte Werte in die unvollständig bleibenden Instantiierungen eingesetzt werden. 3. DAS PROBLEM DER IDENTIFIKATION DER FRAMES Eine entscheidende Frage ist nun: Wie gelangt man zu der Kenntnis vom Prototypen bzw. deren jeweils charakteristischer Konfiguration. Probleme, die sich dann bei der Suche nach Instantiierungen bzw. bei der Aufstellung von Hypothesen in bezug auf zukünftiges Verhalten stellen, scheinen demgegenüber zweitrangig zu sein. Und um es gleich vorwegzunehmen, es ist keine einzelne, einfache Antwort auf diese Frage möglich. Der Sachverhalt wird noch verkompliziert durch das Eingehen einer bislang nicht diskutierten, unbekannten Variablen: der ungeklärten Beziehung zwischen den FRAMES als mentalen Funktionen im Kopf des Sprechers und ihrer sprachlichen Repräsentation im Text, dort also wo wir sie empirisch suchen. In bezug auf diese Suche fällt auf, daß im vorangegangenen zwei eigentlich verschiedene Prozesse erwähnt worden sind: Bei der Beschreibung der klinischen Tätigkeit des Analytikers war vom „Heraushören“, vom „Destillieren“ der Schemata die Rede, während bei der Ableitung der summarischen Prädikate der Ereignisse aus den primären Prädikaten (den wörtlichen Patientenäußerungen) und den darauffolgenden Bildung der FRAMES von „Erstellung“ und „Konstruktion“ gesprochen wurde. Auch wenn beiden Prozessen das Verfahren der Datenreduktion als gemeinsames Prinzip zugrunde liegt, so enthalten sie auf den ersten Blick doch einen Widerspruch: Das „Destillieren“ ist ein Verfahren zur Trennung von Wesentlichem und Unwesentlichem; es setzt jedenfalls voraus, daß das Wesentliche bereits vorhanden und isolierbar ist. Der Begriff der Konstruktion setzt zwar ebenfalls Wesentliches voraus, Bausteine, aus denen konstruiert wird, aber es ist offensichtlich mehr als eine bloße Reindarstellung, als eine Isolierung von bereits Vorhandenem. Angedeutet ist damit, daß die Suche nach den FRAMES auch die delikate Frage nach dem Selbstverständnis des Suchers beinhaltet: „Wollen wir mit den FRAMES im Text etwas finden, was bereits vorhanden ist? Oder finden wir lediglich Bausteine, mit denen wir im nachhinein Strukturen konstruieren, von denen wir annehmen, daß sie FRAMES in der Psyche des Sprechers re-repräsentieren? Zur Klärung dieses Abbildungs- und Repräsentationsproblems ist es hilfreich, drei voneinander getrennte Abbildungsebenen zu unterscheiden: Emotion und psychische Struktur (1) (2) (3) 173 die der mentalen Repräsentation der FRAMES im Sprecher das, was davon wie im Text zu erwarten ist (Daten, Material) die Frage nach der Re-Repräsentation beim Betrachter (Kategoriensystem) Die Frage „Wie finden wir die FRAMES?“ hat mit allen drei Abbildungsebenen, allen drei Arten der Repräsentation zu tun. Vorläufige Antworten sind das einzige, was im folgenden als Methode angeboten werden kann. Sie stellen noch keine Methode im Sinne einer detaillierten Beobachtungsvorschrift dar, es handelt sich eher um eine Heuristik, um eine Suchstrategie, die sich im Forschungsalltag erst noch bewähren muß. Beginnen wir mit dem letztgenannten Punkt. Im Vorangegangenen haben wir zwar eine allgemeine Definition von FRAMES bzw. ihrer Bestandteile gegeben, die Frage nach einer operationalen Definition dessen, was notwendigerweise als Bestandteil zu einem FRAME dazugehört, ist unbeantwortet geblieben. Bisher gilt noch, daß alle mentalen und realen Tätigkeiten einer Person als „event” auftreten können, d. h. alles kann und nichts muß dazugehören. Das ist herzlich ungenau und hilft auf der Suche nach FRAMES noch nicht wesentlich weiter. Die Frage nach einer operationalen Definition impliziert zweierlei: (1) (2) Können die Ereignisse genauer gefaßt werden als „alle mentalen und realen Tätigkeiten eines Individuums“? Welche Komplexität sollen oder dürfen die FRAMES haben? – Wie viele Ereignisse dürfen z. B. auftreten, darf ein Ereignis nur mit einem oder auch mit mehreren anderen verknüpft sein, usw.? Bei dem bisher gezeigten Beispiel-FRAME – dem critical-friendly frame – z. B. kann man natürlich die Frage stellen, ob das dadurch erfaßte Verhalten der Patientin tatsächlich immer, d. h. in 100 % der Fälle, dem vorgegebenen Schema folgt, oder ob es Ausnahmen davon gibt. Eine genaue Verhaltensanalyse würde diese Ausnahmen sicherlich zutage fördern, Variationen dieses Verhaltensmusters, die dann wahrscheinlich aufgrund von veränderten Rand- oder Umgebungsbedingungen zustande kämen. Diese mitzuerfassen, d. h. die verschiedenen, auch unwahrscheinlicheren Möglichkeiten der Realisierung eines Schemas in Abhängigkeit von sich verändernden Randbedingungen mit abzubilden, würde aus den FRAMES recht schnell recht komplexe und eher unübersichtliche Strukturen machen. Der wesentliche Unterschied der FRAMES im Vergleich zu solch komplexeren Konfigurationen, wie sie z. B. Horowitz (1991) in seiner Konfigurationsanalyse herausgearbeitet hat, ist, daß bei den FRAMES die Anzahl der Übergangsmöglichkeiten von Ereignis zu Ereignis beschränkt ist. Ein FRAME berücksichtigt im Unterschied zu einer Konfigurationsanalyse also nur die Übergänge, die die 174 Michael Hölzer und Horst Kächele höchstwahrscheinliche Abfolge von Ereignissen beschreiben; es ist keine Kollektion und kein Kaleidoskop aller mögliche Abfolgen. Die Konfigurationsanalyse nach Horowitz zeigt also Mängel vor allem in Hinblick auf die Forderung nach Datenreduktion, nach sinnvoller Vereinfachung. Daß umgekehrt Vereinfachung auch problematisch werden kann, zeigt die CCRT-Methode Luborskys („the Core Conflictual Relationship Theme Method“; vgl. Luborsky & Kächele 1988), in der mentale Strukturen a priori auf die Kombination von drei Bausteinen beschränkt werden: Ein quantitativ zentraler Wunsch, die eigene Reaktion auf den Wunsch und die Reaktion des Objektes auf den Wunsch stellen das Gerüst für mentale Strukturen bei der CCRT-(zu deutsch: ZBKT)-Methode dar (Luborsky & Crits-Christoph 1998). Unter anderem ist hier vor allem die Kategorienbildung zu diskutieren. Natürlich haben wir alle vielfältige Wünsche in bezug auf andere Personen, reagieren darauf und nehmen auch wahr, wie unsere Umwelt reagiert. Aber eine uniforme Struktur vorzugeben, die nur aus diesen drei Komponenten besteht, erscheint als Raster zu restriktiv, die reale Komplexität wird dadurch nicht mehr adäquat abgebildet. FRAMES stellen in bezug auf ihre Komplexität einen Kompromiß zwischen den CCRT und der Konfigurationsanalyse dar. Sie können durchaus Wünsche und Reaktionen (des selbst und der anderen) in relativ einfacher Anordnung enthalten. Durch die Möglichkeit der Interaktion können allerdings auch wesentlich komplexere Strukturen gebildet werden. Eine genauere Beantwortung der Frage nach der Komplexität der FRAMES ist ohne nähere Kenntnis ihrer Bausteine, einer inhaltlichen Definition der Ereignisse nicht zu leisten. Hartvig Dahl, und das war ein Punkt, der an seiner Art der Analyse kritisiert werden konnte, hielt sich diesbezüglich sehr zurück. Ein explizites Kategoriensystem zur Abbildung oder Repräsentation der FRAMES wurde von ihm nicht vorgelegt, Ereignisse wurden von ihm durch „klinische Intuition“ identifiziert. Allerdings wies Dahl wiederholt darauf hin, daß es sich vor allem um „wish and belief structures“ handelt, Strukturen also, in denen Wünsche und Überzeugungen bzw. daraus abgeleitete Erwartungen eine wesentliche Rolle spielen. Wenn es also eine reliable Methode gäbe, mit der Wünsche und Überzeugungen als wesentliche FRAME-Bestandteile im Text identifiziert werden könnten, ohne daß Fehlerquellen zu großen Einfluß gewinnen, die dem klinischen Denken typischerweise anhaften, wäre ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine objektivierbare Methode gemacht. Nicht nachvollziehbare Schlußfolgerungen im psychoanalytischen Denken könnten nachgezeichnet bzw. modelliert werden, was der „Wissenschaftlichkeit“ der Methode nur von Nutzen sein könnte. Emotion und psychische Struktur 175 4. EMOTIONEN ALS „WÜNSCHE UND ÜBERZEUGUNGEN“ Einen methodischen Ausweg könnte hier ein Rating-System darstellen, das auf eine von Dahl begründete Emotionstheorie zurückgreift und von Dahl & Hölzer (1992; 1996) weiterentwickelt wurde. Dieser Theorie zufolge sind Emotionen nämlich nichts anderes als die gesuchten „wishes and beliefs“. Dimension 1 Dimension 2 Dimension 3 Aktiv/ Passiv Prototypische Emotionen (1) Zuneigung (2) Überraschung Positiv/ Negativ (5) Zorn Aktiv/ Passiv (6) Furcht Objekt/ Selbst Aktiv/ Passiv (4) Freude (3) Zufriedenheit Positiv/ Negativ (8) Angst Aktiv/ Passiv (7) Depression Abb. 4: Entscheidungsbaum nach Dahl & Stengel (1978), in dem 3 Dimensionen (1 = Orientierung, 2 = Valenz, 3 = Aktivität) insgesamt 8 Emotionskategorien erzeugen. Die Kategorien sind mit Kennzahlen (1-8) sowie jeweils einem prototypischen Vertreter angegeben. Dieser Theorie liegt ein dreidimensionales, von DeRivera abgeleitetes und empirisch überprüftes Kategorisierungsschema zugrunde, durch das zwei Hauptgruppen von Emotionen unterschieden werden, hier Objektemotionen und Selbstgefühle („it“- & „me-emotions“) genannt. Das Besondere der 176 Michael Hölzer und Horst Kächele Objektemotionen („it-emotions“), von Dahl auch als „appetites“ bezeichnet, ist einmal, daß es sich um nach außen gerichtete Emotionen handelt, d. h. daß es sich um objektbezogene Wünsche handelt, zum anderen, daß sie eine integrierte Einheit von Wahrnehmung, implizitem Wunsch und einer Handlungskomponente, der „vollziehenden Handlung“ („consummatory act“) darstellen, wobei letztere auf die Verwirklichung dieses Wunsches abzielt. Man kann nicht hassen, ohne den Wunsch zu haben, dem gehaßten Objekt etwas zuzufügen. Man kann sich nicht fürchten, ohne zu versuchen, der Gefahrenquelle zu entkommen. Bei den Objektemotionen handelt es sich also um basale, motivationale Größen, die für alle menschlichen Wesen gleichartig konfiguriert sind. Die Selbstgefühle („meemotions“) stellen dagegen „Critical-Friendly-FRAME“ eine Art Feedback-System dar, über das Rückmeldungen über den jeweiligen Kategorie 1 E1 Stand der Wunscherfüllung (Wunsch) im Bereich der Objektemotionen verarbeitet werden. Je nachdem, ob die Wunscherfüllung, z. B. die Flucht vor einer Gefahrenquelle, bereits gescheitert ist Kategorie 5 E2 oder noch zu scheitern (vollziehende Handlung) droht, fühlen wir Niedergeschlagenheit oder Angst. Diese Feedback-Botschaften fungieren als „beliefs“ – als Überzeugungen. Niedergeschlagenheit oder Depressivität heißt, daß ich Kategorie 1 E3 (vollziehende Handlung) davon überzeugt bin, daß einer meiner Wünsche sich nicht mehr erfüllen läßt. Angst bedeutet, daß der Ausgang in bezug auf die Abb. 5 Wunscherfüllung noch ungewiß ist. Der oben demonstrierte FRAME ist ohne weiteres übersetzbar in dieses neue „wish-belief“-Kategorisierungsschema (vgl. Abb. 5): Prinzipiell ist daher die erste Form der FRAME-Repräsentation (mit am Text spezifizierten Prädikaten) in eine überführbar, die auf dem oben explizierten Kategoriensystem von Emotionen basiert. Ob das eine Einbahnstraße ist, oder ob Emotion und psychische Struktur 177 auch der umgekehrte Weg gangbar ist, d. h. ob durch ein systematisches Rating von Wünschen und Überzeugungen anhand des Kategorisierungsschemas FRAMES gefunden werden können, ist noch nicht abschließend beantwortbar. In bezug auf Vollständigkeit und Komplexität von FRAMES läßt sich allerdings ein Gedanke weiterspinnen. Am Beispiel des „critical-friendly frame“ fällt auf, daß das kritische Verhalten nur als „consummatory act“ erscheint, also ohne dazugehörigen Wunsch. Die Forderung nach Vollständigkeit der integrierten Einheit einer Objektemotion ist somit, zumindest in der Repräsentation dieses FRAMES, nicht erfüllt. Ein Wunsch muß aber eine Rolle spielen, unmotiviert kann die immer wieder auftretende Kritik nicht sein. Hier könnte sich ein Hinweis auf ein Vollständigkeitskriterium von FRAMES ergeben, auf möglicherweise noch fehlende Ereignisse. Der (im zunächst möglicherweise unvollständigen „critical-friendly frame“) fehlende Wunsch müßte also noch identifiziert werden. Eine genauere Auswertung der Daten des Textabschnittes, in dem der „critical-friendly frame“ gefunden wurde, mit Hilfe des Emotions-Ratings ergibt die folgende Auswertung (fett = Emotionskodierungen in Klammern) „Und das macht mich nachdenklich, hm, über Freundschaften, die ich mit anderen Leuten hatte (Zuneigung, 1) und, etwas, das ich nicht gerne zugebe (Depression, 7), weil ich es nicht leiden kann (Zorn, 5) (nervöses Lachen), also ich kann mir auch nicht vorstellen, daß ein anderer das tut (Depression, 7), aber es sieht so aus, daß ich eigentlich an fast jedem herumnörgeln muß (Zorn, 5), mit dem ich befreundet bin (Zuneigung, 1), zum gewissen Grad jedenfalls, mal mehr, mal weniger (Zuneigung, 1). Und, selbst wenn ich mich diesen Leuten irgendwie unterlegen fühle (Depression, 7), und ich glaube, ich fühle mich einer Menge Leute unterlegen (Depression, 7), trotzdem muß ich an denen herumnörgeln (Zorn, 5) und sie gegenüber David (Ehemann) kritisieren (Zorn, 5), ich weiß nicht. Ich muß sie immer offen kritisieren (Zorn, 5), und das muß ich auf alle Fälle so machen (Zorn, 5), und dann kann ich erst anfangen, mh, eine Art freundliche Beziehung mit denen (Zuneigung,1 ). Und wenn ich das nicht getan habe (Zorn, 5), kann ich jemanden nicht richtig akzeptieren (Zuneigung, 1) als jemanden, mit dem ich irgendwie was zu tun haben will (Zuneigung, 1). Und, wenn ich nicht, wenn ich sie in keiner Hinsicht kritisieren kann (Zorn, 5), kann ich mich denen scheinbar einfach nicht nähern (Zuneigung, 1). Ich, ich, ich weiß nicht, es ist mehr, daß, hm, es ist keine Scheu (Furcht, 6). Ich fühl mich bloß sehr ungemütlich (Angst, 8), denk ich, in deren Beisein.“ Die mit Hilfe des Kategorienschemas identifizierten Emotionen – und hier insbesondere das mit Kategorie 7 jetzt zusätzlich erfaßte Gefühl der Unterlegenheit (das im ursprünglichen „critical-friendly-frame“ nicht auftaucht) Michael Hölzer und Horst Kächele 178 lassen sofort erkennen, daß nicht der gesamte Gehalt in der ursprünglichen FRAME-Formulierung (oder Konstruktion) verwandt worden war. Die Kritik der Patientin scheint ja in erster Linie dem Gefühl der eigenen Unterlegenheit und dem Wunsch diese durch Kritik auszugleichen zu entspringen. Ein – nun vollständiger – weil den ganzen „emotionalen Gehalt“ des Textes abbildender FRAME müßte also folgendermaßen konfiguriert sein: „Critical-Friendly-FRAME“ nach systematischer Emotionsanalyse Nachdenken über Freundschaft (Kat. 1) Gefühle der Unterlegenheit (Kat. 7) „... wenn ich das nicht getan habe“ (Neg. Kat. 5) Herumnörgeln (Kat. 5) „... nicht nähern“ (Neg. Kat. 1) Freundliche Beziehung (Kat. 1) „sehr ungemütlich“ (Kat. 8) Abb. 6 Emotion und psychische Struktur 179 Eine vorläufige Antwort zur Komplexität von FRAMES wäre mit dieser anderen, emotionalen Repräsentationsform möglicherweise ebenfalls gefunden. Der simpelste FRAME wäre dann z. B. eine vollständige „it-emotion“: Perzeption, Wunsch + vollziehende Handlung. Komplexer würden FRAMES dann, wenn regelmäßig etwas zwischen diese definierten Anteile der Emotion tritt: seien es eigene, subjektive Überzeugungen und Erwartungen oder äußere Ereignisse in der Umwelt, die der einfachen Wunscherfüllung entgegenstehen. Ein weiteres grundlegendes Problem – die Frage nach der Art und Weise des Zustandekommens eines Textes, nach den „Produktionsbedingungen“ des zu untersuchenden Materials – wird durch die Verwendung eines Kategorienschemas der Emotionen allerdings nicht geklärt. Vergleicht man z. B. eine psychodynamisch orientierte Kurztherapie mit einer langfristigen Psychoanalyse – zwei Therapieformen, von denen angenommen werden kann, daß in beiden Fällen prinzipiell ähnliches Wissen durch den Therapeuten in die Therapie eingebracht wird –, ergeben sich beträchtliche Unterschiede hinsichtlich der Interaktion der beteiligten Sprecher. Nicht nur, daß im Fall der Psychoanalyse, d. h. der freien Assoziation, der Patient anteilsmäßig erheblich mehr Text produzieren dürfte; wesentlicher Bestandteil der freien Assoziation ist auch die explizite Ausnutzung der Regression auf Seiten des Patienten, während eine Kurztherapie immer auf deren Vermeidung abzielt. Schon die subjektive Erfahrung zeigt, daß das Denken in Zuständen partieller Regression, z. B. beim Dösen in der Sonne, kurz vor dem Einschlafen usw. verändert ist, daß andere kognitive und emotionale Muster aktiviert werden. Regressive Aspekte werden in der Psychoanalyse nicht nur durch die „Couch“ und den Wegfall des Blickkontakts gefördert, auch die Art der Intervention des Therapeuten ist verändert. Entsprechend liegt der zeitliche Fokus einer Kurztherapie deutlich auf dem Hier und Jetzt, während in einer Psychoanalyse vermehrt auch besondere Vergangenheitsbezüge hergestellt werden, also auch qualitativ andere Gedächtnisleistungen erbracht werden sollen. Von Texten, die unter so unterschiedlichen Bedingungen produziert werden, ist nicht zu erwarten, daß sie sich notwendigerweise gleich gut für die Suche nach FRAMES eignen. Frei assoziierte Texte scheinen allerdings Vorteile aufzuweisen: Den hier vorgestellten FRAMES lag entweder eine generalisierende Selbstbeobachtung der Patientin oder sog. Narrative zugrunde, episodenhaft-abgegrenzte, kurze Berichte über Vorfälle aus dem Alltagsleben der Patientin. Auch Luborsky auf seiner Suche nach den CCRT’s bedient sich derartiger Narrative, bei ihm „Beziehungsepisoden“ genannt, abgegrenzter Schilderungen, aus denen er dann die zentralen Beziehungskonflikte eines Patienten ableitet. Die Redundanz in der Psychologie eines Individuums mit Hilfe von FRAMES oder CCRT’s festhalten zu wollen, setzt also (als Untersuchungsmaterial) idealerweise eine Sammlung solcher Selbstbeobachtungen, Narrative oder Beziehungsepisoden voraus. 180 Michael Hölzer und Horst Kächele Gerade das aber stellt die freie Assoziation dar. Als eine Art qualitatives Experiment gewährleistet sie eine repräsentative Stichprobe von Situationen aus der Vergangenheit und Gegenwart eines Individuums, einen Querschnitt seiner alltäglichen Erfahrungen und Verhaltensweisen. Die Frage, in welchem Umfang Kurz- oder Fokaltherapieprotokolle ähnliches leisten können, ist noch offen, ebenso wie die Frage danach, welche Generalisierungen und welche Narrative, d. h. welche Anteile eines Textes für die FRAME-Analyse besonders geeignet sind. 5. DUAL-CODING UND REFERENTIAL ACTIVITY Abhilfe kann hier, d. h. bei der Entscheidung darüber, welche Anteile der freien Assoziation besonders viel- (oder FRAME-)versprechend sind, möglicherweise durch den Rückgriff auf eine andere Methode, die Messung der „referential activity“ geschaffen werden. Die „referential activity“ von Wilma Bucci (1997) bezieht sich auf ein durch A. Paivio (1986) entwickeltes kognitionspsychologisches Modell der Informationsverarbeitung, die DualCode-Theorie: Dual-Coding besagt, daß bei der mentalen Verarbeitung und Speicherung von Informationen zwei miteinander kooperierende Systeme zu unterscheiden sind: ein verbales und ein nonverbales System, wobei jedem dieser Systeme spezifische Inhalte und Organisationsprinzipien zugeordnet werden können. Das verbale System arbeitet mit logisch-assoziativen Kategorien, das nonverbale funktioniert sensorisch-bildhaft-assoziativ. Beide Systeme stehen miteinander durch sog. referentielle Aktivitäten in Verbindung; sie müssen Verbindungen dieser Art aufweisen, denn „wir können benennen, was wir sehen, und zeigen, was uns gesagt wird“. Den im nonverbalen, prozeduralen System vorhandenen Strukturen kann nun zumindest hypothetisch aufgrund der perzeptiv-sensorischen Qualität von Emotionen der emotionale Anteil eines kognitiv-emotionalen Schemas oder FRAMES zugeordnet werden. FRAMES würden in einer DualCode-Repräsentation zumindest partiell im nonverbalen System eines Sprechers repräsentiert. Bucci zufolge wirken nonverbale Strukturen via „referential activity“ so auf das verbale System ein, daß ihr Einfluß durch charakteristische Veränderungen in der Sprache manifest wird. Überall dort, wo dieser Einfluß groß ist, wird die Sprache konkreter, detaillierter beschreibend und „evokativer“, d. h. stärker korrespondierende Bilder oder andere sensorische Sinneseindrücke beim Zuhörer/Leser hervorrufend. Hohe „referential activity“ läßt sich, diesen Effekt ausnutzend, mittels Untersuchungen von Texten auf Klarheit, Detailliertheit der Beschreibung und evozierendes Potential („evocativeness“) nachweisen (Mergenthaler & Bucci 1999). Emotion und psychische Struktur 181 Wenn FRAMES, als emotional-kognitive Schemata, partiell nonverbal repräsentiert sind, dann ist es naheliegend, daß im Falle ihrer Aktivierung von ihnen auch entsprechende Auswirkungen auf die Sprache eines Sprechers erwartet werden müssen. Das Rating für „referential activity“ müßte mit dem Auftreten von FRAMES im Text korrelieren. Besondere Bedeutung könnte der „referential activity“ als Suchstrategie für FRAMES deswegen erwachsen, da die sie kennzeichnenden Sprachmerkmale prinzipiell auch durch computergestützte Verfahren erfaßbar scheinen. Skalen, die in der Arbeitsgruppe von Bucci entwickelt auf die Erfassung der Konkretheit der Sprache abzielen, sind ein erster Schritt in dieser Richtung. 6. ZUSAMMENFASSUNG Der Begriff der psychischen Struktur, soweit er für psychotherapeutische Prozesse relevant sein soll, läßt sich, wie wir hoffen, durch die FRAMEAnalyse gezeigt zu haben, nicht ohne den der Emotion sinnvoll definieren. Weil „alle psychischen Störungen irgendwie Affektstörungen“ (Krause 1997) sind, lassen sich diese Störungen in Formen strukturierter Schemata, eben den FRAMES, für deren Identifikation und Repräsentation Emotionen unabdingbare Bausteine darstellen, beschreiben. Es sind am Ende auch diese FRAMES – als Fundamental Repetitive And Maladaptive Emotion Structures –, die es durch psychotherapeutische Prozesse zu beeinflussen gilt. Maladaptiv heißt in diesem Zusammenhang, daß diese Erlebens- und Verhaltensmuster in der Vergangenheit eines Individuums durchaus eine adaptive Ich-Leistung an die besonderen Verhältnisse seiner Umwelt gewesen sein mögen. Ihre Wiederholung in einer völlig anders strukturierten, gegenwärtigen Umwelt stellt dabei den Kern neurotischen Verhaltens dar. Die Übertragung der FRAMES auf das „neue Objekt“ des Analytikers und ihre Veränderung durch Arbeit in und an der Übertragung entspricht dem Grundprinzip der psychoanalytischen Therapie (Thomä & Kächele 1985). Daß dabei die Orientierung an den vom Patienten gefühlten und verbalisierten Emotionen die vermutlich effektivste therapeutische Heuristik ist, sowohl in klinischer als auch in empirischer Sicht, hoffen wir durch unsere Form der FRAME-Analyse plausibel gemacht zu machen. Da allerdings schon Freud auf den heuristischen Wert der Emotionen aufmerksam gemacht hat – „der Affekt hat immer Recht“, heißt es prägnant im 7. Kapitel der Traumdeutung (Freud 1900) – stellt auch dies im Prinzip nur eine Übertragung längst bekannter Sachverhalte auf einen neuen Forschungskontext dar. Psychische Struktur jedenfalls ist aus unserer Sicht ohne Emotion nicht denkbar. 182 Michael Hölzer und Horst Kächele LITERATUR Bartlett, Frederic C. (1932) Remembering: A study in experimental and social psychology. Cambridge: Cambridge University Press. Bucci, Wilma (1997) Psychoanalysis & Cognitive Science. New York: The Guilford Press. Dahl, Hartvig (1988) Frames of mind. In: H. Dahl, H. Kächele & H. 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Wenige Jahre später argumentierte auch Sigmund Freud (1905) in den Bruchstücken einer Hysterie-Analyse über unterdrückte Emotionen ganz ähnlich: Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, überzeugt sich, daß die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen; aus allen Poren dringt ihm der Verrat. Helen Flanders Dunbar publizierte 1935 in ihrem einflußreichen Werk zahlreiche Fallstudien, in denen sie emotionale Faktoren beschrieb, die ihrer Meinung nach in spezifischen Zusammenhängen zu körperlichen Erkrankungen standen. Genauer versuchte Franz Alexander (1950) in seinem Standardwerk der Psychosomatik die Folgen der Blockierung von Emotionen psychophysiologisch als zentralen Faktor bei der Entstehung von psychosomatischen Erkrankungen zu beschreiben. Aus den oben genannten historischen Wurzeln hat sich zwischenzeitlich ein großes Forschungsfeld mit vielfältigen Methoden und empirischen Beiträgen entwickelt (Traue 1998; Pennebaker 1995; Vingerhoets et al. 1997; Traue & Pennebaker 1993). Es ist in diesem Forschungsfeld nicht die Frage, ob die Hemmung von Gefühlen sich auf den menschlichen Organismus ungünstig auswirkt, sondern die Frage ist von Belang, warum und auf welche Weise strukturelle, physiologische, endokrine, immunologische oder subjektive Krankheitsprozesse mit der Verarbeitung von Emotionen und insbesondere ihrer Hemmung zusammenhängen. Die massenhafte Verschreibung von Psychopharmaka kann als Indiz für die These dienen, daß viele Erkrankungen auch aus der Sicht behandelnder Ärzte eine wichtige Ursache im emotionalen Verhalten hat. Wie Grawe und Mitarbeiter (1994) bemerkten, richtet sich eine solche Behandlung in der Emotionale Hemmung 185 Regel jedoch nur auf den emotionalen Zustand des Patienten, aber nicht auf die komplexen innerpsychischen und zwischenmenschlichen Regulationsstörungen oder äußeren Belastungen, die zu den emotionalen Zuständen geführt haben und die dementsprechend das eigentliche Ziel der Behandlung und Änderung sein sollten. Bevor auf die emotionale Hemmung ausführlich eingegangen werden kann, soll emotionales Verhalten selber thematisiert werden. Aus den Annahmen über Emotionen leitet sich die Bedeutung emotionaler Hemmung ab. THEORETISCHE ASPEKTE EMOTIONALEN VERHALTENS Vor etwa zwanzig Jahren begann man sich in der Psychologie des Defizits an Forschung zum emotionalen Verhalten bewußt zu werden. Bruce W. Heller (1983, 190) beklagte zu dieser Zeit ironisch und auf die behaviorale und kognitive Themendominanz zielend, daß Descartes leider nicht gesagt habe „Ich fühle, also bin ich“, sondern dem Denken den Vorzug gab und damit eine Tradition einleitete, nach der Emotionen weniger wichtig als Kognitionen seien, daß sie kaum zu objektivieren und damit der empirischen und experimentellen Forschung nur schwer zugänglich und deshalb besser zu meiden seien. Das Kind der Emotionalität war damit erst einmal für Jahrhunderte im Brunnen verschwunden. Es wurde ignoriert, daß Emotionen von Gedanken und Gedanken von Emotionen stark beeinflußt werden, ja daß beide psychischen Prozesse untrennbar miteinander verbunden sind. Es ist Konsens, daß Emotionen eine komplexe Struktur aus verschiedenen Elementen darstellen: (1) (2) (3) (4) (5) (6) Ausdrucksverhalten der Mimik, Gestik und des gesamten Körpers Kognitive Bewertung von inneren und äußeren Stimuli Physiologische und endokrine Aktivierung Kognitiver Entwurf von Handlungen und Handlungsbereitschaften Subjektives Erleben sprachliche Repräsentanz Die Phänomenologie von Emotionen läßt sich auf eine statische Struktur so wenig abbilden, wie ein Fluß durch die Form des Flußbettes und das Wasservolumen beschrieben werden könnte, sondern muß den zeitlichen Ablauf von Zuständen berücksichtigen: Emotionen haben einen prozeßhaften Charakter. Emotionen „entkoppeln“ die Verhaltensreaktion von der Reizaufnahme, indem sie starre, reflexartige Reiz-Reaktionsmuster oder instinktmäßige, angeborene Auslösemechanismen mit fest programmierten Verhaltensabläufen ersetzen. Dabei werden starre Auslösemechanismen durch kognitive Bewertungsprozesse von Reizen und Situationen abgelöst. Insbe- 186 Harald Traue und Russell Deighton sondere die motorisch-expressive Komponente des emotionalen Verhaltens ist in dieser Interpretation zentral, weil mit ihr mögliche Handlungsbereitschaften und Intentionen des Individuums in seine soziale Umwelt hinein kommuniziert werden. Erst dadurch gewinnt das emotionale Verhalten seine regulierende Funktion über das Individuum hinaus. Ausgehend von der beschriebenen Komplexität der emotionalen Struktur und deren prozeßhaftem Ablauf lassen sich Funktionen und Funktionsweisen von Emotionen ableiten, die eine Einordnung der Rolle von emotionaler Hemmung ermöglichen (siehe auch Traue 1998 und 1999): EMOTIONEN VERLEIHEN SUBJEKTIVE BEDEUTUNG: Emotionen sind eine Reaktion auf Situationen und verleihen diesen Situationen persönlich relevante Bedeutung. Situationen sind hierbei ganz allgemein zu verstehen und umfassen äußere (physikalische, soziale und informative) und innere (interozeptive und mentale) Reizmuster. Für manche Reizmuster sind die emotionalen Bedeutungen standardisierter, d. h. stammesgeschichtlich festgelegter als für andere Reizmuster. Manche komplexe oder vieldeutige Situationen können allerdings erst durch eine kognitive Analyse auch emotional bewertet werden. Besonders intensive Stimulationen, wie sie beispielsweise während traumatischer Erlebnisse auftreten, können die Möglichkeit kognitiver Bewertung stark einschränken. Emotionale Reaktionen, die als Bewertung erlebt werden, können aber auch von nachfolgenden oder simultanen gedanklichen Vorgängen beeinflußt werden. Durch die zeitliche Struktur kann die Verschränkung mit Kognitionen in prozeßhaftem Ablauf einer Emotion oft subjektiv nicht empfunden werden. Der emotionale von höheren Kognitionen zunächst unabhängige Anteil der Situationsbewertung wird meistens authentischer und unmittelbarer erlebt als kognitive Bewertungen. EMOTIONEN DIENEN DER KOMMUNIKATION: Emotionen dienen der Individuum-Umwelt-Anpassung. Die emotionalen Strukturen und Funktionen haben sich in einem evolutionären Prozeß entwickelt, in den sowohl die Evolution des Nervensystems als auch die Evolution der sozialen Lebensform des Menschen eingingen. Die evolutionsgeschichtlich neueren Strukturen überlagerten ältere Hirnstrukturen, heben deren Funktion jedoch nicht vollständig auf. Das emotionale Verhalten basiert deshalb auf vital bedeutsamen Reaktionen, die in einer unmittelbaren Weise erlebt werden und denen ein starker Handlungsdrang innewohnt. Dieser mit Emotionen verbundene Handlungsdrang kann nur in Grenzen kontrolliert werden. Da die emotionale Verarbeitung sich stammesgeschichtlich in enger Wechselwirkung mit der sozialen Lebensform des Menschen entwickelt hat, ist auch die Existenz des Menschen von der emotionalen Expressivität seiner Mitmenschen abhängig. Dies gilt in der lebenslangen Entwicklung für die Aufrechterhaltung von Bindungen ebenso wie für die Lösung von Konflikten. Emotionale Hemmung 187 EMOTIONALES VERHALTEN BASIERT AUF NEUROBIOLOGISCHEN STRUKTUREN: An emotionalen Prozessen ist das gesamte zentrale und periphere Nervensystem beteiligt, da psychische Funktionen über Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Aktivation, Bewußtsein und Sprache am emotionalen Erleben beteiligt sind. Die diesen Funktionen unterliegenden neurobiologischen Strukturen tragen jedoch teilweise sehr spezifische Bedeutungen für das emotionale Erleben bei. Die zentralnervöse Struktur des limbischen Systems ist für die Verarbeitung diskreter Emotionen am wichtigsten. Das limbische System integriert sensorischen Input und Informationen aus dem Kortex zu emotionalen Einheiten. Neuere Studien sprechen dafür, daß sensorische Information via Thalamus im Mandelkern schneller verarbeitet wird als im Kortex. D.h. bestimmte Stimuli können ohne eine bewußte Verarbeitung zu emotionalen Reaktionen führen. Läsionen im limbischen System oder der neuronalen Verbindungen zum Kortex können zu einem völligen Verlust jeglicher emotionaler Reaktionen führen. Die Abhängigkeit der Qualität der emotionalen Reaktion von neurobiologischen Strukturen spiegelt sich auch im Überwiegen negativer Emotionen wider, die für das Überleben offenbar notwendiger sind als positive Emotionen wie Neugierde, Freude und Zuneigung. EMOTIONEN KÖNNEN PROZESS UND ZUSTAND SEIN: Emotionen entstehen meistens in einem Prozeß der Informationsverarbeitung. Dieser Prozeß ist bei der Verarbeitung externer Reizmuster hierarchisch strukturiert vom sensorischen Apparat bis zur kognitiven Verarbeitung. Auf jeder Ebene gibt es jedoch automatische und selbstregulierende Mechanismen, die eine vollständige Kontrolle durch ein übergeordnetes System vereiteln. Emotionen können auch durch interne Reize (z. B. Phantasien, Vorstellungen oder Erinnerungen) ausgelöst werden. Da interne Reize immer auch emotionale Informationen enthalten, entstehen Emotionen auf diese Weise unmittelbar. So kann eine Emotion aus dem Gedächtnis über die gesamte Lebensspanne unabhängig vom zeitlichen Abstand der Entstehung immer neu produziert werden. EMOTIONEN SIND KÖRPERLICH UND MENTAL: Emotionale Prozesse korrelieren spezifisch mit zentralnervöser, motorischer und vegetativer Aktivität. Dabei sind die zentralen Regulationen wichtiger als das periphere Feedback. Theoretisch leitet sich dieses aus der Kommunikationsfunktion der emotionalen Prozesse ab. Empirische Evidenz dieser Annahme folgt aus der Stabilität und interindividuellen Übereinstimmung emotionalen Ausdrucksverhaltens und vegetativer Korrelate. Endokrine und immunologische Reaktionsmuster differenzieren zwischen positiven und negativen Emotionen, aber weniger innerhalb dieser beiden emotionalen Klassen. 188 Harald Traue und Russell Deighton EMOTIONALES VERHALTEN UNTERLIEGT DER SELBSTREGULATION: Nach Ablauf eines emotionalen Prozesses, ausgelöst durch externe oder interne Stimuli, wirken Mechanismen der Bewertung sowie der Stimulus-, Ausdrucks- und Verhaltenskontrolle auf die emotionale Reaktion und modulieren sie qualitativ und quantitativ. Diese Kontrollmechanismen sind entweder konditioniert oder folgen einem stark rationalen Moment. Die Kontrolle von emotionalen Reaktionen durch Unterdrückung oder Hemmung wirkt stärker auf motorisches, vor allem expressives emotionales Verhalten als auf die anderen Emotionskomponenten. Auf dieser Verarbeitungsebene wird auch die sozial-kognitive Dimension des emotionalen Prozesses voll wirksam. Sekundäre Emotionen wie beispielsweise Scham und Schuld werden erst möglich, wenn ein Individuum die Konsequenzen eines Verhaltens oder einer emotionalen Reaktion bedenkt. Dabei ist nicht ausgeschlossen, daß sekundäre Emotionen auch konditioniert sein können. Sie haben eine zeitliche Ausdehnung, die über die außerordentlich kurzen Reiz-Reaktionssequenzen durch einfache interne oder externe Stimulation hinausgehen. DIE HEMMUNG VON EMOTIONEN Die Kontrolle von Emotionen ist eine oft erhobene Forderung an Menschen, wie uns jede politische Diskussion lehrt. „Jetzt wollen wir aber nicht emotional werden!“ ist dort ein oft zu hörender Kommentar, wenn jemand vermeintlich unsachliche Argumente vorbringt, die Zorn, Angst oder auch leidenschaftliche Begeisterung erkennen lassen. Entscheidungen sollten rational, also durch Vernunft begründet sein und nicht durch so etwas flüchtiges und schwer faßbares wie Gefühle, ist eine weit verbreitete Meinung. Dabei wird übersehen, daß Emotionen wichtige Informationen enthalten und auch wenn sie hinter Argumenten verborgen bleiben, einen starken Einfluß ausüben. Mehr noch: Neuere Untersuchungen zeigen, daß Entscheidungen zumeist auf emotionalen Informationen basieren (Damasio 1994; Erk & Walter 2000). Da Gefühle als Grundlage für Handeln in unserer Lebensweise keinen guten Ruf haben, erwarten einen Menschen schon bald nach seiner Geburt die rastlosen Bemühungen der Mitmenschen, ihm den kulturgerechten Umgang mit seinen Gefühlen anzuerziehen. Elternratgeber sind voll von Hinweisen, wie man kleinen Kinder ihre Unmutsäußerungen abgewöhnt, wobei mehr oder weniger offen ausgedrückt als erstrebenswertes Ideal gilt, wenn die quengeligen Kleinen schließlich ihre Gefühle nur auf die Weise zeigen, wie es die Erwachsenen für angemessen halten. Daß der Säugling schreit, wenn er hungrig ist, wird in diesem Sinne eher akzeptiert, als die Äußerung von Unlust ohne Hunger, die insbesondere des Nachts als störend empfun- Emotionale Hemmung 189 den wird, weil die meisten Eltern natürlich ihrerseits ein Interesse an erholsamen Nächten haben. Spätestens im Kindergartenalter erwarten Eltern von ihren Kindern, daß sie den Aufenthalt im Kindergarten nicht verweigern, weil sie lieber mit den Eltern zusammen sind. Später lernen Kinder, daß man nicht das Spielzeug der Kumpels kaputt macht, keine Autos zerkratzt, in Auseinandersetzungen keine körperliche Gewalt anwendet; kurzum: Sie lernen, ihre Gefühle selbst zu regulieren. Wenn ein junger Mensch auf diese Weise heranwächst, befindet er sich mit seinen emotionalen Bedürfnissen und Äußerungen immer wieder im Konflikt mit seiner sozialen Bezugsgruppe und lernt durch positive und negative Konsequenzen, die auf seine Emotionalität folgen, seine Gefühlswelt zu kontrollieren. Diese emotionale Selbstkontrolle – also das InEinklang-Bringen der eigenen Motive und des persönlichen und kulturellen Wertesystems – gelingt Menschen unterschiedlich gut. Die emotionale Selbstkontrolle, die in der Gruppe dem Zusammenleben dienlich ist, kann für den Einzelnen ungünstige Folgen haben, denn die Unterdrückung und Hemmung von Gefühlen hat ihren Preis. In diesem Kapitel soll untersucht werden, auf welche Weise eine gehemmte Emotionalität sich ungünstig auf die Gesundheit des Einzelnen auswirkt. Da es keinen goldenen Standard der emotionalen Selbstkontrolle für das menschliche Zusammenleben gibt, ist auch die Frage erlaubt, woher denn die Regeln über das emotionale Verhalten in einer gegebenen Sozialgemeinschaft kommen und wer darüber entscheidet, ob emotionale Äußerungen adäquat sind oder nicht, und welche Wandlungen sich im Laufe der Geschichte ergeben haben könnten. Mit einem kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Gepflogenheiten gegenüber emotionalen Lebensäußerungen einzelner Personen, schreibt Stephan L. Chorover in seinem Buch Die Zurichtung des Menschen, „daß nur ganz bestimmte Menschen stets und immer in der Position sind, die fraglichen Manipulationen vorzunehmen, daß diese Manipulationen stets in einem sozialen Kontext erfolgen und daß das Ziel dieser Manipulationen häufig darin besteht, das Verhalten anderer Menschen zu reglementieren“ (1982, 16). In dem Sinne kann sich emotionale Hemmung in einer allgemeinen Verhaltensstrategie manifestieren. Es gibt sehr wahrscheinlich erhebliche gesellschaftliche Ungleichheiten im Hinblick auf emotionale Hemmungen. DIE HISTORISCHEN WURZELN DES BEGRIFFS „HEMMUNG“ Bevor wir uns der Hemmung von Emotionen zuwenden, soll ein kurzer Abriß zum Begriff der Hemmung in der neueren Wissenschaftsgeschichte gegeben werden. Vor einigen Jahren hat der Wissenschaftshistoriker Roger 190 Harald Traue und Russell Deighton Smith, Professor am Institut für Wissenschaftsgeschichte der Lancaster University, in seinem beeindruckenden Buch Inhibition (1992) die wissenschaftliche Begriffsbildung von Hemmung diskutiert. Smith vertritt dabei die These, daß Hemmung ein zentrales Thema für die gegenseitige Durchdringung geistes-, sozial- und naturwissenschaftlicher Theorien ist und für eine systemtheoretische Konzeption der Selbstregulation des Menschen von elementarer Bedeutung ist. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich die biologischen Vorstellungen über Leib und Seele langsam zu systemtheoretischen Ideen und Begriffen der Regulation des Menschen hin entwickelt. Davor wurde der Begriff Hemmung im Sinne von Unterdrückung als ein wesentliches Element zur Herstellung von hierarchischen Ordnungen benutzt: Hierarchien in Gesellschaftsstrukturen ebenso wie die Herrschaft der Seele über den Leib. In den Mitte des neunzehnten Jahrhundert sich gründenden Wissenschaftsbereichen der Neurophysiologie von C. S. Sherrington (geb. 1857), der Theorie des höheren Nervensystems von I. P. Pawlow (geb. 1849) und der Psychoanalyse von S. Freud (geb. 1856) hatte der Begriff Hemmung eine zentrale Rolle. Diese drei Gelehrten waren nicht nur Zeitgenossen, sondern sie hatten alle eine Ausbildung in experimenteller Forschung und begannen ihre Forschungsarbeit in einer Zeit großer Entdekkungen der Neurophysiologie. Sherrington hat in zahllosen Experimenten die Funktion von rückenmarkgesteuerten Reflexen erforscht. Am Anfang seines Wirkens gelangte er zu der Erkenntnis, daß Kontrolle über die Motorik nur durch das Zusammenwirken von erregenden und hemmenden (oder agonistischen und antagonistischen) Aktivierungen möglich ist. Seine Befunde über Reflexe ließen das Prinzip der Hemmung neben dem Prinzip der Erregung zu einem Schlüsselkonzept der Neurophysiologie werden: „In der Funktionsweise der Maschinerie des zentralen Nervensystems ist Hemmung so allgegenwärtig und häufig wie die Erregung selbst. Die gesamte quantitative Abstimmung der Operationen des Rückenmarks und des Gehirns basiert auf gegenseitiger Interaktion zwischen den zentralen Prozessen der ‚Erregung’ und ‚Hemmung’, eins nicht weniger bedeutsam wie das andere“ (1932, 288). Die bedeutende Neuerung zu früheren Arbeiten war die Erkenntnis, daß Erregung und Hemmung neuronale Phänomene sind, die letztlich auf ein gemeinsames Neuron wirken, das dann den Muskel in feiner Abstimmung steuert. Sherrington betrachtete Hemmung als ein fundamentales Prinzip der Integration neuronaler Aktivität. In seinen späteren Arbeiten übertrug Sherrington seine physiologische Konzeption der Hemmung auch auf psychische Funktionen und auf den Organismus als Ganzem, wenngleich er hierzu keine experimentellen Untersuchungen mehr durchführte. „In jeder Hinsicht ist Hemmung das integrative Element, das einen Organismus zu einem Ganzen formt. Gemeinsam bilden Hemmung und Erregung einen Akkord in der Harmonie der gesunden Funktionsweise des Organismus“ (1913, 308). Emotionale Hemmung 191 Pawlows Theorie von der „Aktivität des höheren Nervensystems“ genoß über viele Jahre stürmischer Veränderungen in der zunächst russischen und dann sowjetischen Wissenschaft das zweifelhafte Privileg mit der marxistisch-leninistischen Staatsideologie des Materialismus kompatibel zu sein, da diese Theorie menschliches (und natürlich auch tierisches) Verhalten in objektiven physiologischen Begriffen zu erklären versuchte. Betrachtet man den politischen Hintergrund der Unterdrückung des Individuums zugunsten des gesamten Staates in der Sowjetunion nach der Revolution bis in die 80er Jahre, so ist „es von mehr als vorübergehendem historischen Interesse, daß Pawlow starken Gebrauch vom Begriff der Hemmung“ macht (Smith 1992, 191). Vor allem aber machte die marxistische Lehre des Dialektischen Materialismus die Theorie des höheren Nervensystem für Psychiatrie und Psychologie auch aus ideologischen Gründen zum Standardmodell. Für die Psychologie war bekanntermaßen Pawlows Erforschung der Konditionierung des Nervensystems als Ganzes in Abhängigkeit von sensorischer Stimulation von großem Einfluß. Insofern Pawlow Erregung und Hemmung weniger als neuronale Phänomene an Synapsen verstand, sondern als Funktionen viel größerer Einheiten des zentralen Nervensystems, hatte Erregung und Hemmung bei ihm eine andere Bedeutung als in der Neurophysiologie. Er wurde von neurophysiologischen Kollegen für diese „metaphorische“ Verwendung der Begriffe von Erregung und Hemmung auch heftig angegriffen. Was waren die Details? Pawlow unterschied drei Formen der Hemmung: Externale Hemmung, internale Hemmung und Hemmung durch Schlaf. Für externale Hemmung stehen Experimente, in denen die angeborenen Reflexe auf Futterreize durch Kombination mit elektrischer Reizung unterdrückt wurde. Als internale Hemmung wurde die Löschung von konditionierten Verhaltensweisen verstanden, wenn beispielsweise auf einen konditionierten Stimulus (das Klingeln) kein Futter mehr folgte und das Versuchstier die physiologische Reaktion (z. B. Speichelfluß) nach und nach hemmte. Erregende und hemmende Aktivität sah Pawlow als balanciertes, wellengleiches Schwingen, das durch externe Stimulation gestört wurde und wieder einem Zustand des Gleichgewichts zustrebte. In dieser Vorstellung kann man schon das Grundmuster späterer Streßtheorien erkennen. Schlaf betrachtete er als die dritte Form der Hemmung, die fundamentale regulatorische Funktionen erfüllte: „Schlafhemmung reguliert den periodischen chemischen Metabolismus des gesamten Organismus und insbesondere des Nervensystems“ (1928, 245). Pawlows Experimente zur sogenannten „experimentellen Neurose“ führten zu weitgehenden Schlußfolgerungen für die Entstehungsbedingungen – die Ätiologie – von psychischen und psychosomatischen Störungen beim Menschen. In diesen Experimenten mit Hunden wurde die Speichelproduktion zunächst auf Kreise und Ellipsen konditioniert, die dann so angeglichen wurden, daß sie von den Versuchstieren nicht mehr diskriminiert werden 192 Harald Traue und Russell Deighton konnten. Die teilweise beträchtlichen physiologischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten unter solchen Bedingungen wurden von Pawlow als Neurosen interpretiert, deren Ursache er in Konflikten zwischen Erregung und Hemmung sah: „Beim Menschen werden nervöse und psychische Störungen durch exakt die gleichen Bedingungen verursacht. Stimuli, die eine starke Erregung verursachen, wie intensiver Verlust oder bittere Kränkung, führen zu einer massiven und verlängerten Imbalance der nervösen und psychischen Aktivität, wenn natürliche Reaktionen gehemmt werden“ (1927, 397). Pawlow betrachtete also die externale Hemmung von natürlichen, sprich unkonditionierten Reaktionen als ursächlich für mentale Störungen. Im Kontext der Behandlung psychischer Erkrankungen war er aber offenbar der Auffassung, daß die internale Hemmung mit Schlaf oder medikamentös im Interesse einer Balance stabilisiert werden müsse. Pawlow hat zwar nicht die Verhaltenstherapie begründet, aber sein Konzept der Konditionierung von Hemmung war die wissenschaftliche Grundlage, auf der Verhaltenskontrolle von emotionaler Aktivität – welchen Vorstellungen erwünschtes und unerwünschtes Verhalten auch immer entsprang – ein wissenschaftliches Instrumentarium erhielt. Sherrington und Pawlow erhielten für ihre wissenschaftlichen Arbeiten den Nobelpreis, Freud blieb diese Ehre versagt. Nicht nur das, auch die akademische Psychologie distanzierte sich nahezu vollständig von psychoanalytischen Konzepten und betrachtet sie heute unbekümmert als Teil einer historischen Wissenschaftsepoche; ihre Spuren werden gesehen, aber die psychoanalytische Theorie als Ganzes gilt als überholt. Ganz im Gegensatz zur experimentellen wissenschaftlichen Welt genießt die Psychoanalyse große Aufmerksamkeit in den Sozial- und Geisteswissenschaften und in der deutschen Psychosomatik und Psychotherapie. In mancher Hinsicht Pawlow nicht unähnlich, benutzte Freud den Begriff der Hemmung als wissenschaftlichen Terminus, den er aus der Neurophysiologie entlieh, und gleichzeitig in seiner umgangssprachlichen Bedeutung. Beide Begriffsbedeutungen waren in seinen Annahmen über psychische Abwehr und Repression wesentlich. Die Hemmung von Ideen, Phantasien und Handlungsimpulsen war nach Freuds Auffassung mit psychischer Anstrengung verbunden – ein Gedanke, der auch in den gegenwärtigen Überlegungen zur Hemmung von emotionalen Reaktionen weiter verfolgt wird. Körperliche und psychische Symptome sah Freud, stark simplifiziert, durch mangelnde Hemmung von Impulsen verursacht oder durch starke Impulse, die durch Hemmung nicht vollständig kontrolliert werden können. Nicht die Hemmung unerwünschter Impulse selbst war für Freud die Ursache von gesundheitlichen Störungen, sondern die Entwicklungsbedingungen, unter denen die Hemmung von triebhaften Impulsen nicht erfolgreich ausgebildet wurde. Freuds Versuch einer allgemeinen Psychologie, begonnen schon 1885 und erst später publi- Emotionale Hemmung 193 ziert (Freud 1895), ist ein Beleg für die kreative Transformation von streng neurophysiologischen Konzepten in eine abstrakte Theorie des Gehirns. In Freuds Psychoanalyse hatte die Sexualität einen zentralen Stellenwert. Die Unterdrückung der sexuellen Impulse durch die gesellschaftlichen Verhaltensnormen im 19. Jahrhunderts hielt Freud für eine wesentliche Ursache der damals häufigen hysterischen Störungen. Da Moralvorstellungen zur Sexualität auf Frauen strenger angewendet würden, mutmaßte Freud, ginge ihnen viel innere psychische Energie durch den mentalen Aufwand der Hemmung verloren. Freud sah darin auch die Ursache für einen angeblichen Mangel an intellektuellen Leistungen der Frauen. Ob dies eine zutreffende Erklärung ist, soll hier nicht weiter erörtert werden, aber vermutlich haben auch solche Aussagen die Popularität der Psychoanalyse in deren Gründerjahren gefördert. Freud hielt Hemmung für ein kollektives und individuelles Unternehmen gegen die triebhaften und potentiell destruktiven Kräfte der menschlichen Natur. Obwohl er bürgerliche und religiöse Moralvorstellungen verwarf, hielt er doch die Hemmung und Umwandlung triebhafter Impulse für wünschenswerte, aber ständig bedrohte Schritte zur Zivilisation des Menschen. In dem Ausmaß in dem diese Zivilisation in Frage gestellt wird, tritt auch der zweifelhafte Wert der Hemmung von Emotionalität zutage. Die drei Wissenschaftstraditionen von Sherrington, Pawlow und Freud haben das Konzept der Hemmung in verschiedenen wissenschaftlichen Kontexten entwickelt. Diesen Kontexten ist gemeinsam, daß sie einer erregenden Kraft die Hemmung gegenüberstellen und daß sie Regulationsmechanismen des Gleichgewichts oder der Homöostase postulieren. Der Gedanke der Anpassung des Individuums an unterschiedliche Umweltbedingungen und der Kommunikation zwischen Teil- oder Gesamtsystemen ist Teil dieser Kontexte. Ein Überwiegen der hemmenden Einflüsse auf neuronaler, auf zentralnervöser bzw. mentaler Ebene wird als dysfunktional angesehen. Diese zunächst theoretischen (und empirisch begründeten) Annahmen, transformiert durch Popularisierung am Beispiel von neurotischen, psychotischen und körperlich kranken Menschen sowie die Übertragung der physiologischen Vorstellungen über Hemmung in allgemeine psychologische und gesellschaftliche Thesen, machen verständlich, warum der Typus des gehemmten Menschen auch in der Theorie von Laien und damit in der Umgangssprache als sozial defizitär, in seiner Gedankenwelt phantasielos, im Verhalten auffällig und für psychosomatische Störungen anfällig gilt. 194 Harald Traue und Russell Deighton ZIVILISATION UND KOMMERZIALISIERUNG DER GEFÜHLE Die Kontrolle von Emotionen sollte nicht auf die psychologische und biologische Perspektive reduziert werden, da sie immer in einem sozialen Kontext stattfindet, der sich aus historischen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen zusammensetzt. Aus soziologischer Sicht hat insbesondere Elias (1936) die gesellschaftlichen Veränderungen des Umgangs mit Emotionen aus der historischen Epoche zwischen Mittelalter und Moderne analysiert. Einer der Grundgedanken seiner Theorie bezieht sich auf die Wunden, die eine Verlagerung von zwischenmenschlicher emotionaler Expressivität in den individuellen Menschen hinein mit sich bringen kann: „Ein Teil der Spannungen und Leidenschaften, die ehemals unmittelbar im Kampf zwischen Mensch und Mensch zum Austrag kamen, muß nun der Mensch in sich selbst bewältigen. ... Aber die Triebe, die leidenschaftlichen Affekte, die jetzt nicht mehr unmittelbar in den Beziehungen zwischen den Menschen zum Vorschein kommen dürfen, kämpfen nun oft genug nicht weniger heftig in dem Einzelnen gegen diesen überwachenden Teil seines Selbst. Und nicht immer findet dieses halb automatische Ringen des Menschen mit sich selbst eine glückliche Lösung; nicht immer führt die Selbstumformung, die das Leben in dieser Gesellschaft erfordert, zu einem neuen Gleichgewicht des Triebhaushalts. Oft genug kommt es in ihrem Verlauf zu großen und kleinen Störungen, zu Revolten des einen Teils im Menschen gegen den anderen oder zu dauernden Verkümmerungen“ (Elias 1936, 330-331). Für die emotionale Selbstkontrolle formuliert Norbert Elias drei zentrale Thesen: (1) (2) (3) Der Ausdruck emotionalen Verhaltens wird mit zunehmender Zentralisierung von politischer und wirtschaftlicher Macht eingeschränkt. Die Kontrolle emotionalen Verhaltens in Formen der Höflichkeit diffundierte aus dem Adel in die allgemeine Bevölkerung als Ausdruck der gesellschaftlichen und politischen Unterdrückung. Tischund Wohnsitten änderten sich der Affektkontrolle von Aggressivität nachfolgend durch ein erhebliches Absinken der Schamschwellen. Grölen, Schlagen, Schreien und natürliche Zeichen der Verdauung wie Furzen, Rülpsen und Spucken galten zunehmend als unanständig. Durch die Internalisierung dieser neuen Verhaltensregeln verlagerte sich die Kontrolle und Unterdrückung von außen in die Menschen selbst. Der Prozeß einer zunehmenden Affektkontrolle verschärfte die Trennung von privaten und öffentlichen Welten, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft erreicht haben mag. Schlafräume, Toiletten, ja manchmal sogar Küchen, sind dermaßen privatisiert, daß viele Emotionen nur noch in Emotionale Hemmung 195 diesem ganz eingeschränkten Rahmen erlebt und ausgelebt werden können. Waren beispielsweise im Mittelalter gemeinsame Bäder und Schlafräume eher die Regel, und damit auch die Teilhabe am öffentlichen Ausleben verschiedenster Gefühle über die Generations- und Geschlechtergrenzen hinweg, sind sie heute die Ausnahme. Nun könnte man den Eindruck haben, daß die gesellschaftlichen Veränderungen hin zu mehr Liberalität die Einschränkungen des emotionalen Lebens wieder normalisiert haben. Es gibt jedoch auch Gründe, die gegen eine solche Annahme sprechen, ja es ist denkbar, daß sich die Situation für den individuellen Menschen verschärft hat, denn die äußerlich liberalisierten Regeln und Vorschriften müssen durch eine verstärkte Internalisierung der Regeln ausgeglichen werden. Wouters (1986) behauptet, daß weniger gesellschaftliche Schranken zwischen Personen und Personengruppen verstärkte Selbstkontrolle im Zusammenleben notwendig werden lassen und daß Kinder zwar seltener eine autoritäre Erziehung mit Grenzsetzungen erfahren, aber später dennoch von ihnen ein hohes Maß an Selbstbeherrschung von sich heraus erwartet wird. Je nachdem wie viel Emotionskontrolle eine bestimmte Gesellschaft von ihren Angehörigen allgemein verlangt, so viel Kontrolle wird auch gegenüber Reaktionen unter Streß notwendig sein. Insofern kann die Bereitstellung von klinisch-psychologischen Interventionen in Form von Meditation, Entspannung, kognitiver Ablenkung und Autosuggestion ebenso als Indiz für die Notwendigkeit emotionaler Hemmung interpretiert werden, wie die Verschreibung von etwa einer Packung Psychopharmaka durch Allgemeinärzte in Deutschland pro Kopf der Bevölkerung, mit denen emotionale Reaktionen gedämpft oder abgemildert werden. Es ist ein fester Bestandteil der Krankheitstheorien von Laien, daß unterdrückte Gefühle gesundheitliche Gefahren in sich bergen. „Weil ich alles hinunterschlucke, habe ich dauernd Magenschmerzen“, lautet beispielsweise eine solche Selbstdiagnose. Konsequenzen aus solch einer Annahme sind jedoch selber konfliktträchtig. Wer seine Gefühle über belastende Arbeitsbedingungen nicht unterdrücken kann, aber Stellung und Arbeitsplatz nicht riskieren will, wird eher in ein Streßbewältigungstraining gehen und dort seinen Ärger und seine Wut austoben als in der Situation, in der sie entstanden sind. Der Sozialwissenschaftler C. Wright Mills stellte in den fünfziger Jahren eine zunehmende Vereinnahmung der ganzen Person durch die Arbeitswelt fest: „Der Teil des beruflichen Lebens, mit dem sie ‚frei’ handeln könnten, mit ihrer eigenen Persönlichkeit, wird heute auch organisiert, zum lebendigen und zugleich unterwürfigen Instrument zur Verteilung der Güter gemacht“ (1956, 45). In diesen Jahren der industriellen Entwicklung war die 196 Harald Traue und Russell Deighton Arbeitswelt stärker von der Produktion von Waren dominiert als heute, wo ein starker Wandel hin zu Dienstleistungen stattfindet. Um so stärker ist aber die Arbeitswelt an der Unterordnung oder Ausnutzung vormals privater Aspekte der Persönlichkeit von arbeitenden Menschen interessiert, die sich zunehmend unter Bedingungen wiederfinden, in denen mit Recht von einer Kommerzialisierung individueller und privater Gefühle die Rede sein kann. Diese Kommerzialisierung betrifft sowohl die Nutzung von Gefühlen, um Gewinn zu machen oder um seinen Lebensunterhalt zu sichern, wie auch die Kontrolle über Gefühle. Ein Beispiel für die Kontrolle sind beispielsweise zeitliche Grenzen, die bei der persönlichen und emotionalen Zuwendung zu Patienten durch das Pflegepersonal eingehalten werden müssen. Viele Arbeits- und manchmal auch Lebensverhältnisse sind mehr oder weniger hierarchisch gegliedert und funktionieren nach statuszentrierten Kontrollsystemen, in denen Regeln herrschen, die von ranghöheren Personen oder Institutionen aufgestellt werden und nach denen sich rangniedrigere Personen zu richten haben. Die meisten Institutionen folgen diesem Schema, wenn auch immer wieder Versuche unternommen werden, sie in sogenannte personenzentrierte Systeme umzuwandeln. Besonders in Zeiten ökonomischer Krisen besteht eine Tendenz, die sich in Bürokratismus und in Führungsebenen verfestigten Regeln aufzulösen, weil nicht zu Unrecht der Verdacht aufkommt, daß mit zunehmender Kontrolle über Emotionen und Kommunikation der abhängig Beschäftigten auch deren Kreativität in Mitleidenschaft gezogen wird und dadurch der Institution verloren geht. Auch wenn die Konsequenzen für die Freisetzung dynamischer Arbeitskraft im Bereich der Arbeit oft drastisch sind, wenn etwa ganze Führungsebenen aufgelöst werden, bleiben die realen Machtverhältnisse und Hierarchien beispielsweise zwischen Unternehmern und abhängig Beschäftigten oder Vorgesetzten und Untergebenen unangetastet. Solche Veränderungen verschleiern oft nur die Interessenkonflikte und Machtverhältnisse. Dadurch wird der Umgang mit den eigenen und Gefühlen anderer Personen dann nicht einfacher. Die wichtigsten Regeln in statuszentrierten Kontrollsystemen und hierarchischen Gruppen lauten: (1) (2) Gefühle von Besitzenden, Vorgesetzten, im Status höheren Personen sind wichtiger als die eigenen Gefühle. Die Gefühle dieses Personenkreises müssen sorgfältig beobachtet, analysiert und erkannt werden. Auf diese Gefühle muß Rücksicht genommen werden. Die eigenen Gefühle sind weniger wichtig und müssen kontrolliert werden. Ihr ungebremster Ausdruck ist schädlich und mit Risiken für Sicherheit der eigenen Situation verbunden. Emotionale Hemmung 197 Übrigens gelten solche Regeln auch in Universitäten und Kliniken, die sich im Hinblick auf Freiheit des Denkens und Handelns einiges zugute halten. Man denke nur an das Beispiel beruflicher Besprechungen. Es grenzt oft an Selbstmißbrauch, in welchem Ausmaß sich manchmal hierzulande Mitarbeiter in ihrer Persönlichkeit deformieren, um das emotionale Verhalten von ranghöheren Personen zu ertragen und ihre eigenen Gefühle der Frustration und des Ärgers zu unterdrücken. Ohne dafür mit Zahlen aufwarten zu können, halte ich diese Gefühlsarbeit für einen beträchtlichen Teil der Belastungen des Arbeitslebens. Ein anderer Aspekt der Kontrolle von Gefühlen soll hier erwähnt werden. Arlie Hochschild untersuchte Gefühlsarbeit in verschiedenen privaten und beruflichen Lebenssphären, insbesondere bei den Berufsgruppen der Flugbegleiterinnen und Angestellten von Inkassobüros. Die Arbeit in beiden Berufsgruppen ist in auffälliger Weise von einem gezielten Einsatz von Gefühlen und Gefühlsarbeit geprägt. In den Ausbildungsgängen dieser Berufe werden die Auszubildenden systematisch im Einsatz ihrer Gefühle geschult. Als soziologischen Terminus definiert Hochschild Gefühlsarbeit (emotional labor) im Sinne von Management der Gefühle, das darauf zielt, einen öffentlich sichtbaren Körper- und Gesichtsausdruck herzustellen und unerwünschten Gesichtsausdruck zu unterdrücken. Gefühlsarbeit „verlangt das Zeigen oder Unterdrücken von Gefühlen, damit die äußere Haltung gewahrt bleibt, die bei anderen die erwünschte Wirkung hat“ – hier geht es um erwünschte positive Wirkungen bei Fluggästen bzw. um Angst bei Inkassoklienten, damit diese ihre Schulden zahlen (Hochschild 1990, 30-31). Arlie Hochschild stellt als Ergebnis ihrer Studie fest, daß Gefühlsarbeit in fast allen Berufen der sozialen, verwaltenden und gewerblichen Dienstleistungen zunimmt und damit eine neue Dimension der Entfremdung des Menschen von den Produkten und Ergebnissen seiner Arbeit entsteht. Aufgrund der Selbstdarstellungen in ausführlichen Interviews bildete Hochschild vier Gruppen mit unterschiedlichen Strategien der Gefühlsarbeit: Die Gruppe der instrumentell Orientierten halten sich für aktiv gestaltende Personen, die Gefühle im Beruf nutzen, aber sie glauben, selbst durch diese instrumentelle Nutzung ihrer Gefühle wenig verändert zu werden. Die zweite Gruppe erlebt sich als angepaßte Mitarbeiter mit eigener Emotionalität. Sie zeigen situativ notwendige Gefühle, behalten privat aber ihre wahren Gefühle bei. Eine dritte Gruppe von Personen beobachtet an sich verändertes emotionales Verhalten. Dies ist die emotional deformierte Gruppe mit Personen, die sich unter wechselnden Bedingungen emotional verändern. Schleichend adaptieren sie an die beruflichen Anforderungen mit ihrer ganzen Person. Die vierte Gruppe nimmt schließlich gegenüber den beruflichen Anforderungen eine aktiv angepaßte Haltung ein. Sie versuchen ihre Gefühle situativ zu verändern, zu unterdrücken oder notwendige Gefühle „wirklich“ zu erzeugen. Auf die dritte und vierte Gruppe trifft der Begriff 198 Harald Traue und Russell Deighton der Gefühlsarbeit in besonderer Weise zu. Hier sind auch die persönlichen Deformierungen und die Belastung durch das Gefühlsmanagement am größten. Der Mensch wird als Gefühlsarbeiter nicht nur von den unmittelbaren Ergebnissen seiner Arbeit entfremdet, sondern auch von sich selbst, denn nichts im Seelenleben ist so unmittelbar an die eigene Person gebunden wie persönliche Gefühle. Gefühlsarbeit in Dienstleistungen des Handels, der Pflege und sozialen Fürsorge ist potentiell gut, da niemand gerne mit mürrischen Personen zu tun hat. Was aber ist der Preis für diese Gefühlsarbeit, wenn die Spannungen im Einzelnen zunehmen, um den beruflichen Anforderungen an emotionale Selbstkontrolle gerecht zu werden? Ein anderes Indiz der zunehmenden Kommerzialisierung der menschlichen Gefühle ist deren Wertschätzung, wenn sie spontan, natürlich oder unmanipuliert erlebt und mitgeteilt werden. Echte Gefühle werden zu einem knappen zwischenmenschlichen Gut. Zu keiner Zeit gab es so viele Angebote von psychologischen Experten anderen Menschen wieder Kontakt zu sich selbst und zu ihren eigenen authentischen Gefühlen zu verschaffen. Diese Angebote beziehen sich auf den beruflichen Bereich ebenso wie auf das Privatleben. Hinter diesen Angeboten und natürlich auch ihrer Inanspruchnahme steht die Erfahrung, daß für die Manipulation der Gefühlswelt ein hoher gesellschaftlicher Preis der zunehmenden Distanzierung vom emotionalen Selbst gezahlt wird. Zwar ist Gefühlsarbeit für das menschliche Zusammenleben notwendig, aber Emotionen sollten keiner beliebigen Kommerzialisierung ausgeliefert werden. In dem Ausmaß, in dem diese Kommerzialisierung um sich greift, wird das Erleben und Teilen von authentischen Gefühlen zurückgedrängt werden und schließlich aus dem zwischenmenschlichen Alltag zunehmend verschwinden. INDIVIDUELLE UNTERSCHIEDE IN DER HEMMUNG VON GEFÜHLEN Personen unterscheiden sich erheblich im Ausmaß ihres expressiven emotionalen Verhaltens. Dieses expressive Verhalten erfüllt verschiedene Funktionen: Das Ausdrucksverhalten dient als zwischenmenschliches Signalsystem, mit dem emotionale Situationsbewertungen in die soziale Umwelt übertragen werden und das an der Regulation von Sozialverhalten erheblich beteiligt ist. Nach innen wird expressives Verhalten wahrgenommen und ist wesentlich für die Situationsbewertung. Wird das expressive Verhalten gehemmt, dann ist die Regulation des Sozialverhaltens gestört und das Individuum verzichtet auf eine wesentliche Quelle für die Situationsbewertung. Untersuchungen aus unterschiedlichen Perspektiven zeigen, daß die Inhibition von emotionalem Verhalten als Risikofaktor für die Entstehung und Aufrechterhaltung psychosomatischer Störungen angesehen werden muß. Emotionale Hemmung 199 Der Risikofaktor „Emotionale Hemmung“ kann als Krankheitsmodell skizziert werden, das die biopsychosozialen Wechselwirkungen zwischen emotionaler Hemmung und gesundheitlichen Störungen als Pfade beschreibt (siehe auch Traue 1998). Die Hemmung des emotionalen Verhaltens wird dabei in verschiedene Typen klassifiziert, die in Abhängigkeit von der Intensität der emotionalen Störung das Krankheitsgeschehen beeinflussen. TYPOLOGIE EMOTIONALER HEMMUNG Die Hemmung emotionalen Verhaltens ist ein komplexes Geschehen, das nicht auf einen Prozeß reduziert werden kann, weil das emotionale Verhalten selbst komplex und vielschichtig ist. Wie Kagan und Mitarbeiter (1988) zeigen konnten, bildet emotionale Hemmung sich zwar auf einer genetischen Veranlagung aus, aber die Sozialisation moduliert die Entwicklung der Emotionalität erheblich, vor allem im Hinblick auf das expressive Verhalten. Schließlich muß der kognitive Umgang mit belastenden Situationen in die Theorie einer Verbindung zwischen Hemmung und Krankheit integriert werden, schon deshalb, weil das emotionale Geschehen nicht von kognitiven Prozessen abhängig ist und die zentralnervöse Repräsentation von Selbstkonzepten und Situationen kognitiv vermittelt ist. Für die Beschreibung von Zusammenhängen zwischen gehemmter Emotionalität und Krankheitsprozessen wird diese Komplexität durch ein Krankheitsmodell berücksichtigt, das neurobiologische, sozial-behaviorale und kognitive Pfade zwischen emotionaler Hemmung und Krankheit beschreibt. Vier Typen emotionaler Hemmung können unterschieden werden (Traue 1998, Traue & Deighton 2000):1 (1) (2) (3) (4) genetische Hemmung repressive Hemmung suppressive Hemmung und dezeptive Hemmung. Die GENETISCHE HEMMUNG emotionaler Expressivität bezeichnet Vermeidungsverhalten, sozialen Rückzug und Furcht vor unbekannten Menschen. Die Annahme einer genetisch bedingten Hemmung basiert auf Beobachtungen an Kindern in unterschiedlichen Entwicklungsstufen, die erhebliche individuelle Unterschiede im emotional expressiven Verhalten belegen, die mit vegetativer Hyperreagibilität korrelieren (Field et al. 1982). 1 Auf die besondere Form der Implosion soll hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden, da sie nur unter der Bedingung von Traumatisierung entstehen kann (siehe dazu ausführlich Traue 1998). 200 Harald Traue und Russell Deighton Kleine Kinder zeigen deutliche Verhaltensunterschiede gegenüber neuen Situationen und Umgebungsreizen. Etwa 15-20% gesunder Kinder zwischen 1 und 2 Jahren fürchten sich in neuen Situationen und vermeiden neue Stimuli, sie werden als verhaltensgehemmt bezeichnet, etwa 25-30% zeigen das entgegengesetzte Muster und man bezeichnet sie als ungehemmt. Die neurobiologische Basis dieser Verhaltenstendenzen werden im nächsten Abschnitt näher analysiert. Eine 1992 publizierte Untersuchung von Kagan et al. (1988) mit dem Konzept gehemmten vs. ungehemmten Verhaltens analysierte ein- und zweieiige Zwillinge in unterschiedlichen Altersstufen. Den Erblichkeitsindizes zufolge geht die Hälfte der gemeinsamen Varianz zu Lasten der Erblichkeit. Je älter die Kinder werden, um so geringer wird der genetische Einfluß auf die emotionale Expressivität. Als weiterer Befund zeigte sich, daß in der Gruppe der extrem gehemmten Kinder der Erblichkeitsfaktor höher lag. Je extremer die Hemmung, desto größer also die biologische Basis des Verhaltens. Gehemmte Personen werden auch als schüchtern oder scheu bezeichnet. Von genetischer Hemmung ist dann die Rede, wenn das Bedürfnis nach Annäherung vorhanden ist, aber gehemmt wird und nicht etwa, wenn jemand müde, desinteressiert oder faul ist, und deshalb keinen Kontakt sucht oder kein Interesse an sozialem Kontakt hat. Es handelt sich auch nicht um eine aktive Vermeidung von Kontakt, denn diese Aktivität würde alternatives Verhalten auslösen, sondern um passives Vermeiden: Eine soziale Situation mag in mancher Hinsicht für jemanden mit genetisch bedingter Hemmung anziehend sein, eine Annäherung kann aber nicht stattfinden, weil sie Angst macht und die Person sich vor Bestrafung fürchtet oder Frustration antizipiert. Die genetische Hemmung ist bei etwa 10-15% aller kleinen Kinder innerhalb der ersten zwei Jahre zu beobachten und gilt als mit dem Alter zunehmend stabiles Merkmal. Gehemmte Kinder und Jugendliche weisen besondere neurobiologische Merkmale auf. Ursprünglich genetisch bedingtes gehemmtes Verhalten geht mit der Lerngeschichte und den streßhaften Belastungen eine Wechselwirkung ein und kann deshalb durch Konditionierungen verschärft oder abgeschwächt werden. Wenn Kinder in den ersten Lebensmonaten expressiv gehemmt sind, wird sich das auch auf die Bindung zu den frühen Bezugspersonen auswirken. Es ist sehr wahrscheinlich, daß schon dadurch das Kind einen gewissen Verlust an sozialer Zuwendung erfahren muß und weniger positive Resonanz auf sein Verhalten erlebt. REPRESSIVE HEMMUNG emotionalen Verhaltens findet statt, wenn eine Person emotionale Episoden nicht vollständig mit allen physiologischen, sozialen und kognitiven Facetten erleben oder ertragen kann. Die Terminologie der Abwehrmechanismen spricht auch von Abspaltung, Verleugnung, Dissoziation und Verdrängung, deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß Emotionale Hemmung 201 eine komplexe emotionale Episode vom Individuum zerlegt wird, weil Teile dieses emotionalen Erlebnisses Konflikte, Angst oder komplexere Emotionen wie Verachtung hervorrufen. Im zumeist unbewußten Prozeß dieser Zerlegung werden bestimmte Aspekte der emotionalen Episode nicht mehr wahrgenommen, andere können isoliert interpretiert werden. Meistens werden bei der repressiven Hemmung die physiologischen und subjektiven Komponenten des emotionalen Verhaltens verdrängt und kognitive Aspekte betont. Da die physiologischen Komponenten nicht mehr in das Verhalten integriert werden, nimmt auch die Motivation zu expressiv-emotionalem Verhalten ab. Eine ungünstige Folge ist eine verlängerte Aktivierung physiologischer, endokriner und immunologischer Prozesse und ein Mangel an Bewältigung. Unter Belastung führt dies zu verlängerten Streßreaktionen und ineffektivem Coping (Schwarz & Kline 1995). Die SUPPRESSIVE HEMMUNG bezieht sich darauf, daß eine Person emotionale Episoden zwar integriert und bewußt erlebt, aber aus bestimmten Gründen intentional vollständig oder teilweise unterdrückt. Diese Unterdrückung kann willkürlich sein oder in der lerngeschichtlichen Erfahrung konditioniert. Als Folge der Unterdrückung können ähnlich den repressiven Hemmungen körperliche Aktivierungen auftreten, soziale Regulationen durch mangelnde Expressivität gestört und die kognitive Verarbeitung unvollständig sein. Die Unterdrückung des emotionalen Erlebens kann sich auf verschiedene Aspekte des emotionalen Verhaltens beziehen. Der Versuch, die kognitiven Komponenten des emotionalen Erlebens zu unterdrükken, führt zu verstärkter Aufmerksamkeit gegenüber diesen dann abgespalteten Elementen des emotionalen Verhaltens, in deren Folge paradoxerweise eine vermehrte kognitive Beschäftigung mit den unterdrückten Inhalten auftritt. Die Verarbeitung negativer Emotionen wird durch die suppressive Hemmung beeinträchtigt, auch wenn sich eine Person der Unterdrückung bewußt ist, da potentiell ein die Belastung bewältigendes Verhalten unterbleibt. Gross & Levenson (1993) haben Versuchspersonen mit verschiedenen Stummfilmszenen (neutrale Filmszene mit einem Park und zwei medizinische Szenen mit Verbrennungsopfern und einer Amputation) emotionalisiert und die Auswirkungen suppressiver Hemmung untersucht. Aus Vorversuchen war dem Forschungsteam bekannt, daß die beiden aversiven Filmszenen im wesentlichen als ekelerregend eingeschätzt werden und auch dementsprechendes nonverbales Verhalten provozieren. Die Hälfte der Probanden wurde aufgefordert, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen. Wie zu erwarten war, konnten die Probanden mit der Instruktion „Hemmung“ ihren Gesichtsausdruck gut kontrollieren. Mehr noch, die somatische Aktivität in Form von Berührungen des eigenen Gesichts und von Körperbewegungen war signifikant reduziert. Die willkürliche Unterdrückung der emotionalen Expressivität führte zu verstärkter sympathischer Erregung. In 202 Harald Traue und Russell Deighton den subjektiven Bewertungen waren zwar die Angaben zum Ekel leicht reduziert, dafür aber die Angaben von Ärger, Schmerz, Trauer, Peinlichkeit und Spannung tendenziell erhöht. Verachtung, also ein Gefühl, das expressiv dem Ekel sehr ähnelt, war sogar signifikant erhöht. Täuschung als Manöver der emotionalen Hemmung bezieht sich immer auf andere Personen, die über subjektives emotionales Erleben im Unklaren bleiben sollen. Diese als DEZEPTIVE HEMMUNG bezeichnete Strategie im Umgang mit Emotionen wird sich meistens auf die Mitteilung von emotionalen Inhalten oder auf das nonverbale Verhalten beziehen. Die dezeptive Hemmung ist meistens unvollständig und erfordert dennoch ein beträchtliches Ausmaß an psychischer Kraft, die sich in Täuschungsversuchen durch vegetative Erregung nachweisen läßt. Problematischer sind jedoch unvollständige Verarbeitungen negativer Ereignisse und eine Beeinträchtigung der sozialen Unterstützung durch andere. Buck (1984) differenziert drei Typen der Täuschung: nicht-emotionale, streßhafte und emotionale Täuschung. Da Täuschungen ohne emotionalen Hintergrund weder am Verhalten erkannt werden können, noch physiologische Reaktionen bewirken, interessiert hier also nicht Täuschung per se, sondern nur streßhafte und emotionale Täuschung. Geht Täuschung mit Konflikten, Streß und Emotionen einher, ist dies am kommunikativen Verhalten erkennbar: Man blinzelt mehr mit den Augen, verzögert eine fällige Antwort, räuspert sich mehr, spricht langsamer und das Sprechen enthält mehr Sprachfehler. Der Guilty Knowledge Test (GKT) ist ein Labormodell für streßhafte Hemmung durch Täuschung. Mit dieser Methode konnten Anstiege der Herzrate, der Atemfrequenz und des Blutdrucks für die Momente der Täuschung nachgewiesen werden – alles physiologische Reaktionen, die auch als Streßresponse bekannt sind. Videoaufzeichnungen bei Täuschung zeigten, daß die Hemmung nicht nur zu einer physiologischen Erregungssteigerung führte, sondern auch zu einer generellen Hemmung der mimischen Aktivität. Das Gesicht war für die Dauer der vegetativen Erregung wie erstarrt (freezing). PFADE ZWISCHEN STRESS, EMOTIONALER HEMMUNG UND GESUNDHEITLICHEN STÖRUNGEN Die Hemmung von Emotionen führt über neurobiologische, sozial-behaviorale und kognitive Pfade zu gesundheitlichen Störungen und Krankheitsverhalten. Es sind mehrere Formen der gesundheitlichen Störung denkbar. Auch wenn die Hemmung emotionalen Verhaltens an der Ätiologie einer Krankheit nicht beteiligt ist, kann sie Krankheiten aufrechterhalten, chronifizieren oder die Heilung verzögern. Daran können physiologische Überer- Emotionale Hemmung 203 regungen ebenso beteiligt sein, wie eine Überstimulierung des endokrinen Systems oder eine Fehlregulation des Immunsystems. Für eine verzögerte Heilung kann ein Einfluß des Immunsystems angenommen werden, aber auch soziale Faktoren, die eine Heilung begünstigen, man denke nur an Schonung, die durch soziale Unterstützung ermöglicht wird. Die gehemmte emotionale Verarbeitung muß aber nicht notwendigerweise selbst Krankheiten bewirken, sondern kann Erkrankungen mit anderer Entstehungsgeschichte beeinflussen. In dem vorliegenden Modell wird deshalb zwischen gesundheitlichen Störungen und Krankheitsverhalten unterschieden. Beides führt aber zur Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems. Eine detaillierte (auch grafische) Darstellung des Pfadmodells findet sich in Traue (1998). NEUROBIOLOGISCHE PFADE Es besteht kein Zweifel, daß die Verhaltenshemmung kleiner Kinder gegenüber neuen sozialen Stimuli, die sie offensichtlich als emotional gehemmt, ängstlich und scheu wirken läßt, eine neurobiologische Basis hat. Die Besonderheiten dieses Verhaltensmusters zeigen sich in niedrigen Schwellen für neuartige Reize, in einer Hyperaktivität bestimmter physiologischer Systeme, die sich in verstärkter Schreckreaktion, erhöhter Muskelspannung und gegenüber ungehemmten Kindern überaktiven und schneller erregbaren Neurotransmittersystemen äußert. Ein Konzept, das in diesem Zusammenhang immer wieder diskutiert wird, nimmt an, daß die Balance zwischen Verhalten aktivierenden und hemmenden Zentren im Gehirn zugunsten der Hemmung wirksam ist. Jeffrey Gray (1972, 1976) und Henri Laborit (1986, 1993) postulieren im zentralen Nervensystem ein System der Verhaltenshemmung. Gray modifizierte damit die Annahme zur Introversion (Eysenck, 1967) nämlich der generellen besseren Konditionierbarkeit, durch die Annahme einer besseren Konditionierbarkeit durch Strafreize. Das Verhaltenshemmungssystem (BIS) reagiert Gray zufolge auf unbekannte Reize, auf Schmerzreize und auf frustrierendes Nichtbelohntwerden (absence of expected response contingent reward). Neuroanatomisch ist das BIS in der Region SeptalkerneHippocampus-Frontalcortex (SHF) lokalisiert. Pharmakologische Substanzen wie Barbiturate, Alkohol und Tranquilizer haben in der SHF-Region eine enthemmende Wirkung. Läsionen der SHF-Region wirken ebenfalls enthemmend. Das Grundschema der Gray’schen Untersuchungen folgt einem tierexperimentellen Annäherungs-/Vermeidungskonflikt. Die Versuchstiere lernen eine Reaktion, um eine Belohnung zu erhalten. Ist die Reaktion gelernt, wird ein Strafreiz gesetzt, der das BIS aktiviert und zur 204 Harald Traue und Russell Deighton Reduktion des gelernten Verhaltens führt. Es kommt zum Verhaltensstop durch passive Vermeidung mit gleichzeitiger Steigerung der neurophysiologischen Erregung und der Aufmerksamkeit. Das Verhaltenshemmungssystem reagiert auf konditionierte Strafreize, auf Reize, die eine Beendigung von Belohnung signalisieren und auf unbekannte Stimuli. Wird dann eine angstmindernde Substanz gegeben, die das BIS blockiert, wird die Wirkung dieser Stimuli aufgehoben und ein Verhalten der Annäherung kann erfolgen. Aus seinen eigenen Studien und den Untersuchungen anderer Forscher zu unausweichlicher aversiver Reizung entwickelte Henri Laborit (1986, 1993) ein Hirnmodell der Verhaltenshemmung, das sich ähnlich Gray wesentlich auf Strukturen bezieht, die Konditionierungen von Angstreizen ermöglichen. Die Verhaltenshemmung selber betrachtet er als gelerntes Verhalten. Folgt man Laborit, so wird die Hemmung durch den ventralmedianen Hypothalamus unter Ausschüttung von Noradrenalin und ACTH vermittelt. Dort erfolgt ein Einfluß durch die dorsale Septumregion, den dorsalen Hippocampus und die laterale Amygdala. An der Erregungssteigerung der Verhaltenshemmung ist der Neurotransmitter Serotonin (5HT) beteiligt. Der Einfluß durch den präfrontalen Cortex erfolgt wesentlich über das dopaminerge System und Acetylcholin (ACh). Die serotonergen Projektionen von den Raphe-Kernen in das neuronale System von Septum, Hippocampus und den präfrontalen Cortex sowie die cholinergen Projektionen zum frontalen Neocortex von der Formatio Reticularis und dem basalen Kern der Amygdala sind Teil des Systems der Verhaltenshemmung. Die aufsteigenden cholinergen Bahnen zum Cortex aktivieren ACTH und die Cortisolsezernierung. Lassen wir Henri Laborit die Beteiligung der konditionierten Verhaltenshemmung an der Entstehung und Chronifizierung von Krankheiten beschreiben: (1) Glucocorticoide behindern das Immunsystem. Es kann dann zu mikrobiellen Infektionen oder Zellveränderungen kommen, die normalerweise durch das Immunsystem kontrolliert werden. Eine Episode mit Infektion oder Zellveränderung kann die Folge sein. Dies erklärt die Beziehung zwischen infektiösen und neoplastischen Krankheiten unter Lernbedingungen mit gehemmten Verhalten. Das zeigt auch, daß es nicht nur auf Mikroben oder veränderte Zellen ankommt, sondern auch auf behaviorale Faktoren. (2) Die periphere Ausschüttung von Noradrenalin an den Nervenendigungen des sympathischen Nervensystems erzeugt eine generelle Vasokonstriktion und damit eine Verminderung des Volumens. Zusätzlich bewirken die Glucocorticoide eine Retention von Salz und Wasser mit der Folge einer Massenzunahme. Die Kombination beider Faktoren hat Bluthochdruck zur Folge. Dies konnten Tierexperimente zeigen, in denen eine Verhaltenshemmung konditioniert wurde. [...] Die experimentellen Beobachtungen legen aber auch andere körperliche Störungen als Folge des gleichen Prozeß nahe: Arteriosklerose, Infektionen des Emotionale Hemmung 205 Intestinaltraktes und Nierenstörungen zum Beispiel. (3) Auch psychische Beeinträchtigungen können mit Verhaltenshemmung einhergehen. Angst und andere neurotische Störungen können die Folge des Konfliktes zwischen Handlungsimpuls und Verhaltenshemmung sein, wenn die Erfahrung gemacht wird, daß eine Handlung von Strafe gefolgt wird. Eine psychotische Reaktion könnte als Flucht in die Imagination verstanden werden, wenn die Hemmung unerträglich wird. (4) Bemerkenswert sind auch experimentelle Hinweise, daß freie Radikale [...] beteiligt sein können, die zelluläre Strukturen insbesondere Lyosome und damit neuronale Strukturen zerstören können. Dieser Prozeß könnte an der Progression bestimmter neurologischer Krankheiten beteiligt sein (Parkinson, Alzheimer) (1993, 74). Am Beispiel einer klinischen Untersuchung kann die Relevanz der von Gray und Laborit postulierten Zusammenhänge zwischen Verhaltenshemmung und physiologischen und endokrinen Aktivierungen für die Krankheitsentstehung erläutert werden: In einer Studie von Cole et al. (1996) an 222 HIVseronegativen, homosexuellen Männern konnten die negativen Auswirkungen der existentiell bedeutsamen Unterdrückung der emotionell höchst besetzten sexuellen Präferenz gezeigt werden. An Hand einer Geheimnisskala wurden die Probanden in vier Gruppen nach dem Grad ihres Outings eingeteilt: completely out of the closet, mostly out of the closet, half in and half out of the closet und mostly or completely in the closet – eine Beschreibung, die nicht ohne Sinnverlust ins Deutsche übersetzt werden kann. Gemeint ist das Ausmaß an Geheimhaltung oder Verschleierung, mit dem Homosexuelle ihre sexuellen Neigungen außerhalb ihres ganz intimen Lebensbereiches umgeben. Die statistischen Auswertungen mit einer Regressionsanalyse ergaben einen dramatischen Anstieg der Krankheitshäufigkeit mit zunehmender Geheimhaltung für fast alle infektiösen Erkrankungen und auch für Hautkrebs. Über alle Krankheiten gerechnet, verdoppelt sich die Krankheitswahrscheinlichkeit mit jeder Geheimnisstufe. Dieser Effekt muß um so ernster genommen werden, als Alter, ethnische Zugehörigkeit, Bildung, Sozialstatus, Gesundheitsverhalten (z. B. Drogengebrauch, Schlafgewohnheiten und körperliche Fitness) und psychologische Einflüsse wie Depressivität, Angst und negative Affektivität – ja selbst repressiver Copingstil – aus den Daten herausgerechnet wurden. Da das Ausmaß an Geheimhaltung der sexuellen Neigung in dieser quasiexperimentellen Studie der Entstehung der Erkrankungen voraus ging, kann sie als auslösender Faktor angenommen werden. Neben dem Postulat von zentralnervöser Aktivität, die emotionales Verhalten hemmen kann, wird seit Beginn der Split-Brain-Forschung die Hypothese bewußter und unbewußter Verarbeitungen emotionaler Information verfolgt. Die älteren Untersuchungen von Sperry (1966, 1974) lassen sich in dieser Weise lesen: Von der rechten Hemisphäre werden bildhafte Informa- 206 Harald Traue und Russell Deighton tionen (z. B. eine nackte Frau im Experiment) zu einer adäquaten emotionalen Reaktion verarbeitet (Erröten, Kichern), ohne daß dem Patienten sprachlich bewußt wird, welche Informationen zu der emotionalen Reaktion geführt haben. Würde man nicht wissen, daß der Informationstransfer von der rechten in die linke Hemisphäre wegen des getrennten Corpus callosum bei diesen Patienten unterbrochen ist, läge es nahe, an den Abwehrmechanismus der Verdrängung zu denken. Wir wissen sicher, daß die Probandin in diesem Experiment nicht absichtlich den emotionalen Inhalt unterdrücken, sondern wegen des neuropsychologischen Defizits nicht beschreiben kann. Auch wenn die Befunde von Menschen mit durchtrennten Kommissuren nicht einfach auf gesunde Personen übertragen werden können, begünstigten u. a. diese Beobachtungen verschiedene Vorstellungen über eine differenzierte Beteiligung der beiden Hemisphären an der dysfunktionellen Verarbeitung von emotionalen Stimuli, die sich als gehemmte Expressivität oder Alexithymie äußert, denn auch bei gesunden Menschen gibt es Unterschiede zwischen der linken und rechten Hemisphäre bei der Verarbeitung emotionaler Informationen, die für die Frage gehemmter emotionaler Expressivität von Belang ist: Die rechte Hemisphäre verarbeitet bei manueller Reaktion Gesichter als Träger emotionaler Informationen schneller als die linke Hirnhälfte. Müssen die Reaktionen jedoch sprachlich erfolgen, verschwindet dieser rechtshemisphärische Vorteil. Der rechtshemisphärische Vorteil bei Gesichtsverarbeitungen ist am größten bei der Erkennung von physiognomischen Invarianten (d. h. Erkennung eines Gesichtes aus verschiedenen Blickwinkeln). Auch bei der Verarbeitung akustischer Reize erweist sich die rechte Hirnhälfte dominant für die Identifikation emotionaler Tönung der Sprache. Aus der Unterschiedlichkeit emotionaler Verarbeitung in der linken und rechten Hemisphäre kann sich ein neuropsychologischer Mechanismus ableiten lassen, der Dissoziationen zwischen emotionalem Erleben, emotionalem expressiven Verhalten und physiologischen Reaktionen erklärt, wie sie für die unterschiedlichen Phänomene gehemmter Emotionalität und Persönlichkeit typisch sind (siehe auch Traue, 1988, 1998; Lane et al. 1995, 1996). In einer noch unpublizierten MRI-Studie von Gündel et al. wurde die Hypothese bestätigt, daß das Volumen der rechte Hemisphäre mit dem Merkmal der Alexithymie korreliert – allerdings spezifisch nur der vordere Gyrus Cinguli und wiederum nur bei männlichen Probanden. SOZIAL-BEHAVIORALE PFADE Die gehemmte Emotionsverarbeitung wirkt sich aber nicht nur in einem Individuum als physiologische Hyperaktivität und einem existentiellen Mangel aus, sondern beeinflußt die Interaktion zwischen Menschen. Wer seine Emotionale Hemmung 207 Gefühle nicht adäquat oder gar nicht in zwischenmenschlichen Situationen zeigen kann, dem fehlen wesentliche Mittel der Kommunikation, des emotionalen Austauschs und der Bindung. Schon am Beginn der menschlichen Entwicklung wirkt die angeborene Emotionalität auf das kommunikative Verhalten der Eltern. Je expressiver ein Baby, desto mehr wenden sich die Eltern ihm mit emotionaler Mimik zu. Für beide Seiten wirken emotional expressive Reaktionen verstärkend. Das Bedürfnis nach emotionalem Austausch bleibt lebenslang erhalten (Rimé 1995). Kinder mit geringer Expressivität und erhöhter vegetativer Erregbarkeit, sind leichter konditionierbar, da sie stärker auf Strafreize regieren. Unter ungünstigen Sozialisationsbedingungen in Familie, Schule oder religiösen Gruppen kann die aufkeimende emotionale Expressivität weiter unterdrückt und die vegetative Erregbarkeit gesteigert werden. Hinzu kommen andere Effekte: Expressive Kinder (und Erwachsene) sind beliebter, wirken attraktiver und können besser ihre Interessen durchsetzen. Salovey und Mayer (1990) haben für diese Fähigkeit den Begriff der „emotionalen Intelligenz“ geprägt. Auf diese Weise gelingt es expressiven Menschen eher, ein soziales Unterstützungssystem aufzubauen, das unter belastenden Lebensbedingungen als Puffer gegen Streß wirkt und die Gesundheit störende Effekte abmildert. Bei der emotionalen Implosion (Traue et al. 1997; Traue 1998) unter extremer Traumatisierung spielen solche lebenslangen Prozesse dann eine Rolle, wenn betroffene Menschen in ihrem sozialen Umfeld bleiben und sie nach und nach ihre noch vorhandenen emotionalen Ressourcen zum Wiederaufbau der sozialen Beziehungen nutzen können. Lernprozesse unter extremer Traumatisierung können hyperaktive vegetative Erregungsmuster der Angst an äußere Erstarrung und innere Stumpfheit konditionieren. Nach solchen Konditionierungen leiden diese Menschen unter starken Schwankungen zwischen höchster emotionaler Erregung und emotionaler Empfindungslosigkeit, zwischen Fluchtbereitschaft und Erstarrung. KOGNITIVE PFADE Erinnerungen und Gedanken zu emotionalen Erlebnissen sind oft unangenehm, besonders wenn sie sich auf problematische Lebensepisoden beziehen. Viele Menschen versuchen deshalb Gedanken an solche Ereignisse zu unterdrücken. Da Gedanken an solche Ereignisse ein wesentlicher Teil der emotionalen Reaktion ausmachen, sind Versuche der Gedankenunterdrükkung auch gleichzeitig Hemmungen des emotionalen Verhaltens. Die in gedankliche Unterdrückung fließende Energie hält diesen Prozeß aufrecht. 208 Harald Traue und Russell Deighton Auch die Ambivalenz gegenüber emotionaler Expressivität läßt sich im Sinne einer kognitiven Hemmung interpretieren. King et al. (1992) haben eine Theorie der Emotionsambivalenz formuliert, nach der das Bedürfnis nach emotionaler Expressivität Konflikte auslösen kann, die sich als Ambivalenz gegenüber der eigenen Expressivität ausdrücken. Der Ambivalenzfragebogen wurde ins Deutsche übersetzt und an einer Stichprobe gesunder Versuchspersonen wurde der Zusammenhang zwischen körperlicher und psychischer Gesundheit und Emotionsambivalenz untersucht. Da die Kontrolle von emotionaler Expressivität bei allen Fragen des Bogens zum Ausdruck kommt, haben wir das Instrument „Fragebogen zur Emotionskontrolle“ (FEMKO) genannt (Traue 1998). Eine Faktorenanalyse des FEMKO ergab zwei inhaltlich unterschiedliche Aspekte der Ambivalenz. Ein Faktor gruppierte Fragen, die sich auf die Folgen von emotionaler Expressivität bezogen, wenn beispielsweise befürchtet wird, daß der Ausdruck von Ärger von jemand anderem übel genommen wird. Dieser Faktor wurde deshalb von uns Effektambivalenz genannt. Der zweite Faktor schloß Fragen ein, die sich auf die Fähigkeit zum Gefühlsausdruck bezogen, wenn jemand zwar seine Gefühle zeigen möchte, es ihm aber nicht gelingt. Wir nennen diesen Faktor daher Kompetenzambivalenz. Die Effektambivalenz bezieht sich mehr auf negative Emotionen, während die Kompetenzambivalenz eher mit positiven Gefühlen zusammenhängt. Diese beiden Faktoren stehen auch in einem differenzierten Verhältnis zu den Gesundheitsdaten. Während die Effektambivalenz mit körperlichen Beschwerden und mit depressiver Symptomatik korreliert, gehen hohe Werte der Kompetenzambivalenz mit mangelnder sozialer Unterstützung einher. Ein anderer kognitiver Pfad der Unterdrückung kommt durch einen emotionsarmen kognitiven Stil der Verarbeitung emotionaler Ereignisse zustande. Damit ein emotionales Ereignis vollständig verarbeitet werden kann, müssen viele Aspekte sprachlich kodiert werden. Innere Dialoge und natürlich die Mitteilung von emotionalen Erlebnissen setzen solche sprachlichen Umsetzungen voraus. In der Psychosomatik wurde für emotionsarme Sprache schon vor langer Zeit der Begriff Alexithymie geprägt, als eine Unfähigkeit mit emotionalen Erlebnissen in der Vorstellung oder der Sprache umzugehen. Die vollständige kognitive Repräsentation emotionaler Ereignisse ist auch wichtig, damit ein solches Erlebnis nicht in einem Netzwerk der Furcht im Gedächtnis bleibt, sondern wieder an wenig furchterregende Ereignisse gebunden werden kann. Da in gedanklichen Furchtnetzwerken isolierte emotionale Inhalte auch mit entsprechenden vegetativen Erregungen assoziiert sind, könnten physiologische Erregungen als körperliche Symptome von Krankheiten gedeutet werden. Emotionale Hemmung 209 EMOTIONEN IN DER PSYCHOTHERAPIE Das innere Erleben und der Ausdruck von Emotionen stehen oft im Mittelpunkt der psychotherapeutischen Arbeit mit Patienten. Dabei kann emotionales Verhalten nicht von kognitiven Prozessen und Handlungen getrennt betrachtet werden, da diese psychischen Grundfunktionen selber an Emotionen beteiligt sind, aber ihrerseits auch von Emotionen beeinflußt werden. In der Psychotherapie, die sich immer mit dem ganzen Menschen befaßt, kann emotionales Verhalten aber nicht isoliert, sondern nur im Zusammenhang mit anderen psychischen Grundfunktionen betrachtet werden. Fast alle psychotherapeutischen Theorien sehen im Erleben und dem Ausdruck von Emotionen einen wichtigen Fokus für das Verstehen eines Patienten mit seiner Störung. Gleichzeitig wird im emotionalen Verhalten während des Therapieprozesses oft der Schlüssel zur Veränderung gesehen: An einem Patientenbeispiel machen Greenberg und Safran dies deutlich: Ich ging dann einige Monate lang zu einem Therapeuten und sprach mit ihm über meine Gefühle der Isolierung und über meine Frustration. Die Sache kristallisierte sich irgendwie besser heraus, aber irgendwie änderte sich gefühlsmäßig nichts richtig. Ich ging dann zu einem anderen Therapeuten. Irgendwie hatte dieser Therapeut einen besseren Draht zu dem, was ich in mir fühlte. Ich erinnere mich, wie ich ganz zu meiner eigenen Überraschung schon in der zweiten Sitzung zusammenklappte und weinen mußte. Es fing damit an, daß ich nur zaghaft seufzte, aber innerhalb weniger Minuten losheulte wie selten. Langsam, nach einigen Minuten, ließ das Weinen nach. Ich begann, über meinen Schmerz zu sprechen, über meine Verzweiflung, die ich nun so deutlich in mir spürte; die ich vielleicht nie zuvor so deutlich gespürt hatte. Dann sprach ich über meine Sehnsucht nach menschlichen Begegnungen und wie sehr ich mich in meinen Ängsten und Furcht vor Zurückweisung gefangen fühlte und über meine Schuldgefühle wegen einer sexuellen Beziehung. In den folgenden Wochen wurde ich zunehmend motiviert, mein Leben zu ändern. Das war noch einige Monate, bevor sich wirklich etwas änderte in meinem Leben, aber diese Episode in der Therapie war der Anfang der Änderung meines Lebens (Greenberg & Safran 1987, 4). Diese therapeutische Facette ist in mancher Hinsicht aufschlußreich. Der Patient reagiert an einer bestimmten Stelle im therapeutischen Prozeß sehr emotional. Dieser emotionale Moment unterscheidet sich von früheren Empfindungen durch seine Intensität und seine expressive Komponente. Er gibt ihm das Gefühl, sich tatsächlich selbst zu spüren und dadurch Klarheit über sich zu gewinnen. Durch das intensive Gefühl kann er auch über seine Bedürfnisse klarer sprechen und Motive entwickeln. Die entscheidenden Prozesse sind das subjektive Gefühlserleben, die körperliche Beteiligung, der 210 Harald Traue und Russell Deighton Gefühlsausdruck und die daraus folgenden motivationalen und kognitiven Änderungen. Viele Psychotherapeuten würden sich rasch darüber einig werden, daß psychologische Probleme häufig die Folge von Blockierung oder Vermeidung potentiell adaptiven emotionalen Verhaltens sind und daß psychotherapeutische Interventionen auf die Überwindung dieses Widerstandes gegenüber Emotionen und auf die Freilegung des emotionalen Erlebens zielen, und daß weiterhin das vollständige Durchleben einer spezifischen emotionalen Episode zu einer Veränderung des emotionalen Erlebens führt und dadurch neue adaptive Reaktionen in problematischen Situationen erlaubt. Wenn man analysieren will, wie nun die Psychotherapie damit umgeht, kann man eigentlich nicht von der „Psychotherapie“ sprechen, da sich die zahlreichen psychotherapeutischen Traditionen im Hinblick auf die ihnen zugrunde liegenden Theorien und ihre therapeutischen Interventionen erheblich unterscheiden. Diese Unterschiede sind allerdings in der Theorie größer als in der therapeutischen Praxis, in der man vermutlich mehr Gemeinsamkeiten feststellt. VIER ASPEKTE EINER EMOTIONSTHERAPIE Unter den verschiedenen psychotherapeutischen Perspektiven, mit denen emotionales Verhalten in den jeweiligen therapeutischen Konzepten und Behandlungstechniken betrachtet wird, fassen Greenberg & Safran (1987) vier wesentliche Punkte zusammen: (1) (2) (3) (4) emotionale Entladung emotionale Einsicht emotional adaptives Verhalten Exposition Die verschiedenen psychotherapeutischen Auffassungen gewichten diese vier Punkte unterschiedlich. Wenn aber ein Aspekt (oder mehrere) in einer psychotherapeutischen Intervention zur Anwendung kommt, ist das wesentliche Ziel ein möglichst vollständiges Durchleben einer emotionalen Episode, das subjektives Erleben, emotionale Expressivität, physiologische Erregung und interaktive Funktionen einschließt. EMOTIONALE ENTLADUNG: Viele psychotherapeutische Vorgehensweisen enthalten mehr oder minder explizit Elemente der Katharsis. Meist wird sie als Mittel zum Zweck betrachtet, etwa um verdrängte Erinnerungen zu aktivieren oder um Patienten einen geschützten Raum und eine behütende Atmosphäre zu bieten, so daß sie unterdrückten oder vermiedenen emotionalen Reaktionen nicht ausweichen müssen. Nur wenige Therapeuten glauben Emotionale Hemmung 211 wie die Anhänger der Primärtherapie an die heilsamen Effekte eines unmittelbaren Auslebens von Emotionen an sich. Selbst Thomas (1983) als Verfechter kathartischer Therapie hält Katharsis besonders dann für wirkungsvoll, wenn der Ausdruck zuvor verdrängter oder unterdrückter Emotionen vom Patienten selber mit gewisser Distanz beobachtet werden kann und er durch diese Selbsterfahrung und -beobachtung die Hemmung seiner Emotionen zunehmend lösen kann. Das Ausleben unterdrückter Emotionalität sollte in therapeutische Strategien eingebettet sein, die Veränderungen des Selbstkonzeptes eines Patienten nach einer kathartischen Erfahrung anstreben, damit aus der kathartischen Erfahrung eine überdauernde Veränderung entstehen kann. Wenn in einer Therapie Annahmen zu Streß und Bewältigung im Vordergrund stehen, dann dürfte ein Ziel emotionaler Entladung darin bestehen, den psychischen Aufwand der Unterdrückung von Emotionen umzulenken auf die Bewältigung von Belastungen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn Patienten vorher die Kraft und die Möglichkeit emotionaler Entladung kennengelernt haben. EMOTIONALE EINSICHT: Obwohl in vorwiegend kognitiv orientierten Psychotherapien die Katharsis emotionaler Erregung kritisch gesehen wird, als wirkungslos oder nur kurz wirksam, wird die Bedeutung emotionalen Erlebens nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil: Einem rein intellektuellen Verstehen des eigenen Verhaltens – auch des gestörten Verhaltens – wird die Einsicht gegenübergestellt. Einsicht stellt sich in der Therapie aber erst durch die Durcharbeitung emotionaler Aspekte des Erlebens und der Erinnerung ein. Einsicht gelingt dann, wenn der Patient seine emotionalen Impulse im Gesamtzusammenhang mit seinem persönlichen und kulturellen Wertesystem versteht und die Episode in ein persönliches Narrativ integriert. In der Psychoanalyse wird beispielsweise der Übertragungsprozeß genutzt, um ein psychisch zunächst oberflächliches Erleben durch die Aktualität der Übertragungsbeziehung emotional anzureichern. Je enger das aktuelle emotionale Erleben und die gedankliche Verarbeitung aufeinander bezogen sind, desto wahrscheinlicher sind Änderungen des Patienten. In der Gesprächspsychotherapie achten Therapeuten besonders aufmerksam auf emotionale Nuancen in den Äußerungen ihrer Patienten. Es geht dabei weniger um verdrängte emotionale Impulse als um den emotionalen Gehalt des Selbstkonzeptes eines Patienten und um seine emotional vermittelte Bindung an soziale Objekte seiner zwischenmenschlichen Umwelt. Emotionen werden dabei als bedeutungshaltige Prozesse gesehen, mit denen ein Individuum seine innere und äußere Welt bewertet. Insofern kann Einsicht ohne emotionale Beteiligung nicht stattfinden. Unter anderen Therapieformen richtet die Gesprächspsychotherapie explizit ihre Aufmerksamkeit ebenso auf den umgekehrten Vorgang, auf die konstruktivistische Bedeutung erlebter Emotionalität. Das Selbstkonzept eines Menschen, das immer ein Ergebnis einer men- 212 Harald Traue und Russell Deighton talen Konstruktion ist, kann nur dann vollständig sein, wenn es emotionales Erleben einschließt. Insofern ist für die Veränderung von Selbstkonzepten in der Therapie auch subjektives und konkretes emotionales Erleben notwendig. EMOTIONAL ADAPTIVES VERHALTEN: Der Aspekt emotional adaptiven Verhaltens verläßt die Perspektive eines auf sich selbst begrenzten Individuums. Für ein Individuum im sozialen Kontext haben Emotionen steuernde Funktionen seines Verhaltens und Erlebens im zwischenmenschlichen Kontakt. Sympathie, Attraktion, aber auch Ablehnung anderer Personen wird durch emotionales Erleben reguliert, um nur einige Beispiele zu nennen. Dieser Aspekt emotionalen Verhaltens hebt die Rolle von Emotionen als eines Systems der Informationsverarbeitung mit einer intra- und einer interindividuellen Dimension hervor, er öffnet den Blick über das Individuum hinaus. Alle therapeutischen Verfahren, die sich auf die Reduktion unerwünschter Gefühle beschränken, vernachlässigen den adaptiven Wert emotionaler Reaktionen. Völlig im Mittelpunkt steht das emotional expressive Verhalten in seiner kommunikativen Bedeutung in den humanistischen Therapiekonzepten. Emotional expressives Verhalten wird in dieser Therapieform mit dem Ziel gefördert, das Individuum zu befähigen, sein subjektives Gefühlsspektrum in interpersonale Kommunikation umsetzen zu können. Dieses Ziel wird auch beim Selbstsicherheitstraining der Verhaltenstherapie angestrebt, wenn emotional expressives Verhalten zum Durchsetzen von Bedürfnissen oder zur Problemlösung geübt oder gefördert wird. Die gegenwärtigen Entwicklungen verschiedener therapeutischer Konzepte ist durch die Auseinandersetzung mit neuen Erkenntnissen aus der Psychobiologie geprägt. Dies gilt für kognitiv-behaviorale Therapien bei traumatisierten Menschen, die sich mit den neurobiologischen Auswirkungen extremer Streßsituationen auf emotionales Verhalten auseinandersetzen ebenso wie für die Psychoanalyse, die neuerdings versucht, Erkenntnisse der Entwicklungsbiologie in ihre Konzepte zu integrieren. Da emotional expressives Verhalten sich vermutlich stammesgeschichtlich durch die soziale Lebensform des Menschen aus der Begleiterscheinung anderer Verhaltensweisen (wie Ausspucken widerlicher Speisen) zur Kommunikation von Bewertungen (z. B. Ekel) entwickelt hat, muß die adaptive Bedeutung des expressiven Verhaltens für das Leben in Gruppen hoch sein. EXPOSITION: Die Methoden der Katharsis, der Reizüberflutung (flooding) oder der Implosion basieren auf unterschiedlichen theoretischen Überlegungen; auch haben sie ihre Wurzeln in unterschiedlichen therapeutischen Entwicklungen (frühe Psychoanalyse und Verhaltenstherapie). Dennoch haben beide Verfahren große Ähnlichkeiten. Gemeinsam ist den theoretischen Überlegungen die Annahme, daß emotionales Verhalten potentiell Emotionale Hemmung 213 vorhanden ist, das – unter bestimmten Bedingungen ausgelöst – den Patienten in seinem Wohlbefinden beeinträchtigen kann, weil es unerwünscht ist. Die frühe Psychoanalyse behandelte diese unerwünschten Reaktionen, auch seine qualitativ umgewandelten Varianten, durch Abreaktion in der Katharsis, indem sozusagen ein Ventil für die Abfuhr der damit gebundenen psychischen Energie geschaffen wurde. In der Verhaltenstherapie hielt man Löschung und Gegenkonditionierung für das geeignete Mittel der Therapie, indem an zunächst das unerwünschte Gefühl auslösende Situationen eine alternative Reaktion konditioniert wurde oder das unerwünschte Gefühl verstärkende Konsequenzen aufgehoben wurden. Damit solche therapeutischen Strategien greifen können, muß das emotionale Verhalten während der Therapie auftreten, d. h. durch einen aktiven Vorgang eingeleitet werden. Das ist eine wesentliche Gemeinsamkeit. Die neuere verhaltenstherapeutische Diskussion gebraucht lieber den Begriff der emotionalen Verarbeitung (emotional processing). Emotionale Verarbeitung reflektiert den Übergang in den therapeutischen Zielen von Abschwächung einer unerwünschten Emotion zu Verhaltensalternativen. Dazu Stanley Rachman: „Emotionale Verarbeitung kann man als Prozeß betrachten, durch den emotionale Störungen absorbiert und abgeschwächt werden können, damit anderes Erleben und andere Verhaltensweisen ohne Störungen möglich werden“ (Rachman 1980, 51). FAZIT Das hier skizzierte Krankheitsmodell über den Zusammenhang zwischen gehemmter Emotionalität und Störungen der Gesundheit folgt einem nichtdeterministischen Pfadmodell, in dem die neurobiologischen, sozial-behavioralen und kognitiven Pfade zwischen Streß und Emotionsaktivierung, deren Verarbeitung durch Hemmung und die klinischen Folgen beschrieben werden. Insbesondere für Kopf- und Rückenschmerzen, für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems und für Krebserkrankungen liegen zahlreiche empirische und teilweise auch experimentelle Befunde vor, die über die theoretischen Annahmen hinaus auch die klinische Relevanz einer gehemmten Emotionalität als Risikofaktor für Gesundheit belegen. Nicht erst die Psychotherapie und Psychosomatik der Moderne hat die schädlichen Auswirkungen von emotionaler Gehemmtheit für die körperliche Gesundheit entdeckt. Die individuellen Kosten der Hemmung von Emotionen aufgrund gesellschaftlicher Zwänge – und guter Gründe – wurden und werden in vielen Kulturen durch Rituale der emotionalen Öffnung zumindest teilweise abgemildert. Die Rituale der emotionalen Öffnung in ethischen Gruppen und früheren historischen Epochen werden heutzutage durch die moderne 214 Harald Traue und Russell Deighton Psychotherapie aus ihrem meist religiösen Kontext herausgelöst und erfahren eine säkularisierte Form der Professionalisierung und mit der allgemeinen Psychologisierung des Alltags auch eine weite Verbreitung. Die im Bereich der Psychosomatik und Verhaltensmedizin verbreiteten psychologischen Therapieverfahren zielen nahezu ausnahmslos auch auf die Veränderung emotionalen Verhaltens mit dem Ziel, körperliche Streßreaktionen zu mildern. Es soll abschließend angemerkt werden, daß sich emotionsregulierende Interventionen im Rahmen von Psychotherapie bei der Behandlung emotionaler Probleme und Hemmungen auch im Hinblick auf Störungen der körperlichen Gesundheit als sehr erfolgreich erwiesen haben (Traue, 1998). LITERATUR Alexander, Franz (1950) Psychosomatic Medicine. New York: Norton. Buck, Ross (1984) The communication of Emotion. New York: Guilford Press. Chorover, Stephan L. (1982) Die Zurichtung des Menschen. Frankfurt, New York: Campus Verlag. Cole, Steve W., M. E. Kemeny, S. E. Taylor & B. R. Visscher (1996) Elevated physical health risk among gay men who conceal their homosexual identity. Health Psychology 15(4), 243-251. Damasio, Antonio R. (1994) Descartes’ Error. Emotion, Reason and the Human Brain. New York: G. P. Putnam’s Son. Elias, Norbert (1936) Über den Prozeß der Zivilisation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Erk, Susanne & Henrik Walter (2000) Denken mit Gefühl. Nervenheilkunde 19, 3-13. Eysenck, Hans J. 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ANGST UND DEPRESSION AUS PSYCHIATRISCHER SICHT M enschen mit einer depressiven Störung oder einer Angststörung stellen den größten Anteil an den stationären und ambulanten Behandlungsfällen in der Psychiatrie dar. Auf der Ebene des emotionalen Erlebens, emotionalen Verhaltens bzw. Ausdrucks und den damit verbundenen physiologischen Veränderungen zeigen diese Individuen eine weitgehend gestörte intra- und interpsychische Emotionsregulation, die dem Betroffenen selbst und seinem Umfeld zu verstehen geben will, daß ein angemessenes Bewältigungsverhalten zur Anpassung an streßvolle, belastende Situationen und Episoden aktuell nicht aktiviert werden kann oder zur Verfügung steht. ANGST UND DEPRESSION IM VERGLEICH Unter den psychiatrischen Störungsbildern zeigen gerade Angst- und depressive Störungen offensichtliche Überschneidungen. Angst ist zum einen ein wesentliches Symptom der Depression, andererseits erkennt man häufig eine Komorbidität beider Störungsbilder. Zudem treten depressive Störungen nicht selten im langfristigen Verlauf von Angsterkrankungen auf und sind ein wichtiger Faktor für deren Chronifizierung. Im Gegensatz hierzu werden aber Angststörungen in der Folge wiederholter oder lang andauernder depressiver Episoden selten beobachtet. Eine kategoriale Trennung von Angst und Depression ist schwierig. Der Schweizer Psychiater Jules Angst favorisiert ein Kontinuum-Modell mit gleitenden Übergängen zwischen Angst und Depression, das sicherlich für ein Verständnis der mit ihnen verbundenen Phänomene hilfreich sein kann. Beide Gruppen von Störungen weisen durchaus ähnliche biologische Veränderungen auf, und die pharmakologischen und psychotherapeutischen Behandlungsansätze sind in vielen Aspekten ähnlich. Auch zeigt die bisherige Suche nach genetischen Faktoren in der Entstehung von Angst- und depressiven Störungen vergleichbare Ergebnisse. Beides sind typische Erkrankungen, deren erste Episode mit hoher Wahrscheinlichkeit im frühen 218 Dirk Wedekind und Borwin Bandelow Erwachsenenalter auftritt. Besonders bei den Angststörungen vergehen durchschnittlich viele Jahre vom Auftreten der ersten Symptome bis zur korrekten Diagnose mit vorangegangenen, oft frustranen somatischen Untersuchungen und Diagnosen, da hier, wie oft auch bei depressiven Episoden, initial meistens körperliche Beschwerden angegeben werden. Ganz abgesehen von den vergleichsweise geringen Behandlungskosten stellen Angst- und depressive Störungen ein umfassendes sozioökonomisches Problem dar. In den Industrieländern kann davon ausgegangen werden, daß unter der Bevölkerung Angst- und depressive Störungen bezüglich der durch sie versäumten Arbeitstage nach den Herz- und Kreislauferkrankungen den zweiten Platz einnehmen. Nachdem erste Fallbeschreibungen von Panikattacken bis in die Antike zurückreichen, ist die klassifikatorische Einteilung der unterschiedlichen Angststörungen noch sehr jung. Nach Westphals Beschreibung der Platzangst 1872 und Freuds Angstneurosen-Begriff (1894) dauerte es bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts, bis genauere symptomatische Beschreibungen z. B. von Panikattacken (Klein) und der Sozialen Phobie (Kagan) in der wissenschaftlichen Literatur erschienen. Die Aufnahme in die internationalen Diagnosekriterien (DSM III) ergab sich letztlich erst 1980. Sah man im letzten Jahrhundert Angst zumeist als „Neurose“ an, unter der nur schlecht angepaßte Individuen leiden (und die für Freud als Aktualneurose, der kein psychischer Konflikt zugrunde liegt, nur schwer einer Behandlung zugänglich ist), vollzieht sich in letzter Zeit ein Gesinnungswandel. Durch ein integratives, fach- und schulenübergreifendes Verständnis sollte man die Fähigkeit, Angst zu erleben, als nicht nur notwendig für das Überleben, sondern vor allem für Lernen und die persönliche Entwicklung betrachten. Dieses Verständnis von Angst vertritt in seinen Grundzügen bereits um 1860 der Existentialphilosoph Kierkegaard, der ironischerweise eine erhebliche Zeit seines Lebens unter depressiven Episoden litt. Epidemiologische Untersuchungen zeigen, daß die Lebenszeitprävalenz einer Episode einer Angststörung bei 25% liegt, was das Risiko, mindestens einmal im Leben eine depressive Episode zu erleben, nochmals um 8% übersteigt. Im Vergleich hierzu liegt die Lebenszeitprävalenz des Diabetes mellitus gerade einmal bei etwa 4%. Genetische Faktoren sind anhand von Familien- Zwillings- und Adoptionsstudien als Entstehungsfaktor bei Angst- und depressiven Störungen anzunehmen. Sicherlich handelt es sich hierbei aber nicht um einen unilokalen Vererbungsmodus, es ist vielmehr von einem multifaktoriellen Geschehen mit einer sehr hohen Gen-Umwelt-Interaktion auszugehen. Am wahrscheinlichsten ist anzunehmen, daß genetische Grundlagen eine gewisse Prädisposition für die Entwicklung einer späteren Angst- oder depressiven Störung unter bestimmten Umständen darstellen. Krankhafte Gefühle. Angst und Depression 219 ANGST UND LERNEN Die Fähigkeit, Angst emotional zu erleben und auszudrücken bzw. auf sie zu reagieren, ist in evolutionärer Hinsicht noch ein verhältnismäßig junger Mechanismus. Niedere Tiere wie z. B. Reptilien besitzen nicht die Fähigkeit, postnatal zu lernen. Ihr Verhalten ist genetisch determiniert und unflexibel-reflexhaft. Angst erleben diese Tiere in ihrem Leben nicht. Das Verhalten von höheren Tieren wie zum Beispiel Vögeln ist ebenfalls noch zu großen Anteilen genetisch fixiert. Jedoch zeigt sich bei ihnen in der Entwicklung eine frühe Phase, in der gewisse Umweltinteraktionen gelernt werden können, z. B. die Prägung auf die Mutter. In dieser Phase besteht auch die Fähigkeit, Angst zu erleben, eine Fähigkeit, die ebenso wie das Lernen recht früh im Lauf der individuellen Entwicklung wieder verloren geht. Höhere Vertebraten und der Mensch besitzen die bemerkenswerte Fähigkeit, ihr ganzes Leben lang zu lernen und Angst zu erleben. Dies schafft die Möglichkeit, jederzeit auf spezifische Veränderungen der Umwelt emotional und auf der Verhaltens- und Handlungsebene zu reagieren und sich möglichst optimal anzupassen. Die Fähigkeit, Angst zu erleben, ist gekoppelt an die Fähigkeit zu lernen und bildet die Grundlage für eine überdauernde Neuroplastizität der synaptischen Verschaltungen des Gehirns. Hieraus erfolgt nicht nur eine optimierte Fähigkeit zum Überleben und zur Reproduktion, sondern vor allem zum emotionalen Lernen und Bewußtsein und damit die Grundvoraussetzung für eine soziale und kulturelle Entwicklung, aber auch für psychische Erkrankungen. ENTSTEHUNGSBEDINGUNGEN DER ANGST Die Phobien, die bei Individuen mit Angststörungen beobachtet werden können, repräsentieren grundsätzlich übertriebene emotionale und physiologische Reaktionen auf Objekte und Situationen, die im Verlauf der Evolution eine reale Bedrohung dargestellt haben. Dies klingt bei dem Gedanken an eine Fahrstuhl-Phobie zunächst etwas seltsam, doch sind es die archaischen Anteile an solchen modernen Situationen, die den eigentlichen Angstreiz darstellen. Bei einer Fahrstuhl-Phobie wäre dies die Angst zu ersticken, erdrückt zu werden oder abzustürzen, bei einer U-Bahn-Phobie wäre es die Angst vor Dunkelheit und den damit verbundenen Gefahren vor bedrohlichen Kreaturen, die man zu spät wahrnehmen könnte, die Angst, verschüttet zu werden oder nicht entkommen zu können. Phobien vor den wahren Bedrohungen des modernen Lebens wie z. B. vor Zigaretten oder gesättigten Fettsäuren sind bisher nicht bekannt. 220 Dirk Wedekind und Borwin Bandelow Während Walter B. Cannon (1929) die akute Streß-Reaktion zunächst als unspezifische physiologische Reaktion darstellte, lassen sich auf bestimmte phobische Stimuli nach Nesse auch spezifische Angst-Domänen und Reaktionen erkennen. Z. B. zeigt sich bei der Akrophobie, der Höhenangst, ein spezifisches physiologisches und emotionales Reaktionsmuster, das mit einem „Einfrieren“, einer Bewegungsstarre, einhergeht und im Gegensatz zu einem panikartigen Flüchten mit starkem emotionalen Ausdrucksverhalten die Wahrscheinlichkeit, der phobischen Situation unbeschadet zu entkommen, nicht unwesentlich erhöht. Ähnlich zeigt sich bei der Haemophobie, der Angst vor Blut und offenen Wunden, ein autonomes Reaktionsmuster aus Blutdruckabfall und Ohnmachttendenz, das die Wahrscheinlichkeit mindert, einen großen, vermeintlich tödlichen Blutverlust zu erleiden. Diese zunächst offensichtlich für Individuum und Art vorteilhafte Reaktion kann sich aber nun beim Haemophobiker fatalerweise sogar dann einstellen, wenn er selbst gar nicht von einer blutenden Verletzung betroffen ist, sondern vielleicht sein eigenes Kind. Auch wenn Menschen mit spezifischen Phobien selten eine psychiatrische Behandlung wünschen, erinnere ich mich an eine junge haemophobe Mutter, die in die Angstambulanz kam, da sie befürchtete, ohnmächtig zu werden, wenn sich die 3-jährige Tochter verletzen würde und sie sie somit nicht versorgen oder sogar retten könnte. Das Auftreten spezifischer Phobien ist eng an die kognitive Entwicklung geknüpft, und bestimmte Phobien treten in bestimmten Entwicklungsphasen bei den meisten Menschen auf. Eine sehr frühe Phobie des Kleinkinds ist die Xenophobie, die Angst vor Fremden. Sie tritt charakteristischerweise im Alter vom 6. Monat an auf, in der Zeit, in der das Kind erstmals durch Fortkrabbeln von der Hauptbezugsperson als sicherer Basis die Umwelt erkunden kann. Diese Angst vor fremden Personen ist zur Selbsterhaltung essentiell. Wagt sich z. B. ein Löwenjunges zu weit von der Mutter weg, läuft es eine hohe Gefahr, von einem fremden Männchen getötet zu werden, ein Verhalten, was gerade bei Löwen oft beobachtet wird. Junge Pinguine andererseits, die in riesigen Brutkolonien geboren werden, gehen verloren, wenn sie sich zu weit vom Nest entfernen, und können auch durch Rufe von der Mutter meist nicht wiedergefunden werden. Beim Menschen spielt hier das Bindungsverhalten zur Mutter (oder der Hauptbezugsperson) eine entscheidende Rolle für die Überwindung dieser Fremdenangst. Da das Kind selbst Relevanz und Gefahr der meisten Objekte und Situationen, mit denen es konfrontiert wird, noch nicht selbst einschätzen kann, reguliert das Ausdrucksverhalten der Mutter das kindliche Angsterleben. Reagiert die Mutter souverän und sicher, ist auch das Angsterleben des Kindes beendet und der Umgang mit der ungewohnten Situation bzw. dem ungewohnten Objekt als nicht bedrohlich oder unwichtig erlernt. Zeigt sich die Mutter in einer dem Kind bislang nicht bekannten Situation ängstlich oder unsicher, Krankhafte Gefühle. Angst und Depression 221 wird auch das Kind diese als bedrohlich und angsterregend erleben. Ähnlich verhält es sich, wenn die Reaktion der Mutter unklar, wechselhaft oder nicht vorhanden ist. Gelingt dem Kind somit keine adäquate Bewältigung solcher Situationen, kommt es zum Fortbestehen des ängstlichen Verhaltens und einer verminderten Erforschung der Umgebung (behavioral inhibition). Dieses unterbindet neue, angstnehmende Erfahrungen (coping) und gilt als eine wesentliche Grundvoraussetzung für eine spätere Angststörung. Auch andere Phobien treten während der Entwicklung üblicherweise in bestimmten Phasen auf. So haben die meisten Kinder mit 4-6 Jahren Tierphobien, später treten gehäuft Angst vor Blut und Verletzungen und z. B. vor dem Zahnarzt auf. Typisch für das Alter von 10-13 Jahre sind soziale Ängste. Jede dieser phobischen Phasen ist mit der Notwendigkeit zum Lernen verbunden. Jede Phase muß individuell (und eventuell mit Unterstützung durch Eltern und später durch Gleichaltrige) überwunden werden. Wenn das nicht gelingt, besteht die Gefahr, daß die objekt- oder situationsbezogenen Ängste in ursprünglicher oder neurotisch abgewehrter Form bis ins Erwachsenenalter oder für das ganze Leben persistieren. Es ist naheliegend anzunehmen, daß solche Individuen unter bestimmten, unkontrollierbaren Streßbedingungen oder in Krisen- und Entscheidungssituationen Angststörungen ausbilden können. DIE NEUROCHEMIE DER ANGST UND DEPRESSION Diese entwicklungsgeschichtlich und durch kognitive Lernprozesse entstandenen Störungen gehen mit charakteristischen Veränderungen auf der strukturellen Ebene des Zentralen Nervensystems einer. Von besonderem Interesse sind hier, wie auch bei den depressiven Störungen, die Funktion der hierbei vorrangig beteiligten Neurotransmittersysteme, des noradrenergen und des serotonergen Systems. Die Erkenntnis der Relevanz dieser beiden Transmittersysteme bei Angststörungen leitete sich von den Erfahrungen in der pharmakologisch neurochemischen Depressionsforschung ab. Die Behandlungen depressiver Episoden waren über lange Zeit recht unspezifisch und von zweifelhaftem Erfolg geblieben (Kokain- und Opiumbehandlungen fanden bis in die 1950er Jahre statt). Selbst die vor etwa 65 Jahren eingeführte Elektrokonvulsionsbehandlung und die Insulinschocktherapie konnte zwar bei vielen Betroffenen eine Besserung hervorrufen, ging aber früher noch mit nicht unerheblichen unerwünschten Begleiteffekten einher und hatte daher zu dieser Zeit einen ethisch problematischen Ruf, geschweige denn, daß man sich den Wirkungsmechanismus erklären und hierdurch Rückschlüsse auf die Entstehung der Störung ziehen konnte. 222 Dirk Wedekind und Borwin Bandelow Selbst die ersten spezifischen (und noch heute verwendeten) Pharmaka zur Behandlung der Depression waren Zufallserrungenschaften, die zu dieser Zeit keine empirische Grundlage durch ein Störungsmodell hatten. So war die antidepressive Wirkung der trizyklischen Antidepressiva in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts für die Untersucher sicherlich überraschend, da sie eigentlich besser wirksame Phenothiazine (Antipsychotika) suchten, genauso wie die Monoaminooxidasehemmer (MAO-Hemmer) eigentlich bei der Erprobung neuer Tuberkulostatika durch ihren stimmungsaufhellenden Effekt auffielen. Erst Ende der 1960er Jahre entstanden Depressionsmodelle, die von einer Dysfunktion monoaminerger Systeme im zentralen Nervensystem ausgingen, was letztendlich dazu führte, daß in den letzten 20 Jahren Antidepressiva in immer spezifischerer Weise konzipiert werden konnten. Die Theorie eines Defizits noradrenerger oder serotonerger Neurotransmission auf limbischen oder mesolimbischen Verschaltungswegen und einer Rezeptor-Dysfunktion bzw. Rezeptorimbalance entstand auf der Grundlage, daß man in der Zerebrospinalflüssigkeit von depressiv Erkrankten vermindert Metabolite dieser Substanzen fand. Auch hatte man die Beobachtung machen können, daß bestimmte Pharmaka Depressionen auslösen können, z. B. das zur Behandlung von Bluthochdruck verwendete Reserpin, das zu einer Hemmung der Speicherung von Noradrenalin in den synaptischen Vesikeln sowie zu einem verminderten axonalen Transport und damit einem Noradrenalinmangel an der Synapse führt. Noradrenalin ist der wichtigste Transmitter des sympathischen Nervensystems. Er wird in den noradrenergen Präsynapsen aus der über die BlutHirn-Schranke aufgenommenen essentiellen Aminosäure Tyrosin über DOPA und Dopamin zu Noradrenalin synthethisiert und in Vesikeln abgespeichert. Wichtigstes Kerngebiet des noradrenergen Systems im Gehirn ist der Locus coeruleus im Mittelhirn, dessen Neurone über die Formatio reticularis umfangreich mit dem Rückenmark und dem Vegetativum in Verbindung stehen, der andererseits aber auch vielfältige Verbindungen in höhere Hirnregionen hat. Somit hat der Locus coeruleus eine wesentliche Steuerungsfunktion für Wachheit, Aufmerksamkeit, Antrieb und die akute Streßreaktion. Nach der Ausschüttung in den synaptischen Spalt wird Noradrenalin zu einem Teil wieder in die Synapse aufgenommen oder aber über katabole Enzyme wie Monoaminooxidase (MAO-A, MAO-B) und Catechol-OMethyl-Transferase (COMT) zu verschiedenen Metaboliten wie Vanilinmandelsäure oder MHPG abgebaut. Vier adrenerge Rezeptorsubtypen (alpha1, alpha2, beta1, beta2) sind bekannt, die bis auf den Calcium-Kanal modulierenden alpha1-Rezeptor GProtein gebunden sind. Über eine Steigerung der Noradrenalinkonzentration im synaptischen Spalt durch Wiederaufnahmehemmung der enzymati- Krankhafte Gefühle. Angst und Depression 223 schen Abbauhemmung kommt es nach der chronischen Verabreichung von noradrenerg wirksamen Antidepressiva zu einer Herabregulierung postsynaptischer beta-Rezeptoren, vor allem aber mittelfristig zu einer Desensibilisierung von alpha2-Autorezeptoren, was nach einer Latenz letztendlich die Noradrenalinsynthese und den axonalen Transport in die synaptischen Vesikel steigert. Ein wesentlicher Wirkmechanismus des modernen Antidepressivums Mirtazapin ist eine noradrenerge alpha2-Rezeptor-Blockade. Das serotonerge System ist phylogenetisch sehr alt. Serotonin wird bereits von Einzellern gebildet und ist als Toxinbestandteil bei Insekten bekannt. Die weitreichendste Ausbreitung hat das serotonerge System des Menschen im Magen-Darm-Trakt (enterochromaffine Zellen) und in den Blutplättchen (Thrombozyten). Das zentralnervöse serotonerge System umfaßt lediglich 500.000 Neurone, die im Hirnstamm und im Mittelhirn lokalisiert sind. Die serotonergen Kerne des Hirnstamms projizieren vorrangig in die Medulla oblongata und das Rückenmark. Die für die Innervation höher liegender Hirnareale relevanten Raphé-Kerngebiete (Nuclei raphé) bestehen aus etwa 150.000 Neuronen, die sich durch tonische Entladungen ihrer Projektionen in das gesamte Gehirn, von besonderer Wichtigkeit in das limbische System, auszeichnen. Die Entladungsrate dieser Neurone ist abhängig von ihren Afferenzen und steht z. B. im REM-Schlaf still. Die Neurone der RaphéKerne haben Verbindung zum noradrenergen Locus coeruleus und einen inhibierenden Effekt auf die durch diesen ausgelöste akute Streß-Reaktion (Alarmreaktion). Serotonin wird in serotonergen Neuronen und Präsynapsen über die Vorstufen 5-Hydroxytryptophan und 5-Hydroxytryptamin aus der essentiellen Aminosäure Tryptophan synthetisiert, welche kontrolliert über die BlutHirn-Schranke aufgenommen wird. Ebenso wie Noradrenalin wird das gebildete Serotonin in synaptischen Vesikeln gespeichert und nach Freisetzung in den synaptischen Spalt durch Wiederaufnahme oder katabole Enzyme wieder hieraus eliminiert. Bisher sind sieben Serotonin (5HT)-Rezeptorfamilien 5HT 1-7 bekannt, wobei man über die Funktion der Subtypen 5-7 noch nicht viel weiß. Bis auf den Ionenkanal modulierenden 5HT3-Rezeptor sind 5HT1, 2, 4 G-Protein gebundene Rezeptoren. Während der 5HT1a-Rezeptor einen somatodendritischen Autorezeptor am Raphé-Neuron ist, handelt es sich beim Subtypen 5HT1d um einen axonterminalen Autorezeptor am präsynaptischen Spalt. Serotonerg wirksame Pharmaka erhöhen durch Wiederaufnahmehemmung oder Hemmung des enzymatischen Abbaus initial die 5HT-Konzentration im synaptischen Spalt und verursachen somit einen verstärkten Rückkopplungseffekt über die Autorezeptoren. Mittelfristig werden die Autorezeptoren aber hierdurch desensibilisiert, so daß es langfristig zu einer verstärkten serotonergen Neurotransmission kommt. Dies erklärt sowohl die (meist nur 224 Dirk Wedekind und Borwin Bandelow initial auftretenden) unerwünschten Begleiteffekte serotonerg wirksamer Pharmaka, deren Wirkungslatenz wie auch die Tatsache, daß nach ausreichend langer Behandlungsdauer auch nach Ausschleichen der Medikation ein fortdauernder antidepressiver oder angstlösender Effekt besteht. Das Gamma-Aminobuttersäure (GABA)-System ist im Zentralen Nervensystem ubiquitär ausgebildet und repräsentiert hier das wichtigste inhibitorische Transmittersystem. GABA wird aus der Aminosäure Glutamin synthethisiert. Man kennt zwei Rezeptor-Subtypen, den Chloridkanal modulierenden GABA-A Rezeptor und den Kalzium- und Kaliumkanal modulierenden GABA-B Rezeptor. GABA-Rezeptor Agonisten wie Benzodiazepine, Alkohol und einige Antikonvulsiva haben somit einen inhibierenden, sedierenden, anxiolytischen Effekt. Interessanterweise sind GABA-Antagonisten in ihrer Wirkung am Rezeptor neutral (Anexate bei Intoxikation mit GABA-Agonisten) während inverse Agonisten sogar einen ausgeprägten anxiogenen Effekt haben. Unter den Angststörungen ist die Menge an Information, die über zentralnervöse Veränderungen bestehen, bei der Panikstörung sicherlich am umfangreichsten. Insgesamt konnte gezeigt werden, daß Dysfunktionen des serotonergen und des noradrenergen Systems bzw. eine Imbalance zwischen beiden bestehen. Bei Menschen mit einer Panikstörung ist die Entladungsfrequenz des noradrenergen Locus coeruleus gesteigert, vor allem während akuter Panikattacken. Vieles läßt darauf schließen, daß bei diesen Individuen eine verminderte Aktivität und Reagibilität des serotonergen Systems vorliegt, manche Autoren bezeichnen dies sogar als „Serotonin-Defekt“. Da die serotonergen Afferenzen des Locus coeruleus einen inhibierenden Effekt auf dessen Aktivität haben, ist dieses wesentliche Regulationssystem nicht mehr ausreichend effektiv. Verschiedene Provokationstests zeigen signifikant häufiger bei Menschen mit einer vorbestehenden Panikstörung eine Auslösbarkeit von Panikattacken durch verschiedene Substanzen und damit Hinweise für eine erhöhte direkte oder indirekte Sensibilität des „AlarmSystems“ Locus coeruleus. Zwar zeigen sich durch die Provokationstests auch bei gesunden Testpersonen charakteristische physiologische Veränderungen, allerdings keine oder deutlich geringere Angsterlebnisse bzw. Panikattacken als bei Patienten mit einer Panikstörung. Zu den untersuchten Provokationsmitteln (die in höheren Dosierungen aber auch bei Gesunden anxiogen wirksam sind) zählen Natrium-Laktat-Infusionen (Erniedrigung des systemischen pH), 5-35-prozentige Kohlendioxid-Inhalationen (falscher Erstickungsalarm), Neurokinin (CCK4/CCK8)-Infusion, Koffein (Adenylatzyklase-Hemmung), m-CPP, Fenfluramin und Yohimbin. Krankhafte Gefühle. Angst und Depression 225 DIE NEUROANATOMIE DER ANGST Auf diesen Grundlagen wird von Gorman und Mitarbeitern (1989) ein neuroanatomisches Modell der Panikstörung beschrieben, das davon ausgeht, daß an den verschiedenen Aspekten der Panikstörung auch unterschiedlich zentralnervöse Strukturen beteiligt sind. Bei Panikattacken selbst kommt es zur Entladung verschiedener (und nicht bei jeder Panikattacke unbedingt gleicher) Kerngebiete des Hirnstamms, die für die unterschiedlichen Symptome einer Panikattacke charakteristisch sind. So wird die eigentliche Alarmreaktion und Vigilanzsteigerung durch gesteigerte Aktivität des Locus coeruleus bestimmt, die Hyperventilation und Dyspnoe über den Nucleus parabrachialis, die viszerosensorischen Symptome wie Übelkeit über den Nucleus solitarius und Nucleus paragigantocellularis und Tachykardie und Blutdruck-Veränderungen über den Nucleus solitarius von den Vaguskerngebieten. Psychische Symptome wie die bei Panikattacken aufkommende Todesangst gehen von limbischen Strukturen, in diesem Fall dem periaquäduktalen Grau, aus. Andere, vor allem limbische Strukturen sind an der Prozessierung von Erwartungsangst vor einer erneuten Panikattacke beteiligt. Bei diesem kognitiv ausgelösten Phänomen spielen Sensibilisierungsvorgänge in Amygdala, Hippokampus, periaquäduktalem Grau, Thalamus und Hypothalamus eine entscheidende Rolle. Vermeidungsverhalten vollzieht sich nach Gormans Modell durch präfrontale kortikale Aktivierungsvorgänge über den Hippokampus, also über eine Abgleichung mit Vorerfahrungen. DIE STRESS-ACHSE BEI ANGST Gormans Modell erfährt noch einige entscheidende Ergänzungen durch die gut untersuchten Auffälligkeiten der Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinden (HPA)-Achse und ihres Endproduktes, Kortisol, bei der Panikstörung. Mehrere Untersuchungen haben gezeigt, daß Individuen mit einer deutlich ausgeprägten Panikstörung eine auffällig gesteigerte HPA-Achsenfunktion im Vergleich zu Gesunden aufweisen. Bei akuten Panikattacken ist zusätzlich eine signifikante Steigerung der Kortisolsekretion zu verzeichnen. Interessanterweise ist die Schwere der HPA-Achsenstörung offensichtlich auch prognostisch für den weiteren Störungsverlauf oder das Rezidivrisiko relevant. Zunächst einmal ist die Aktivierung der HPA-Achse in einer Streßsituation und die Ausschüttung von Kortisol bei jedem Menschen eine normale physiologische Reaktion. Nicht nur das Endprodukt Kortisol sondern auch die Peptide, die im früheren Verlauf der HPA-Achse sezerniert werden, 226 Dirk Wedekind und Borwin Bandelow ACTH aus der Hypophyse und CRF aus dem Nucleus paraventricularis des Hypothalamus, haben einen modulierenden Effekt auf den Locus coeruleus, der initial im Rahmen der akuten Alarmreaktion die HPA-Achse stimuliert. Das bedeutet, daß durch eine entsprechende Aktivierung der HPA-Achse die akute zentralnervöse Streßreaktion nach einer gewissen Latenzzeit wieder beendet werden kann. Dieser Mechanismus charakterisiert eine kontrollierbare Streßreaktion, wenn eine ungewohnte oder bedrohliche Situation oder ein Objekt eine kurzzeitige Aktivierung zur Konzentration aller verfügbaren Ressourcen heranzieht und nach Anwendung einer bestimmten, aus Vorerfahrung oder durch Abstraktion einer Vorerfahrung stammenden Bewältigungsstrategie wieder auf ein normales Ausgangsniveau zurückkehren kann. Findet sich aus der Vorerfahrung jedoch keine geeignete Strategie, oder ist die Situation oder das Objekt zu überwältigend oder langandauernd, kann es zu einer unkontrollierbaren Streßreaktion kommen. Diese zeichnet sich durch eine übermäßige, langanhaltende Aktivierung der HPA-Achse aus. Solche langanhaltenden hohen Konzentrationen von Kortisol sind für bestimmte Neurone toxisch, so daß unter solchen Umständen deutlich degenerative Prozesse im Hippokampus auftreten können. Dieses Phänomen ist nicht für die Panikstörung spezifisch, sondern kann ebenso bei schweren depressiven Störungen beobachtet werden, deren Rezidiven häufig bereits Erhöhungen der HPA-Aktivität vorausgehen. Gerade für die kognitive Dysfunktion bei Angststörungen, aber auch bei depressiven Störungen, ist diese hippokampale Dysfunktion im mesolimbischen Netzwerk (nach LeDoux) entscheidend. Nimmt das Individuum ein Objekt oder eine Situation wahr, die einen archaisch bzw. evolutionär relevanten Stimulus repräsentiert (z. B. ein plötzliches lautes Geräusch in der Nähe) kommt es zu einer unmittelbaren Aktivierung der Amygdala, einer ontogenetisch alten limbischen Struktur, die über Efferenzen zu verschiedenen vegetativen Kerngebieten eine akute Schreckreaktion auslösen kann. Die durch die Amygdala vermittelten Reaktionen stellen explizite, angeborene, nicht veränderbare Gedächtnisinhalte dar. Diese schnelle Reaktion deckt sich zum Teil mit den oben beschriebenen Angstdomänen und kann lebenserhaltend sein, indem sie zu einem unwillkürlichen Abwehrverhalten führt. Erst nach dieser Amygdala-mediierten Reaktion wird die Information im Hippokampus mit konkreten oder abstrahierten Vorerfahrungen, die kortikal abgespeichert sind, verglichen, um eine geeignete Handlungs- und Bewältigungsstrategie zu aktivieren oder aber den Stimulus als nicht weiter relevant zu ignorieren. Hierbei inhibieren hippokampale Efferenzen dann schnell die Exitation der Amygdala. Stehen dem Individuum aber keine lösungsrelevanten Vorerfahrungen abrufbereit zur Verfügung oder wird mit dem Stimulus eine in der individuellen Entwicklung nicht überwundene oder neurotisch abgewehrte phobische Situation assoziiert, führt dies zu Krankhafte Gefühle. Angst und Depression 227 einer unkontrollierbaren Streßreaktion. Solche Reaktionen können letztlich auch rein kognitiv in Gang gesetzt werden. Kommt es für das Individuum auf diesem Weg zu einer solchen unkontrollierbaren Streßreaktion mit einer langanhaltenden HPA-Aktivierung und einem Hyperkortisolismus, der die Hippokampusfunktion durch fortlaufende Degenerationsvorgänge weiter beeinträchtigt, wird eine Beendigung dieser Reaktion durch geeignete Bewältigungsmuster immer unwahrscheinlicher. Anhaltende vegetative Symptome, Erwartungsangst, Vermeidungsverhalten und eine mögliche Manifestation einer Angststörung oder einer depressiven Episode sind die Folge. Allerdings führt eine langanhaltende HPA-Hyperaktivität nicht nur zu hippokampaler Neurodegeneration sondern auch zu neuroplastischen Umbauvorgängen auf mesolimbischen und mesokortikalen Bahnen, die den neurodegenerativen Vorgängen zum Teil schon vorausgehen. Durch plastische Veränderung existierender synaptischer Verschaltungen und Zustandekommen neuer Verbindungen werden Verbindungen von bisher erfolglosen Bewältigungsmechanismen destabilisiert und neue, vielleicht vielversprechendere Kontakte zwischen Nervenzellen ermöglicht. Dies führt insgesamt auch zu einer Harmonisierung assoziativer Prozesse wenn keine impliziten Gedächtnisinhalte zur Beseitigung des unkontrollierbaren Stressors herangezogen werden können. ANGST UND DEPRESSION IN DER BILDGEBUNG Gerade für die Angst- und depressiven Störungen liegen eine Reihe von Ergebnissen bildgebender Untersuchungen vor, die sich mit diesen Veränderungen im mesokortikalen und mesolimbischen System decken. Obwohl Studien zu Angst- und depressiven Störungen zum Teil unter ganz unterschiedlichen Fragestellungen durchgeführt wurden, weisen sie darauf hin, daß die Veränderungen bei diesen Erkrankungen sehr ähnlich sind. Sowohl Depressive als auch Angstpatienten zeigen Veränderungen im zerebralen Blutfluß. In beiden Fällen besteht ein reduzierter kortikaler und eine relative Zunahme des subkortikalen Blutflusses besonders in der Amygdala und im Thalamus. Insbesondere bei Panikpatienten fiel auf, daß der hippokampale Blutfluß beidseitig, links deutlicher als rechts, reduziert ist. Die Amygdala ist stärker aktiviert und von einigen Autoren konnte ein vermindertes Hippokampus-Volumen im Vergleich zu gesunden Kontrollen gemessen werden. Im Bereich des frontalen Kortex ergab sich eine verstärkte Asymmetrie zugunsten der Anteile der nichtdominanten Hemisphäre. Eine Untersuchung von Individuen mit einer Zwangsstörung erbrachte hingegen eine Erhöhung der Durchblutung im frontalen Kortex und in den Basalganglien. 228 Dirk Wedekind und Borwin Bandelow Es ist wenig erstaunlich, daß bei depressiven Patienten eine verminderte kortikale Bindung von Serotonin-Rezeptorliganden beobachtet werden konnte, was wiederum auf die Dysfunktion der serotonergen Neurotransmission hinweist. PHARMAKOLOGIE DER ANGST UND DEPRESSION Bei den vielen Gemeinsamkeiten der beiden Gruppen von Störungen zeigt sich allerdings ein wichtiger Unterschied in deren Ansprechbarkeit auf eine psychopharmakologische Behandlung. Depressive Patienten sprechen mit einer sehr viel höheren Wahrscheinlichkeit auf solche Pharmaka an, die vorrangig die noradrenerge Neurotransmission verstärken. Im Grunde genommen gibt es keine kontrolliere Studie, die die Effektivität noradrenerger Substanzen bei Angststörungen belegt, abgesehen von Hinweisen auf eine Wirksamkeit des selektiven Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmers Reboxetin bei der Panikstörung. Auch scheint der kombinierte, selektive Noradrenalin- und Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Venlafaxin bei bestimmten Angststörungen eine Beschwerdebesserung zu bringen (obwohl Venlafaxin in niedrigeren Dosierungen vor allem serotonerg wirkt). Allerdings sind vor allem die klassischen Antidepressiva, die von ihrem Rezeptorbindungsspektrum weitaus weniger selektiv sind als die neueren Substanzen bei Angststörungen, die nicht ein prominentes komorbides depressives Syndrom aufweisen, ineffektiv. Wie bereits erwähnt, ist die pharmakologische Behandlung depressiver Störungen in ihrer Entwicklung von einer ganzen Reihe von Zufällen begleitet gewesen. Erst mit dem beginnenden Verständnis der zentralnervösen biologischen Veränderungen in depressiven Episoden und bei rezidivierenden Erkrankungen konnten auch spezifischere Behandlungskonzepte geplant und umgesetzt werden. Ohne Zweifel spielen wie bei den Angststörungen eine abweichende Funktion serotonerger und noradrenerger Neurotransmission eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zu den Angststörungen hängt aber gerade in der Behandlung von Depressionen die Wahl des Pharmakons im wesentlichen von den vorrangigen Symptomen der aktuellen Episode ab. Insbesondere unter diesem Aspekt sind die verschiedenen, möglichen Symptome einer depressiven Episode ja auch auf Dysfunktionen der Neurotransmittersysteme zurückgeführt worden. So ist es die Regel, ein ausgeprägtes Antriebsmangelsyndrom eher mit einer selektiv serotonergen Substanz zu behandeln, ein agitiertes Syndrom sicherlich zögerlicher; ebensowenig eine Depression, die mit ausgeprägten Schlafstörungen einhergeht, insofern man eine Monotherapie durchführen möchte und keine zusätzlichen Hypnotika einsetzen will. Jedoch sollte man davon ausgehen, das solch Krankhafte Gefühle. Angst und Depression 229 ein unikausales Syndromkonzept die Realität dramatisch vereinfacht. Die serotonergen und noradrenergen Efferenzen haben in verschiedenen Bereichen des Gehirns und vor allem auch im limbischen System ganz unterschiedliche Funktionen, die weit über die Annahme hinausgehen, daß es lediglich einer Beeinflussung des Locus coeruleus oder der Nuclei raphé bedarf, um eine depressive Episode oder eine Angststörung zu kurieren. Viele der Effekte von Antidepressiva sind direkt auch gar nicht auf Serotonin- oder Noradrenalin-mediierte Effekte zurückzuführen wie die Sedierung durch antihistaminerge Rezeptorbelegung. Das z. B. noch oft verwendete trizyklische Antidepressivum Trimipramin ist vor allem ein Histamin- und Dopamin-Rezeptorantagonist, aber gerade bei schwer agitierten oder wahnhaften depressiven Episoden effektiv. Das nicht in Deutschland als Antidepressivum zugelassene Bupropion blockiert nicht nur die Noradrenalinsondern auch die Dopamin-Wiederaufnahme. Favorisiert man aufgrund ihrer ungünstigeren Nebenwirkungsprofile trizyklische Antidepressiva nicht und bevorzugt bei agitiert, wahnhaften depressiven Syndromen selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer in vorübergehender Kombination mit einem Benzodiazepin, so beeinflußt man über die Verstärkung GABAerger Mechanismen eigentlich alle relevanten Transmittersysteme. EIN INTEGRATIVES MODELL VON ANGST UND DEPRESSION Dies soll keinesfalls heißen, daß die moderne pharmakologische Depressionsbehandlung irrational und zu unspezifisch ist, allerdings ist eine Ableitung der zentralnervösen neurobiologischen Veränderungen bei depressiven Erkrankungen allein aus dem (mehr oder weniger selektiven) Wirkmechanismus des eingesetzten Pharmakons sicherlich zu einfach. Es empfiehlt sich nach wie vor dringend, die medikamentöse Therapie nach den vorrangigen Symptomen und gegebenen Kontraindikationen für bestimmte Substanzen zu wählen. Insbesondere sollte aber die Spezifität der zur Verfügung stehenden pharmakologischen Einflußnahmen kritisch überdacht werden, gerade angesichts der Tatsache, daß sehr unspezifische Behandlungsmethoden wie Phytotherapie, Lichttherapie, Schlafentzugsbehandlung, Transkranielle Magnetstimulation und Elektro-Konvulsionsbehandlung ebenfalls antidepressive Wirksamkeit aufweisen. Auch die aktuellen Entwicklungen neuer Klassen von Antidepressiva wie z. B. Corticotropin-Releasing-Faktor (CRF)-Antagonisten, Substanz P-Antagonisten, GABA-Rezeptor-Liganden oder Neurokinin-Antagonisten werden wahrscheinlich keine spezifischeren Erkenntnisse für ein unikausales Depressionsmodell ergeben. Auch aus pharmakologischer Sicht wird der Ursprung von depressiven oder Angststörungen immer mehr auf Dysfunktionen komplexer funktio- 230 Dirk Wedekind und Borwin Bandelow neller Netzwerke zurückzuführen sein, die individuell unterschiedlich effektiv entwickelte Zentren des Kortex, des limbischen Systems, des Mes- und Dienzephalons sowie des Hirnstamms repräsentieren. Sowohl bei den diversen depressiven Syndromen wie auch besonders bei den verschiedenen Angststörungen zeigen eine unterschiedliche Verteilung mehrerer Imbalancen zwischen verschiedenen, funktionell verbundenen Bereichen des Gehirns ein letztendlich syndrom- oder störungsspezifisches, aber auch individuell variables Beschwerdebild. Diese Prozesse spiegeln beim Menschen eine lebenslange Plastizität dieser komplexen zentralnervösen Verschaltungsmuster wieder, die durch Lernen, Angst oder am massivsten: eine Angst- oder affektive Störung, beeinflußt und moduliert werden können. Diese Vorgänge sind noch spärlich untersucht. Zumindest für die depressiven Störungen und, wie zuvor angedeutet, die Panikstörung bestehen Ansätze, diese zu verstehen und erklärbar zu machen. Die derzeit verfügbaren bildgebenden Verfahren sind nicht fein genug, um die spezifischen Prozesse, vor allem im limbischen System, zuverlässig zu erfassen, und die Arbeiten zur Rezeptorbindung unter pharmakologischen Provokationstests oder während Erkrankungsepisoden fokussieren sich noch zu wenig auf die Idee von Veränderungen in komplexen funktionellen Netzwerken. Tierexperimentelle Daten sind nur mit großen Einschränkung auf den Menschen übertragbar und zunächst lediglich hypothesengenerierend. Gerade die Möglichkeit, lebenslang lernfähig zu sein, der Spracherwerb und die soziokulturellen Verhältnisse mit ihren besonderen Bindungs- und Interaktionsstilen stellen ganz spezifisch menschliche Faktoren der, die im Rahmen der Entwicklung überhaupt Angst, komplexere Emotionen und besonders Affekte und deren Störung ermöglichen und auch sinnvoll erscheinen lassen. Erfahrungen werden bis zum komplexen Spracherwerb und abhängig von der kognitiven Entwicklung in abnehmender Weise prozedural verarbeitet. Kurzzeitiges Erleben von Angst in ungewohnten Situationen ist für das junge Kind essentielle Voraussetzung für Lernen, in dieser Phase aber noch wesentlich von der Bindung und dem damit verbundenen emotionalen Ausdrucksverhalten zwischen ihm und der primären Bezugsperson abhängig. Erfährt das Kind eine gleichbleibende Rückmeldung von Ermutigung und Sicherheit, kann es die eigene Angst rasch regulieren und ist damit der Konfrontation mit neuen, zunächst angstauslösenden Erfahrungen aufgeschlossener und besser gewachsen. Hierdurch kann ein anhaltendes Verhalten von Erkundungshemmung (behavioral inhibition) vereitelt werden, das es dem Heranwachsenden in verschiedenen Phasen immer schwerer machen wird, sich mit potentiellen (archaischen) phobischen oder fremden Stimuli auseinanderzusetzen, aus ihnen zu lernen und sie in Zukunft sicher einzuschätzen. Mit zunehmender kognitiver Leistungsfähigkeit wird sich jedes Individuum, das diese Bewältigung nicht erfolgreich meistern konnte, auf der Grundlage seiner individuellen genetischen Voraussetzungen und Krankhafte Gefühle. Angst und Depression 231 bisher gemachten Erfahrungen eigene Strategien suchen, die Angst zu regulieren. Abhängig vom Lebensalter und den individuellen Vorerfahrungen kann es zur Manifestation spezifischer, persistierender Ängste wie Tier- und Verletzungsphobien, später einer sozialen Phobie, Zwangsstörung, Panikstörung mit oder ohne Agoraphobie oder einer Generalisierten Angststörung kommen. Die angewandten Regulationsstrategien werden mit zunehmender geistiger Entwicklung immer komplexer und zeigen dann auf der intra-individuellen Ebene eine unterschiedliche Ausprägung neurotischer Bewältigung wie Verdrängung, Sublimierung, Regression, Projektion, was zu einem Ich-syntonen Beschwerdebild bis zur Ausprägung einer ängstlichvermeidenden Persönlichkeitsstörung führen kann. Insbesondere die frühkindlich erlernten Bindungs- und Interaktionsstile bleiben natürlich nicht auf die Mutter beschränkt, sondern weiten sich mit der Entwicklung auf den Vater, Geschwister, Gleichaltrige und später auf Partner, religiöse, kulturelle oder ideologische Organisationen aus, die dem Individuum ein Gefühl von Zugehörigkeit und Sicherheit zur Emotionsregulation geben können. Geht jedoch dieses Gefühl von Zugehörigkeit, die Gewißheit, in einer gesellschaftlichen Struktur eine stabile Position oder Eigenschaft zu haben, verloren, kann dies bei mangelnden Kompensationsmöglichkeiten bei entsprechend vulnerablen Menschen zu einer depressiven Episode führen. Obwohl aus epidemiologischen Untersuchungen hervorgeht, daß die Erstmanifestation einer Depression später (um das 35. Lebensjahr) erfolgt als bei der sozialen Phobie (13.-15. Lebensjahr) oder der Panikstörung (18.-23. Lebensjahr), muß man inzwischen davon ausgehen, daß kindliche depressive Episoden weitaus häufiger auftreten als früher angenommen wurde. Abhängig von der kognitiven Entwicklung können allerdings ganz andere Symptome auftreten als die, die uns aus den Klassifikationssystemen für Erwachsene bekannt sind. Die steigende Prävalenz von Angst- und depressiven Störungen bei Kindern und Jugendlichen ist sicherlich bedingt durch die verbesserte Diagnostik, weist aber auch auf die Gefahr hin, daß die Umwelt an Heranwachsende immer komplexere Anforderungen zur Angst- und Emotionsregulation stellt, die durch die bestehenden Bindungen und Interaktionen bzw. die durch deren Hilfe erworbenen Vorerfahrungen nicht mehr ausreichend kompensiert werden können. Unter solchen Voraussetzungen zeigen sich unter belastenden, unkontrollierbaren Streßsituationen Syndrome, die auf einen Anpassungsversuch des individuellen, zentralnervösen Netzwerks der Emotionsregulation hinweisen. Dieser zielt darauf ab, neuroplastische Prozesse in Gang zu setzen, die, wenn bewußte Bewältigungsstrategien nicht zur Verfügung stehen, alternative neuronale Verschaltungen induzieren, um die Existenz des Individuums als gesicherten Bestandteil eines gesellschaftlichen Beziehungsgefüges wieder zu etablieren. Diese Imbalance im Netzwerk spielt sich vor allem zwischen Amygdala, Hippokampus, dem frontalen Kortex, Thalamus und 232 Dirk Wedekind und Borwin Bandelow Hypothalamus ab. Kann über das Gedächtnisrelais Hippokampus keine passende Bewältigungsstrategie aus dem frontalen Kortex abgerufen oder abstrahiert werden, kommt es zu einer verlängerten Aktivierung der neuronalen Assoziationen der Amygdala und der damit verbundenen Kerngebiete, die archaische Angst- und vegetative Symptome begünstigen. Je nach individueller Vorerfahrung und Entwicklung der Bestandteile des Netzwerks zu denen auch der Locus coeruleus zählt, umfaßt das Syndrom dann ein spezifisches Konglomerat der bekannten Symptome: z. B. ängstlich-agitiert, im Verlauf (oder schon initial) gehemmt, bis hin zu stuporösen Zuständen oder mit Zwangshandlungen (unter Einbeziehung der Basalganglien) verbunden. Zusätzlich wird durch eine langanhaltende Stimulation der HPA-Achse (Nucleus paravertebralis im Hypothalamus) und einer übermäßigen Kortisolsekretion das in diesem Fall zur Bewältigung wenig hilfreiche Relais Hippokampus „aufgeweicht“, um Verschaltungen zu ermöglichen, die die Aktivität der Amygdala und ihrer assoziierten archaischen Projektionen drosseln und die Fehlinterpretationen und -kognitionen bis hin zum wahnhaften Erleben auf eine realitätsnahe, problemorientierte Ebene rücken, wie es auch die Absicht einer geeigneten psychotherapeutischen Intervention wäre. Auf vergleichbare Weise wird eine geeignete psychopharmakologische Behandlung diese Prozesse unterdrücken oder beschleunigen, harmonisieren oder zu einem Teil symptomorientiert beeinflussen. Gerade weil unser Krankheitsverständnis meist einem kategorialen Ansatz folgt und die Kriterien für eine Besserung oft recht oberflächlich scheinen, sollten Behandelnde von Angst- oder depressiven Patienten bezüglich ihrer pharmakologischen und psychotherapeutischen Interventionen (wie auch diejenigen, die sich ein tiefgreifenderes Verständnis für die zentralnervösen Phänomene bei diesen Störungen erarbeiten) die individuelle Komplexität der Entstehungsbedingungen und die Idee einer Funktion und Sinnhaftigkeit solcher krankhaften Gefühle immer in ihre Überlegungen einbeziehen. LITERATUR American Psychiatric Association (1980) Diagnostic and statistical manual of mental disorders. 3rd edition. Washington, DC: American Psychiatric Press. – (1994) Diagnostic and statistical manual of mental disorders. 4th edition. Washington, DC: American Psychiatric Press. Bandelow, Borwin (2001) Panik und Agoraphobie. Diagnose, Ursachen, Behandlung. Wien, New York:: Springer. Beck, Aaron T., G. Emery & R. L. Greenberg (1985) Anxiety disorders and phobias – A cognitive perspective. New York: Basic books. Krankhafte Gefühle. Angst und Depression 233 Bowlby, John (1973) Attachment and loss. Vol. II: Separation – anxiety and anger. New York: Basic books. Cannon, Walter B. (1929) Bodily changes in pain, hunger, fear and rage. 2nd edition. New York: Appleton-Century-Crofts. Charney, Dennis S. (1999) Neurobiology of mental illness. Oxford: Oxford Press. Coplan, Jeremy D. & R. B. Lydiard (1998) Brain circuits in panic disorder. Biol Psychiatry 44, 1264-1276. Eichenbaum, Howard, T. A. Otto & N. J. Cohen (1992) The hippocampus – what does it do? Behav Neural Biol 57, 2-36. Freud, Sigmund (1894) Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomenkomplex als „Angstneurose“ abzutrennen. GW 1, 313342. Gorman, Jack M., M. R. Liebowitz, A. J. Fyer, J. Stein (1989) A Neuroanatomical hypothesis for panic disorder. Am J Psychiatry 146, 148-161. Griez, Eric J. L., C. Faravelli, D. Nutt & J. Zohar (2001) Anxiety disorders – An introduction to clinical management and research. Chichester: Wiley. Huether, Gerald (1996) The central adaptation syndrome. Psychosocial stress as a trigger for adaptive modifications of brain structure and brain function. Prog Neurobiol 48, 569-612. Huether, Gerald & E. Rüther (2000) Das serotonerge System. Bremen: Uni-med. LeDoux, Joseph E. (1998) Das Netz der Gefühle – Wie Emotionen entstehen. München: Hanser. Sapolsky, Robert M., L. C. Krey & B. S. McEwen (1986) The neuroendocrinology of stress and aging: The glucocorticoid cascade hypothesis. Endocr Rev 7, 284301. Stevens, Anthony & John Price (1996) Evolutionary Psychiatry. London, New York: Routledge. Westphal, Carl (1872) Die Agoraphobie. Archiv für Psychiatrie 3, 2. TEIL III PHILOSOPHISCHE UND KULTURELLE ASPEKTE DER EMOTIONEN EINFÜHRUNG E in kulturvergleichender Beitrag und drei philosophische Aufsätze bilden den Inhalt des dritten und abschließenden Teils dieses Buches über Emotionen. Während der erste Text die kulturelle Abhängigkeit unseres emotionalen Erlebens thematisiert, stehen im zweiten Beitrag über „Vernunft und Leidenschaft“ vor allem empfindungstheoretische und kognitive Theorien der Emotion auf dem philosophischen Prüfstand. Der dritte Text plädiert für eine an Kant orientierte „Züchtigung“ der Emotionen durch die Vernunft und weist neuere, sich eher auf Hume beziehende Ansätze in ihre Schranken. Schließlich wird eine philosophische Analyse unterschiedlicher künstlicher Gefühle geboten, die uns auf ein notorisches Problem der Philosophie des Geistes – das Qualia-Problem – verweist. Deighton und Traue: Emotion und Kultur im Spiegel emotionalen Wissens. Ist unser emotionales Erleben abhängig von der Kultur, in der wir aufwachsen und leben? Deighton und Traue gehen davon aus, daß bestimmte, im Laufe der persönlichen Entwicklung erworbene Emotionsschemata (und Wissensstrukturen) wesentlich daran beteiligt sind, wenn wir komplexe biopsychosoziale Konstellationen als spezifische Emotionen erleben. Insofern ist die Frage nach kulturellen Unterschieden im emotionalen Erleben auch eine Frage nach kulturabhängigen Unterschieden in den Emotionsschemata. Am Beispiel von Hindu-Texten und emotionalen Lexika der Aborigines wird deutlich, daß es in deren Sprachen Emotionswörter gibt, die sich nicht ohne Bedeutungsverlust in eine europäische Sprache wie das Englische oder Deutsche übersetzen lassen. Auch Vergleiche mit dem Japanischen zeigen, daß es Kulturen gibt, die bestimmte Emotionstypen wesentlich feinkörniger unterscheiden als wir; im Hinblick auf andere Emotionstypen können die Unterscheidungen hingegen grobkörniger als bei uns ausfallen. Hinsichtlich der Quelle kollektiven Wissens über Emotionen konkurrieren derzeit vor allem zwei Hypothesen: Während die Prototypen-These besagt, daß wir unser emotionales Wissen über die physiologischen Aktivitäten unseres eigenen Körpers erhalten und dann verallgemeinern, behauptet die zweite Hypothese, daß Emotionsschemata sozial-konstruierte Skripte sind, die u. a. durch das Weitererzählen emotionalisierender Geschichten entstehen. Gemeinsam scheinen beide Modelle in der Lage zu sein, die Ähnlichkeiten und die Unterschiede im emotionalen Erleben von Angehörigen verschiedener Kulturen zu erklären. 238 Einführung Betzler: Vernunft und Leidenschaft. Emotionen stellen für die Philosophie in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung dar: Lassen sich unsere Handlungen und Entscheidungen durch Rekurs auf emotionale Einstellungen erklären oder rechtfertigen? Welche Rolle spielen Emotionen im Rahmen ethischer Fragen? Können Einsichten in die Natur der Emotionen dazu beitragen, ganz allgemein das Verhältnis von „Geist“ und „Körper“ besser zu verstehen? Antworten auf diese und verwandte Fragen hängen wesentlich davon ab, was überhaupt unter emotionalen Einstellungen verstanden wird. Die Philosophiegeschichte kennt dazu unterschiedliche Positionen, die bis in die heutige Zeit hinein die Diskussion bestimmen. Betzler konzentriert sich vor allem auf eine Kontroverse, die zwischen der Empfindungstheorie und der kognitiven Theorie der Emotion besteht. Der ersten Theorie zufolge sind Emotionen körperlich wahrnehmbare Empfindungen, denen eine spezifische Erlebnisqualität zukommt; die zweite Theorie betrachtet Emotionen als kognitive Einstellungen, die durch neue Einsichten modifizierbar und rationalen Bewertungen zugänglich sind. Die Empfindungstheorie kann jedoch die Kritisierbarkeit emotionaler Einstellungen nicht gebührend berücksichtigen, die kognitive Theorie vernachlässigt deren phänomenalen Charakter; darüber hinaus scheint keine der beiden Theorien in der Lage zu sein, emotionale Einstellungen adäquat zu individuieren. Als „Väter“ der beiden Positionen werden häufig Descartes bzw. Aristoteles genannt; doch Betzlers näherer Blick offenbart, daß die beiden Klassiker der Debatte durchaus subtilere Ansichten vertraten. Slaby: Sklaven der Leidenschaft. Berühmt ist David Humes Diktum: Die Vernunft ist bloß ein Sklave der Leidenschaften! Ohne die motivierende Kraft der Emotionen und Gefühle sei jene fundamental impotent, ohne Einfluß auf das Entscheiden und die Handlungssteuerung. Damit steht Hume vielen aktuellen Emotionstheorien nahe –, scheinen doch auch die Befunde Damasios ähnliches zu belegen und die generelle Aufwertung der Emotionalität gegenüber dem traditionell für „erhabener“ gehaltenen Vernunftvermögen zu rechtfertigen. Slaby plädiert indes für eine differenziertere Betrachtungsweise und bringt Humes großen Antipoden Immanuel Kant ins Spiel: Für diesen sind die Leidenschaften „Krankheiten des Gemüts“; ja geradezu „Krebsschäden für die reine praktische Vernunft“ und es gelte, die Vernunft für den Kampf mit den überstarken sinnlichen Begierden gut zu rüsten, da sonst ein Verlust der inneren Freiheit drohe. Slaby hält Kants Konzeptualisierung von affektiven Phänomenen als „Vernunftverhinderer“ für empirisch gehaltvoll und zeigt, daß eine minimal-normative Vernunftauffassung, die auf dem hypothetischen Imperativ eines klugen Neigungsmanagements basiert, eine präzisere Identifikation relevanter emotionaler Phänomene erlaubt und damit den instrumentalistischen Ansichten Humes und Damasios überlegen ist. Einführung 239 Stephan: Zur Natur künstlicher Gefühle. Gefühle können auf verschiedene Weise „künstlich“ sein: Sie können Zustände eines artifiziellen Systems wie z. B. eines Roboters sein, sie können aber auch einfach nur künstlich hervorgerufene mentale Zustände sein. Anhand mehrerer, auch fiktiver Szenarien diskutiert Stephan, was es jeweils bedeutet, ein künstliches Gefühl zu sein. Seine Analyse, die an Aristoteles’ naturwissenschaftlich-dialektischer Auffassung der Emotionen anknüpft, stützt sich auf drei Parameter – funktionale Rolle, phänomenale Qualität und somatische Realisierung; sie erlaubt einen detaillierten Blick auf die jeweiligen Unterschiede in den verschiedenen Szenarien. Eine besondere Schwierigkeit bietet die Frage, auf welcher Basis wir berechtigt sein könnten, künstlichen Systemen „echte Gefühle“, also Zustände mit einer spezifischen Innenperspektive auf die eigene emotionale Befindlichkeit, zuzuschreiben. Diese Frage steht in verblüffendem Kontrast zu der Frage, auf welcher Basis wir berechtigt sein können, anderen Menschen unbewußte Affekte, d. h. nicht bewußt wahrgenommene, häufig auch nicht mit einer adäquaten emotionalen Reaktion versehene emotionale Zustände, zuzuschreiben. Die beiden Fragen verweisen unmittelbar auf das für die Philosophie des Geistes notorische Problem der Erklärungslücke phänomenaler Qualitäten. Russell M. Deighton und Harald C. Traue EMOTION UND KULTUR IM SPIEGEL EMOTIONALEN WISSENS EINLEITUNG I n der Begegnung mit anderen Kulturen entsteht nicht selten der Eindruck, daß sich die beobachteten Emotionen Fremder von den eigenen Emotionen unterscheiden. Werden wir angelächelt, scheint uns das aus der eigenen Kultur vertraut, während uns z. B. die expressive Emotionalität von Straßenhändlern seltsam fremd vorkommen mag. Es ist außerdem denkbar, daß emotionales Verhalten, das uns bekannt vorkommt, in den Menschen einer anderen Kultur ganz andere subjektive Gefühle bewirkt als wir glauben. Die empfundenen Unterschiede zwischen fremden und eigenen Gefühlen könnten auf verschiedene Weise erklärt werden: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) Es existieren verschiedene Darbietungsregeln für den Emotionsausdruck verschiedene Antezedenten lösen subjektiv identisch erlebte Emotionen aus die emotionale Hemmung ist anders oder unterschiedlich intensiv die emotionale Intensität wird unterschiedlich erlebt oder gezeigt es gibt andere, nur scheinbar emotionale Verhaltensweisen (wie z. B. Grußrituale mit Lächeln, die nicht wirkliche Freude ausdrücken, die aber sozial vorgeschrieben sind) die Fremdbeobachtung beeinflußt den Beobachteten (Hawthorne Effekt) das emotionale Erleben selbst ist anders Die zentrale Frage lautet also, ob das subjektive emotionale Erleben von Kultur zu Kultur verschieden oder ob das Erleben selbst interkulturell äquivalent ist, während lediglich die Randbedingungen wie beispielsweise das antezedente Ereignis oder die sozialen Folgen variieren. Diese Frage gehört zu den am meisten debattierten Themen in der Literatur über interkulturelle Unterschiede des emotionalen Erlebens. Zweifelsohne beeinflussen physiologische und biochemische Vorgänge im Organismus das menschliche emo- Emotion und Kultur 241 tionale Erleben; sie führen zu universellen psychophysischen Zuständen, die subjektiv zumindest ähnlich erlebt werden. Aber diese Zustände allein können nicht mit der Komplexität des emotionalen Erlebens gleich gesetzt werden. WAS IST EMOTIONALES ERLEBEN? Woher wissen wir, daß wir Emotionen haben? Weil wir sie erleben. Aber was ist emotionales Erleben? Emotionales Erleben könnte umschrieben werden als die Wahrnehmung eines besonderen internen Zustandes und eines (meist externen) Umstandes. Zum Beispiel: Wenn ich mich vor etwas fürchte, nehme ich zum einen eine bestimmte Beziehung zwischen mir und meiner Umwelt wahr, die Gefahr signalisiert (den Umstand), und zum anderen ein für Angst charakteristisches körperliches und mentales Befinden (den Zustand). Der (externe) Umstand hat Folgen für die Ziele und Motive des Individuums, der interne Zustand ist körperlich und mental und kann mit einem linguistischen Etikett bezeichnet werden.1 Er umfaßt Körperempfindungen und Handlungsimpulse. Wir erkennen diesen Zustand auch aufgrund von früherer Erfahrung als emotional. Das emotionale Erleben hängt dann von existierenden Wissensstrukturen ab. Diese Wissensstrukturen, oder Schemata, beinhalten Informationen über die Art von Umständen, die bestimmte Emotionen auslösen, welche Körperempfindungen und Impulse während dieser Emotionen gespürt werden, welche Gesichtsausdrücke sie begleiten und welche äußerlichen Verhaltensweisen zumeist daraus folgen. Dieses Wissen ist notwendig bei sozialer Interaktion, wie auch im Verstehen und für die Antizipation von emotionalem Verhalten bei anderen Personen, und ist eine Voraussetzung für Mitgefühl in Theater und Film (Shaver, Schwartz, Kirson & O’Connor 1987). So wie Menschen ein Bild vom Gesicht eines Freundes im Kopf brauchen, um dessen Gesicht erkennen zu können, so brauchen sie ein Emotionsschema, um eine Emotion erkennen zu können. In diesem Sinne determinieren Emotionsschemata die Gestalt des emotionalen Erlebens. Wenn man interkulturellen Unterschieden (oder Ähnlichkeiten) im emotionalen Erleben nachgehen will, sucht man am besten nach kulturellen Emotionsschemata. Das Erleben einer Emotion ist also eine komplexe Wahrnehmung und mentale Integration von internalen und externalen Phänomenen: einschließlich eines (sozialen) Umstandes, Körperempfindungen, und Verhaltensim1 Dies ist der Fall, obwohl sich in manchen Kulturen das linguistische Etikett möglicherweise auf den externen (z. B. sozialen) Umstand bezieht, d. h. die Emotion beschreibt einen kollektiven sozialen Umstand statt ein individuelles Erlebnis (siehe White 1994). 242 Russell Deighton und Harald Traue pulsen. Emotionsschemata haben eine Schlüsselstellung für die Integration dieser Erfahrungen in subjektives Erleben. Sie dienen der Kategorisierung und Vereinfachung unserer komplexen biologischen Reaktionen auf verschiedene Umstände in unserem (sozialen) Umfeld. Sie ermöglichen es erst, komplexe biopsychosoziale Konstellationen als distinkte Emotionen zu erleben. Betrachten wir dazu ein weiteres Beispiel: Wenn ich in Deutschland jemanden beschreiben höre, wie er eine starke Abneigung gegenüber bestimmten Lebensmitteln empfindet, werde ich wahrscheinlich aufgrund von Wissen, das ich über Ekel erworben habe, das Phänomen entsprechend interpretieren, und nachempfinden können, was dieses Ekelgefühl ausmacht. Jemand aus Tahiti hingegen würde vielleicht diese Einzelheiten als ri’ari’a (Angst) interpretieren, da dieses Konzept den Antezedenten „Abneigung gegen bestimmte Lebensmittel“ (neben „momentanen Bedrohungen“) einschließt (Levy 1984). Vielleicht würde dieses Wissen sogar zu einem ganz anderen Erleben (nicht nur einer anderen Benennung) dieser Phänomene führen, wenn eine Person aus Tahiti eine entsprechende Situation selbst erleben würde. Möglicherweise wären sogar die in dieser Situation gespürten Körperempfindungen ebenfalls anders als die von einem Deutschen gespürten Empfindungen. WAS EMOTIONSLEXIKA ÜBER SCHEMATA VERRATEN Das Wissen, das wir über Emotionen erworben haben, enthält individuelle und kollektive Anteile. Unser kollektives Wissen wird unter anderem im Emotionslexikon widergespiegelt, das ein Kategorisierungssystem für Emotionen ist. Vielerlei Belege aus ethnographischen Materialien zeigen, daß die Emotionsterminologie von Kultur zu Kultur beträchtlich variiert, obwohl es weitgehende Überschneidungen zu geben scheint, die einen gemeinsamen Kern begründen (für eine Übersicht siehe Russell 1991). Dieses Verhältnis von individuellen und kollektiven Anteilen ist sowohl als Argument für universalistische als auch relativistische Sichten von Emotion herangezogen worden: Die Universalisten behaupten, vereinfacht gesagt, daß das Vorhandensein von Emotionswörtern wie Freude, Ärger und Furcht in vielen verschiedenen Sprachen das universelle Erleben dieser Emotionen widerspiegelt, während die Relativisten sich durch die Existenz von diversen Emotionsvokabularen bestätigt sehen. Ein Abwägen beider Argumentationen wird durch das nicht triviale Problem der Übersetzung oder genauer der Interpretation erschwert: Welche emotionalen Zustände und subjektiven Empfindungen werden durch Emotionswörter anderer Kulturen gekennzeichnet? Die Benutzung von Wörterbüchern, die herangezogen werden, um ins Englische, Deutsche oder eine Emotion und Kultur 243 andere Sprache zu übersetzen, führt unter Umständen zu sehr oberflächlichen Übereinstimmungen. Dieses Problem kann an Shweders (1993; 2000) Untersuchung der sthayi-bhava illustriert werden, d. h. einer Liste von neun Basisemotionen (oder mentalen Grundzuständen), die im Rasadhyaya vom Natyasastra beschrieben werden, dem sechsten Kapitel eines Werks auf Sanskrit, das von Hindu-Philosophen wahrscheinlich zwischen dem 3. und dem 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung geschrieben wurde. Shweder kommt nach vielfältigen Überlegungen zu dem Schluß, daß nur drei dieser Emotionswörter äquivalent zu englischen Emotionsbezeichnungen sogenannter Basisemotionen sind, während die anderen, trotz scheinbarer Ähnlichkeit, nicht lexikalisch gleichgesetzt werden sollten. Die mentalen Basiszustände, oder wenn man will, Basisemotionen des Rasadhyaya, für die es keine einheitliche Übersetzung gibt, sind: 1. rati: sexuelle Leidenschaft, Liebe oder Entzücktheit; 2. hasa: Amüsiertheit, Frohsinn, Humor; 3. soka: Kummer; 4. krodha: Ärger; 5. bhaya: Furcht oder Terror; 6. utsaha: Beharrlichkeit, dynamische Energie; 7. jugupsa: Ekel, Ernüchterung; 8. vismaya: Amüsiertheit, Verwunderung, Erstaunen, Verblüfftheit; und 9. sama: heitere Gemütsruhe. Shweder schreibt, daß die englischen Begriffe anger, fear und sorrow im Rasadhyaya bedeutungsgleich benutzt werden, weil sie im Hindutext weitgehend ähnlich beschrieben werden. So wird Ärger als eine Folge von provokativen Handlungen, Beleidigungen, Lügen, Gewalttätigkeit, harten Wörtern, Unterdrückung und Neid beschrieben. Er führt zu Handlungen wie Verwunden, Schlagen, Aufspalten und Zerdrücken,. Er wird mit Gesten verbunden wie Furchen der Stirn, Lippen beißen, Zähne knirschen, Backen aufblähen, sich die Hände drücken, sowie mit körperlichen Symptomen des Schwitzens und Zitterns. Andererseits verschwinden scheinbare Ähnlichkeiten mit anderen Emotionen bei näherer Betrachtung ihrer Beschreibungen. Als Beispiel nennt Shweder, daß das mittelalterliche hinduistische Wort Verwunderung nicht gleichbedeutend mit dem anglo-amerikanischen surprise ist, sondern ein mentaler Zustand ähnlich der Bewunderung beschrieben wird. Hindu habe weniger mit einer plötzlichen Verletzung der Erwartungen als mit der Möglichkeit gerechnet, göttliche himmlische, oder erhobene Handlungen, Ereignisse, oder Wesen (einschließlich der Handlungen eines Jongleurs) zu bezeugen. Es sei sogar möglich, dieses Verwundern mit geschlossenem Mund auszuführen, „so lange, die Augen weit offen sind“ (Shweder 1993, 422, eigene Übersetzung). Shweder meint weiterhin, daß der hinduistische Ekel, der Elemente von Horror, Terror, und Weltmüdigkeit hat, nicht mit dem englischen disgust verglichen werden kann. Ebenfalls scheint es unpassend, die hinduistische Amüsiertheit (hasa), die verachtungsvolles oder spöttisches Lachen über die Fehler von anderen einschließt, dem englischen happiness gleichzusetzen. 244 Russell Deighton und Harald Traue Die Schwierigkeiten, die Shweder mit der Übersetzung des Hindu in eine europäische Sprache beschreibt, finden sich auch in Sprachen anderer Kulturen. Beispielsweise fand Hiatt (1978), daß in Gidjingali, der Sprache australischer Aborigines, keine lexikalische Unterscheidung zwischen den (deutschen) Begriffen Scham und Angst gemacht wird. In Gidjingali dient das gleiche Wort (gurakadj), um beide Bedeutungen zu transportieren. Orley hat eine ähnliche Beobachtung in der Sprache Luganda der Buganda in Uganda gefunden: Hier wird keine im deutschen unverzichtbare klare lexikalische Unterscheidung zwischen den Wörtern Trauer und Ärger getroffen: Der Unterschied zwischen Ärger [anger] und Trauer [sadness] wird nicht im gleichen Ausmaß wie im Englischen betont, und es ist nicht ungewöhnlich, einen Dolmetscher zu hören, der okusunguwala (verärgert werden) als eine Übersetzung von traurig werden verwendet, er würde auch nicht das Gefühl haben, einen Fehler gemacht zu haben, wenn ihn jemand „korrigieren“ würde. Wenn man spezifisch über das Trauern oder den Abschied von Freunden redet, wird das Verb okusunguwala verwendet, aber ich habe Männer bei einer Beerdigung trauern hören, von denen gesagt wurde, daß sie basungsuwadde (verärgert) waren“ (Orley 1979, 3; zitiert in Russell 1991, 430, eigene Übersetzung). Diese Beispiele von einzelnen Worten aus der Sprache einer anderen Kultur, die jeweils den Bedeutungshorizont von zwei deutschen oder englischen Wörtern umfassen, könnten emotionale Zustände widerspiegeln, die anders als die beiden emotionalen Zustände sind, die in den europäischen Sprachen getrennt werden, oder es existieren unterschiedliche emotionale Zustände, beispielsweise Trauer und Ärger, die aber in der Terminologie nur durch den Kontext unterschieden werden können. Es könnte sein, daß die Buganda einen Unterschied zwischen Ärger und Trauer konzipieren können, ihre lexikalische Austauschbarkeit aber als Indiz dafür gewertet werden kann, daß die dazu gehörenden Emotionsschemata andere sind als in den entsprechenden europäischen Sprachen. Die Antezedenten in den Schemata für den deutschen Ärger (Unrecht angetan, die Verhinderung der Erreichung eines Ziels) und die deutsche Trauer (Verlust, Machtlosigkeit) scheinen sich in den Schemata der Buganda zu überschneiden. Andere Elemente überschneiden sich eventuell auch, wenn beispielsweise Körperempfindungen oder typische Handlungskonsequenzen beschrieben werden. Es sind auch Emotionswörter aus anderen Kulturen bekannt, die Zustände differenzieren, die auf deutsch oder englisch mit demselben Begriff bezeichnet werden. So differenzieren die Tahitianer zwischen ri’ari’a, Angst vor einem momentanen Umstand, z. B. „Angst haben, weil der Hund mich gerade beißt“ und mata’u, antizipierte Angst vor einem Umstand, z. B. „Angst haben, daß der Hund mich beißen könnte“ (Levy 1984). Emotion und Kultur 245 Das japanische Wort oime bezieht sich auf einen emotionalen Zustand, wenn man einem anderen Menschen etwas schuldig ist, sich ihm verpflichtet fühlt. Obwohl es im Deutschen kein Emotionswort gibt, das dieser Emotion entspricht, können Deutschsprachige wahrscheinlich etwas Ähnliches wie diese Emotion fühlen, auch wenn sie es vermutlich nicht so oft tun wie Japaner. Daß es im Japanischen ein elaborierteres Schema oder Modell für diese Emotion gibt, spiegelt die Notwendigkeit dieses Gefühls in der japanischen Kultur des Zusammenlebens wider. Das japanische Wort oime würde von Levy vermutlich als hyperkognitisiert beschrieben.2 Levy bezeichnete nämlich das Wort für Ärger in Tahitisch (riri) als hyperkognitisiert, da 46 verschiedene Wörter für Ärger in Tahitisch bestehen, ähnlich wie im Deutschen Ärger mit verschieden Wörtern wie Wut, Rage, genervt sein, böse sein und sauer sein umschrieben werden kann. Er klassifizierte hingegen Trauer in Tahitisch als hypokognitisiert, da er kein Konzept für Trauer in dieser Sprache fand. Er berichtete, daß Menschen, die er als traurig beschrieben hätte, auf tahitisch in Begriffen mit der Bedeutung von sich krank, besorgt, oder ermüdet fühlen beschrieben wurden. Wierzbicka (1992), eine anthropologische Linguistin, die sich auf die Sprache der Emotionen spezialisiert hat, behauptet, daß Trauer, wie sie in europäischer und angloamerikanischer Kultur konzeptualisiert ist, in den meisten Sprachen der Welt weder lexikalisiert noch salient vorkommt. Auch wenn dies nicht bedeutet, daß Menschen dieser Sprachen das Gefühl der Trauer nicht empfinden können, so unterscheidet sich das Schema, das Europäer bei Trauer aktivieren, erheblich vom entsprechenden Schema in den anderen Kulturen. Es ist denkbar, daß sich die europäische Tradition des individuellen Privatbesitzes an Sachen und Personen, das ständig von Verlust bedroht ist (und immer auch verloren wird), in der Ausweitung des Emotionsschemas für Trauer auswirkt. Es ist paradox: Die individuelle Aneignung steht womöglich im Interesse der Vermeidung von Verlust und damit von Trauer, schafft aber gleichzeitig Bedingungen, die Verlusterleben wahrscheinlich machen. Wenn eine Emotion von einem elaborierten Schema repräsentiert ist, lohnt es sich, das System der gesellschaftlichen Normen und Werte dieser Kultur unter die Lupe zu nehmen. Die japanische Sprache umfaßt neben dem beschriebenen oime viele Emotionswörter, die sensibel die komplexe soziale Umwelt abbilden: beispielsweise amae, die hoffnungsvolle Erwartung der Gunst eines anderen; tanomi, das Gefühl, sich auf jemanden verlassen zu wollen; sugari, das Gefühl, sich an jemanden anlehnen zu wollen. Wahrscheinlich sind diese Arten von Emotionen im Japanischen hyperkogniti2 Wir nehmen hier möglicherweise einen ethnozentrischen Standpunkt ein, wenn wir die japanische Version als hyperkognitisiert betrachten, statt die westliche Denkweise als hypokognitisiert zu bezeichnen. Tatsächlich ist aber hyper- und hypokognitisiert hier als relativer Unterschied gemeint und nicht als Wertung. 246 Russell Deighton und Harald Traue siert, weil die sensible Aufmerksamkeit der sozialen Umwelt gegenüber ein wichtiger Aspekt der japanischen Kultur ist. Die Schemata für diese Emotionen enthalten Elemente (z. B. typische Antezedenten), die diese Empfindsamkeit reflektieren. Demzufolge würde die Aktivierung von entsprechenden Überzeugungen (möglicherweise etwas wie „ich brauche ihre/seine Gunst sehr“ für amae), die kulturellen Merkmale der sozialen Systems widerspiegeln. Sozialkonstruktivisten sehen Überzeugungen über antezedente Ereignisse von Emotionen und das emotionale Erleben als unentwirrbar miteinander verstrickt an. Zum Beispiel wird Ärger oft mit der sozialen Beurteilung verbunden, daß einem Unrecht getan worden ist. Also ist ein integraler Teil des Ärger-Erlebens die Wahrnehmung, daß man jemandem etwas angetan hat. In anderen Kulturen (z. B. im Mittleren Osten) spielt wahrscheinlich die Idee von verletzter Ehre eine wichtigere Rolle in der Emotion, die dem Ärger entspricht. Wie eine Überzeugung von den in einem Emotionsschema enthaltenen Antezedenten abgeleitet wird, illustriert ein anderes Beispiel: Die Situation „Jemand anders genießt die Nähe eines Menschen, auf dessen Nähe ich Anspruch habe“ ist ein Antezedent für Eifersucht. Ob ich eifersüchtig bin oder nicht, hängt von der Überzeugung ab, ob diese von einem anderen in Anspruch genommene Nähe eigentlich mir zusteht oder nicht. Sobald ich aufhöre, dies zu glauben, verschwindet die Eifersucht. Oft kommen solche Überzeugungen aus dem Bereich der Moral, sind also Teil des gesellschaftlichen (oder persönlichen) Systems von Normen und Maßstäben, die als solche nicht nur gedacht, sondern auch gefühlt werden. Das erklärt das Gefühl, daß uns jemand Unrecht getan hat, wenn wir verärgert sind – meist geht es mit dem Wunsch einher, daß dies die andere Person erkennt. White (1994) zieht aus seinen Analysen der semantischen Dimensionen von Emotionen die Schlußfolgerung: [D]ie Existenz einer starken bewertenden Dimension in Emotionslexika reflektiert die Tatsache, daß Emotionswörter moralisches Gewicht tragen. Sie sind nicht einfach neutrale Beschreibungen von Umständen, sondern sie sagen etwas über die Wahrnehmung des Subjekts im Hinblick auf Bewertungen aus, was gut oder schlecht, recht oder unrecht, wünschenswert oder unerwünscht ist. [...] Emotionskonzepte besetzen eine strategische, vermittelnde Position in logischen Ketten, die soziale Ereignisse mit Zielen, Wünschen, und Handlungen verknüpfen. [...] Sich so oder so zu fühlen, bedeutet, sich zu einer spezifischen Art der Bewertung von früheren Ereignissen und einer bestimmten Art kulturell definierter Reaktion zu bekennen. Emotionen stellen in anderen Worten eine moralische Rhetorik dar, die Beschreibungen der Welt und Empfehlungen, wie man darin handelt, umfaßt (1994, 224-225, 228; eigene Übersetzung). Emotion und Kultur 247 Shweder (1994) sieht den Bereich des Moralischen als eine der drei kausalen Sphären an, mit denen das individuell körperliche Erleben an Kulturelles anbindet, mit diesem in Wechselwirkung tritt oder aus dessen Perspektive interpretiert wird. Die drei kausalen Sphären sind: (1) Theorien der Krankheit (eine biochemische Theorie), (2) Theorien der Verhexung (eine zwischenmenschliche Theorie) und (3) Theorien des Leidens (eine moralische Theorie), wobei die offizielle zeitgenössische abendländische Kultur die zwei letzteren Sphären zu einer allgemeinen Theorie von psychologischen Ursachen zusammengeschlossen hat. Dazu gehören auch Theorien über Emotionen. Folgt man dieser Argumentation, so kann es kein universelles Konzept der Emotion geben, so wenig wie es ein universelles Konzept der Kultur geben kann; allenfalls wäre dies nur in einer so abstrakten Form möglich, daß Aussagen über kulturelle Unterschiede kaum zu treffen sind (Russell 1991). Da in einigen Kulturen kein einzelnes Wort für Emotion verwendet wird, sind in deren Sprachen die Grenzen zwischen dem, was im Deutschen als Emotion, Körperempfindung und Gedanke streng unterschieden wird, verschwommen. Zum Beispiel haben die Samoaner ein Wort, das Gefühle und Empfindungen beschreibt (Gerber 1975, zitiert in Russell 1991), und die Chewong von Malaysia machen keinen konzeptuellen Unterschied zwischen Gedanken und Gefühlen; die beide aus der Leber stammten (Howell 1981). Shweder (1994) erwähnt, daß in den meisten Sprachen ein reicher Wortschatz für die Beschreibung des Somatischen in emotionalen und nichtemotionalen Begriffen existiert. Er führt als Beispiel „Übelkeit“ an,3 ein Wort, das in nicht-emotionaler Weise ein somatisches Erleben beschreibt und bezüglich der Ursache neutral ist. Ekel ist dagegen die emotionalisierte Form von Übelkeit, da sie eine Wahrnehmung (das, was es verursacht) und einen Plan (Distanzierung, Vermeidung) impliziert. Emotionen als eine Sphäre des somatischen Erlebens anzusehen, legt die Frage nahe, inwiefern die Schemata für Körperempfindungen von Kultur zu Kultur variieren. Ferner ist zu fragen, ob es möglich ist, daß diese einen Einfluß auf das emotionale Erleben und vielleicht sogar auf die biologischen Prozesse haben, auf denen sie basieren. Diesen Fragen werden wir im folgenden Abschnitt nachgehen. 3 Shweder illustriert seine These an dem englischen Wortpaar „nausea“ (Übelkeit) und „disgust“ (Ekel), die beide gut ins Deutsche übersetzt werden können. 248 Russell Deighton und Harald Traue SCHEMATA FÜR EMOTIONSBEZOGENE KÖRPEREMPFINDUNGEN Emotionsschemata und Emotionen stehen in rekursiver Beziehung zueinander und beeinflussen sich somit gegenseitig. Das ist nachvollziehbar, wenn wir uns vorstellen, was während des subjektiven Erlebens einer Emotion an wahrnehmbaren körperlichen Reaktionen stattfindet, und daß diese Reaktionen in das emotionale Wissen integriert werden. Umgekehrt kann man sich auch vorstellen, daß während des subjektiven Erlebens einer Emotion diejenigen Verhaltensweisen, Empfindungen und Kognitionen aktiviert werden, die im relevanten Emotionsschema beschrieben oder enthalten sind. Ein wichtiger Teil des emotionalen Verhaltens ist die physiologische Aktivität, die wir als Körperempfindungen wahrnehmen und in unsere Emotionsschemata integrieren. So wie die Emotion und das Emotionsschema gegenseitiger Beeinflussung unterliegen, finden auch Wechselwirkungsprozesse zwischen physiologischer Aktivität und den Schemata für Körperempfindungen statt. Die Körperempfindungen, die zu einem Emotionsschema gehören, entstehen unmittelbar durch die physiologischen Prozesse des emotionalen Verhaltens: Menschen machen bestimmte emotionale Erfahrungen und integrieren die erlebten Körpervorgänge in ihr emotionales Wissen. Interessanter ist der umgekehrte Vorgang, demzufolge Emotionsschemata auch biologische Prozesse beeinflussen können. Für diese Einflußrichtung ist der Placeboeffekt ein einleuchtendes Beispiel: Erwartungen beeinflussen biologische Prozesse. Indem Emotionsschemata eine Schablone für die Körperempfindungen während einer Emotion liefern, induzieren sie zwangsläufig auch Erwartungen über psychophysiologische Reaktionen und Veränderungen. Unabhängig vom Placebophänomen hat Pennebaker (1982) in einer Reihe von Experimenten über kognitive Einflüsse auf Körperempfindungen gezeigt, daß Erwartungen im Hinblick auf körperliche Reaktionen die Art und Weise verändern können, mit der physiologische Veränderungen wahrgenommen werden. Ein experimentelles Beispiel soll das erläutern: Die subjektiv empfundene Fingertemperatur wurde durch eine induzierte Erwartung über die Effekte eines (fiktiven) Ultraschallgeräusches variiert: Obwohl die Fingertemperatur als Funktion der experimentellen Bedingung (erwartete Zu- oder Abnahme der Fingertemperatur) nicht variierte und auch nicht mit der subjektiven Fingertemperatur korrelierte, war die Korrelation zwischen der empfundenen Fingertemperatur und der Anzahl der Schwankungen der Fingertemperatur in der Zunahme-Gruppe positiv und in der Abnahme-Gruppe negativ. Das kann am elegantesten dadurch erklärt werden, daß die empfundenen Temperaturveränderungen als Zu- oder Abnahme interpretiert wurden, je nachdem, welche Erwartung bei den Versuchspersonen induziert wurde. Emotion und Kultur 249 In einer anderen Studie von Pennebaker (1982) mit Studenten, die mehrere Tage lang Strichlisten über Emotionen und ihre begleitenden Körperempfindungen schreiben mußten, zeigte sich eine starke intra-individuelle Stabilität über die Zeit in den Körperempfindungen, die mit bestimmten Emotionen verbunden sind. Dies interpretierte Pennebaker als einen Beleg dafür, daß Körperempfindungen in Emotionsschemata organisiert sind, die mehr sind als die Summe ihrer Teile. Das bedeutet, daß wir dazu neigen, physiologische Aktivitäten nicht als einzelne unabhängige Empfindungen wahrzunehmen, sondern als Konstellationen von Empfindungen, die wir schon kennen, und die in Konzepte wie Müdigkeit, Erkältung oder Emotion integriert sind. In einer anderen Studie, in der Studenten aufgefordert wurden, Emotions-Empfindungs-Strichlisten zu schreiben, wurde ein gewisses Maß an inter-individueller Stabilität in den emotionsspezifischen Körperempfindungen entdeckt. Das lieferte Belege dafür, daß die Körperempfindungselemente von Emotionsschemata, zumindest bis zu einem gewissen Grad, kollektiv sind. Auch in anderen Studien, die mit subjektiven Schilderungen über Emotionen gearbeitet haben, wurden differenzierte und kollektive Muster von Körperempfindungen für distinkte Emotionen gefunden (Shields 1984; Nieuwenhuyse, Offenberg & Frijda 1987; Rimé, Philippot & Cisamolo 1990; Deighton, Paez, Fernandez & Traue, in Vorbereitung). Was bedeutet die Existenz dieser Schemata? Zum einen bedeutet es, daß Erwartungen eine Rolle in der Wahrnehmung von Körperempfindungen im Kontext von Emotion spielen. Erwartungen können Schemata auslösen und Schemata lösen Erwartungen aus. Also würde es ausreichen, lediglich ein paar Empfindungen zu spüren, um ein ganzes Syndrom (oder Schema) wahrzunehmen. Das ist wahrscheinlich ähnlich dem Betrachten einer Karikatur eines Politikergesichtes: Wir müssen lediglich ein paar Linien sehen, die die wichtigsten Gesichtszüge des Politikers betonen, um ihn zu erkennen, das heißt, um sein Schema zu aktivieren. Auf die gleiche Art müssen wir lediglich die physiologische Veränderung registrieren, die grob zum Schema einer bestimmten Emotion paßt, um (körperlich) die ganze Emotion zu spüren. So gesehen kann das Spüren von emotionsbezogenen Körperempfindungen als ein unscharfer (fuzzy) Mustererkennungsprozeß gesehen werden, der eine erste Näherung an die vollständige emotionale komplexe Gestalt erlaubt. Das Vermögen von Emotionsschemata, die somatische Wahrnehmung zu steuern oder unter Umständen zu verzerren, wurde in einer Studie von Rimé et al. (1990) untersucht. Die Autoren fanden ähnliche Profile von Körperempfindungen für verschiedene Emotionen, wenn Versuchspersonen auf die eigene Person bezogene (Selbstberichte) und vergleichend dazu stereotypische Berichte emotionalen Erlebens lieferten (bezogen auf einen Vergleich der Gruppenprofile). Das war der Fall, obwohl den Versuchspersonen in der Selbstbericht-Bedingung extra mehr Zeit zugeteilt wurde, um ihr episodisches Gedächtnis in einem offenen Interview 250 Russell Deighton und Harald Traue vor dem Ausfüllen der Empfindungs-Strichliste zu aktivieren (im Gegensatz zu Versuchspersonen in der stereotypischen Bedingung, die ihr semantisches Gedächtnis hätten aktivieren müssen). Die stereotypischen Berichte waren Beschreibungen dessen, was die Probanden als typisch für eine bestimmte Emotion ansehen. Wenn Versuchspersonen über Körperempfindungen einer tatsächlichen emotionalen Episode berichten, berichten sie also in Wirklichkeit kollektive Stereotypen der Emotion, auch wenn sie überzeugt sind, daß sie von einem konkreten emotionalen Ereignis berichten. Alternativ könnte man noch annehmen, daß Emotionsberichte eng mit der wirklichen physiologischen Aktivität während der Emotion verwandt sind. Diese Möglichkeit soll als nächstes betrachtet werden. WIE WERDEN KÖRPEREMPFINDUNGEN IN EMOTIONSSCHEMATA INTEGRIERT ? Es wurden im wesentlichen Hypothesen bezüglich der Quelle des kollektiven Wissens über Emotionen formuliert: (1) (2) Emotionswissen wird aus verallgemeinerten persönlichen Erfahrungen abgeleitet, die in einer näher zu beschreibenden Weise die objektive Realität von subjektiven emotionalen Ereignissen reflektieren. Emotionswissen ist sozial konstruiert und wird im Laufe der Zeit durch wiederholte soziale Interaktionen gebildet. Diese Hypothese impliziert, daß kollektive Stereotypen emotionalen Erlebens existieren. Die erste Hypothese ist dem Positivismus, die zweite einem sozial konstruktivistischen Denkmodell zuzuordnen. Beide Hypothesen könnten auf Emotionsschemata im allgemeinen angewandt werden, aber hier werden wir sie auf Schemata für Körperempfindungen beziehen. Bernard Rimé und seine Mitarbeiter haben als erste diese beiden Hypothesen herausgearbeitet, indem sie im Hinblick auf Emotionen die Idee von Skripten mit der Idee von Prototypen kontrastiert haben (Rimé et al. 1990). Für die Überprüfung der ersten Hypothese ist das Konzept des PROTOTYPS nützlich. Im wesentlichen ist ein Prototyp ein generalisiertes kognitives Schema, das verwendet wird, um konkret Erfahrbares (die Dinge der Welt) zu kategorisieren. Nach Rosch (1976) spiegelt prototypisches Wissen die tatsächliche (wahre) Struktur der Welt wider. Ein Emotionsprototyp für Körperempfindungen würde folglich die wahre komplexe biologische Aktivität widerspiegeln, die ein Individuum während einer Emotion in seinem Organismus durchlebt. Emotion und Kultur 251 Da kein einzelner emotionaler Zustand jemals genau dem anderen gleicht, ist ein emotionaler Prototyp die Repräsentation einer Emotion, die das Gemeinsame einer Gruppe von verwandten Emotionen darstellt. Der Prototyp Ärger könnte zum Beispiel durch Nachdenken über eine Situation aktiviert werden, deren Inhalt ein Unrecht ist, das jemandem angetan wird und während dessen ein bestimmtes autonomes Aktivationsmuster entsteht (z. B. Zunahme der Herzrate, hoher Muskeltonus usw.). Ein anderes Beispiel wäre ein im falschen Moment abgestürztes Computerprogramm, das möglicherweise eine schwächere Reaktion bewirkt. In diesem Fall kann kaum die Rede davon sein, daß der Computer Urheber eines Unrechts sei, sondern eher davon, daß die eigenen Pläne verhindert worden sind. Trotzdem wird aufgrund der Ähnlichkeit des Antezedenten und der Reaktion wahrscheinlich der gleiche Prototyp, nämlich Ärger, aktiviert. Der Prototyp bestimmt die Grenzen seiner Klasse (z. B. wenn die Bedingung nicht mehr als Ärger klassifiziert werden kann, sondern in eine andere Gruppe gehört, beispielsweise Verzweiflung). Die Grenzen zwischen den Prototypen sind nicht eindeutig definiert, sondern folgen einer Fuzzy-Logik der Zugehörigkeit. Die Prototypentheorie, angewandt auf Emotionen, hat also zwei Aspekte: Sie beschreibt, wie wir verschiedene emotionale Zustände kategorisieren und wie wir einer Emotion bestimmte Eigenschaften zuordnen. Um die zweite Hypothese zu verfolgen, muß man auf das Konzept des SKRIPTS zurückgreifen. Die Essenz dieses Konzepts ist eine Wissensstruktur, die ein Handlungssequenz repräsentiert. In der Emotionstheorie ist das Konzept des Skripts unterschiedlich definiert worden.4 In diesem Kapitel wenden wir eine Definition an, wie sie Averill (1980) und Shweder (1994) verwenden. Definiert man ein Skript als eine narrative Struktur (Shweder 1994), dann benutzt man eine lineare Konzeption aus Emotionsantezedenten am Anfang, einem Mittelteil (z. B. Körperempfindungen, Handlungsimpulse) und einer Endstrecke (soziales Verhalten und seine Konsequenzen). Dieser Ablauf kennzeichnet den Modus des Erwerbs von Emotionsskripten: sie werden durch das gesprochene Wort in der Form von emotionalisierenden Geschichten übertragen. Rimé und Mitarbeiter haben in einer Reihe von beeindruckenden Untersuchungen gezeigt, daß Personen, die eine emotionale Erfahrung machen, das Bedürfnis haben, anderen Personen davon zu erzählen. 90% der westeuropäischen Probanden einer solchen Studie berichteten von sich, zumindest einer anderen Person ihr emotionales Erlebnis erzählt zu haben, meistens noch am selben Tag. 20% der Versuchspersonen erzählten ihre emotionalisierenden Geschichten mehreren Personen mehrere Male. Es ist nicht ungewöhnlich, daß die Person, der die Geschichte erzählt wird, dadurch selbst 4 Zum Beispiel von Fehr & Russell (1984), Lakoff (1987), Sabini & Silver (1982), Shaver et al. (1987), Markus & Kitayama (1994) und Russell (1991). 252 Russell Deighton und Harald Traue so emotionalisiert wird, daß sie sich einer dritten Person anvertraut. Dieses Weitererzählen emotionaler Erfahrungen könnte der Mechanismus sein, über den ein Emotionsskript entwickelt und kollektiv beibehalten wird: Man lernt, welche Empfindungen, Impulse, und Ausdrucksweisen zu erwarten sind, was normativ ist, und mit welchen typischen sozialen Konsequenzen eine Person rechnen muß (Christophe & Rimé 1996; Rimé, Mesquita, Philippot & Boca 1991). Kulturell konstruierte Informationen über Emotionen können auch in Form von Metaphern gespeichert und übertragen werden. Kövecses (2000) hat englische Ausdrücke mit emotionalen Metaphern hinsichtlich des darin enthaltenen kulturellen Wissens semantisch analysiert. Einige Beispiele solcher Ausdrücke, für die es auch äquivalente deutsche Ausdrücke gibt, sollen hier erörtert werden: Im Ausdruck he exploded with anger wird Ärger mit einer gewaltigen chemischen Reaktion verglichen und nebenbei Information über Handlungstendenzen bei Ärger geliefert. Ein anderes Beispiel wäre der Ausdruck he’s crazy about you (er ist verrückt nach Dir), in dem Verliebtheit mit geistiger Krankheit oder Kontrollverlust gleichgesetzt wird. Interessanterweise beinhalten viele dieser emotionsbezogenen Ausdrücke Informationen über Körperempfindungen wie diese englischen Metaphern für Verliebtheit: she took my breath away, he’s a heart throb, und she makes me weak at the knees. Zwei deutsche Beispiel für Ärger sind: ich habe einen dicken Hals bekommen,5 was auf Druckempfindungen im Hals Bezug nimmt, und ich habe vor Wut gekocht, was sich auf Temperaturempfindungen bezieht. Solche Metaphern werden häufig in Geschichten über emotionale Episoden weitergegeben. Obwohl ein Skript eine lineare Struktur hat und deshalb Prozesse beschreibt, die im Gegensatz zu einem Prototypen mit eher statischen Merkmalen ausgestattet sind, bietet es (genauso wie der Prototyp) eine Möglichkeit für Personen, die einzelnen Komponenten emotionalen Erlebens (einschließlich der Körperempfindungen) zu lernen. Im Gegensatz zum Prototypen ist die Information, die man durch das Skript lernt, nicht verallgemeinertes Wissen über die physiologische Aktivität des eigenen Körpers, sondern eine kollektiv gespeicherte Geschichte, d. h. es ist sozial konstruiert. Rimé et al. (1990) haben gezeigt, daß keine der beiden Hypothesen ohne innere Widersprüche ist. Die Prototypenhypothese hat zwei Probleme: Erstens bestehen nur schwache Belege für emotionsspezifische und meßbare physiologische Reaktionsspezifitäten (vgl. Levenson 1994 und Traue 1998), und zweitens gibt es viele Belege dafür, daß Menschen ihre peripherphysiologische Aktivität meist nicht sehr akkurat interozeptiv wahrnehmen (siehe Rimé et al. 1990 für eine Zusammenfassung). Andererseits könnte man argumentieren, daß die Entwicklung eines Prototypen eher bei intensiven 5 Das ist sogar eine Metapher für eine Art von Ärger, die unterdrückt wird und nicht ausgedrückt werden kann. Emotion und Kultur 253 Emotionen stattfindet, die besser interozeptiv wahrgenommen werden können, und die im Labor empirisch experimentell nicht getestet wurden. Die zweite Hypothese, nach der Emotionsschemata sozial konstruierte Skripte sind, ist ebenfalls mit Problemen behaftet: Wenn über Skripts emotionalisierende Geschichten zwischen Personen übertragen werden, würde man erwarten, daß in interkulturellen Studien unterschiedliche Muster von subjektiv berichteten Körperempfindungen festgestellt würden. Das ist aber nicht der Fall. In manchen interkulturellen Studien sind sogar bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen physiologischen Mustern für bestimmte Emotionen festgestellt worden (in anderen Studien aber auch Unterschiede). Diese Studien sind in den nächsten Absätzen zusammengefaßt. Die Studien, die subjektive Berichte von emotionsspezifischen Körperempfindungen interkulturell untersucht haben, fanden interkulturelle Ähnlichkeiten und Unterschiede. Rimé & Giovanni (1986), die diese Frage in mehreren nordund südeuropäischen Ländern und Israel gestellt haben, fanden viele interkulturelle Ähnlichkeiten in den Mustern von Körperempfindungen für Ärger, Freude und Angst. Trauer unterschied sich zwischen nord- und südeuropäischen Ländern nur wenig. In einer Studie von Scherer et al. (1988) wurde ein Fragebogen mit offenem Antwortschema mit amerikanischen, europäischen und japanischen Studenten durchgeführt. Die amerikanischen und europäischen Studenten hatten sehr ähnliche Muster von Körperempfindungen, während die japanische Stichprobe im Vergleich mit den anderen zwei Gruppen unterschiedliche Muster zeigte. Generell machten die Japaner jedoch weniger Angaben über das Auftreten von Körperempfindungen. In einer weiteren Studie wurden Studenten aus 27 Ländern aufgefordert, über diejenigen Körperempfindungen zu berichten, die Ärger, Angst, Freude, Trauer, Ekel, Scham, und Schuld begleiten (Scherer & Wallbott 1988). Die Varianz in den Antworten aufgrund von Emotionsqualitäten war größer als die Varianz aufgrund von Landeszugehörigkeit. Zwei Empfindungen (Wärme und entspannte Muskeln) zeigten sehr wenig interkulturelle Varianz. Für die anderen acht Körperempfindungen war die Varianz aufgrund von Kultur ungefähr halb so groß wie die Emotionsvarianz. Deighton, Fernandez, Paez & Traue (in Vorbereitung) verglichen an Personen aus 30 Ländern subjektive Muster von Körperempfindungen für Ärger, Trauer, und Freude. Die Autoren kamen zu dem Schluss, daß es einen mainstream von ähnlichen Empfindungsprofilen in vielen Ländern gibt (oft von Ländern, die kulturell oder geographisch verwandt sind). Gleichzeitig aber zeigten die Profile bestimmter Länder wenig Ähnlichkeit mit jenen der restlichen Länder. Im besonderen gilt dies für die Trauer (siehe Abb. 1). Wenn sich die Probanden an Stelle einer tatsächlich erlebten emotionalen Episode eine für ihr Land typische emotionale Reaktion vorstellten, ergaben Russell Deighton und Harald Traue 254 die Daten ein ganz ähnliches Bild. Dies kann als Hinweis auf Profile kollektiven emotionalen Wissens interpretiert werden. Ähnliche Profile 110 105 100 95 90 85 80 Mexiko Argentina Portugal Errötern Kloß i.H. Kälte Hitze Atmung Entps. Spannung Magen Herz Spanien Unterschiedliche Profile 110 105 100 95 90 85 80 Frankreich China Libanon Errötern Kloß i.H. Kälte Hitze Atmung Entps. Spannung Magen Herz Ghana ABBILDUNG 1. Profile der Körperempfindungen bei Trauer in jeweils vier ausgewählten Ländern, aus Deighton et al. (in Vorbereitung). Die Skalierung der y-Achse entspricht dem Landesdurchschnitt der ipsativen Scores. Der ipsative Score ist ein normierter Wert, der nicht für die Gesamtstichprobe, sondern für jede Versuchsperson über alle Antworten mit einem Mittelwert von 100 und einer Standardabweichung von 10 berechnet wird. Entsp. = Entspannung; Kloß i. H. = Kloß im Hals. Emotion und Kultur 255 Ähnlichkeiten im Muster subjektiver Körperempfindungen für Emotion zu finden, ist insofern bemerkenswert, als es sich im Labor als sehr schwierig erweist, emotionale Reaktionsspezifitäten objektiv nachzuweisen (siehe Levenson 1994). Die allgemeinen Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Kulturen unterstützen beide Hypothesen auf verschiedene Weise. Die Ähnlichkeiten passen eher zur Prototypenhypothese, während die Unterschiede besser dem Konzept des Skripts zuzuordnen sind. Rimé et al. (1990) haben vorgeschlagen, daß beide Modelle gemeinsam geeignet sind, sowohl den sozial konstruierten Anteil als auch den Anteil zu beschreiben, der die objektive biologische Realität abbildet. Wenn die subjektiven Muster von Körperempfindungen interkulturell unterschiedlich sind, stellt sich die Frage, ob diese interkulturelle Variation willkürlich ist oder auf spezifische kulturelle Phänomene zurückgeführt werden kann. Solche interkulturellen Unterschiede in den Schemata der Körperempfindungen wurden von Scherer et al. (1988) im Vergleich von japanischen und amerikanischen Studenten festgestellt. Wenn es kulturelle Phänomene gibt, die für solche Unterschiede verantwortlich sind, ist außerdem fraglich, ob diese Phänomene auch adäquat gemessen werden können. Als Phänomene solcher Art kommen die kulturellen Syndrome Individualismus und Kollektivismus in Frage. INDIVIDUALISMUS-KOLLEKTIVISMUS, SUBJEKTIVE KÖRPEREMPFINDUNGEN UND SOMATISIERUNG Individualismus beschreibt ein kulturelles Syndrom, in dem das kognitive, emotionale, und behaviorale Leben innerhalb einer Kultur durch die Grundmotive Getrenntheit, Einzigartigkeit und individuelle Divergenz gekennzeichnet ist. Im Kollektivismus ist das Leben durch die Grundmotive Harmonie, Konformität und Zusammenhalt charakterisiert. Individualismus wird eher mit den meisten westeuropäischen Ländern, Nordamerika und Australien assoziiert, während viele asiatische, afrikanische und südamerikanische Länder als kollektivistisch klassifiziert werden können. Individualismus gilt auch als Kennzeichen der industrialisierten Länder. In einer aktuellen Studie mit über 5000 Probanden aus 30 Ländern haben wir die Beziehungen zwischen Individualismus-Kollektivismus und verschiedenen Parametern des subjektiven körperlichen Erlebens von Emotion untersucht (Deighton, Fernandez, Paez, & Traue, in Vorbereitung). Bei Beschreibungen persönlicher emotionaler Phänomene korrelierten Körperempfindungen mit bestimmten kulturellen Merkmalen. Temperaturempfin- 256 Russell Deighton und Harald Traue dungen und allgemeine Erregtheit bei niedriger Expressivität waren in Ländern mit hoher individualistischer Zielorientierung intensiver.6 Daß emotionale Körperempfindungsschemata von Kulturvariablen beeinflußt werden, ist soweit gesichert. Das wirft aber auch einige Fragen auf: Wie kommt dieser Einfluß zustande? Ist es möglich, daß bestimmte kulturspezifische soziale Stressoren bestimmte physiologische Veränderungen verursachen, die zu einem unterschiedlichem Muster von Empfindungen führen? Kollektivistischer Streß könnte aus dem Druck heraus entstehen, sich konform verhalten zu müssen, während individualistischer Streß aus einem Mangel an sozialer Unterstützung und großer Konkurrenz herrühren könnte. Interessanterweise zeigten Länder mit starker Temperaturempfindung bei niedriger Expressivität (für Trauer und Ärger), die mit individualistischer Zielorientierung assoziiert werden können, im allgemeinen mehr emotionale Hemmung. Die empirische Literatur über emotionale Hemmung belegt eindrucksvoll, wie emotionale Hemmung oder niedrige Expressivität zu physiologischer Erregung und nachfolgend zu Krankheiten führen kann (siehe Traue, 1998). Körperempfindungen, die mit niedriger Expressivität und hoher Hemmung und auch mit bestimmten Kulturvariablen korrelieren, könnten also auf physiologische Veränderungen wegen kulturell induzierter Hemmung zurückzuführen sein. Temperaturempfindungen korrelierten außerdem mit niedrigem subjektiven Streßniveau. Das ist ebenfalls ein Effekt, der in der Literatur über emotionale Hemmung bei Individuen bekannt ist: Emotional gehemmte Menschen neigen dazu, den subjektiv erlebten Streß zu unterschätzen. Insgesamt fanden wir charakteristische Muster in den Berichten subjektiv erlebter Emotionen, in denen Selbstbeschreibungen von gehemmter emotionaler Expressivität mit dem kulturellen Merkmal des Kollektivismus korrelieren. Dieser Zusammenhang bestand auch, wenn die Probanden über stereotypische emotionale Episoden sprachen. Man kann demnach annehmen, daß emotionale expressive Hemmung im kollektiven Emotionsschema repräsentiert ist und Personen, bei denen dieses Emotionsschema dominiert, ihre Emotionen eher körperlich zum Ausdruck bringen. Unser Befund, daß bekannte Muster gehemmter emotionaler Verarbeitung in Schemata abgebildet werden, stützt die Prototypenhypothese, da wahrscheinlich biologi6 Paradoxerweise werden die Länder mit individualistischer Zielorientierung in dieser Studentenstichprobe im allgemeinen als kollektivistische Länder betrachtet. Es wurde sogar eine negative Korrelation zwischen unseren Maßen des Individualismus und dem von Hofstede (1981), der meistens als Standard betrachtet wird, gefunden. Wir interpretieren dies als Hinweis dafür, daß der Studentenstatus in kollektivistischen Ländern, die oft weniger industrialisiert sind, dazu führen kann, daß man extrem individualistische Einstellungen annimmt. Emotion und Kultur 257 sche Prozesse zugrunde liegen. Man kann sich weiter in der Auffassung bestätigt sehen, daß emotionale Hemmung aus kulturellen Regeln abgeleitet wird. Das hat weit reichende Konsequenzen, weil das Körpererleben selbst davon beeinflußt sein kann: Starke negative Emotionen führen dann weniger zu einem direkten Ausdruck, sondern zum Erleben körperlichen Leidens, ein Phänomen, das in der klinischen Literatur als Somatisierung bezeichnet wird. Der Zusammenhang zwischen Kollektivismus und Somatisierung wird auch in früheren Untersuchungen bei spanischsprachigen Menschen (Angel & Guarnaccia, 1986) und Chinesen (Kleinman, 1986) behauptet, die beide zu den kollektivistischen Kulturen gezählt werden. Kleinman (1986) nimmt an, daß die Somatisierung emotionalen Leidens (starke negative Emotionen) ein Produkt der traditionelleren Kulturen der Welt ist, die überwiegend in agrarischen und ärmeren Ländern beheimatet ist, während in den industrialisierten Ländern eine Tendenz zur Psychologisierung des Leidens stattfindet. Abschließend soll dies am Beispiel der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) erläutert werden, weil die Verarbeitung extremer Emotionen, überwiegend der Angst, als Extremfall angenommen werden kann, der kulturelle Muster verstärkt hervortreten läßt. Eine Gruppe geflüchteter Frauen mit der Diagnose PTBS aus El Salvador berichten folgendes: El calor (die Hitze) ist das Erleben einer intensiven Hitze, die sich rasch über den ganzen Körper ausbreiten kann. Sie kommt aus dem Kopf, dem Gesicht, den Ohren, der Nase und dem Mund sowie aus dem Geschmack oder der Atmung und strahlt in den Nacken, den Rücken, die Beine, den Bauch, die Brust und die Hände aus. Solche Körperstellen werden oft als Zentren von el calor beschrieben. Obwohl el calor im Körper stattfindet, dringt sie von außen ein. Sie kann kurz (für einen Moment) oder lang (kontinuierlich für Tage) präsent sein (Jenkins 1994, 318; eigene Übersetzung). Hier wird die Überflutung des Körpers unter starker emotionaler Belastung durch ein Hitzegefühl beschrieben, das sich vom Kopf ausgehend ausbreitet. In diesem prozeßhaften somatischen Syndrom findet sich das Körperliche ebenso wieder, wie die Überwältigung durch eine von außen kommende Noxe. Emotionale Selbstbeschreibungen dieser Art greifen auf kulturelle Schemata der Somatisierung für ein bestimmtes emotionales Ereignis zurück, die in anderen Kulturen psychologisierende Schemata aktivieren würden. Man könnte der Hypothese nachgehen, daß diese traumatisierten Frauen aus El Salvador auf das somatische Schema zurückgreifen, um sich vom unerträglichen emotionalen Gehalt der traumatischen Erfahrung zu distanzieren. Die Somatisierung wäre dann nicht lediglich die Zuschreibung eines somatischen Erlebens auf eine kulturell akzeptierte körperliche Theorie, sondern die unbewußte Vermeidung der Erinnerung an die Ereignisse, die 258 Russell Deighton und Harald Traue es verursacht haben. Somatisches Erleben als emotional anzusehen, bedeutet nämlich auch, das Erleben mit einem Emotionsantezedenten zu verbinden, der im Falle traumatischer Erfahrung unerträglich gewesen ist. Diese Reaktion auf eine extreme Belastung findet sich als Folge traumatischer Erfahrung bei Menschen unterschiedlichster kultureller Zugehörigkeit. Sie stellt ein Extrem der emotionalen Hemmung dar, das Traue (1998) als emotionale Implosion bezeichnet hat. Diejenigen somatischen Beschwerden, die PTBS in westlichen Ländern begleiten, reflektieren wahrscheinlich ebenfalls kulturell definierte und akzeptierte somatische Zustände (wie z. B. Kopfschmerzen, Muskelschmerzen). Das steht im Gegensatz zu el calor, die eine körperliche Empfindung bezeichnet, die für einen bestimmten Kulturkreis typisch ist, und die vermutlich im Kontext eines westlich orientierten medizinischen Modells fehlinterpretiert würde. ZUSAMMENFASSUNG Wenn man interkulturelle Unterschiede des emotionalen Verhaltens verstehen will, macht es keinen Sinn, auf den biologischen Gemeinsamkeiten der menschlichen Körperlichkeit zu beharren, sondern man muß nach interkulturell unterschiedlichen Emotionsschemata suchen. Dafür sprechen verschiedene Gründe: (1) (2) (3) (4) Emotionsschemata beeinflussen das emotionale Erleben. Unterschiede in Emotionsschemata reflektieren auch Unterschiede in emotionalem Erleben. In den Emotionsschemata bildet sich der objektiv beschreibbare biologische Prozess als Prototyp ab. Emotionale Prototypen sind für die Untersuchung der universellen Anteile von Emotion nützlich. Emotionsschemata reflektieren gleichzeitig sozial konstruierte Aspekte von Emotion (Emotionsschemata als Narrative oder Skripte). Sie liefern Informationen über die kulturbezogene Regulation emotionaler Verhaltensweisen. Das in Emotionsschemata gespeicherte emotionale Wissen wirkt auf verschiedene Komponenten von Emotion zurück. Das gilt auch für die nur scheinbar kulturfreien biologischen Prozesse, da die durch bestimmte kognitive Muster erzeugten Erwartungen über autosuggestive Effekte physiologische und biochemische Vorgänge erheblich modulieren können. Auf diese Weise sind Emotionsschemata für das Verständnis der Somatisierung emotionalen Erlebens essentiell. Emotion und Kultur (5) 259 Es gibt zwei Möglichkeiten der Somatisierung: Erstens: Somatisierung verweist auf die Existenz vieler Schemata in einer Kultur, in denen körperliches Erleben ohne die uns gewohnte Trennung von emotionalen und nicht emotionalen Phänomenen betont wird. Zweitens: Somatisierung kann als emotionale Hemmung interpretiert werden, mit der schwer erträgliche Kognitionen über die Emotionsantezedenten und das emotionale Geschehen in ein somatisches Symptom transformiert werden. LITERATUR Angel, Ronald & Peter J. Guarnaccia (1989) Mind, body, and culture: Somatization among Hispanics. Soc Sci Med 28(12), 1229-38. Averill, James R. 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ZUR ERKLÄRUNG UND RATIONALITÄT EMOTIONALER EINSTELLUNGEN 1. DIE PHILOSOPHISCHE RELEVANZ EMOTIONALER EINSTELLUNGEN E motionen, Affekte oder Leidenschaften sind bereits seit der Antike Gegenstand philosophischer Auseinandersetzung. Während z. B. Platon die Herrschaft der Vernunft über die affektiven Seelenteile fordert,1 plädiert Aristoteles für die Ausbildung angemessener, d. h. vernunftgemäßer Emotionen.2 Angesichts ihrer Vielzahl und phänomenologischen Komplexität hat es sich nicht nur als schwierig erwiesen, emotionale Einstellungen als eigenständige Klasse zu bestimmen.3 Von einer solchen Bestimmung hängt auch ab, ob und inwiefern Emotionen als rational gelten können. Da sich die Philosophie traditionell als Disziplin der Vernunft begreift, ist der systematische Stellenwert emotionaler Einstellungen eng mit dieser Thematik verknüpft. Emotionale Einstellungen bieten sich allerdings nur dann als Gegenstand einer philosophischen Analyse an, wenn sie einen Beitrag zur Beantwortung allgemeinerer Fragen zu geben versprechen. Diese stellen sich im wesentli1 Vgl. Platon, Der Staat (439e, 441e-442c, 577e, 606d). 2 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik (1104b, 10-27). Zahlreiche weitere Klassiker der Philosophiegeschichte von den Philosophen der Stoa bis hin zu Descartes, Spinoza, Hobbes, Locke, Hume und Kant haben in der Folge Emotionstheorien formuliert und auch gegenwärtig floriert die philosophische Beschäftigung mit Emotionen. 3 Manche versuchen, diese Vielzahl zu reduzieren, indem sie zwischen basalen und nonbasalen Emotionen unterscheiden, die sich aus basalen Emotionen zusammensetzen oder Spezifizierungen darstellen. Während basale Emotionen als universell gelten, werden non-basale Emotionen auch als sozial bedingt und kulturell variabel erachtet. Bereits Descartes unterscheidet in Les Passions de l’Ame (§ 69) sechs basale Affekte: Bewunderung, Liebe, Haß, Begehren, Freude und Traurigkeit. Empirischen Arbeiten von P. Ekman (1992) zufolge sind die folgenden sechs Emotionen basal, da sie kulturell invariabel sind und von Angehörigen verschiedenster Kulturen gleichermaßen ausgedrückt und identifiziert werden können: Freude, Traurigkeit, Zorn, Furcht, Überraschung, Ekel. Hiervon lassen sich stärker kognitive Emotionen wie Liebe, Schuld, Scham, Peinlichkeit, Stolz, Neid und Eifersucht unterscheiden. Vgl. auch D. Evans (2001, 1-30). Vernunft und Leidenschaft 263 chen in der praktischen Philosophie sowie in der Philosophie des Geistes. Die beiden Bereiche konturieren die Perspektive, aus der Emotionen wiederum selbst untersucht werden. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich zunächst skizzieren, welche kontroverse Rolle emotionale Einstellungen hierbei spielen können. Im Rahmen der praktischen Philosophie, vor allem der Handlungs- und Rationalitätstheorie, wird u. a. diskutiert, inwiefern sich Handlungen und Entscheidungen mit Rekurs auf Motive wie emotionale Einstellungen erklären und rechtfertigen lassen. Da uns Emotionen schnell und fokussiert reagieren lassen, könnten sie gegenüber langwierigen Abwägungsprozessen zu besseren Entscheidungen führen. Ihre Passivität und Irrtumsanfälligkeit hingegen läßt sie als ungeeignet erscheinen, um unser Handeln und Entscheiden zu lenken. Innerhalb der Ethik sind Emotionen relevant, sofern sie das Problem moralischer Begründung erhellen oder einen Bezug zu den Möglichkeiten, ein gelungenes Leben zu führen, erkennen lassen. Die Auffassungen gehen hierbei auseinander, ob gerade Emotionen geeignete moralische Motive sind, oder ob sie aufgrund ihrer Partikularität der Moralität vielmehr im Wege stehen. Im Rahmen der Philosophie des Geistes wird ganz unabhängig von den genannten Fragen der praktischen Philosophie untersucht, inwiefern Emotionen als mentale Zustände, die mit körperlich wahrnehmbaren Eigenschaften einhergehen, den Zusammenhang von Geist (bzw. Seele) und Körper klären können. Die jeweilige Antwort auf diese Fragen hängt wesentlich davon ab, wie emotionale Einstellungen erklärt werden. Insofern ist es ein zentrales Anliegen, die Bedingungen emotionaler Einstellungen ausfindig zu machen. Was macht sie zu dem, was sie sind? Es läßt sich hierbei die Untersuchung ihres ontologischen Status von einer begrifflichen Analyse unterscheiden. Ob sie körperliche und/oder mentale Zustände sind, wie diese ggf. zusammenhängen und wie sie sich von anderen körperlichen und mentalen Zuständen abgrenzen lassen, sind Fragen, die ihren ontologischen Status betreffen und vornehmlich in der Philosophie des Geistes verhandelt werden. In diesem Zusammenhang wird auch diskutiert, ob Emotionen überhaupt eine „natürliche Art“ darstellen oder ob sie lediglich alltagspsychologische Kategorisierungen sind.4 4 Es werden verschiedene Auffassungen darüber vertreten, was „natürliche Arten“ sind. Grundsätzlich stellen Emotionen dann eine „natürliche Art“ dar, wenn ihnen mikrophysikalische Merkmale gemeinsam sind und sie durch diese erklärt werden können. Eine „natürliche Art“ zeichnet sich folglich durch eine solche explanatorische Tiefenstruktur aus. Ob Emotionen tatsächlich als „natürliche Art“ gelten können, ist freilich umstritten: Während z. B. P. Griffiths (1997) Emotionen nicht für eine natürliche Art hält, argumentiert etwa K. Petrus (2000) für einen eigenständigen Status emotionaler Einstellungen. Vgl. auch A. Rorty (1978), G. Rey (1980) und A. Sloman (2001). 264 Monika Betzler Eine begriffliche Untersuchung macht hingegen die Bedingungen des Gebrauchs von Emotionswörtern ausfindig, die notwendig und gemeinsam hinreichend sind, um Emotionen zu individuieren und sie somit in ihrer Bedeutung von anderen Einstellungen zu unterscheiden. Von der Art der Analyse sowie der spezifischen philosophischen Fragestellung hängt ab, ob und wenn ja, inwiefern Emotionen als rational gelten können. Es gibt jedoch auch hier unterschiedliche Auffassungen darüber, was Rationalität bedeutet. So können Emotionen aufgrund ihrer adaptiven Funktion evolutionär erklärt werden.5 Die Frage der Rationalität richtet sich dann darauf, inwiefern es überhaupt klug sein könnte, emotionale Einstellungen einzunehmen. Sie gelten als zweckrationale Mechanismen, da sie uns automatisiert und damit schnell auf physische oder soziale Bedrohungen reagieren lassen. Furcht, Angst oder Scham können z. B. ein geeignetes Mittel sein, Gefahren für Leib, Leben und sozialen Status zu begegnen und entsprechende Handlungen wie Flucht oder Unterwerfung zu motivieren. Ebenso zweckrational ist die Funktion von Liebe, Eifersucht, Neid u. ä., um soziale Kooperation zur Sicherung des besseren Überlebens der Gruppe aufrecht zu erhalten. Ohne emotionale Einstellungen wären wir demzufolge nicht in der Lage, optimal auf Veränderungen in unserer Umwelt zu reagieren. Von einer solchen „evolutionären Rationalität“ (Evans 2001, 182) läßt sich sowohl eine epistemische Rationalität als auch eine Rationalität des Willens unterscheiden. Gelten emotionale Einstellungen als epistemisch rational, dann sind sie nicht oder nicht ausschließlich schon rational, weil sie eine evolutionäre Funktion besitzen, sondern sie können auch selbst einer rationalen Kritik unterzogen und entsprechend kontrolliert werden. Voraussetzung dieser Auffassung ist, daß Emotionen als mentale Zustände betrachtet werden und mit kognitiven Einstellungen wie Meinungen und Urteilen zusammenhängen, die wahr oder falsch sein können.6 Sie gelten dann aufgrund der Wahrheit oder Falschheit der mit ihnen zusammenhängenden kognitiven 5 Vgl. R. de Sousa (1987, 77-106), P. Griffiths (1997, 228-247), J. Elster (1999, 239-321), A. Ben-Ze’ev (2000, 161-175) sowie D. Evans (2001, 162 und 177-182). Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist Darwins The Expression of Emotions in Man and Animals von 1872. Man vgl. auch A. Damasio (1994), der anhand von Patientenstudien zeigt, daß Emotionen unabdingbar sind, um langfristig nützliche Entscheidungen treffen zu können. 6 Eine derartige kognitivistische Auffassung vertreten bereits in der Antike: Aristoteles (Rhetorik II 2-11) sowie die Philosophen der Stoa (vgl. A. A. Long und D. N. Sedley (1987) The Hellenistic Philosophers, Bd. 1, 410-423). In der Tradition der älteren Stoa steht Spinozas Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt (Teil III, 108-185) sowie Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und Metaphysik der Sitten (2. Teil). Eine neo-stoische Position vertritt auch M. Nussbaum (2001, Kap. 2). Vernunft und Leidenschaft 265 Zustände oder aufgrund der mangelnden Kongruenz mit diesen – wenn auch dann wahren Urteilen und Meinungen – als rational oder irrational. Werden Emotionen jedoch als bloße Wünsche oder Empfindungen aufgefaßt, die unmittelbar gegeben, irrtumsfrei und non-kognitiv sind, kann keine epistemische Kritik erfolgen. Ihre gefühlte, nach Intensität graduierbare Qualität legt hierbei nahe, daß sie ähnlich wie Schmerzen und andere Erregungszustände in den Bereich der Empfindungen, der sich jeglichem rationalen Zugriff entzieht, verortet werden. Mit dieser Auffassung kann sowohl eine positive als auch eine negative Deutung verbunden sein. Entweder verbürgt gerade ihre phänomenale Qualität und ihr träges Andauern – ggf. auch im Lichte gegenteiliger Meinungen und Urteile –, daß sie selbst eine Instanz der Kritik sein können, oder sie gelten lediglich als arationaler Gegenpol, der keiner kognitiven Korrektur zugänglich ist und am besten unterdrückt wird. Vertreter der positiven Deutung schreiben ihnen eine eigene Rationalität des Willens zu, derzufolge sie unsere wirklichen Wertungen ausdrücken und unsere Urteile und bewußten Meinungen zu korrigieren vermögen.7 Gerade weil uns Emotionen widerfahren und wir sie nicht willentlich oder überlegt wählen können, scheint für manche der Schluß nahezuliegen, daß wir sie auch nicht rational beeinflussen und kontrollieren können.8 Da sie als Empfindungen nur introspektiv zugänglich zu sein scheinen, entziehen sie sich auch jeder objektiven Überprüfbarkeit. Ich kann in diesem Beitrag längst nicht alle, hier einführend vorgestellten Themen näher behandeln. Im folgenden möchte ich eine für die Erklärung emotionaler Einstellungen zentrale Kontroverse herausgreifen und genauer untersuchen. Einem von Descartes geprägten Modell zufolge sind Emotionen als körperlich wahrnehmbare Empfindungen aufzufassen. Einer bis auf Aristoteles zurückgehenden Auffassung nach sind Emotionen kognitive Zustände. Ich werde die Reichweite und Grenze dieser beiden Erklärungsversuche aufzeigen und ihre jeweiligen Konsequenzen für die Frage der Rationalität emotionaler Einstellungen diskutieren.9 7 Eine solche Auffassung verteidigt H. Frankfurt (1997); vgl. auch A. Baier (1980). In der Moralphilosophie vertritt z. B. S. Blackburn (1998, 122 ff.) eine solche Position. 8 Dafür spricht auch, daß sie uns als automatisierte Reaktionsweisen, mit Hilfe derer wir schnell veränderten Umständen, v. a. Bedrohungen oder Angeboten, begegnen können, zur Überbewertung und Parteilichkeit neigen lassen und sich oft als unangemessen erweisen. 9 Fragen nach ihrem ontologischen Status sowie nach ihrer evolutionären Rationalität berücksichtige ich hier aus Platzgründen allenfalls am Rande. Monika Betzler 266 2. EMOTIONEN ALS EMPFINDUNGEN Wenn wir genauer überlegen, wie Emotionen erklärt werden könnten, so fällt auf, daß sie im Gegensatz zu anderen mentalen Phänomenen wie z. B. Meinungen oder Intentionen mit verschiedenen körperlichen Reaktionen verbunden sind, die wir in der Regel auch selbst wahrnehmen. Ähnlich wie andere Erregungszustände – etwa Schmerzen oder Reflexe – scheinen wir Emotionen als angenehme oder unangenehme Empfindungen zu erleiden. Es verwundert daher nicht, daß sie als „passiv“ gelten. Wir können unsere Emotionen nicht wählen. Vielmehr widerfahren sie uns, und zwar häufig angesichts von Sachverhalten, die sich gerade unserer Kontrolle entziehen. Ich möchte im folgenden genauer untersuchen, auf welche Weise wahrnehmbare Erregungszustände emotionale Einstellungen erklären können. Das Ergebnis dieser Untersuchung wird schließlich auch den Zusammenhang von Emotionen und Rationalität klären helfen. Betrachten wir folgende Äußerungen: (1) Gerda bebt vor Wut. (2) Rudi fürchtet sich derart, daß sein Herz rast und seine Hände zittern. (3) Max spürt seinen Magen flattern aus banger Vorfreude auf das bevorstehende Rendezvous mit Tina. Ist Gerdas Beben in (1) eine notwendige Bedingung ihrer Wut? Ist Rudis Herzrasen und das Zittern seiner Hände in (2) hinreichend, um seine Furcht zu erklären? Konstituiert oder verursacht das Magenflattern in Satz (3) die Vorfreude von Max? Die körperliche Manifestation emotionaler Einstellungen legt es nahe, sie analog zu Empfindungen oder Wahrnehmungen10 zu fassen. Demzufolge werden Emotionen als Zustände betrachtet, denen zwei Eigenschaften zukommen: • • Sie sind durch physiologische Veränderungen im Nervensystem verursacht. Emotionen sind dann entweder deren Folge oder ein Epiphänomen. Sie zeichnen sich durch ihre phänomenale, d. h. gefühlte Qualität aus, die introspektiv zugänglich ist und auf diese Weise untrügliche und unmittelbare Autorität besitzt. 10 Diese beiden Begriffe werden hier synonym verwendet. In der englischsprachigen Literatur ist auch von der Gefühlstheorie (feeling theory) die Rede. Vgl. W. Alston (1967). Vernunft und Leidenschaft 267 Es lassen sich mehrere Vorteile dieser Betrachtungsweise erkennen: Zum einen ist sie mit einem naturwissenschaftlichen, d. h. empirisch überprüfbaren Erklärungsanspruch kompatibel, indem sie Emotionen als körperliche Reaktionsmechanismen untersucht. René Descartes, einer der bedeutendsten Ahnherren der Empfindungstheorie, analysiert Emotionen z. B. im Rahmen der mechanistischen Physiologie des 17. Jahrhunderts.11 In seiner Tradition verfolgen John Locke und David Hume ihr empiristisches Programm.12 William James unternimmt diesen Versuch schließlich als empirischer Psychologe, der Erkenntnisse der Neurologie und Studien über das Verhalten von Tieren einbezieht.13 Zum andern berücksichtigt die Empfindungstheorie den spezifisch subjektiv fühlbaren Charakter emotionaler Einstellungen als sogenannte Qualia. Die Wahrnehmung eines Reizes scheint ja im Fall von Emotionen tatsächlich eine Empfindung bzw. ein Gefühl hervorzurufen: Rudi kann seine Furcht körperlich spüren und erkennen. Die Art und Weise, wie sie sich anfühlt, macht sie zur Furcht. Er nimmt nicht nur einen gefährlichen Sachverhalt wahr, der ihn selbst, handelte es sich um ein bloßes Urteil, daß Gefahr in Verzug ist, unberührt ließe. Zum dritten wird sie dem Phänomen gerecht, daß wir selbst auf solche Reize emotional reagieren können, über die wir keine Meinung haben bzw. die wir nicht einmal kennen. Sie kann damit gerade der Besonderheit von Emotionen gegenüber anderen mentalen Einstellungen berücksichtigen. Dies stellt einen Vorteil vor allem gegenüber solchen Theorien dar, die Emotionen als kognitive Zustände betrachten. Die Vorfreude von Max wird gerade durch die Vorstellung des Rendezvous hervorgerufen, ohne daß er wüßte, was dort geschehen wird. Rudi mag sich einfach fürchten bzw. vor etwas Furcht empfinden, das er gar nicht kennt und somit nicht einmal für gefährlich hält. Emotionen kann auf diese Weise auch die Eigenschaft zugeschrieben werden, die tatsächlichen Wertungen einer Person auszudrücken. Diese besitzen sie dann nicht nur, wenn die betreffende Person keine Meinungen hat, sondern auch, wenn die durch Emotionen ausgedrückten Wertungen ihren bewußten Urteilen und Meinungen widersprechen.14 Selbst wenn Rudi von sich glaubt, daß er ein mutiger Kerl ist, den keine Gefahr beeindrucken 11 Vgl. R. Descartes (1649) Les Passions de l’Ame. 12 Vgl. J. Locke (1689) An Essay Concerning Human Understanding (Buch II, Kap. XX) und D. Hume (1739) Treatise of Human Nature (Buch II). 13 Vgl. W. James (1890) Principles of Psychology. 14 Vgl. H. Frankfurt (1997). Emotionen können demzufolge Aufschluß über Wertungen geben und Urteile verursachen; vgl. auch M. Stocker mit E. Hegeman (1996, 56-87) und G. Madell (1997, 147-156). L. A. Sroufe (1995, Kap. 7) untermauert diese These aus entwicklungspsychologischer Perspektive. 268 Monika Betzler kann, oder wenn er der Meinung ist, daß nichts Schlimmes, schon gar nichts Gefährliches auf ihn lauert, mögen ihn sein rasendes Herz und seine zitternden Hände eines Besseren belehren. Seine Urteile und Meinungen scheinen in einem solchen Fall falsch zu sein, während die Emotion unmittelbaren und untrüglichen Zugang zu den Wertungen Rudis verspricht. Allein ihre empfundene Präsenz scheint ihnen die Autorität zu verleihen, ihnen widersprechende Urteile zu kritisieren. Da Empfindungen körperliche Erregungszustände sind, muß geklärt werden, wie sich Emotionen als körperliche Erregungszustände genauer individuieren lassen. Es sind zwei Möglichkeiten denkbar: Entweder bedarf es bestimmter körperlicher Ursachen, die Emotionen von anderen körperlichen Erregungszuständen wie z. B. Schmerzen unterscheiden. Sie sind dann nichts anderes als die Empfindung distinkter körperlicher Veränderungen. Oder sie verfügen über weitere Eigenschaften, die nicht auf Empfindungen reduziert werden können. Sie lassen sich dann aufgrund dieser zusätzlichen Eigenschaften von anderen Erregungszuständen unterscheiden. Von der jeweiligen Konzeption hängt ab, welche Art der Kontrolle emotionaler Einstellungen möglich ist und inwiefern sie als rational gelten können. 2.1. EMPFINDUNG DISTINKTER KÖRPERLICHER ERREGUNGSZUSTÄNDE William James zufolge sind Emotionen nichts anderes als die angenehme oder unangenehme Empfindung körperlicher Veränderungen im peripheren Nervensystem – etwa der Muskulatur, des Darms, der Atmung, des Herzrhythmus oder der Drüsen.15 Ihre Entstehung erklärt er sich folgendermaßen: Ein äußerer Reiz fällt auf die Sinnesorgane. Er wird im Cortex repräsentiert und löst schließlich verschiedene Veränderungen im peripheren Nervensystem aus. Diese werden wiederum in ihrer Verbindung im Bewußtsein wahrgenommen, so daß der äußere Reiz zu einem emotional gefühlten Objekt wird. Descartes stellt sich diese Genese in seinem Spätwerk Les Passions de l’Ame, in dem er sich angesichts des Phänomens emotionaler Einstellungen der Frage widmet, welche Einheit Körper und Geist bilden,16 ganz ähnlich vor, wenn auch im mechanistischen Rahmen des 17. Jahrhunderts. 15 Auch die Ausführungen Descartes’ lassen darauf schließen, daß er die körperlichen Ursachen emotionaler Einstellungen in das periphere Nervensystem verortet. 16 Da Descartes dem Dualismus verpflichtet ist, demzufolge geistige und körperliche Zustände real distinkt und geistige Zustände unmittelbar und irrtumsfrei bewußt sind, stellen Emotionen, die er als komplexe Phänomene einer körperlich-geistigen Einheit charakterisiert, eine besondere Herausforderung dar. Vgl. besonders A. Rorty (1986). Vernunft und Leidenschaft 269 In der cartesischen Theorie wirken äußere Reize auf den Körper ein und werden mittels der sogenannten Lebensgeister – Partikel, die in den Hirnkammern enthalten sind – weitergeleitet, die z. B. eine hohe Pulsfrequenz und bestimmte Veränderungen des Nervensystems hervorrufen. Letzte und unmittelbare Ursache einer Emotion ist die Erregung, in die die Bewegung der Lebensgeister schließlich die Seele selbst versetzen, sie darin erhalten und verstärken. Die bewußte Wahrnehmung (perception) des Erregungszustands durch die Seele stellt die eigentliche Emotion dar, die wiederum über die Zirbeldrüse den Körper zu entsprechendem Verhalten – im Fall der Furcht etwa zur Flucht – veranlaßt.17 William James bringt die Entstehungsgeschichte emotionaler Einstellungen auf die Formel, „daß wir traurig sind, weil wir weinen, wütend weil wir schlagen, beängstigt, weil wir zittern, und nicht, daß wir weinen, schlagen und zittern, weil wir traurig, wütend und beängstigt sind“ (1890, 743). Gerdas Beben, das sich in der Anspannung ihrer Muskulatur, erhöhter Pulsfrequenz u. a. manifestieren mag, konstituiert James zufolge ihre Wut. Diese ist nichts anderes als die Wahrnehmung der Kombination dieser körperlichen Veränderungen. James will damit die phänomenale Qualität emotionaler Einstellungen erklären, die sie gegenüber anderen mentalen Einstellungen besonders auszeichnet. Es verwundert daher nicht, daß er ihre mögliche Kontrolle auch in das periphere Nervensystem verlegt. Auch Descartes verweist auf die korrektive Kraft entgegengesetzter Emotionen. Gerda müßte demzufolge ihr Beben unterdrücken und z. B. beginnen zu lachen, um ihrer Wut durch den Ausdruck einer freundlichen Gesinnung entgegenzuwirken. Es wird sich jedoch herausstellen, daß sich Emotionen weder aufgrund ihrer körperlichen Verursachung noch aufgrund ihrer phänomenalen Qualität individuieren lassen. Die periphere Empfindungstheorie ist zum einen aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, denen zufolge Emotionen in bestimmten Regionen des zentralen Nervensystems verursacht sind, unhaltbar und kann daher ihrem eigenen naturalistischen Erklärungsanspruch nicht genügen. Selbst wenn wir Erregungen wie z. B. eine Gänsehaut im peripheren Nervensystem wahrnehmen, so ist die neuronale Grundlage ihrer Empfindung im limbischen System sowie im orbitofrontalen Cortex zu suchen.18 17 So notiert R. Descartes in Les Passions de l’Ame: „Après avoir considéré en quoi les passions de l’âme diffèrent de toutes ses autres pensées, il me semble qu’on peut généralement les définir des perceptions, ou des sentiments ou des émotions de l’âme, qu’on rapporte particulièrement à elle, et qui sont causées, entretenues et fortifiées par quelque mouvement des esprits“ (Art. 27; vgl. auch Art. 40, 51 und 52). 18 Zum gegenwärtigen Stand neurophysiologischer Emotionsforschung vgl. J. E. LeDoux (1996) und E. T. Rolls (1999). 270 Monika Betzler Zum andern bleiben einzelne Emotionen unterbestimmt, wenn ihre phänomenale Qualität das einzige zusätzliche Unterscheidungskriterium ist. Gerdas Beben könnte nämlich anstelle von Wut genausogut Furcht, Haß oder Ekel konstituieren. Selbst wenn ihr Erregungszustand möglichst genau durch ihren Adrenalinspiegel, ihre Pulsfrequenz, ihre Körpertemperatur u. a. spezifiziert wird, läßt sich aus der Verbindung dieser physiologischen Veränderungen keine distinkte Emotion bestimmen.19 Auch wenn wir annehmen, daß sie wütend ist, mag ihre Wut bei einer Gelegenheit von einem hohen Puls, bei einer anderen Gelegenheit von einem normalen Puls, aber großer Muskelanspannung begleitet sein. Bei verschiedenen Personen können ganz unterschiedliche Erregungszustände im Zusammenhang mit der Emotion „Wut“ stehen. Gerdas Herz rast, wenn sie wütend ist, während Rudi im Zustand der Wut eine normale Pulsrate haben kann, aber zittert und Schweißausbrüche bekommt. Wenn Emotionen nicht durch die Kombination distinkter Erregungszustände individuierbar sind, ist die Empfindungstheorie mit einem weiteren Problem konfrontiert. Emotionen können dann auch nicht mehr von Erregungszuständen unterschieden werden, die in unserem Alltagsverständnis nicht als Emotionen erachtet werden. Sie kann nicht beantworten, warum der stechende Schmerz in Gerdas Arm keine Wut konstituiert. Wäre die Empfindungstheorie richtig, müßten sich Emotionen auch im peripheren Nervensystem lokalisieren lassen. Doch Max würde auch Vorfreude fühlen, wenn er sein Magenflattern mit Hilfe eines Beruhigungsmittels beseitigt. Folglich können die tatsächlich mit vielen Emotionen auftretenden Erregungszustände zumindest nicht ihre alleinige Ursache sein. Ein Verteidiger der Empfindungstheorie könnte hier einwenden, daß nicht allein die objektiv meßbaren Erregungszustände eine Emotion auslösen. Es bedarf auch der subjektiven Empfindung, die eine distinkte phänomenale Qualität besitzt. Wut fühlt sich demzufolge auf eine bestimmte Weise an – vielleicht sogar bei unterschiedlichen Erregungszuständen. Doch auch die phänomenale Qualität scheint keine notwendige Bedingung emotionaler Einstellungen zu sein. Schließlich gibt es phänomenal schwächer wahrnehmbare Emotionen – man denke etwa an Sehnsucht oder Hoffnung –, die nicht durch ihre Empfindungsqualität allein voneinander unterschieden werden können. Diese scheint zu schwach und undeutlich, um immer als einziges Unterscheidungskriterium dienen zu können. Die behauptete Untrüglichkeit der Qualia greift außerdem zu kurz. Sie erlaubt nicht zu berücksichtigen, daß sich eine Person, die Emotionen hat, auch irren kann. Schließlich sind emotionale Einstellungen kritisierbar, auch wenn sich die betreffende Person über die mit ihnen einhergehende Emp19 Zumindest W. James ist jedoch der Meinung, daß jede Emotion durch einen genau bestimmbaren Erregungszustand konstituiert ist. Vernunft und Leidenschaft 271 findung nicht täuscht.20 Emotionen scheinen daher noch andere Eigenschaften zu haben als Qualia. Im Gegensatz zu Empfindungen oder Gefühlen können sie nicht nur unangemessen, übertrieben oder unklug sein. Es ist z. B. denkbar, daß Rudi sich täuscht: das Wahrgenommene ist gar nicht so furchterregend, wie er es empfindet.21 Dies kann zum einen an einer falschen Wahrnehmung der eigenen Erregungszustände liegen. Gerda mag ihren Zustand fälschlicherweise für Wut halten. Tatsächlich ist sie aber furchtsam oder ärgerlich und vermag sich dies nicht einzugestehen. Insofern scheint auch der bewußte und unmittelbare Zugang zu den eigenen Emotionen über irgendeine gefühlte Qualität hinaus in vielen Fällen problematisch. Zum andern mag die Täuschung über die eigene Empfindung an einer falschen Beurteilung der äußeren Ursachen liegen, die Erregungszustände hervorrufen. Gerdas Wut – z. B. über die Kündigung ihrer Stelle – kann sich auch an Anna als der nächsten greifbaren Person, an der sie ihre Wut im Gegensatz zu ihrem Chef gefahrlos zeigen kann, entladen. Dies stellt einen klassischen Fall der Übertragung dar. Auch hier mag sie sich phänomenal wirklich wütend über Anna fühlen, obwohl die Kündigung ihres Vorgesetzten die Ursache ihrer Wut ist. Ihre Wut kann auch aus anderen Gründen unangemessen sein. Gerda kann zwar wütend über Anna sein. Ihr Verhalten, das sie als unverschämt und daher als Wut provozierend interpretiert, mag jedoch einfach nur witzig gemeint sein. Gerdas eigene Überempfindlichkeit hat sie zu einer Interpretation von Annas Verhalten verführt, das selbst gar keine wütende Reaktion rechtfertigt. Sie kann folglich auch wegen ihrer Wut kritisiert werden, auch wenn sie sich über ihr Beben nicht täuscht und selbst meint, eine untrügliche Empfindung zu haben. Da eine epistemische Kritik für Empfindungstheoretiker undenkbar ist, bleibt ihnen als einziges Kontrollmittel der Körper selbst. Die von James erwähnte körperliche Kontrolle scheint jedoch nur bedingt praktikabel zu sein. So mag Gerdas Wut anhalten, auch wenn sie sich noch so sehr um den körperlichen Ausdruck einer gegenteiligen Emotion, wie z. B. Freude, bemüht und beispielsweise zu lachen beginnt. Auch dies legt nahe, daß die Ursache ihrer Wut nicht allein ein körperlicher Erregungszustand sein kann. Selbst wenn sie ihre Erregungszustände beherrschen könnte, würden wir ihr auch nicht aufgrund ihres Lachens Freude zuschreiben. Wir würden vielmehr feststellen, daß sie so tut, „als ob“ sie fröhlich sei. 20 Bereits E. Bedford (1956-57, 91) sowie G. Pitcher (1965, 330) halten die Empfindungstheorie für unzulänglich, da sie diesen Schluß nahelegt. 21 Eine solche Analogie zur korrigierbaren Sinneswahrnehmung trifft R. Roberts (1995, 320). 272 Monika Betzler Die genannten Einwände deuten darauf hin, daß phänomenale Qualitäten Emotionen nicht hinreichend erklären können. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß die Empfindungstheorie die körperliche Verursachung emotionaler Einstellungen nicht korrekt lokalisiert und der Fokus auf ihre phänomenale Qualität die Kritisierbarkeit emotionaler Einstellungen nicht berücksichtigen kann. Emotionen lassen sich folglich auch nicht als Empfindung distinkter körperlicher Erregungszustände individuieren. Es liegt nun nahe zu untersuchen, ob sie über weitere Eigenschaften verfügen, die nicht auf Empfindungen reduziert werden können. 2.2. EMPFINDUNG UND OBJEKTBEZUG Emotionen besitzen tatsächlich noch andere Eigenschaften als die, daß sie körperlich verursacht und subjektiv wahrnehmbar sind. Was Emotionen nämlich untereinander ebenso wie von anderen phänomenal wahrnehmbaren körperlichen Zuständen unterscheidet, ist, daß sie auf Personen, Sachverhalte oder Objekte gerichtet sind und somit einen distinkten Gehalt haben. Wenn wir Gerdas Zustand genauer betrachten, so bebt sie nicht nur. Sie ist wütend über eine andere Person oder einen Sachverhalt. Ihre Wut ist daher durch das Objekt individuierbar, auf das sie sich intentional richtet.22 Es stellt sich nun die Frage, ob Emotionen aufgrund ihres Objektbezugs von anderen Erregungszuständen unterschieden werden können. Einen wichtigen Hinweis zur Beantwortung dieser Frage gibt Descartes. Er ist nämlich nicht der Auffassung, daß ein Erregungszustand Emotionen konstituiert. Vielmehr hält er die introspektiv wahrnehmbare Erregung für eine notwendige, aber keine hinreichende Ursache. Wenden wir uns daher seiner Theorie über die „Leidenschaften der Seele“ erneut zu. Gäbe es keine weitere notwendige Eigenschaft, die Emotionen zu individuieren erlaubt, könnte die wütende Gerda aufgrund ihres Erregungszustands nur wissen, daß sie sich in irgendeinem emotionalen Zustand befindet. Emotionen sind Descartes zufolge aber nicht rein körperlich, sondern Bestandteil der Gedanken, die dem Geist und nicht dem Körper zukommen. Er kennzeichnet sie jedoch als „Leiden“ des Geistes, da sie nicht vom Geist selbst hervorgebracht werden. Dieser erhält sie vielmehr von anderen Dingen, die er repräsentiert (vgl. Les Passions de l’Ame, Art. 4 und 17). 22 Der Begriff der Intentionalität wurde von F. Brentano in seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874, Bd. 1, 124 f.) in die moderne Diskussion wieder eingeführt. Brentano meint damit, daß jedes psychische Phänomen auf einen Inhalt oder einen Gegenstand bezogen ist. Vernunft und Leidenschaft 273 Descartes Unterscheidung zwischen sinnlichen und intellektuellen Emotionen verdeutlicht dies.23 Erstere stellen spontane Reaktionen dar, die er als „konfuse Gedanken“ bezeichnet. Ihre äußere Ursache bleibt unbekannt. Sie sind in der Seele lediglich durch ihre körperlichen Symptome feststellbar. Eine Person mit sinnlichen Emotionen kann nur mehr oder weniger vage beschreiben, wie sie ihren Zustand erlebt. Erst bei intellektuellen Emotionen ist es möglich, ihre äußere Ursache zu erkennen, sie als gut oder schlecht zu beurteilen und entsprechend zu reagieren. Eine Person hat eine intellektuelle Emotion nicht dadurch, daß sie sich auf private Objekte wie die nur ihr zugänglichen sinnlichen Empfindungen richtet. Auch wenn sie sich ihres körperlichen Zustands bewußt ist, so erkennt sie zugleich ein Objekt, auf das sich ihr Zustand richtet. So bezeichnet Descartes die Objekte, die unsere Sinne erregen, aufgrund ihres Nutzens oder Schadens als erste und hauptsächliche Ursachen unserer Leidenschaften (vgl. Les Passions de l’Ame, Art. 51 und 52). Neben der körperlichen Ursache hält Descartes folglich Objekte, die wir bewerten, für die bedeutendere Ursache emotionaler Reaktion. Diese Auffassung läßt ihn auch über die Empfindungstheorie, mit der er so eng assoziiert wird, hinausgehen. Descartes verweist in diesem Zusammenhang auf verschiedene mentale Fähigkeiten.24 Die Objekte werden ebenso wie die körperlichen Erregungszustände in der Seele repräsentiert und mittels des Erinnerungsvermögens, der Vorstellungskraft und Überlegung bewertet. Wenn das Abgebildete Eigenschaften besitzt, die unerwartet sind oder mit Hilfe des Gedächtnisses mit Erfahrungen assoziiert werden, die emotionale Reaktionen rechtfertigen, entsteht eine Emotion. Da diese Konzeption berücksichtigt, daß Emotionen auf Objekte gerichtet sind, die sie bewerten, vermag sie nicht nur der Tatsache gerecht zu werden, daß wir Emotionen kritisieren. Sie liefert damit auch Kriterien, mit deren Hilfe wir Emotionen rational und nicht nur mit körperlichem Ausdruck kontrollieren können. Sie erlaubt nämlich zu fragen, ob das jeweilige Objekt die jeweilige emotionale Reaktion rechtfertigt. So kann überlegt werden, ob es sich z. B. im Fall der Furcht überhaupt um eine gefährliche Situation handelt, die eine furchtsame Reaktion verlangt. Mit Hilfe der Vorstellung anderer Objekte – z. B. unter welchen Umständen man mutig ist – kann die 23 Vgl. Brief an Chanut (1647; AT IV, 601-603). 24 Gegen eine einseitige Deutung Descartes’ als Empfindungstheoretiker macht auch D. Perler (2000, 86-98) aufmerksam. In Perler (1996) argumentiert er gegen die Kritik A. Kennys, Emotionen seien nur introspektiv zugänglich (vgl. Kenny (1963, 1-28)). S. James (1997) zeigt, daß bereits im 17. Jahrhundert die cartesische Theorie der Emotionen unterschiedlich, d. h. nicht nur als Empfindungstheorie, rezipiert wurde. 274 Monika Betzler Furcht nach Meinung Descartes’ schließlich beherrscht werden. Es sei auch möglich, sich vor Augen zu führen, daß die Gefahr nicht groß ist.25 Die beiden Eigenschaften der Empfindungstheorie, (i) Verursachung durch Veränderungen im peripheren Nervensystem sowie (ii) phänomenale Qualität, werden durch (iii) die Bewertung äußerer Objekte mit Hilfe mentaler Fähigkeiten, wie Gedächtnis und Vorstellungskraft, ergänzt. Damit immunisiert sich Descartes insofern gegen die genannten Schwächen der Empfindungstheorie, als er eine Unterscheidung und Kritik wahrnehmbarer Erregungszustände mit Hilfe der Bewertung ihrer äußeren Ursachen ermöglicht. Emotionen lassen sich dadurch von anderen Erregungszuständen wie z. B. Schmerzen unterscheiden, die nicht durch die Bewertung von Objekten verursacht sind. Descartes erklärt jedoch nicht, wie es zur Bildung intellektueller Emotionen kommt. Er läßt zudem offen, wie die beiden Ursachen emotionaler Einstellungen, d.h. die introspektiv wahrnehmbare Erregung und die Bewertung des äußeren Reizes genauer zusammenhängen. Gerade im Rahmen des cartesischen Dualismus, demzufolge Körper und Geist distinkt sind, bleibt es problematisch, wie körperliche Zustände – etwa das Beben und Zittern – geistige Zustände wie z. B. Bewertungen hervorrufen können, so daß eine Emotion entsteht. Descartes spricht außerdem ausschließlich von den Ursachen emotionaler Einstellungen und macht somit Emotionen zu einem bloßen Epiphänomen. Es bleibt nicht nur problematisch, ob introspektiv wahrnehmbare Erregungen zusammen mit Wertungen über Objekte notwendigerweise eine Emotion verursachen. Es ist klärungsbedürftig, wie der evaluative Objektbezug genauer zu fassen ist. Eine verbreitete Auffassung ist, daß nur Meinungen und Urteile die Intentionalität emotionaler Einstellungen so erklären können, daß eine rationale Kritik möglich ist. Ich möchte mich daher der von Descartes offen gelassenen Frage zuwenden, ob die Annahme bestimmter kognitiver Zustände zur Erklärung des evaluativen Objektbezugs emotionaler Einstellungen und somit zu ihrer Bestimmung notwendig ist. 3. EMOTIONEN ALS KOGNITIVE EINSTELLUNGEN Gegenwärtige Vertreter einer kognitiven Theorie emotionaler Einstellungen gehen sogar davon aus, daß wir eine Emotion korrekt zuschreiben können, 25 Vgl. Les Passions de l’Ame (Art. 45). Um ein Übermaß der Emotionen zu therapieren, schlägt Descartes vor zu erinnern, daß alles, was sich der Vorstellungskraft darstellt, die Seele zu täuschen strebt und ihr die Gründe, die sie vom Ziel dieser Leidenschaft überzeugen sollen, viel stärker erscheinen läßt als sie sind (vgl. Art. 211). Vernunft und Leidenschaft 275 ohne auf Erregungszustände Bezug zu nehmen, und ohne die Frage ihrer körperlichen Verursachung zu berücksichtigen. Sie berufen sich hierbei auf die sprachphilosophische These, daß der Gebrauch von Emotionswörtern auch unabhängig von Empfindungen und somit lediglich introspektiv zugänglichen Zuständen funktioniert.26 Gegenüber der Empfindungstheorie verweist die kognitive Theorie daher auf zwei wichtige Eigenschaften: Emotionen scheinen aufgrund des Sprachgebrauchs überprüfbar und dieser zeigt, daß sie auch nicht durch Erregungszustände erklärt und beurteilt werden. Somit richtet sie sich gegen die Erklärung emotionaler Eigenschaften durch diejenigen Eigenschaften – phänomenale Qualität und körperliche Verursachung – die von der Empfindungstheorie für zentral gehalten werden. Die Frage ist nun, wie Emotionen aufgrund des Sprachgebrauchs näher bestimmt werden. Betrachten wir folgende Äußerungen, um genauer herauszufinden, in welchem Zusammenhang Emotionen und kognitive Zustände stehen können: (1) (2) (3) Heinz ist stolz auf seine Beförderung. Katrin schämt sich für ihren Ausrutscher. Erwin fürchtet sich vor dem Löwen. Die kognitive Theorie geht grundsätzlich von zwei Annahmen aus. Zum einen sind Emotionen auf Objekte, Sachverhalte oder Personen gerichtet. Heinz ist nicht einfach stolz. Sein Stolz bezieht sich auf ein Ereignis. Katrin schämt sich für ihr Verhalten und Erwin fürchtet sich vor einem Tier. Für viele scheint es zum andern nahezuliegen, die Intentionalität emotionaler Einstellungen durch kognitive Zustände wie Urteile und Meinungen über die betreffenden Objekte, auf die sie gerichtet sind, zu erklären. Andernfalls wäre nicht einsichtig, wie die emotionale Bewertung von Sachverhalten oder Dingen, auf die wir uns richten, erfolgen könnte. Emotionen sind demzufolge propositionale Einstellungen, die wahr oder falsch sein können. So führt bereits Aristoteles in der Rhetorik aus, daß die unterschiedlichen Emotionen von bestimmten Meinungen oder Urteilen abhängig sind. Demzufolge ergibt sich Zorn aus der Meinung, es sei einem eine Herabsetzung widerfahren. Furcht wird durch das Urteil ausgelöst, es stehe ein Übel bevor.27 26 Im Anschluß an L. Wittgenstein haben dies v. a. E. Bedford (1956-57) und G. Pitcher (1965) vertreten. Vgl. auch G. Ryle (1949, Kap. 4). 27 Vgl. Aristoteles Rhetorik (II 2-11). Auch wenn Aristoteles vielfach als Kognitivist gilt, so ist diese Etikettierung ebenso einseitig wie diejenige Descartes’ als Empfindungstheoretiker. Aristoteles führt in seiner Schrift Über die Seele (I 1, 403a 2 ff.) aus, daß der Geist nicht ohne Körper affiziert und aktiv werden kann. Emotionen können daher auch nicht ohne Hinweis auf ein körperliches Substrat erklärt werden. G. Patzig (2000, 17 ff.) zeigt, 276 Monika Betzler Zum andern gelten Emotionen als kognitiv durchlässig. Daß emotionale Einstellungen kritisiert und korrigiert werden können, wird aufgrund ihrer Beziehung zu Meinungen und Urteilen einsichtig. Wenn sich die Meinungen oder Urteile als falsch erweisen und wir somit einen epistemischen Fehler begehen und entdecken, werden wir die entsprechende Emotion – wenn vielleicht auch langsam – aufgeben.28 Wenn meine Meinung oder mein Urteil über einen bestimmten Sachverhalt falsch ist – ich kann mich schließlich täuschen – gilt die entsprechende Emotion nämlich als ungerechtfertigt. Sie kann somit mit Hilfe überprüfbarer Standards kritisiert werden. Damit sind jedoch unterschiedliche Bewertungen emotionaler Einstellungen kompatibel, je nach dem, ob ihr Zusammenhang mit richtigen Urteilen oder wahren Meinungen für möglich erachtet wird.29 Heinzens Stolz wird aufhören, wenn sich z. B. herausstellt, daß er sich verhört hat und anstatt ihm sein Kollege befördert wurde. Katrins Scham wird ebenso nachlassen, wenn der von ihr geglaubte Ausrutscher von den anderen als besonders charmante oder witzige Geste interpretiert wird. Schließlich ist ihre Scham durch die Meinung verursacht, daß ihr Verhalten als sozial unpassend betrachtet wird. Erweist sich diese Meinung als falsch, muß sich, so die kognitive These, das Gefühl entsprechend verändern. Wenn sich herausstellen sollte, daß es sich um ein lebensgroßes Plüschtier handelt, das einen Löwen darstellt, ist Erwins Furcht irrational. Sie wird sich auch angesichts des Artefakts, auf das sie sich gerichtet hat, verflüchtigen. Die kognitive Theorie muß sich folglich an ihren beiden Grundannahmen prüfen lassen: Kann die Intentionalität von Emotionen adäquat durch propositionale Einstellungen wie Meinungen und Urteile gefaßt werden? Sind Emotionen tatsächlich kognitiv durchlässig und somit durch Meinungen und Urteile kontrollierbar? Um diese Fragen zu beantworten, ist es wichtig zu eruieren, welcher genauere Zusammenhang zwischen Meinungen, Urteilen und emotionalen Einstellungen bestehen kann. Es sind drei verschiedene Auffassungen über die Beziehung von Emotionen zu kognitiven Zuständen wie Urteilen und Meinungen denkbar: daß Aristoteles auch Qualia berücksichtigt. Die Stoiker haben in der Antike die entwikkeltste kognitive Theorie emotionaler Einstellungen vertreten, die jedoch nur in Fragmenten überliefert ist (vgl. A. A. Long und D. N. Sedley (1987) The Hellenistic Philosophers, Bd. 1, 410-423). 28 Nach R. DeSousa (1987, 165f.) reagieren Emotionen sogar stärker auf veränderte Meinungen als Wünsche. 29 Während Aristoteles z. B. meint, Emotionen sollen in ihrer angemessenen Form kultiviert werden, vertreten die Stoiker die Meinung, sie seien falsche Urteile und daher irrational. Vernunft und Leidenschaft (1) (2) (3) 277 Emotionen werden mit Urteilen oder Meinungen über das Objekt, auf das sie sich richten, gleichgesetzt:30 Das Urteil, daß ich falsch gehandelt habe, obwohl ich anders hätte handeln können, impliziert dann z. B. das Gefühl der Reue. Emotionen rufen Urteile und Meinungen über ihr Objekt hervor:31 Sie können demzufolge Meinungen „machen“. So kann ein Politiker, der Angst vor Ausländern schürt, über diese Emotion bewirken, daß die angesprochenen Personen zu dem Urteil gelangen, Ausländer seien gefährlich. Oder: Wenn ich Furcht im Flugzeug empfinde, kann ich zu der Meinung gelangen, Fliegen sei gefährlich. Emotionen basieren auf Urteilen und Meinungen über ihr Objekt:32 Die Meinung, daß ein Einbrecher im Haus ist, verursacht den Erregungszustand der Furcht. Während es sich im ersten Fall um ein konstitutives Verhältnis handelt, stehen Emotionen und kognitive Zustände in (2) und (3) in einer kausalen Beziehung. Nur (1) und (3) stellen jedoch eine kognitive Auffassung im engeren Sinne dar, da Emotionen durch kognitive Zustände erklärt werden. (2) setzt dagegen nicht voraus, daß Emotionen durch Meinungen und Urteile bestimmt sind. Es wird Emotionen vielmehr selbst die kausale Kraft zugeschrieben, kognitive Zustände zu verursachen. Eine kognitive Theorie impliziert, daß Emotionen Urteile und/oder Meinungen sind oder durch diese verursacht werden. Im ersten Fall sind kognitive Zustände notwendig und zugleich hinreichend. Im dritten Fall stellen sie lediglich notwendige, aber keine hinreichende Bedingungen dar. Die Erklärung emotionaler Einstellungen durch kognitive Zustände ist jedoch in beiden Fällen aus folgenden Gründen unzureichend: Propositionale Einstellungen wie Meinungen und Urteile sind zum einen keine notwendigen Bedingungen, um Emotionen zu erklären.33 Abgesehen davon, daß es selbst objektlose Emotionen wie z. B. die Gemütszustände der Traurigkeit oder Ängstlichkeit gibt, die auf keiner Meinung basieren, setzt auch die Gerichtetheit einer Emotion auf ein Objekt keine propositionalen Einstellungen voraus. Erwins Furcht bezieht sich zwar auf den Lö30 Diese Auffassung vertreten R. Solomon (1976, Kap. 7) und M. Nussbaum (1997). 31 So geht Aristoteles in der Rhetorik (II, 2) davon aus, daß Emotionen die Kraft besitzen, Urteile hervorzurufen und zu verändern; vgl. auch M. Stocker mit E. Hegeman (1996, 56-87). 32 Vgl. dazu D. Davidson (1976), G. Taylor (1985, 1-16), W. Lyons (1980, 70-91), R. Gordon (1987, Kap. 2) und M. Stocker mit E. Hegeman (1996, 56-87). 33 Dies moniert z. B. J. Deigh (1994, 829-30); vgl. auch J. Pugmire (1998, 30) und D. Farrell (1988). 278 Monika Betzler wen. Er muß jedoch weder die Meinung haben, daß Raubkatzen Menschen zerfleischen noch urteilen, daß sie gefährlich sind. Der bloße Anblick des Tieres mag Furcht erzeugen, selbst wenn Erwin vorher noch nie Löwen gesehen hat und nichts über deren Aggressivität weiß.34 Zahlreiche Emotionen wie Liebe, Haß oder Furcht können auf „non-propositionale Objekte“ wie Lebewesen, Aktivitäten oder Ereignisse gerichtet sein.35 Emotionen müssen daher nicht notwendigerweise durch propositionale Einstellungen wie Urteile und Meinungen verursacht werden. Urteile und Meinungen sind auch nicht hinreichend, um emotionale Einstellungen zu individuieren. Sie lassen Emotionen daher unterbestimmt. Da längst nicht alle Meinungen oder Urteile Emotionen verursachen, bleibt eine Erklärungslücke bezüglich der Frage, welche kognitiven Zustände diese kausale Kraft besitzen und welche Eigenschaften sie von anderen Meinungen oder Urteilen unterscheiden, die über diese Kraft nicht verfügen. So mag Heinz meinen, daß er befördert wurde und urteilen, daß Beförderungen eine gute Sache sind, ohne jemals eine emotionale Einstellung zu diesem Sachverhalt einzunehmen. Die mit dem Urteil verbundene Wertung bleibt dann ganz emotionslos. Die Gründe hierfür mögen vielfältig sein. Er mag einfach keine Person mit starken emotionalen Dispositionen oder einem hohen Selbstwertgefühl sein. Er mag die Beförderung auch mit anderen Standards, z. B. aufgrund von Fairneßüberlegungen werten, daß die Beförderung seiner Meinung nach sein Kollege mehr verdient hätte. Seine Wertung kann auch einfach pragmatisch sein. Er mag z. B. seine Beförderung lediglich gut finden, weil er seine Familie dadurch besser finanziell versorgt weiß. Die positive Bewertung seiner Beförderung erfolgt aber nicht notwendigerweise aufgrund der Tatsache, daß er selbst eine lobenswerte Eigenschaft – nämlich befördert worden zu sein – besitzt. In diesem Fall bewertet Heinz seine Beförderung nicht positiv, weil sie ihn selbst lobenswerter macht, sondern weil er durch sie ein von ihm wertgeschätztes Ziel besser verfolgen kann. Diesen Unterschied kann die kognitive Theorie jedoch nicht berücksichtigen. Meinung und Wertung können die spezifisch affektive Natur des Stolzes daher gar nicht erklären, da sie nicht notwendigerweise Emotionen verursachen.36 34 Der Hinweis, daß sich im „Hintergrund“ solcher reflexhafter Emotionen doch Urteile befinden, scheint mir ebenso ad hoc wie der Versuch, nicht urteilsbasierte Einstellungen aus dem Emotionsbegriff zu verbannen (vgl. W. Lyons (1980, 86 ff.). G. Madell (1997, 153) rekurriert aus diesem Grunde auf intentionale Empfindungen, die er als „feeling towards“ charakterisiert „which are indissolubly both intentional and affective“. 35 Vgl. I. Thalberg (1964, 292 ff.). W. Lyons (1980, 75 f.) meint hingegen, daß das Objekt von Emotionen in solchen Fällen vage ist. 36 Zur Kritik an der kognitiven Theorie vgl. M. Stocker mit E. Hegeman (1996, 17-55), W. Lyons (1980, 53-69), R. A. Nash (1989, 482-493) und P. Griffiths (1997, 21-43). Vernunft und Leidenschaft 279 Aus dem Urteil Erwins, daß ein Tier gefährlich ist, folgt ferner nicht, daß er fliehen sollte. Manche Vertreter der kognitiven Theorie gestehen zu, daß Urteile und Meinungen allein nicht zum Handeln motivieren können. Sie nehmen den Meinungen entsprechende Wünsche an, um sowohl die phänomenale Qualität als auch den motivationalen Charakter vieler Emotionen zu berücksichtigen.37 Vor allem die Wünschen eigene Stärke soll den Empfindungscharakter emotionaler Einstellungen ausdrücken.38 Doch auch diese Reparatur kann Emotionen nicht hinreichend erklären. Starke Wünsche sind zwar phänomenal deutlicher wahrnehmbar. Es handelt sich bei derartigen Wünschen allerdings um rein hedonistische Wünsche der Lustbefriedigung bzw. Unlustvermeidung. Es gibt jedoch zahlreiche Emotionen, deren phänomenale Qualität nicht dadurch erklärt werden kann. So sind beispielsweise Gefühle der Freude, nachdem ein Wunsch befriedigt wurde, gerade nicht dadurch charakterisierbar. Ebensowenig scheint die phänomenale Qualität reaktiver Emotionen wie Schuld und Trauer mit derjenigen starker Wünsche vergleichbar, die auf Befriedigung drängen. Zwar sind auch Emotionen unterschiedlich intensiv. Ihr phänomenaler Charakter läßt sich jedoch nicht notwendigerweise durch die Stärke von befriedigungsorientierten Wünschen beschreiben.39 Zudem gibt es starke Wünsche, die nicht emotional sind. Die Annahme von Wünschen kann folglich die phänomenale Qualität emotionaler Einstellungen nicht adäquat erklären. Eine weitere Beschränkung der kognitiven Theorie betrifft die von ihr ermöglichte Form rationaler Kritik. Aufgrund der behaupteten Beziehung emotionaler Einstellungen zu Meinungen bleibt ihre mögliche Kritik ausschließlich epistemisch. Wenn Katrins Scham beispielsweise ihrer Meinung widerspricht, derzufolge soziale Anerkennung unbedeutend ist, beruht sie auf einem epistemischen Fehler. Die Emotion ist nicht mit dem Urteil kongruent, das ihr zugrunde liegt. Es scheint unmittelbar einleuchtend, daß sich Phobien und zwanghafte Zustände aufgrund ihrer mangelnden kognitiven Durchlässigkeit kritisieren lassen. Die panische Angst vor Spinnen, die wider besseres Wissen anhält und somit nicht mit den Urteilen der betreffenden Person kongruent ist, kann folglich als irrational kritisiert werden. Doch dies gilt nicht gleichermaßen für alle Emotionen. So könnte das träge Andauern emotionaler Einstellungen im Lichte von ihnen widersprechender Urteile in manchen Fällen auch als Ausdruck der 37 Vgl. W. Lyons (1980, 53-69 und 92-98) sowie D. Davidson (1976, 189 ff.). 38 Vgl. J. Marks (1982) und P. Greenspan (1988, 15-17). 39 Selbst Wünsche sind nicht unbedingt aufgrund ihrer Stärke differenzierbar. Der Wunsch, moralisch zu sein, kann z. B. stärker wiegen als der intensiver spürbare Wunsch nach Befriedigung eines Triebs. 280 Monika Betzler eigentlichen Wertungen einer Person gelten, die darauf hinweisen, daß ihre bewußten Urteile falsch sind.40 Die kognitive Analyse gesteht emotionalen Einstellungen jedoch keine korrektive Funktion gegenüber Urteilen zu. Daß sie jedoch träge auf ihnen widersprechende Meinungen reagieren, kann sie auch nicht erklären. Es wäre zumindest ebenso denkbar, daß die emotionale Einstellung unsere Urteile und Meinungen erst offenbart, während ihr widersprechende Meinungen und Urteile sich dann als falsch erweisen. Es wäre dann zu klären, aufgrund welcher Kriterien emotionale Einstellungen unsere bewußten Meinungen und Urteile zu korrigieren vermögen und insofern eine „affektive Kritik“ äußern.41 Angenommen, Erwin fürchtet sich vor dem Löwen, obwohl es sich um ein domptiertes Tier handelt, das obendrein in einem Käfig sitzt, und er folglich weiß, daß weder das Tier noch die Situation insgesamt gefährlich sind. Seine Furcht wäre der kognitiven Theorie zufolge irrational. Sie wäre allenfalls Ausdruck einer Phobie. Die Emotion könnte jedoch ebenso eine Reaktion auf eine Situation darstellen, die nur auf den ersten Blick sicher scheint. Da der Preis bei einem möglichen Irrtum sehr hoch wäre – schließlich ist ja denkbar, daß die Tür des Käfigs nicht fest verschlossen ist, und selbst gebändigte Löwen bleiben wilde Tiere mit unvorhersehbarer Aggressivität –, könnte es für die Sicherheit des eigenen Lebens nur klug sein, trotz gegenteiliger momentaner Meinungen furchtsam zu sein. Die kognitive Theorie scheint zwar gegenüber der Empfindungstheorie den Vorteil zu haben, die Intentionalität und rationale Kritisierbarkeit erklären zu können. Auch wenn die Beziehung emotionaler Einstellungen zu kognitiven Zuständen in vielen Fällen nicht bestritten werden kann, lassen sie sich aber nicht darauf reduzieren. Ihre Intentionalität setzt keine propositionalen Einstellungen voraus. Ebensowenig überzeugend ist, daß Emotionen lediglich epistemisch kritisiert werden können. Diese Diagnose kann als Ausgangspunkt für eine zukünftige Analyse emotionaler Einstellungen dienen. 4. SCHLUSSBETRACHTUNG Die Analyse emotionaler Einstellungen ist von dem Bestreben gekennzeichnet, Bedingungen ausfindig zu machen, die notwendig und gemeinsam hinreichend sind, um eine Einstellung bzw. einen mentalen Zustand als Emoti40 Diese Auffassung vertritt z. B. H. Frankfurt (1997). Vgl. auch I. Thalberg (1977, 31-41), der zu zeigen versucht, daß Emotionen nicht „falsch“ sein müssen, wenn sie auf falschen Meinungen basieren. 41 Wie dies aussehen könnte, führe ich aus in M. Betzler (2001). Vernunft und Leidenschaft 281 on zu bestimmen. Eine zentrale Kontroverse besteht hierbei darin, ob Emotionen kognitiv oder non-kognitiv, d. h. als evaluative Einstellungen mit propositionalem Gehalt oder als reine Empfindungen körperlicher Erregungszustände angemessener aufgefaßt werden. Ich habe dafür argumentiert, daß beide Auffassungen zu kurz greifen. Als ein Vorteil der kognitiven Theorie erweist sich jedoch, daß sie die rationale Kritisierbarkeit emotionaler Einstellungen besser berücksichtigen kann. Um der Tatsache gerecht zu werden, daß Emotionen auf Objekte gerichtet sind, sah sich die kognitive Theorie veranlaßt, propositionale Einstellungen, wie Meinungen, Urteile und Wünsche, als die geeigneten kognitiven Zustände anzunehmen. Es hat sich jedoch ergeben, daß zahlreiche Emotionen auf keinen propositionalen Einstellungen basieren, obwohl sie auf Objekte gerichtet sind. Ein weiteres Problem besteht darin, daß Meinungen und Urteile weder die phänomenale Qualität noch die Trägheit, die für viele Emotionen typisch ist, berücksichtigen und erklären können. Die zusätzliche Annahme von Wünschen scheint aufgrund der wunschspezifischen Erfüllungsbedingungen ungeeignet. Die meisten Emotionen besitzen phänomenale Qualität und sind zugleich intentional auf Objekte, Sachverhalte oder Personen gerichtet. Eine angemessene Erklärung emotionaler Einstellungen muß daher beide Eigenschaften berücksichtigen und zeigen, in welcher Beziehung sie miteinander kompatibel sein könnten. Hierbei bedarf es vor allem weiterer Klärung, inwiefern Empfindungen intentional sein können,42 bzw. inwiefern Intentionalität nicht notwendigerweise propositionale Einstellungen voraussetzt.43 Die gegenwärtige philosophische Emotionstheorie zeugt teilweise von dem Bestreben, einen Kompromiß zwischen diesen ursprünglich kontroversen Positionen zu erzielen. Es lassen sich ebenso Versuche beobachten, den genaueren Zusammenhang, aber auch den Unterschied zwischen bestimmten Klassen von Emotionen und intentionalen Einstellungen wie Wünschen, Dispositionen, Wertungen und Meinungen herauszuarbeiten.44 42 Vgl. G. Madell (1997), D. Pugmire (1998, 55-133) und P. Goldie (2000, 78 ff.). 43 R. Wollheim (1999, 1-68) versucht in diesem Sinne den Zusammenhang von Wünschen und Emotionen genauer zu konturieren. Vgl. auch G. Soldati (2000, 125), der den Zusammenhang von Empfindungen bzw. Wahrnehmungen und Meinungen genauer untersucht. 44 P. Goldie (2000, Kap. 2) bemüht sich darum zu zeigen, inwiefern sich Emotionen von Wünschen und Meinungen unterscheiden, und rekurriert hierbei auf ihre narrative Struktur. J. Neu (2000, 14-129) geht davon aus, daß Komplexe von Empfindungen, Wünschen, Verhalten und Meinungen unter bestimmten Umständen als Emotionen interpretiert werden. 282 Monika Betzler Der Versuch, Emotionen analog zu Wünschen zu fassen, scheitert jedoch insofern, als ihre Erfüllungsbedingungen zumindest teilweise verschieden und gerade in ihrem Unterschied bis heute wenig ausgelotet sind.45 Da dies einer umfassenden Analyse bedarf, kann ich hier nur auf zwei wichtige Unterschiede verweisen. Wünsche werden generell danach beurteilt, ob sie erfüllt oder befriedigt werden. Sie besitzen hierbei einen instrumentellen Wert in der Herbeiführung eines gegenüber dem jetzigen Zustand als besser erachteten Zustands in der Zukunft. Viele Emotionen sind dagegen reaktiv auf vergangene Handlungen oder an Personen gerichtet, ohne einen derartigen motivationalen Charakter zu besitzen.46 Sie motivieren weder zur Erlangung eines bestimmten Zustands noch sind sie reine Mittel zur Erlangung eines von ihnen unabhängigen Zwecks.47 Eine Emotion wie Trauer richtet sich z. B. auf den Verlust einer Person. Sie zielt weder auf einen anderen Zustand noch kann sie durch Wünsche erklärt werden. Liebe kann zwar von Wünschen begleitet sein, etwa dem Wunsch, daß es der geliebten Person gut gehen möge. Sie kann jedoch nicht durch Wünsche erschöpfend beschrieben werden. Schließlich können andere Personen geliebt, aber nicht gewünscht werden. Im Gegensatz zu Wünschen kann eine emotionale Einstellung wie Liebe zwischenmenschliche Beziehungen konstituieren. Da das gegenwärtige Standardmodell praktischer Rationalität Handlungen als rational ausweist, die durch die Meinungen und Wünsche der handelnden Person motiviert und verursacht sind,48 verspricht eine weiterführende Untersuchung, die die Eigenständigkeit emotionaler Einstellungen gegenüber Wünschen und Meinungen aufzeigt, die Reichweite praktischer Rationalität weiter aufzuklären und auf dieser Basis auch Fragen der Rechtfertigung moralischen Handelns zu beantworten. Sofern Emotionen eine Rolle für unser (ggf. moralisches) Handeln und Entscheiden spielen, ist zu klären, ob sie zur Rationalität unseres Handelns und Entscheidens beitragen. Die Antwort auf diese Frage hängt selbst wesentlich davon ab, wie Emotionen auch im Unterschied zu Wünschen, Meinungen und Urteilen definiert werden. 45 Wünsche selbst können hierbei rational als Folge von Meinungen oder als eine Art unmittelbarer Empfindung aufgefaßt werden. In beiden Fällen unterscheiden sich viele Emotionen von ihnen. 46 R. Gordon (1987, Kap. 3 u. 4) unterscheidet daher zwischen sogenannten „faktischen“ und „epistemischen“ Emotionen. 47 Wenn Emotionen daher aufgrund ihres instrumentellen Werts ausgezeichnet werden, z. B. eine Entscheidungshilfe in ansonsten allzu langwierigen Abwägungsprozessen zu sein, werden sie in ihrer Funktion deutlich verkürzt. Eine solche Auffassung vertritt z. B. J. Elster (1999, 239-328). Außerdem wird in einem solchen Fall einfach ein nonkognitiver Begriff emotionaler Einstellungen vorausgesetzt. 48 Vgl. D. Davidson (1963). Vernunft und Leidenschaft 283 Wie ich eingangs erwähnte, ist ein adäquater Begriff emotionaler Einstellungen nicht nur für zentrale Projekte der praktischen Philosophie, sondern auch für zentrale Themen der Philosophie des Geistes relevant. Die Auswirkungen, die eine angemessene Konzeption emotionaler Einstellungen auf den Zusammenhang von Körper und Geist sowie auf die Kompatibilität von körperlicher Verursachung und alltagspsychologischer Erklärung besitzt, konnte ich hier nicht ausführlich thematisieren. Es gibt allerdings bisher wenige Versuche, diese Fragen mit Hilfe einer Konzeption emotionaler Einstellungen zu beantworten. Ein adäquater Begriff emotionaler Einstellungen, der ihre Eigenständigkeit im Gegensatz zu Meinungen und Wünschen einerseits und über bloße Empfindungen hinaus andererseits berücksichtigt, stellt nach wie vor ein Desiderat dar. Er könnte die Reichweite praktischer Rationalität sowie die Funktion mentaler Einstellungen weiter aufklären helfen.49 LITERATUR Alston, William (1967) Emotion and Feeling. In: P. Edwards (Hg.) The Encyclopedia of Philosophy. London: Macmillan & The Free Press. Vol.1, 479-486. Aristoteles, Rhetorik. Übersetzt und erläutert von C. 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Das gilt nicht nur trotz, sondern auch gerade wegen der großen Fortschritte in der Hirnforschung und den Kognitionswissenschaften: Die schiere Mannigfaltigkeit der Ansätze, die Vielfalt neuer technischer Untersuchungsverfahren, die Pluralität der Disziplinen, die alle zum Verständnis des „Geist-Gehirn-Komplexes“ beitragen wollen und die zahlreichen dort erzielten Resultate führen zu einem Zustand, den ein amerikanisches Sprichwort leicht überspitzt auf den Punkt bringt: The more you know, the less you understand. Bahnbrechendes Wissen über Gehirnprozesse und mentale Zusammenhänge aller Art liegt vor, doch die Integration der zahlreichen Spezialkenntnisse in ein fundiertes, einheitliches Bild von Geist und Kognition läßt auf sich warten.1 Es kann demnach nicht irrelevant sein, den historischen Vorläufern unserer Disziplinen Gehör zu schenken. Im Folgenden werde ich die Affektbzw. Gefühlstheorien von Kant und Hume mit dem Ziel untersuchen, aus den Positionen dieser Denker Antworten auf eine zentrale Frage der philosophischen Debatte über den Status von Emotion und Vernunft im menschlichen Geist und in der Genese menschlichen Handelns zu gewinnen: Stehen die Emotionen der Vernunft, wie oft angenommen, als Widersacher gegenüber, oder führt diese Stilisierung in die Irre, da die Emotionen 1 „How the mind works“ wissen zur Zeit nur Popularisierer wie Steven Pinker (1997); Leute mit etwas mehr Problembewußtsein müssen hingegen mit Jerry Fodor entgegnen: „The Mind doesn’t work that way“ (2000) und zugeben, daß sie es jedenfalls noch nicht wissen. 288 Jan Slaby eine entscheidende Rolle für das menschliche Entscheiden und Handeln spielen und die Vernunft daher essentiell auf ihren Beitrag angewiesen ist?2 Wie sich im Folgenden zeigen wird, stehen sich zwei fundamental unterschiedliche Herangehensweisen gegenüber. Höhepunkt der Gegensätzlichkeit sind die konträren Ansichten bezüglich des klassischen Topos, demzufolge Vernunft und Leidenschaft ewige Widersacher im Kampf um Willensbildung und Handlungskontrolle seien. Kant macht die Annahme eines solchen Seelenkonflikts zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen – die gegensätzlichen Vermögen „Vernunft“ und „Neigung“ bilden die Achsen eines Koordinatensystems, in dem er die für ihn interessanten Phänomene lokalisiert (Abschnitt 1). Hume hingegen propagiert einen radikalen Bruch mit der klassischen Konzeption; in seiner Handlungstheorie bilden die „Leidenschaften“ den entscheidenden Motivationsfaktor, während die Vernunft auf den Status eines instrumentellen Hilfsvermögens relegiert, zum sprichwörtlichen „Sklaven der Leidenschaft“ erklärt wird (Abschnitt 2). Neben einer Untersuchung der konträren inhaltlichen Positionen ist zudem die spezifische Weise von Interesse, in der die beiden Autoren ihr Thema jeweils angehen. Anhand einiger kurzer Bemerkungen zur Emotionstheorie Antonio R. Damasios werde ich abschließend illustrieren, inwiefern der hier zutage tretende Unterschied für aktuelle Behandlungen des Themas relevant ist (Abschnitt 3). KANT: KABINETT DER ALLTAGSPATHOLOGIEN Wie kaum anders zu erwarten, ist Kant kein Freund von Affekten und Leidenschaften. Ihnen unterworfen zu sein sei „Krankheit des Gemüts“ (§ 73, 251),3 sie seien wie „Verkrüppelung“ oder wie „Wahnsinn“ anzusehen (§ 74, 253), es handele sich bei ihnen geradezu um „Krebsschäden für die reine praktische Vernunft“ (§ 81, 266) und überdies gebe es für den von ihnen Befallenen wenig Aussicht auf Heilung, höchstens ließen sich ihre Symptome durch „Palliativmittel“ (§ 80, 266) notdürftig lindern. Insbesondere an den Leidenschaften läßt Kant kein grünes Blatt – während Affekte sich rasch verflüchtigten und eher „wie ein Rausch [sind], den man ausschläft, obgleich Kopfweh darauf folgt“ (§ 74, 252), seien Leidenschaften Fälle für 2 Ich werde dabei die historische Chronologie mißachten und Kant vor Hume betrachten. Diese Reihenfolge hat systematische Gründe und kann als Hinweis darauf gewertet werden, daß die folgenden Bemerkungen weniger philosophiehistorisch als vielmehr problemorientiert verstanden werden sollen. 3 Alle Kant-Zitate beziehen sich auf dessen Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), zitiert nach der Akademie-Ausgabe, Band VII (Berlin 1907). In Klammern hinter den Zitaten jeweils Paragraph- und Seitenangabe. Sklaven der Leidenschaft? 289 den „Seelenarzt“, der aber zumeist machtlos bleibe (ibid.). Diese Bemerkungen mögen aus heutiger Sicht wie die überzogenen Vorstellungen eines professoralen Gemüts erscheinen, als Ausdruck einer „déformation professionelle“ des in die Jahre gekommenen Vernunftphilosophen – doch wie ich mit den folgenden Ausführungen zeigen möchte, lohnt sich ein genaueres Hinsehen durchaus. Zunächst einmal ist es keineswegs die Hauptabsicht Kants, eine Theorie der Gefühle oder der Emotionen aufzustellen. Was er zu den Affekten und Leidenschaften zu sagen hat, steht im Kontext einer Untersuchung des „Begehrungsvermögens“ – man könnte sagen: im Kontext einer Theorie natürlicher Motivation. Der Grundbegriff in diesem Zusammenhang ist der der sinnlichen Begierde mit der als „habitualisierte sinnliche Begierde“ (§ 73, 251) eingeführten wichtigen Unterkategorie der Neigung. Die Begierde bestimmt Kant als die „Selbstbestimmung der Kraft eines Subjekts durch die Vorstellung von etwas Künftigem als einer Wirkung derselben“ (§ 73, 251). Begierde ist also die Selbstbestimmung nicht des Subjekts, sondern der Kraft des Subjekts, womit der Punkt betont ist, daß Begierden unwillkürliche Antriebe sind, die ungefragt auftreten und das Subjekt auf ein Ziel hin drängen, das dieses sich nicht selbst gesetzt hat (etwa durch rationale Überlegung). An der Definition von Begierde ist eine zentrale begriffliche Weichenstellung abzulesen, die bei Kants Bestimmung der Kategorie „Leidenschaft“ noch deutlicher zum Vorschein kommt: „Die durch die Vernunft des Subjekts schwer oder gar nicht bezwingliche Neigung ist Leidenschaft“ ((§ 73, 251). Vernunft und Begierde (bzw. Neigung) liegen also von Hause aus im Clinch, und Leidenschaften sind genau die Zustände, bei denen die Vernunft dauerhaft unterlegen ist, bei denen die Neigung sich also ungebremst Bahn brechen und beständig handlungswirksam werden kann. Auch die Affekte charakterisiert Kant durch die inhibitorische Wirkung, die sie auf den „Vernunftgebrauch“ ausüben; allerdings ist in ihrem Fall nicht „Begierde“ das genus proximum, sondern ein momentaner Gefühlszustand: „Dagegen ist das Gefühl einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen Zustande, welches im Subjekt die Überlegung (die Vernunftvorstellung, ob man sich ihm überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen läßt, der Affekt“ (§ 73, 251).4 Aus der Analyse von Lust und Unlust, die Kant im Buch II geliefert hat, geht jedoch hervor, daß auch für diese beiden basalen, den Affekten zugrunde liegenden Zustände die Handlungstendenz ein ent4 Vgl. auch Kritik der Urteilskraft, § 29, Allgemeine. Anmerkung: „Affekten sind von Leidenschaften spezifisch unterschieden. Jene beziehen sich bloß auf das Gefühl; diese gehören dem Begehrungsvermögen an und sind Neigungen, welche alle Bestimmbarkeit der Willkür durch Grundsätze erschweren oder unmöglich machen. Jene sind stürmisch und unvorsätzlich, jene anhaltend und überlegt: so ist der Unwille, als Zorn, ein Affekt; aber Haß (Rachgier) eine Leidenschaft“ (Fußnote S. 119 f.). 290 Jan Slaby scheidendes Merkmal ist – insbesondere der mit Unlust identifizierte Schmerz ist laut Kant der Motivationszustand par excellence:5 „Der Schmerz ist der Stachel der Tätigkeit, und in dieser fühlen wir allererst unser Leben; ohne diesen würde Leblosigkeit eintreten“ (§ 60, 231). Auch der komplementäre Zustand der Lust wird durch die Handlungstendenz, sich nach Möglichkeit in ihm zu halten, charakterisiert.6 Leidenschaften sind also grundlegende, die vernünftige Überlegung ausschaltende, zeitlich stabile Antriebe; Affekte kurzfristige, mit eindeutigen Handlungstendenzen verbundene Gefühlszustände. Die Tatsache, daß es sich bei beiden Zustandstypen um „Vernunftinhibitoren“ handelt, ist nun offensichtlich dafür verantwortlich, daß Kant sie beide als „Krankheiten des Gemüts“ brandmarkt – wobei er die Leidenschaften aufgrund ihrer Stabilität und dem Umstand, daß „sie sich mit der ruhigsten Überlegung zusammenpaaren lassen“ und daß sie „selbst mit dem Vernünfteln zusammen bestehen können“ (§ 80, 265) für bedeutend gefährlicher hält. Im Gegensatz zu den Affekten bahnen sich die Leidenschaften ihren Weg nämlich in gewisser Weise durch den Verstand – sie verleiten das Subjekt dazu, auf völlig rationalem Wege ein irrationales Ziel zu verfolgen bzw. ein Ziel auf Kosten aller anderen möglichen und sinnvollen Ziele zu privilegieren. In Kants Worten: „Leidenschaft setzt immer eine Maxime des Subjekts voraus, nach einem von der Neigung ihm vorgeschriebenen Zwecke zu handeln. Sie ist also jederzeit mit der Vernunft desselben verbunden.“ (§ 80, 266) Und kurz darauf heißt es, daß sich der „Kranke“ – d. h. der von einer Leidenschaft „Befallene“ – nicht heilen lassen will, weil er sich der Herrschaft des einzigen Grundsatzes entziehe, durch den dies geschehen könne. Der Grundsatz lautet: „[N]icht einer Neigung zu Gefallen die übrigen alle in den Schatten oder in den Winkel zu stellen, sondern darauf zu sehen, daß sie mit der Summe aller Neigungen zusammen bestehen könne“ (§ 81, 266).7 5 „Schmerz ist die Unlust durch den Sinn, und was jenen hervorbringt, ist unangenehm“ (§ 60, 230). 6 „[W]as ebenso mich antreibt, [meinen Zustand] zu erhalten (in ihm zu bleiben): ist mir angenehm, es vergnügt mich“ (§ 60, 231). – Unter der Kategorie des Affekts versammelt Kant dann den größten Teil derjenigen Zustände, von denen eine Gefühls- bzw. Emotionstheorie handeln sollte: Freude, Zorn, Scham, Furchtsamkeit etc. (vgl. § 76-79). 7 Kant illustriert dies an einem Beispiel: „Die Ehrbegierde eines Menschen mag immer eine durch die Vernunft gebilligte Richtung seiner Neigung sein; aber der Ehrbegierige will doch auch von anderen geliebt sein, er bedarf gefälligen Umgang mit anderen, Erhaltung seines Vermögenszustandes u.d.g. mehr. Ist er nun aber leidenschaftlich-ehrbegierig, so ist er blind für diese Zwecke, dazu ihn doch seine Neigungen gleichfalls einladen, und daß er von anderen gehaßt, oder im Umgange geflohen zu werden, oder durch Aufwand zu verarmen Gefahr läuft, – das übersieht er alles“ (§ 80, 267). Diese Torheit, „den Teil seines Zwecks zum Ganzen zu machen“ (ibid.), ist laut Kant das Hauptcharakteristikum der Leidenschaft. Sklaven der Leidenschaft? 291 Daß der Vernunftgebrauch auf diese Weise eingeschränkt bzw. von irrational privilegierten Zielen kooptiert wird, ist für Kant gleichbedeutend damit, daß die Freiheit des handelnden Subjekts verhindert wird. Von Affekten und Leidenschaften affiziert zu sein, bedeutet Unfreiheit. Die Leidenschaft gebe die Freiheit auf und finde „ihre Lust und Befriedigung am Sklavensinn“ (§ 81, 267).8 Doch sei es keineswegs so, daß der im Bann einer starken Leidenschaft Befangene nun gleichsam „dumm, aber glücklich“ dahinlebe, sondern er entwickele durchaus ein Bewußtsein seiner Situation, was seinen Zustand um so bemitleidenswerter erscheinen lasse: Weil indessen die Vernunft mit ihrem Aufruf zur inneren Freiheit nicht nachläßt, so seufzt der Unglückliche unter seinen Ketten, von denen er sich gleichwohl nicht losreißen kann: weil sie gleichsam schon mit seinen Gliedmaßen verwachsen sind (§ 81, 267). * Betrachtet man all dies nun aus der Perspektive der zahlreichen aktuellen Arbeiten zum Thema Emotionen, in denen gerade die Überwindung des althergebrachten Gegensatzes von „Vernunft und Leidenschaft“ propagiert wird,9 so erscheint Kant als der typische Vertreter der überholten, von philosophischen Vorurteilen durchsetzen Position der Tradition – einer Position, der – so mag es scheinen – aus heutiger Sicht leicht das Wasser abgegraben werden könnte.10 Es gibt aber auch Vorurteile, die einfach stimmen. Bezüglich Kants Vorgehensweise in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht lassen sich jedenfalls zwei Positionen einnehmen: Einerseits kann man die Wortverwendung Kants auf unsere heutige, umgangssprachliche Verwendung von Ausdrücken wie „Affekt“ und „Leidenschaft“ übertragen und dann feststellen, daß er mit seiner ausnahmslosen Pathologisierung dieser Zustände weit über das Ziel hinausschießt. Man würde Kant also unterstellen, er behaupte, alles, was wir im weitesten Sinne als „Emotionen“ bezeichnen, sei ein Fall für den Therapeuten und schränke die innere Freiheit des Subjekts auf eine Weise ein, die zu keinem Zeitpunkt wünschenswert sein kann. Die Konsequenz dieser Lesart ist klar: Von solch einer überzogenen Position kann man nichts lernen. 8 Vgl. auch § 82, 269. 9 Vgl. etwa Damasio 1994, de Sousa 1987, Solomon 1976. 10 Auf das Verhältnis der Kantischen zu einer prominenten gegenwärtigen Theorie, nämlich der von Damasio, gehe ich im 3. Abschnitt näher ein. 292 Jan Slaby Eine alternative Lesart der relevanten Passagen ließe unser gegenwärtiges Alltagsverständnis der Emotionswörter außen vor und versuchte einzig, Kants Wortverwendung soweit wie möglich zu rekonstruieren. Man konstatiert dann einfach, daß es laut Kant zwei Sorten von problematischen motivationalen Zuständen gibt, die beide eine vernünftige Abwägung der Folgen einer Handlung nicht aufkommen lassen und somit oft zu einem Verhalten führen, das vom handelnden Subjekt, hätte es die freie Wahl, nicht gewählt würde. Alsdann kann man die Frage stellen, ob es die Phänomene, auf die Kants Beschreibungen zutreffen, tatsächlich gibt und falls ja, ob sie hinreichend häufig vorkommen, daß sie eine solch ausführliche Behandlung rechtfertigten. Der Umstand, daß Kant bei seinen Beschreibungen auf Ausdrücke zurückgreift, die wir inzwischen anders verwenden, sollte in einer solchen Lesart zwar festgestellt, aber nicht zu einem pauschalen Argument gegen die Kantische Auffassung gemacht werden. Ich möchte hier für die zweite Lesart plädieren und feststellen, daß Kant in der Tat eine interessante und empirisch gehaltvolle Klassifizierung vornimmt. Es gibt schlicht und einfach die Zustände, auf die seine phänomenologische Beschreibung zutrifft. Es sind motivationale Zustände, deren auffälligstes Merkmal eine Handlungswirksamkeit ist, die wider alle vernünftige Überlegung bezüglich dessen, was langfristig oder in einer gegebenen Situation sinnvoll ist, fortbesteht. Sie als Vernunftverhinderer und Blockierer der inneren Freiheit zu bezeichnen, trifft den Kern der Sache. Diese Zustände wirken einer Minimalforderung praktischer Vernunft entgegen: daß nämlich – wie Kant bemerkt – nicht einem beliebigen Wunsch alle anderen gegenwärtigen und künftig zu erwartenden Wünsche untergeordnet werden sollten. Sie sabotieren ein „rationales Neigungsmanagement“ und lassen eine Orientierung an langfristig sinnvollen Zielen gar nicht erst aufkommen. Kants Strategie der Pathologisierung von Emotionszuständen hat phänomenologische Berechtigung; sie trifft etwas, was in der gegenwärtigen Debatte m. E. stark unterbelichtet wird: daß nämlich auch zahlreiche Zustände unterhalb der Schwelle zur manifesten psychischen Störung bei Lichte besehen krankhafte Züge annehmen. Im Falle der Affekte wird diesem Sachverhalt allgemein Rechnung getragen. Innerhalb gewisser Grenzen akzeptieren wir es als Entschuldigung, die uns von Sanktionen absehen läßt, wenn jemand eine verwerfliche Handlung „im Affekt“ begangen hat. Wir sagen dann etwa: „Sie wußte in diesem Moment vor lauter Eifersucht nicht, was sie tat.“ Oder: „In seiner Wut ließ er sich zu einer Tat hinreißen, die er unter normalen Umständen niemals begangen hätte.“ Doch auch zeitlich stabile Motivationsstrukturen mit stark irrationalem Einschlag sind keine Seltenheit: Man stelle sich eine Studentin vor, die aus übertriebenem Ehrgeiz nichts anderes tut, als ständig über den Büchern zu sitzen und zu lernen und dabei die meisten anderen Lebensbereiche ver- Sklaven der Leidenschaft? 293 nachlässigt. Nach und nach vereinsamt sie, weil sie jegliche Kontaktpflege unterläßt; ihr Gesundheitszustand wird schlechter, weil sie sich nicht sportlich betätigt; sie läßt andere Interessen verkümmern und wird immer eindimensionaler. Wann immer sie den Vorsatz faßt, mal etwas anderes zu tun und sie daraufhin ihre Studierstube verläßt, beschleicht sie bald ein dermaßen großes Unbehagen, daß sie rasch wieder zu den Büchern zurückkehrt. So groß auch die akademischen Erfolge der Streberin sein werden, sie wird ihres Lebens nicht wirklich froh und läuft Gefahr, ernsthaft Schaden zu nehmen.11 Oder man nehme die von Kant selbst als Beispiel für eine Leidenschaft erwähnte „Herrschsucht“: Ein vom Bedürfnis nach Dominanz und Kontrolle beherrschter Mann schafft mit der ihm eigenen Aggressivität und Dynamik den beruflichen Aufstieg. In der Führungsposition angekommen, wird er zum Schrecken seiner Untergebenen, da er sie kontrolliert und wegen Kleinigkeiten rüde zurechtweist. Er bringt es nicht übers Herz, wichtige Aufgaben zu delegieren, macht folglich alles selbst und erstickt in Arbeit. Ein Privatleben hat er nicht; Beziehungen scheitern, weil die Partnerinnen sein Herumkommandieren und die ständigen Zurechtweisungen bald satt haben; etc. Weitere Fälle dieser Art ließen sich beliebig anschließen: Spielsucht mitsamt ihren Vorformen, Neigung zu übermäßiger oder stark einseitiger Ernährung, verwurzelter Haß mit dem Hang zur „Vergeltung um jeden Preis“ bis hin zu seinen gewalttätigen Auswüchsen in Extremismus und Terrorismus. Diese Beispiele bilden keineswegs eine klar umrissene psychologische Kategorie, doch ihnen allen ist gemeinsam, daß es sich um gleichsam „subklinische“, aber sich dennoch äußerst negativ auf die Lebensführung auswirkende, nur schwer zu bezwingende Motivationsstrukturen handelt. Die Grenze zwischen diesen Alltagspathologien und manifesten Neurosen oder auch klar diagnostizierbarem Suchtverhalten mag fließend sein – der entscheidende Punkt ist, daß es die Phänomene tatsächlich gibt, die Kant „Leidenschaften“ nennt und daß es sich bei ihnen keineswegs um harmlose „Charaktereigenschaften“ handelt. Wo immer etwas als krankhaft bezeichnet wird, muß es einen Maßstab der Gesundheit, ein Normalitätskriterium geben. Im Falle Kants ist dieses Kriterium eindeutig bestimmt: Es ist Herrschaft des oben schon erwähnten Grundsatzes der praktischen Vernunft, „nicht einer Neigung zu Gefallen die übrigen alle in den Schatten oder in den Winkel zu stellen“ (§ 81, 266). Man braucht sich also gar nicht im großen Stil auf Kants allgemeine Konzeption praktischer Vernunft einzulassen, denn bereits dieser Grundsatz liefert ein 11 Dieses Beispiel zeigt, inwiefern Kants Sprachgebrauch von dem unsrigen abweicht: Übertriebenen Ehrgeiz würden wir nicht zu den Leidenschaften zählen, Kant, so wie ich ihn verstehe, schon. 294 Jan Slaby gleichsam minimal normatives Kriterium, eine Art Imperativ des klugen Neigungsmanagements: Folge einer Neigung nur in dem Maße, in dem sie sich mit der Summe aller deiner (präsenten und künftigen) Neigungen in Einklang bringen läßt. Dieser „hypothetische“ Imperativ dient in unserem Zusammenhang lediglich als ein Negativkriterium zur Identifizierung pathologischer Fälle: Pathologisch sind solche Fälle, in denen das Subjekt diesem Grundsatz nicht mehr folgen kann. Was haben wir bis hierher gesehen? Nun, werten wir das, was Kant im Rahmen seiner Bemerkungen zum Begehrungsvermögen über Affekte und Leidenschaften sagt, als den Ansatz zu einer Emotionstheorie, dann hat diese die klassische Gestalt: Affekte und Leidenschaften treten als unliebsame Vernunftverhinderer in Erscheinung, sie verhindern vernünftiges Entscheiden und sind somit in einem wichtigen Sinne irrational. Wir haben überdies gesehen, daß Kants Phänomen-Klassifizierung eine empirisch gehaltvolle und alltagspsychologisch bedeutsame Interpretation gegeben werden kann. Verortete man Kant im Spektrum der gegenwärtigen Diskussion um Emotion und Leidenschaft, so käme er den Vertretern kognitivistischer Theorien am nächsten. Denn die Zustände, die er betrachtet, bestehen in erster Linie aus hartnäckig handlungswirksamen Maximen eines Subjekts. D. h. sie lassen sich in propositionale Form bringen und haben den Charakter von Wünschen oder Zielvorstellungen.12 „Ich muß mehr arbeiten!“ – „Meine Leistungen müssen besser werden“ – „Ich darf mich nicht ablenken“ – solche und ähnliche Sätze bringen den Gehalt der „Leidenschaft“ der von übersteigertem Ehrgeiz geplagten Studentin auf den Punkt. Zur Identifikation solcher Zustände ist also eine Perspektive erforderlich, die einem Subjekt Überzeugungen und Wünsche zuschreibt und diese dann an (minimalen) Rationalitätsstandards mißt. Pathologische „Leidenschaften“ sind demnach konative Zustände, die regelmäßig zu solchen Handlungen führen, die diese Rationalitätsstandards verletzten. HUME: IMPOTENZ DER VERNUNFT Berühmt sind Humes Invektiven gegen die klassische Sichtweise vom „Kampf zwischen Affekt und Vernunft“. Ein solcher finde nicht statt – weil er nämlich gar nicht stattfinden könne. „Reason“ und „passion“ seien zwei fundamental verschiedene Vermögen, denen es schlicht an der Gemeinsam12 Richard Wollheim betont ebenfalls die sachliche Nähe von Emotionen und Wünschen: So behauptet er etwa, „[d]aß die Emotionen gleichsam auf den Schultern unserer Wünsche in unser Leben treten“ (Wollheim 2001, 31). Sklaven der Leidenschaft? 295 keit mangele, die nötig wäre, damit sich sinnvoll von einem Kampf zwischen beiden sprechen ließe. Die Vernunft sei, was die Handlungsmotivation angehe, radikal impotent, sie könne für sich betrachtet niemals zum Motiv einer Handlung werden; während einzig die Leidenschaften13 die nötige motivationale Kraft aufbrächten. Wenn dem einen der beiden vermeintlichen Antagonisten aber jede eigene Antriebskraft fehlt, so könne man nicht kohärent davon reden, daß Vernunft und Leidenschaft miteinander um die Handlungskontrolle ringen würden. Wenn man überhaupt von einem Kampf reden könne, dann höchstens von einem zwischen entgegengesetzten Gefühlszuständen. In dieser Zuspitzung der Humeschen Position sind (unter anderem) zwei wichtige Thesen enthalten:14 1. 2. Die Vernunft hat keine motivationale Kraft Emotionen – und nur sie – sind Motivationen Im folgenden werde ich diese beiden Thesen anhand Humes Ausführungen in Buch II und III des Treatise of Human Nature erläutern und kritisch diskutieren, diejenigen Elemente seiner Emotionstheorie identifizieren, denen „alltagsphänomenologische Plausibilität“ zukommt und die Konzeption schließlich mit zwei Kritikpunkten konfrontieren, die mir einschlägig erscheinen.15 Bei der Demonstration der angeblichen „Impotenz der Vernunft“ wählt Hume eine unkomplizierte Route. Er definiert Vernunft einfach in einer Weise, die denkbar weit von jeglichem Handlungsbezug entfernt ist: Reason is the discovery of truth or falsehood. Truth or falsehood consists in an agreement or disagreement either to the real relations of ideas, or to the real existence and matter of fact. Whatever, therefore, is not susceptible of this agreement or disagreement, is incapable of being true or false, and can never be an object of our reason (Buch III, 1.1; 458).16 13 Ich verwende „Leidenschaft“ in diesem Abschnitt als Übersetzung von Humes „passion“, womit ich von Kants eigenwilliger Verwendung dieses Wortes abweiche und wieder einem der heutigen Alltagssprache näher stehenden Wortgebrauch folge. Hin und wieder verwende ich auch das Wort „Emotion“. 14 Darüber hinaus natürlich auch die grundlegende – und keineswegs triviale! – These von der radikalen Verschiedenheit von Emotion und Vernunft. 15 Mein Verständnis von Humes Auffassung wurde durch die ausgezeichnete Rekonstruktion Dominik Perlers (2001) erleichtert, auch wenn ich seine weitgehend affirmative Haltung bezüglich der Humeschen Position nicht teile. 16 Eine ausführlichere Bestimmung der Vernunft liefert Hume im Enquiry concerning Human Understanding, Section IV. 296 Jan Slaby Angesichts dieser Bestimmung von Vernunft ist allerdings noch keineswegs klar, daß damit die Emotionen etwas fundamental anderes, und demnach etwas Arationales seien. Wie in der gegenwärtigen Debatte des öfteren behauptet, könnten schließlich auch die Emotionen selbst Kandidaten für Vernünftigkeit sein – etwa dadurch, daß sie Überzeugungen bzw. Urteile beinhalten, die wahr oder falsch sein können.17 Genau an dieser Stelle kommt eines der umstrittensten Elemente der Humeschen Affektenlehre ins Spiel, nämlich seine These, die Leidenschaften seien „original facts and realities, compleat in themselves, and implying no reference to other passions, volitions and actions“ (ibid.). Aufgrund dieser Nicht-Referentialität bzw. Nicht-Repräsentativität gelte dann: „’Tis impossible, therefore, they can be pronounced either true or false, and be either contrary or conformable to reason“ (ibid.). Eine weitere, etwas ausführlichere Version des „Impotenz-Arguments“ erfolgt im Abschnitt 3.3 von Buch II. Dort geht Hume näher auf die zwei Arten von Verstandestätigkeit ein, die es seiner Ansicht nach gibt – einerseits das Urteilen nach demonstrativen Beweisgründen (d. h. Erkenntnis von „relations of ideas“), andererseits das Urteilen nach Wahrscheinlichkeit (d. h. Erkenntnis von „matters of fact“) – und fragt dann beinahe rhetorisch, ob diese beiden Tätigkeiten jemals die Ursache einer Handlung seien könnten (vgl. S. 413). Zu demonstrativen Urteilen bemerkt er, daß deren Anwendungsbereich die Welt der Ideen sei, während der Wille uns jederzeit in den Bereich der Realität versetze. Diese Bereichsunterscheidung zeige, wie weit Demonstration und Volition auseinander liegen (vgl. S. 414.). Die zweite Verstandestätigkeit hat zwar Realitätsbezug, doch dieser stehe ebenfalls nur in äußerst indirektem Zusammenhang mit Handlungen: Flößt uns nämlich irgendein Gegenstand Lust oder Unlust ein, so ist es dieser Gefühlszustand, der unsere Handlungstendenz – „to avoid or embrace what will give us this uneasiness or satisfaction“ (ibid.) – auslöst, während der Verstand lediglich durch Erkenntnis von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen Informationen darüber beschafft, welche anderen Objekte mit dem lustoder unlusterzeugenden Objekt verbunden sind oder welche Objekte ähnliche Eigenschaften besitzen: Here then reasoning takes place to discover this relation; and according as our reasoning varies, our actions receive a subsequent variation. But ’tis evident in this case, that the impulse arises not from reason, but is only directed by it (Buch II, 3.3, S. 414). 17 Am pointiertesten vertritt gegenwärtig R. C. Solomon (1976) eine solche Position. Sklaven der Leidenschaft? 297 Was die Vernunft nicht kann – nämlich den für die Handlung nötigen „Impuls“ geben – muß folglich ein anderes Vermögen leisten. Und dies sei eben die Aufgabe der Leidenschaften. Die Vernunft produziert Überzeugungen, aber diese allein reichen nicht aus, um uns zu Handlungen zu veranlassen. Die Leidenschaften, insbesondere die direkten, sind hingegen intrinsisch motivational.18 Andererseits sind sie ihrerseits vollkommen arational, weil sie – wie eben gesehen – keine Kandidaten für Wahrheits- oder Falschheitszuschreibungen sind. Es mache demnach keinen Sinn, sondern komme einem Kategorienfehler gleich, sie rational kritisieren zu wollen. Aus alledem folgt dann Humes berühmtes Diktum, daß die Vernunft der „Sklave“ der Leidenschaften sei und es auch sein müsse und daß ihr nie eine andere Aufgabe zukomme, als den Leidenschaften zu dienen und Folge zu leisten: Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them (Buch II, 3.3, S. 415). Wie wir gesehen haben, ist diese These nicht als eine normative Auszeichnung der Gefühle im Gegensatz zur Vernunft zu verstehen, sondern als eine gleichsam konstitutionstheoretische These im Rahmen einer Handlungstheorie: Die Vernunft kann aufgrund ihrer rein epistemischen Natur gar keine andere als eine „dienende“ Rolle spielen, sie kann sich an der Verwirklichung einer gegebenen Motivation zwar auf entscheidende Weise beteiligen, indem sie die nötigen deskriptiven oder instrumentellen Überzeugungen bereitstellt, aber sie kann weder selbst Ziele bestimmen noch von sich aus die „Körpermaschine“ in Bewegung setzen. Ein solches Zwei-Komponenten-Modell ist in der gegenwärtigen philosophischen Handlungstheorie weit verbreitet: In dem Ausdruck „beliefdesire-explanation“ finden sich die beiden von Hume proklamierten Vermögen wieder; seine Handschrift ist auch noch gut zu erkennen, wenn – wie etwa bei Davidson – von sogenannten „pro attitudes“ die Rede ist, die zu den deskriptiven Überzeugungen in einem praktischen Syllogismus hinzukommen müssen, damit dieser Handlungen wirklich zu erklären vermag (vgl. Davidson 1963). 18 Die Unterscheidung zwischen „direkten“ und „indirekten“ Leidenschaften ist neben der zwischen „ruhigen“ und „heftigen“ zentral für Humes Emotionstheorie. Die direkten Leidenschaften sind u.a. dadurch charakterisiert, daß sie unmittelbar willensbildend sind – in erster Linie sie sind es also, die den Motivationscharakter der „passions“ ausmachen (vgl. insb. Buch II, Abschnitt 3.1). Die indirekten Leidenschaften – Humes ausführlich diskutierte Beispiele sind „pride“, „humility“, „love“ und „hatred“ – können hingegen auch ohne unmittelbare Handlungstendenzen auftreten. 298 Jan Slaby In der bisher geschilderten abstrakten Form entbehrt Humes Theorie aber noch jeglicher Plausibilität, denn zwei Einwände drängen sich geradezu auf: Erstens scheint die These, Emotionen seien „original existences“ ohne repräsentative Eigenschaften, kontraintuitiv. Emotionen haben doch offensichtlich intentionalen Gehalt: Bin ich wütend, dann bin ich wütend über etwas oder über jemanden, freue ich mich, dann freue ich mich über etwas etc. Aufgrund dieser Intentionalität scheint es auch durchaus möglich, Emotionen rational zu kritisieren – schließlich können sie, je nach dem, auf was sie gerichtet sind, angebracht oder weniger angebracht und damit, wie es scheint, eben doch: vernünftig oder unvernünftig sein. Der zweite Einwand betrifft die vermeintliche Unfähigkeit der Vernunft, uns zu Handlungen zu motivieren. Es gibt doch klarerweise Fälle, in denen wir uns aufgrund vernünftiger Überlegungen gegen die Neigungen des Augenblicks entscheiden, also das tun, was wir für vernünftig halten und nicht das, zu dem wir uns „gefühlsmäßig“ hingezogen fühlen. Es ist leicht einzusehen, daß der Umgang mit diesen Einwänden, die ja nicht auf Details sondern ins Grundsätzliche gehen, für eine fundierte Einschätzung der Humeschen Theorie von entscheidender Bedeutung ist. Dem ersten Einwand begegnet Hume mit der Präzisierung des Verhältnisses von Leidenschaften und Überzeugungen. Selbstverständlich bestehe zwischen beiden Komponenten ein Zusammenhang – Leidenschaften würden gemeinhin von Urteilen und Überzeugungen begleitet, und insofern diese Urteile und Überzeugungen unvernünftig seien, könne man in einem gewissen Sinne sagen, daß es auch die entsprechenden Leidenschaften seien. Er präzisiert noch weiter und unterscheidet zwei Weisen potentieller Unvernünftigkeit von Emotionen: First, When a passion, such as hope or fear, grief or joy, despair or security, is founded on the supposition of the existence of objects, which really do not exist. Secondly, When in exerting any passion in action, we choose means insufficient for the design’d end, and deceive ourselves in our judgment of causes and effects (Buch II, 3.3, S. 416). Nun wird zumindest deutlicher, was Hume mit der „original existence“ der Leidenschaften meinen könnte: Zwar werden Leidenschaften in der Regel von Überzeugungen verursacht und stehen daher in einem unmittelbaren Zusammenhang mit diesen;19 dennoch sind diese Überzeugungen aber nicht Bestandteil der Leidenschaften selbst.20 Betrachtet man das Buch II des Treatise in seiner Gesamtheit, dann scheint diese Interpretation angemessen: 19 „As belief is almost absolutely requisite to the exciting our passions, so the passions in their turn are very favourable to belief“ (Buch I, 3.10, S. 120). 20 Dominik Perler (2001, 12, 14 und Anm. 26) versucht diese Lesart zu plausibilisieren. Sklaven der Leidenschaft? 299 Einerseits gibt es zahlreiche Passagen, die dafür sprechen, daß Hume eine Art „feeling theory“ der Emotionen vertritt; andererseits besteht der Großteil des Textes aus umfangreichen Analysen der kognitiven Antezedenzbedingungen verschiedener Emotionen, etwa des Stolzes und der Niedergeschlagenheit, der Liebe und des Hasses. Fraglich ist es indes, ob Hume mit dieser Klarstellung tatsächlich unseren ursprünglichen Einwand entkräftet: Wenn die Überzeugung, auf der eine Emotion basiert, falsch ist, kritisieren wir nicht die Emotion als irrational – im Gegenteil, nun verstehen wir, warum jemand die unpassende Emotion hat und versuchen ihn über seinen Irrtum aufzuklären. Es ist die der Emotion zugrunde liegende falsche Überzeugung, die wir kritisieren und zu korrigieren suchen. Die Emotion selbst kritisieren wir erst dann, wenn sie nicht zu den Überzeugungen desjenigen paßt, der sie hat: wenn sich jemand über die Maßen über einen kleinen, unbedeutenden Fehler eines Kollegen ärgert; wenn jemand Angst vor einer Prüfung hat und sie deshalb immer wieder verschiebt, obwohl er weiß, daß er in der Lage ist, sie zu bestehen, weil er ähnliche Prüfungen in der Vergangenheit gemeistert hat, sich gut vorbereitet hat etc.; wenn jemand aufgrund gleichsam „subliminaler“ Anhaltspunkte übertriebene und lang anhaltende Eifersuchtsanfälle erleidet, obwohl alles objektiv dafür spricht, daß seine Partnerin die Treue in Person ist etc. – weitere Fälle dieser Art sind Legion. Da Hume seine Diskussion nicht auf diese Fälle ausdehnt,21 können wir nur darüber spekulieren, wie er mit ihnen umgehen würde. Vermutlich würde er die These vertreten, daß bei all diesen Fällen dennoch jeweils eine kausal relevante und zur jeweiligen Emotion passende Überzeugung vorliegen muß – so versteckt sie auch sein mag – und daß es erst das Verwerfen dieser Überzeugung ist, das die Emotion auslöscht. Humes Entgegnung auf den zweiten Einwand kommt in dem für uns relevanten Zusammenhang eine noch größere Bedeutung zu, weil davon abhängt, ob es Hume gelingt, uns von der Unmöglichkeit eines Kampfes zwischen Vernunft und Leidenschaft zu überzeugen. Humes Desiderat ist ein alternativer begrifflicher Kommentar zu den Fällen, wo wir doch ganz offensichtlich aus vernünftiger Einsicht heraus gegen momentane Inklinationen 21 Humes Behandlung dieses Problems in Abschnitt 3.3 endet, bevor es zu den eigentlich interessanten Fällen kommt: „The moment we perceive the falsehood of any supposition, or the insufficiency of any means our passions yield to our reason without any opposition. I may desire any fruit as of an excellent relish; but whenever you convince me of my mistake, my longing ceases.” (Buch II, 3.3, 416 f.) Daß auch Hume solche „Emotionen wider besseres Wissen“ kennt wird im Abschnitt 2.3 deutlich. Dort behauptet er, daß Leidenschaften gelegentlich die zu ihnen passenden Überzeugungen erst nachträglich erzeugen. Eine ernsthafte Problematisierung dieses Umstandes fehlt jedoch. 300 Jan Slaby zu Handeln imstande sind. Seine Lösung ist denkbar unkompliziert – er deutet die in Frage stehenden Erfahrungen einfach um: Diese Fälle seien gar keine Fälle, bei denen sich die Vernunft gegen unsere Wünsche und Leidenschaften durchsetzt, sondern auch hier seien Leidenschaften am Werk – allerdings handele es sich dabei um die sogenannten „ruhigen“ Leidenschaften („calm passions“), deren Wirken wir aufgrund des Fehlens der ansonsten üblichen emotionalen Erregung gemeinhin mit der Vernunft zu verwechseln pflegen: These desires are of two kinds; either certain instincts originally implanted in our natures, such as benevolence and resentment, the love of life, and kindness to children; or the general appetite to good, and aversion to evil, consider’d merely as such. When any of these passions are calm, and cause no disorder in the soul, they are very readily taken for the determinations of reason, and are suppos’d to proceed from the same faculty, with that, which judges of truth and falsehood. (Buch II, 3.3, S. 417) Was gemeinhin für einen Kampf zwischen Vernunft und Leidenschaft gehalten werde, sei tatsächlich ein Konflikt zwischen zwei Arten von Leidenschaften: den heftigen Begehrlichkeiten des Augenblicks auf der einen, sowie den ruhigen, beständigen, den Charakter der Person ausmachenden Neigungen auf der anderen Seite. „Present disposition“ versus „general character“ also statt Vernunft versus Gefühl (vgl. S. 418.). Dieser Schachzug sollte uns mißtrauisch machen. Oftmals erfüllt nämlich eine solche terminologische Spitzfindigkeit einzig den Zweck, eine Schwierigkeit aus der Welt zu räumen, die im Rahmen des ansonsten gebräuchlichen Vokabulars nicht zu bezwingen wäre. Hume scheint mir mit seinen „calm passions“ eine theoretische Anomalie schlicht „wegdichten“ zu wollen. Man braucht gar nicht zu bestreiten, daß es neben den heftigen auch ruhige, mit wenig Erregung verbundene Emotionen gibt, und daß diese uns auch hin und wieder zu Handlungen motivieren. Äußerst unplausibel ist einzig die Behauptung, daß immer dann, wenn wir glauben, aus vernünftiger Einsicht heraus gegen eine emotionale Neigung gehandelt zu haben, es nicht unsere Vernunftgründe sondern kaum- oder gar nicht spürbare „ruhige“ Leidenschaften gewesen sein sollen, die den entscheidenden motivationalen Impuls lieferten. Ob akzeptabel oder nicht, zusammenfassend läßt sich zu Humes Theorie der Leidenschaften folgendes sagen: Seine Affektenlehre tritt an ihrer entscheidenden Stelle als Handlungstheorie auf, und zwar mit der Kernthese, daß einzig die „passions“ motivationale Kraft haben, während die Vernunft lediglich instrumentellen Charakter hat und sich in den Dienst der wechselnden Leidenschaften stellt, ohne je selbst handlungswirksam zu werden. Sklaven der Leidenschaft? 301 Obwohl der Kantischen Theorie radikal entgegengesetzt, läßt sich auch für Humes Auffassung einiges an „alltagsphänomenologischer Evidenz“ anführen: Daß Rauchen schädlich für die Gesundheit ist, wissen die meisten Raucher, dennoch ist diese Überzeugung gewöhnlich kein Grund, mit dem Rauchen aufzuhören. Wie man aus der einschlägigen Literatur zum Abgewöhnen des Rauchens weiß, muß die Motivation in der Regel von ganz woanders kommen. Daß man als Student gute Gründe hat, eine Hausarbeit zügig zu schreiben und abzugeben, ist klar, dennoch fällt es vielen schwer, es tatsächlich zielstrebig und konzentriert zu tun. Besteht jedoch ein starkes persönliches Interesse an dem Thema, sind Begeisterung und positive Emotionen damit verbunden, geht die Arbeit locker von der Hand und nicht selten ist auch das Ergebnis besser, als es wäre, wenn eine Arbeit über irgendein beliebiges Thema einfach lustlos heruntergeschrieben würde. Geradezu lächerlich käme uns ein Fußball-Trainer vor, der seiner Mannschaft vor dem Spiel schlicht sachlich erklärte, daß es angebracht sei, zu gewinnen, weil es dafür drei Punkte gebe und es dann in der Tabelle bergauf gehe. Beim Sport wie in vielen anderen Bereichen auch ist eine Motivation gefragt, die sich aus anderen Quellen speist als aus der rationalen Abschätzung der zählbaren Vorteile des angestrebten Resultats. Die These, daß Emotionen für Motivationen dieser Art eine weitaus wichtigere Rolle spielen als rationales Abwägen, wird kaum jemand bezweifeln wollen. Auch Humes Darstellung trifft also etwas, das wir aus unserer alltäglichen Erfahrung zu kennen glauben. Nun haben wir aber im Abschnitt zu Kant gesehen, daß uns auch eine der Humeschen grundsätzlich entgegengesetzte Auffassung empirisch plausibel erscheint. Die Art meiner Präsentation der Positionen von Kant und Hume dürfte bereits verraten haben, welches Modell ich für das treffendere halte. Bevor ich einen genaueren Blick auf die Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen den Ansätzen der beiden Autoren werfe, möchte ich noch kurz auf zwei m. E. zentrale Mängel der Humeschen Auffassung hinweisen. Der erste problematische Punkt betrifft die Anforderungen, die Hume ganz offensichtlich an eine Handlungstheorie stellt. Er redet davon, daß ein „Impuls“ gegeben werden müsse, der uns in Bewegung setzt.22 Er schließt von der Tatsache, daß die Vernunft in erster Linie ein abstraktes Urteilsvermögen sei, darauf, daß sie uns keinen „Antrieb“ zum Handeln geben könne. Wie es scheint, fordert Hume als Bestandteil von Handlungserklärungen die Aktivität eines „Antriebsvermögens“ und dies sieht er in den Leidenschaften. Eine solche Impetus-Theorie der Handlung scheint mir nun aber verfehlt zu sein. Von einer philosophischen Handlungstheorie zu fordern, daß sie nicht nur erklären solle, warum sich der menschliche Körper 22 Zur Erinnerung: “But ’tis evident in this case, that the impulse arises not from reason, but is only directed by it.” (Buch II, 3.3, S. 414 – Hervorhebung von mir, J. S.). 302 Jan Slaby so bewegt, daß er die und die Handlung ausführt, sondern darüber hinaus auch, warum er sich überhaupt bewegt, ist zuviel verlangt. Es geht vielmehr darum, eine adäquate Beschreibung für diejenigen Körperbewegungen zu finden, die Handlungen sind. Nicht jedoch darum, zu erklären, warum wir uns überhaupt bewegen und nicht vielmehr nicht. Wie es kommt, daß wir uns bewegen, darf für die Philosophie keine offene Frage mehr sein. Eine Behandlung dieser Frage gehört in die Naturwissenschaft und benötigt keine obskure philosophische Ergänzung.23 Begibt man sich aber der Notwendigkeit, einen Impetus-Faktor unter den Handlungsantezedentien auszuzeichnen, so ist auch die motivationale Asymmetrie zwischen Vernunft und Leidenschaft hinfällig. Dann können beide Vermögen gleichermaßen ausschlaggebende Handlungsgründe bereitstellen.24 Der zweite Einwand ist noch ein wenig allgemeiner als der erste: In Humes Konzeption von Vernunft fehlt eine Perspektive, von der aus gegebene Handlungsgründe als vernünftig oder unvernünftig ausgezeichnet werden können. Das Problem liegt in Humes Auffassung von Vernunft als bloßem Urteilsvermögen. Was die Vernunft seiner Ansicht nach einzig leistet, ist das Gewinnen von Überzeugungen durch entweder demonstrative Schlüsse oder durch empirische Tatsachenurteile. Beide Urteilsarten werden gleichsam kontextfrei als Spezialvermögen beschrieben, deren Aktivität endet, wenn die entsprechende Überzeugung vorliegt.25 Diese rein deskriptive Auffassung von Vernunft mag charakteristisch sein für Humes Empirismus; dieser Umstand sollte uns aber nicht daran hindern, auf ihre Mängel aufmerksam zu machen: Eine solche eingeschränkte Vernunftauffassung beraubt uns der Möglichkeit, wichtige Elemente unserer Handlungs- und Urteilspraxis als vernünftige Wesen zu beschreiben. Am deutlichsten wird 23 J. Nida-Rümelin (2001, 39 ff.) nennt eine Auffassung wie diejenige Humes eine „Physik des Wollens und des Handelns“ und sieht ihren Ursprung bei Thomas Hobbes, der im Leviathan Liebe und Haß als Abstoßungs- und Anziehungskräfte auffaßt, die den Körper in Bewegung halten. Ich stimme seiner Kritik an dieser fest verwurzelten Auffassung zu. 24 Ein Umstand, der mit unserer gewöhnlichen Praxis der Handlungsbegründung bestens im Einklang ist; schließlich akzeptieren wir auf die Frage „Warum hast Du das getan?“ sowohl die Antwort, „Weil ich gerade Lust darauf hatte“ als auch die Antwort, „Weil es mir vernünftig erschien“. Es besteht keine Asymmetrie. 25 Man könnte das, was Hume bei der Bestimmung von Vernunft unterläuft, als „faculty fallacy“ bezeichnen: Er schließt von den am meisten offenkundigen „Produkten“ dessen, was wir im weitesten Sinne umgangssprachlich als Vernunft bezeichnen – also deduktivlogisch und deskriptiv-empirisch adäquat gewonnene Überzeugungen – auf ein Vermögen, dessen Aufgabe genau dies ist: das Gewinnen solcher Überzeugungen. Zusammen mit weiteren Hintergrundannahmen – die empiristische Ausrichtung, die Tendenz zum methodologischen Individualismus – ergibt sich dann die „nothing buttery“: Vernunft ist nichts als ebendieses Vermögen. Normative, evaluative und intersubjektive Erwägungen kommen gar nicht erst in den Blick. Sklaven der Leidenschaft? 303 dieser Vernunftdefätismus angesichts der berühmten Aussprüche Humes, daß es der Vernunft nicht zuwider laufe, eher die Zerstörung der ganzen Welt zu wollen als einen Ritz am Finger und daß es ebensowenig unvernünftig sei, den vollständigen eigenen Ruin in Kauf zu nehmen, um das kleinste Unbehagen eines Indianers zu verhindern. Die Fähigkeit und Berechtigung, punktuelle Einzelhandlungen in einen größeren Kontext zu stellen und so auf ihre Vernünftigkeit zu überprüfen, geht bei Hume also völlig verloren. Entsprechend fehlt auch die Perspektive, von der aus Kant seine „Pathologisierung“ von Affekt und Leidenschaft vornimmt: Die Perspektive einer Gesamtschau über das Miteinander von gegenwärtigen und künftigen Neigungen einer Person, von der aus die Person eine gegebene Handlungsmöglichkeit daraufhin überprüfen kann, ob sie zum gegebenen Zeitpunkt vernünftig ist oder nicht. Selbst wenn man nur dieses minimal-normative Kriterium der Neigungskoordination in Anschlag bringt – also alles andere als eine anspruchsvolle Konzeption von praktischer Vernunft – fällt Humes Vernunftauffassung weit dahinter zurück. Das sollte für uns Grund genug sein, sie zu verwerfen. Dann bleibt uns allerdings die Aufgabe zu zeigen, warum auch Humes Emotionstheorie alltagspsychologischen Gehalt zu haben scheint. Warum haben wir den Eindruck, daß unsere Vernunftgründe allein selten ausreichen, uns zu Handlungen zu veranlassen? Wieso sind wir davon überzeugt, daß Emotionen die stärksten Motivationen sind? Nun, darauf zu antworten ist denkbar einfach: Wir haben diese Eindrükke, weil es stimmt: Emotionen sind die Motivationen par excellence – Humes These, Leidenschaften (insbesondere seine „direct passions“) seien unmittelbar willensbildend, dürfte voll zutreffen. Was hingegen nicht stimmt, ist die These von der „Impotenz der Vernunft“: Wir sind sehr wohl in der Lage, aufgrund vernünftiger Gründe gegen die Neigungen und Leidenschaften des Augenblicks zu handeln. Daß das glücklicherweise nicht immer nötig ist und daß es manchmal mißlingt, spricht nicht gegen diese von Kant zu recht vorausgesetzte Tatsache der conditio humana. KANT UND HUME IM KONTEXT Bei der bisherigen Präsentation und Diskussion der beiden Auffassungen spielten Verweise auf gegenwärtige Diskussionszusammenhänge keine große Rolle. Ich bemerkte oben, daß Kant eine dem aktuellen mainstream der Emotionsforschung entgegengesetzte Position einnimmt. Daraus ergibt sich, daß Hume aus Sicht heutiger Theoretiker der Anschlußfähigere sein dürfte. Der Grundzug dieser aktuellen Thematisierungen ist die Anerkennung der wichtigen Rolle, die die Emotionen für menschliches Denken, 304 Jan Slaby Entscheiden und Handeln spielen. Beispielhaft sind in dieser Hinsicht die Untersuchungen des Hirnphysiologen Antonio R. Damasio.26 Ausgangspunkt seiner Theorie sind die erstaunlichen Verhaltensweisen, die Patienten mit Läsionen im Bereich des präfrontalen Kortex an den Tag legen: Diese zeigen sich nämlich unfähig, in Angelegenheiten, die unmittelbar ihre eigene Lebensführung und ihr nahes soziales Umfeld betreffen, Entscheidungen zu treffen. Sie sind somit zu einer normalen Lebensführung nicht mehr in der Lage, zeigen aber bei Denkaufgaben, die keine persönliche Signifikanz, sondern lediglich streng logischen oder mathematischen Charakter haben, kaum oder gar keine Beeinträchtigungen. Damasio leitet aus solchen Beobachtungen seine Theorie der „somatischen Marker“ ab. Entscheidungen im personal relevanten Bereich würden nicht auf „reiner Vernunft“ allein – er versteht darunter formal-logisches Abwägen sämtlicher Handlungsoptionen sowie rationale Kosten-Nutzen-Analysen –, sondern zusätzlich auf einer automatisch ablaufenden emotionalen Bewertung vorgestellter Szenarien basieren. Gewisse mentale Bilder würden „somatisch markiert“, d. h. ihr Imaginieren werde von positiven oder negativen „Bauchgefühlen“ begleitet, was zur Folge habe, daß negativ markierte Optionen von vornherein ausgeschlossen würden und sich so die Komplexität der Entscheidungssituation deutlich reduziere (vgl. Damasio 1994, 173 ff.). Es sei daher ein Fehler der klassischen Rationalisten gewesen, die Emotionen als Störfaktoren des Vernunftgebrauchs auszuschließen und statt dessen eine rein logische Konzeption vernünftigen Überlegens und Entscheidens vorzulegen. Wie sich an den Läsionspatienten studieren lasse, seien die Emotionen für vernünftiges Entscheiden unabdingbar. Diese Überlegungen bezieht Damasio auch unmittelbar auf die Motivationsthematik, womit er der Auffassung Humes besonders nahe kommt: Wenn wir etwas tun, das zwar in der Gegenwart mit Unlust verbunden ist, aber später angenehme Folgen für uns hat – seine Beispiele sind Joggen gehen, sich einer notwendigen Operation unterziehen oder ein Graduiertenstudium absolvieren – dann sei nicht eine nüchterne Kalkulation der langfristigen Vorteile dieser Kasteiungen und auch nicht bloße „Willenskraft“ ausschlaggebend, sondern die somatisch positiv markierte Imagination des zukünftigen Zustandes.27 Wie in der Theorie Humes nehmen also auch bei Damasio die Emotionen eine ausgezeichnete Rolle als motivationale Zustände ein. 26 Vgl. zur Theorie Damasios auch Walter (1998, 334 ff.). 27 „Willenskraft“ sei vielmehr bloß ein anderes Wort für den Umstand, daß wir uns den angestrebten zukünftigen Zustand bildlich vorstellen und dabei positive Emotionen erleben. Der Gedanke an zukünftige Gratifikationen wiege somit die gegenwärtigen Mühen auf (vgl. Damasio 1994, 175). Sklaven der Leidenschaft? 305 Allerdings ist auch in Bezug auf Damasios fundierte Untersuchungen zu bemerken, daß die von ihm skizzierte rationalistische Gegenkonzeption, gegen die er seine Theorie der somatischen Marker ins Feld führt, auf einer spürbaren Unterbestimmung von Vernunft und Rationalität basiert. Niemals würde ein Rationalist bestreiten, was Damasio ihm gleichwohl unterstellt: daß bei unserem faktischen Entscheiden auch evaluative Zustände wie die Emotionen eine Rolle spielen. Die Verurteilung der Emotionalität als Störfaktoren der Vernunft war ja nicht so gemeint, daß emotionale Bewertungsmechanismen vollständig auszuschließen seien, sondern lediglich so, daß nicht hartnäckige und unbelehrbare Emotionen die alleinige Handlungskontrolle übernehmen sollten. Kant gibt in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel ab: Er geht von der Beobachtung aus, daß es nun einmal so ist, daß viele suboptimale Verhaltensmuster – also die von mir so genannten „Alltagspathologien“ – das Ergebnis solcher stabiler Emotionen sind. Was auch immer die normale Rolle emotionaler Faktoren im menschlichen Entscheidungsgeschehen sei, so könnte man diesen Gedankengang paraphrasieren, lasse sich nicht bestreiten, daß irrationales Verhalten oftmals eindeutig auf das Konto bestimmter, stabiler Emotionsmuster gehe und Emotionen also genau in diesem Sinne als Störfaktoren und Vernunftinhibitoren gelten können. Der Unterschied der Auffassungen, die sich hier gegenüberstehen, betrifft also nicht das empirische Material, sondern die Perspektiven, aus denen es jeweils betrachtet wird: Kants minimal-normative Bewertungsperspektive erlaubt es ihm, gewisse Emotionen als Störfaktoren der Vernunft zu bezeichnen. Humes und Damasios empirische Perspektive hingegen führt zu dem Befund, daß ohne Emotionen gar kein Entscheiden und folglich kein vernünftiges Handeln möglich wäre. Eine Diskrepanz entsteht nur deshalb, weil beide Lager den Vernunftbegriff für sich reklamieren. Kants Konzeption ist deshalb als Antwort auf die Ausgangsfragestellung angemessener, weil sich Vernunft ohne Bezug auf normative Bewertungen nicht adäquat charakterisieren läßt. Kant verfügt also über einen angemesseneren Vernunftbegriff .28 28 Insofern scheint mir auch Damasio in die Nähe zu einem „faculty fallacy“ in Bezug auf die Vernunft zu geraten: Die Untersuchungen der psychologischen Vorgänge „reasoning“ und „decision making“ sind auf einer anderen logischen Ebene angesiedelt als die Bestimmung der Begriffe „Vernunft“, „vernünftige Entscheidung“ und „rationales Überlegen“. Was wir über unser faktisches Räsonieren und Entscheiden herausfinden, ändert nichts an unserem Verständnis dieser allgemeinen Ausdrücke. Insbesondere nimmt es uns nicht die Berechtigung, bezüglich faktisch gefällter Entscheidungen eine normative Beurteilungsperspektive einzunehmen. 306 Jan Slaby FAZIT Es wäre falsch zu behaupten, die Differenzen zwischen Kant und Hume beträfen klar lokalisierbare Unterschiede in den Affekt- bzw. Emotionstheorien dieser beiden Autoren. Denn das, was Kant vorgelegt hat, kann nicht als eine solche gewertet werden. Kant hat im Rahmen seiner Motivationstheorie – also im Rahmen seiner Bemerkungen zum „Begehrungsvermögen“ – eine alltagspsychologisch plausible Lesart der geradezu klischeehaften These vom Kampf zwischen Vernunft und Leidenschaft geliefert. Hume hingegen verfolgt mit seiner Position (unter anderem) den Zweck, die Existenz eines solchen „Kampfes“ begründet zu bestreiten. Wir haben Gründe gefunden, die eher die Kantische Lesart nahelegen als die entsprechende Gegenthese Humes, ohne daß dadurch der Kern der Humeschen Emotionstheorie selbst widerlegt würde. Die Probleme betrafen vielmehr Humes Vernunftauffassung sowie seine handlungstheoretische Grundannahme. Betrachtet man die hier dokumentierte und interpretierte Kontroverse aus einer Metaperspektive, so fällt insbesondere folgendes auf: während Kant Affekte und Leidenschaften als alltagspsychologisch auffällige Zustände bestimmt, deren Auffälligkeit darin besteht, daß sie das vernünftige Überlegen und Entscheiden und folglich das rationale Handeln blockieren, versucht Hume seine Bestimmung der Kategorie „passion“ tiefer anzusetzen, nämlich auf der Ebene eines psychischen Vermögens. Humes Perspektive, so könnte man aus heutiger Sicht sagen, bestimmt die Leidenschaften als „natural kind“, während Kant sie lediglich als „relevant kind“ klassifiziert, also aus der Sicht ihrer lebensweltlichen Relevanz (eben als problematische Motivationsstrukturen). Die Emotionen als ein fundamentales psychisches Vermögen zu bestimmen, wie Hume es tut, mag angehen, aber sobald man diesen Schritt auch in Bezug auf die Vernunft unternimmt, gibt es die oben erwähnten Probleme. Man verwechselt die normative Bewertungsperspektive mit der psychologischen Beschreibung und nimmt sich damit eine wichtige Möglichkeit, die menschliche Handlungspraxis adäquat zu charakterisieren. In Bezug auf Emotionen, Affekte und Leidenschaften sind hingegen beide Klassifikationsweisen zulässig. Es handelt sich bei diesen Zuständen einerseits um organismische Zustände, die sich nach den in den Biowissenschaften üblichen Klassifikationsprozeduren individuieren lassen.29 Anderseits aber nehmen sie eine derart fundamentale Rolle in unseren alltagspsychologischen Selbst- und Fremdinterpretationen ein, daß man nicht ohne 29 Wobei es allerdings sein könnte, daß das, was wir umgangssprachlich mit dem Obertitel „Emotionen“ bezeichnen, in Wahrheit mehrere natürliche Arten umfaßt. Paul E. Griffiths (1997) unterscheidet beispielsweise zwischen basalen Affektprogrammen, höheren kognitiven Emotionen sowie sozial stabilisierten Emotionsskripten. Sklaven der Leidenschaft? 307 weiteres über diese Klassifikationspraxis hinwegsehen kann. Daß der umgangssprachliche Emotionsbegriff die entsprechenden naturwissenschaftlichen Kategorien nicht vollständig abbildet, sondern auch andere, ähnliche Phänomene umfaßt, ist noch kein Argument dafür, daß wir ihn aufgeben und durch wissenschaftlich respektablere Kategorien ersetzen sollten. Kants Vorgehensweise zeigt, daß sich am Leitfaden des klassischen Topos vom Kampf zwischen Vernunft und Leidenschaft eine relevante Phänomenfamilie identifizieren läßt, die durch das Netz psychologischer, psychiatrischer oder biologischer Kategorisierung hindurchzufallen droht. Bevor wir im szientifischen Übereifer zur Entzauberung der traditionellen Vorurteile über Emotion und Vernunft ansetzen, sollten wir also prüfen, ob die hergebrachten Bestände der folk psychology nicht einen ebenso signifikanten Gehalt haben wie das, was von Seiten ambitionierter Naturwissenschaften an ihre Stelle gesetzt werden soll.30 LITERATUR Damasio, Antonio R. (1994) Descartes’ Error: Emotion, Reason, and the Human Brain. New York: G.P. Putnam’s Sons. Davidson, Donald (1963) Actions, Reasons, and Causes. In: Ders.: Essays on Actions and Events. Oxford: Clarendon Press, 1980, 3-19. De Sousa, Ronald (1987) The Rationality of Emotion. Cambridge, MA: MIT Press. Fodor, Jerry A. (2000) The Mind doesn’t Work that Way, Cambridge, MA: The MIT Press. Griffiths, Paul E. (1997) What Emotions Really Are. The Problem of Psychological Categories. Chicago, London: University of Chicago Press. Hume, David (1739/40) A Treatise of Human Nature, ed. by L. A. Selby-Bigge, Oxford: Oxford Clarendon Press 1967. Hume, David (1748) An Enquiry Concerning Human Understanding, ed. by L.A. Selby-Bigge, Oxford: Oxford University Press, 1975. Kant, Immanuel (1790) Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe, Bd. V). Berlin, 1908. Kant, Immanuel (1798) Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe, Bd. VII), Berlin: 1907. Nida-Rümelin, Julian (2001) Strukturelle Rationalität, Stuttgart: Reclam. Perler, Dominik (2001) Humes Theorie der Motivation. Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 26, 3-21. Pinker, Steven (1997) How the Mind Works, London: Allen Lane. 30 Ich danke Achim Stephan und Andreas Bürger für wichtige Hinweise zu einer früheren Version dieses Artikels. 308 Jan Slaby Solomon, Robert (1976) The Passions. Emotions and the Meaning of Life. New York: Anchor Press/Doubleday. Walter, Henrik (1998) Neurophilosophie der Willensfreiheit. Paderborn: Schöningh. Wollheim, Richard (2001) Emotionen. Eine Philosophie der Gefühle. Aus dem Englischen übersetzt von Dietmar Zimmer, München: C. H. Beck. (Originalausgabe: On the Emotions. New Haven: Yale University Press, 1999). Achim Stephan ZUR NATUR KÜNSTLICHER GEFÜHLE K önnten Sie künstliche Gefühle haben? – Nehmen wir an, Sie fühlen sich niedergeschlagen, gehen zur Apotheke und verlangen nach einer Packung „Antidepressiva“. Sie nehmen eine Tablette und nach kurzer Zeit ist Ihre Niedergeschlagenheit verschwunden, Sie fühlen sich erheblich besser, die ganze Welt sieht wieder anders aus. Haben Sie ein künstliches Gefühl? Ihre Freundin hält nicht viel von Tabletten. Sie geht zum Therapeuten, schildert ihre Beschwerden und Wünsche. Dieser leitet eine Entspannung ein, suggeriert mit leicht hypnotischen Techniken, daß die Niedergeschlagenheit schwinden und sie sich bald wohler fühlen werde – die Besserung tritt ein. Hat Ihre Freundin nach dem Besuch beim Therapeuten ein künstliches Wohl-Gefühl? Ihr Bekannter von nebenan ist verzweifelt. Vor einer Woche war er auf einer Party und lernte dort eine interessante Frau kennen, in die er sich „Hals über Kopf“ verliebte. Nach einer Woche ist er ernüchtert und stellt erstaunt fest, daß er wohl nicht bei Sinnen war. Ein längeres Grübeln läßt ihn erinnern, daß jene Person ein geradezu betörender Duft umgab, der ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Sinne und, mehr noch, seine Urteilskraft geraubt haben mußte. Hatte der Bekannte an jenem Party-Abend künstliche Gefühle? Wir wechseln die Situation. Etwas science fiction mag erlaubt sein. Drei Ihrer Kollegen sind in der Forschung tätig. Der eine ist Chemiker in der pharmazeutischen Industrie; er träumte schon immer davon, neue Gefühle und Stimmungen zu kreieren; nun sei es ihm endlich gelungen, behauptet er. Sie probieren eine seiner neuesten Pillen und fühlen sich danach ganz seltsam, es läßt sich gar nicht genau beschreiben: Sie empfinden auf lustvolle Weise Scham, die durch einen Hauch von leichtsinniger Schwermut überlagert wird. Ist dies ein künstliches Gefühl? Der zweite arbeitet kulturvergleichend als kognitiver Anthropologe. Er wollte schon immer wissen, wie es ist, ein Japaner zu sein; insbesondere, wie es ist, Amae zu erleben. Dabei handele es sich nämlich um ein sonderbares Gefühl der Abhängigkeit, das wir nicht kennen und nur von Höhergestellten oder Überlegenen befriedigt werden könne – ein Gefühl, für das es in den 310 Achim Stephan europäischen Sprachen gar kein treffendes Wort gebe (vgl. Coulmas 1993, 33 ff.).1 Gemeinsam mit Kollegen aus der neurologischen Abteilung gelingt es ihrem Bekannten herauszufinden, welche neuronalen Prozesse dem von Japanern Amae genannten Gefühls-Zustand zugrunde liegen. Nun läßt er diese neuronalen Prozesse bei sich selbst auslösen. Erlebt er Amae? Hat er ein künstliches Gefühl? Weiß er nun, wie es ist, Japaner zu sein? Der andere Bekannte erzählt gerne von seinem neuesten Roboter. Der letzte habe sich wie noch keiner zuvor aufgeführt. Gestern habe er geradezu getobt, nichts richtig gemacht, alle Sachen im Zimmer verstreut und es abgelehnt, diese wieder aufzuräumen. Hat der Roboter etwa Gefühle, war er nicht „gut drauf“? Ich glaube es wird Zeit, daß wir mit dem Sortieren anfangen. In den ersten beiden Fällen handelt es sich offenbar um künstlich erzeugte Gefühle. Die Gefühle selbst sind jedoch durch und durch natürlich; ihre Träger, die beiden Personen, hätten sie – vielleicht unter anderen Umständen – genau so erleben können, wie sie durch die beiden Eingriffe, den chemischen und den suggestiv-hypnotischen, in ihnen hervorgerufen wurden. Fortschritte der Pharmazie gestatten es, neurochemische Vorgänge so zu beeinflussen, daß eine unliebsame Grundstimmung abgelöst und durch eine angenehmere ersetzt werden kann. In beiden Fällen wäre das ausgelöste Gefühl ein künstlich erzeugtes. Das gleiche scheint für die Suggestion zu gelten. Auch diese induziert eine Gefühlslage, die in der vorherrschenden Situation kaum von alleine aufgetreten wäre. Medikamentöse Beeinflussungen wurden bisher hauptsächlich für die Korrektur leidvoller Grundstimmungen und schmerzhafter Körperempfindungen entwickelt. Dagegen gibt es meines Wissens keine „Scham“- „Eifersuchts“- oder „Zornes-Pillen“. Komplexere Gefühlszustände wie diejenigen, die man unter dem Etikett der Emotion im engeren Sinne diskutiert, die Intentionalität, also eine Gerichtetheit auf einen Sachverhalt oder auf Gegenstände aufweisen und die einer rationalen Bewertung zugänglich sind, solche Gefühle werden in der Regel nicht medikamentös hervorgerufen. Daraus folgt jedoch nicht, daß Emotionen im engeren Sinne prinzipiell nicht medikamentös zu beeinflussen sind. Es zeigt zunächst nur, daß es keinen medizinischen Bedarf für das künstliche Auslösen spezifischer Emotionen gibt. Emotionen dieses Typs: Zorneswallungen, Scham usw. sind ihrer Natur nach viel kurzlebiger als langanhaltende Grundstimmungen, die sich wie ein Schatten auf unser ganzes Tun legen können und deshalb viel eher Anlaß zu einer Korrektur geben. 1 Vgl. auch Deighton und Traue (2003, 245 ff.). Zur Natur künstlicher Gefühle 311 Aber wie verhält es sich mit dem unglücklichen Bekannten? Seine Gefühle an jenem Abend waren echt, aber sie haben ihn getäuscht. Sie wurden durch etwas anderes ausgelöst, als er dachte. Nicht die Eigenschaften der für begehrenswert gehaltenen Person, sondern intensive Duftstoffe haben seine Gefühle der Zuneigung ausgelöst. Seine Gefühle waren natürliche, er hätte sie auch durch das bekommen können, was er fälschlicherweise für den Auslöser seiner Gefühle hielt. Hier haben wir also keinen Fall eines künstlichen Gefühls, sondern den Fall eines fehlgeleiteten Gefühls. Doch nun zu den spannenderen Fällen. Der Chemiker hat ein neues Gefühl synthetisiert, ein Gefühl, das so noch niemand zuvor empfunden hat. Es wurde nicht nur künstlich hervorgerufen – dies hat es mit den ersten beiden Fällen gemein –, sondern es hat auch noch eine neue artifizielle Qualität, es empfindet sich anders als die auf herkömmliche Weise in uns entstehenden Gefühle: – „leichtsinnige Schwermut“. Anscheinend sind wir so disponiert, daß wir Empfindungen solcher Art haben können. Unsere Natur erlaubt es uns, diese merkwürdigen künstlichen Gefühle zu bekommen, auch wenn es – aus einer evolutionären Perspektive betrachtet – keine Notwendigkeit gab, daß sie in uns situationsbedingt, durch natürliche Auslöser eben, entstehen. Viele Drogen scheinen künstliche Gefühle eines solchen Typs auszulösen. Und der Kulturanthropologe? Er scheint die Körpersensationen zu erleben, die Japaner empfinden, wenn sie im Zustand von Amae sind. Ein für ihn sicher neues Gefühl, ohne Zweifel künstlich hervorgerufen; artifiziell auch insofern, als es in ihm so nicht durch Situationen im Alltagsleben ausgelöst worden wäre, noch nicht einmal in Japan. Dazu hätte er dort aufwachsen, japanisch erzogen werden müssen. Andererseits ist dieses Gefühl nicht künstlich für Menschen schlechthin. In Angehörigen der japanischen Kultur ist es tief verwurzelt, es spielt eine wichtige Rolle im Sozialgefüge der japanischen Gesellschaft. Müßten wir deshalb relativ zu Kulturen von „natürlichen“ oder „künstlichen“ Gefühlen sprechen? Ist das sinnvoll? Und wie verhält es sich mit dem Roboter, der sich benimmt, als habe er Gefühle bekommen? – Ein künstliches System mit natürlichen Gefühlen? Hat er welche? Kann er überhaupt welche haben? Bis wir uns diesen Fragen näher zuwenden können, sind allerdings noch einige Vorarbeiten zu leisten. Zunächst dies: Die heterogene Gruppe der mentalen Zustände, die man etwas leger alle „Gefühle“ nennt, läßt sich unterteilen in „gefühlte“ Körperzustände wie Schmerzen, Taubheit oder Kribbeln, Stimmungen wie Euphorie und Schwermut, ungerichtete Gefühle wie Angst und Lust oder gerichtete komplexere Emotionen wie Scham, Zorn oder Eifersucht. Die Frage, die hier zur Debatte steht, ist, ob oder gegebenenfalls unter welchen Bedingungen von einem dieser Zustände gesagt werden kann, es sei ein künstliches Gefühl. 312 Achim Stephan Mitunter ist es jedoch besser, mit einer umgekehrten Frage zu beginnen. Also: Was macht ein Gefühl eigentlich zu einem natürlichen Gefühl? Und, was ist wesentlich dafür, daß von einem System berechtigterweise gesagt werden kann, es habe Gefühle? Es ist durchaus spannend, zur Beantwortung dieser Fragen bei Aristoteles nachzusehen: In de anima befaßt er sich mit den Affektionen und Affekten der Seele – mit Zorn, Milde, Furcht, Mitleid, Wagemut, dazu mit Freude und Lieben wie Hassen. Für Aristoteles ist klar, daß die Affekte allesamt materiegebundene Zustände sind, die z. B. wie folgt definiert werden könnten: „Zorn ist eine Art Bewegung des so und so beschaffenen Körpers oder Körperteiles unter der und der Einwirkung zu dem und dem Zweck.“ Naturforscher und Dialektiker definierten jeden der Affekte freilich auf verschiedene Weise. Betrachten wir den Zorn: „der eine wird ihn definieren als Streben nach Vergeltung einer Kränkung oder etwas derartiges, der andere als Sieden des Blutes, das um das Herz liegt und heiß ist. Von diesen gibt der eine die Materie wieder, der andere die Form und den Begriff“ (de anima 403 a/b). In seiner Rhetorik hat Aristoteles ergänzend hinzugefügt: Zorn sei ein mit Schmerz verbundenes Trachten nach dem, was uns als Rache für das erscheint, worin wir eine Kränkung unserer selbst erblicken ..., und zwar durch jemanden, dem das Kränken nicht zukomme. Ferner werde der Zorn in jedem Fall von einem gewissen Lustgefühl begleitet, das auf der Hoffnung, sich rächen zu können, basiere. Über die Leidenschaft des Zornes werde daher treffend gesagt, und hier bezieht sich Aristoteles auf Homers Ilias (vgl. 1378 b): „Der, weit süßer zuerst denn sanft eingleitender Honig, Bald in der Männer Brust aufwächst wie dampfendes Feuer!“ (Homer, Ilias XVIII. Gesang, 109 f.) Aristoteles schneidet nahezu alle Aspekte an, die auch heute noch für das Vorliegen eines natürlichen Affektes für wesentlich gehalten werden: Einige der Merkmale eines echten Gefühlszustandes sind öffentlich zugänglich, andere dagegen scheinen nur derjenigen Person zugänglich zu sein, die die entsprechenden Gefühle hat. Öffentlich zugänglich sind, was Aristoteles „eine Art Bewegung des so und so beschaffenen Körpers oder Körperteiles unter der und der Einwirkung zu dem und dem Zweck“ nennt. Moderner ausgedrückt handelt es sich dabei um die Bestimmung eines Gefühles über dessen funktionale Rolle: In einem Zorneszustand zu sein, heißt, in einem Zustand zu sein, der üblicherweise durch bestimmte, einem Bewertungsprozeß unterzogene Situatio- Zur Natur künstlicher Gefühle 313 nen (z. B. Kränkungen) ausgelöst wird, der mit spezifischen Körperreaktionen (z. B. einer Erhöhung des Blutdruckes) sowie mit bestimmten anderen mentalen Zuständen (z. B. den Gedanken: „das laß ich mir nicht bieten, dem zahl ich’s heim“) einhergeht, und der häufig bestimmte Verhaltensreaktionen nach sich zieht (z. B. Beschimpfungen oder Handgreiflichkeiten).2 Bis auf die begleitenden Gedanken sind die anderen Parameter des so gefaßten Zornesgefühls zumindest im Prinzip öffentlich zugänglich. Je nach dem, in welchem Verhältnis der auslösende Anlaß und die Heftigkeit der Reaktion zueinander stehen, kann man die verschiedenen Temperamente unterscheiden wie z. B. Phlegmatiker und Choleriker; diese Kennzeichnung bringt demnach die Disponiertheit einer Person, in bestimmter Weise auf mögliche „Auslöser“ zu reagieren, zum Ausdruck. Darüber hinaus scheinen mehrere dieser Merkmale auch kulturell spezifische Ausformungen zu erhalten: Was für wert erachtet wird, Zorn zu erregen, ebenso wie das, was als erlaubte Zornesreaktion angesehen wird, differiert durchaus von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort. Anders als bei gerichteten Affekten wie Scham, Zorn, Furcht, Eifersucht oder bei schmerzhaften Körperempfindungen scheint die Verknüpfung mit spezifischen auslösenden Faktoren bei Stimmungen weniger prägnant zu sein. Deshalb dürfte es bei diesen etwas schwieriger sein, eine funktionale Charakterisierung zu geben. Darüber hinaus gehen mit dem Zornesgefühl, und auch das hat Aristoteles berücksichtigt, bestimmte Empfindungen einher. Zum einen repräsentieren diese den emotionalen Zustand selbst in seiner charakteristischen Art: Es fühlt sich einfach anders an, zornig zu sein als beschämt oder furchtsam. Zum anderen entsprechen aber auch den mit dem Affekt einhergehenden 2 Eine analoge Analyse des Zornes gibt auch Descartes in Les Passions de L’Ame: „Der Zorn ist auch eine Art Haß oder Aversion, die wir gegen diejenigen empfinden, die etwas Schlechtes getan haben oder die Schaden anzurichten versucht haben, aber nicht irgendwem, sondern gerade uns. So enthält er dieselben [Eigenschaften] wie der Unwille, darüber hinaus baut er jedoch auf einer Handlung auf, die uns [selbst] betrifft und für die wir uns rächen wollen. Denn diese Begierde begleitet ihn fast immer, und er ist der Dankbarkeit genauso entgegengesetzt, wie der Unwille der Gunst. Aber er ist viel heftiger als diese drei anderen Leidenschaften, weil die Begierde, schädliche Dinge abzuwehren und sich zu rächen, die stärkste von allen ist. Es ist die Begierde verbunden mit der Selbstliebe, welche dem Zorn die nötige Erregung des Blutes verleiht, die den Mut und die Kühnheit hervorrufen, und der Haß bewirkt, daß es hauptsächlich galliges Blut ist, das aus der Milz und den kleinen Adern der Leber stammt, das so in Wallung gerät und ins Herz eintritt. Dort erregt es wegen seiner Übermenge und gemäß der Eigenheit der Galle, mit der es gemischt ist, eine scharfe brennende Hitze, wie sie nicht durch die Liebe oder Freude erregt werden kann“ (Artikel 199). 314 Achim Stephan Körperveränderungen weitere phänomenale Körpererlebnisse: es fühlt sich anders an, „wenn das Blut um die Herzgegend siedet“ als wenn wir ein „flaues Gefühl im Magen“ spüren oder einen „Kloß im Halse“ sitzen haben. Beide Empfindungsarten sind allerdings nicht öffentlich zugänglich; sie sind private qualitative oder phänomenale Zustände der gerade emotional erregten Person. Nach Ansicht einiger Autoren besteht der qualitative Aspekt eines Gefühls allerdings aus nichts anderem als den gefühlten Körperzuständen. So sagt William James: „Wenn wir uns ein starkes Gefühl vorstellen und dann versuchen, in unserem Bewußtsein jegliches Empfinden für seine Körpersymptome zu eliminieren, stellen wir fest, daß wir nichts zurückbehalten, keinen ‚Seelenstoff ’, aus dem sich das Gefühl zusammensetzen ließe, und daß ein kalter und neutraler Zustand intellektueller Wahrnehmung alles ist, was bleibt“ (zitiert nach Damasio 1997, S. 180). Und schließlich können wir noch hinzufügen, daß die so erlebten Empfindungen in uns Menschen, aber auch in anderen Tiergattungen, auf neuronalen Prozessen in bestimmten Gehirnarealen basieren, die genau diese phänomenalen Zustände in uns zu realisieren scheinen – zumindest kovariieren sie mit diesen. Die mit den empfundenen Gefühlen korrelierten neuronalen Vorgänge sind im Prinzip zumindest wieder öffentlich zugänglich, ja sogar durch spezifische Techniken manipulierbar. Zusammenfassend lassen sich damit drei Parameter für das Vorliegen von Gefühlen festhalten. Danach läßt sich ein Gefühl bestimmen: (1) über die funktionale Rolle, die es üblicherweise hat, (2) über die phänomenale Qualität, die mit ihm einhergeht – das, wie es sich z. B. anfühlt, zornig zu sein; und (3) über die (neurophysiologische) Realisierungsbasis des qualitativen Erlebniszustandes.3 Kehren wir noch einmal zu den eingangs beschriebenen Situationen zurück. Denn nun sind wir in einer besseren Lage, diese zu klassifizieren und voneinander abzugrenzen: 3 Traue und Kessler (2003, 25) nennen sechs Komponenten, nach denen sich Emotionen beschreiben lassen, nämlich: (1) Subjektives Erleben, (2) sprachliche Repräsentanz, (3) Kognitive Bewertung von inneren und äußeren Stimuli, (4) Ausdrucksverhalten der Mimik, der Gestik und des gesamten Körpers, (5) Physiologische und endokrine Aktivierung sowie (6) Kognitiver Entwurf von Handlungen und Handlungsbereitschaften. Von diesen Faktoren gehören (2), (3), (4) und (6) zur funktionalen Rolle, die eine Emotion hat, (1) korreliert mit der phänomenalen Qualität und (5) mit der Realisierungsbasis. Zur Natur künstlicher Gefühle 315 Die ersten beiden Fälle enthalten offenbar eine Abweichung von der „natürlichen“ Auslösesituation des entstandenen Gefühls. Es ist keine heitere Atmosphäre, kein Besuch von Freunden oder etwas Vergleichbares, das zu einer Änderung der schwermütigen Gestimmtheit geführt hat, sondern ein chemischer bzw. suggestiv-hypnotischer Eingriff in den komplexen menschlichen Organismus. Die Kausalkette, die zu bestimmten Gefühlen zu führen vermag, wurde an einer anderen, aber offenbar gleichfalls geeigneten Stelle begonnen. Nicht eine lebensweltliche Situation führte zu einer „adäquaten“ Gefühlsreaktion, sondern ein das gewünschte Gefühl unmittelbar erzeugender Eingriff. Am Beispiel des Zornes bedeutete dies, daß nicht eine kränkende Situation zu Zornesreaktionen Anlaß gegeben hätte, sondern – vielleicht – eine Stimulierung der medialen Anteile des Mandelkernkomplexes, einem Teil des sogenannten limbischen Systems (vgl. Solms 1996, 514).4 Die begleitenden Körperreaktionen und das subjektive Erleben des Gefühls unterscheiden sich freilich nicht von denen, die durch ‚natürliche Faktoren’ hervorgerufen werden. Mark Solms, auf den ich mich hier beziehe, spricht davon, daß die Stimulierung der corticalen und zentralen Kerngebiete des Mandelkernkomplexes (der Amygdala) bei Tieren zu typischen somatischen Begleiterscheinungen der Aggression und des Angriffsverhaltens führe wie z. B. dem Zähnefletschen, Knurren, Fauchen, Sträuben des Fells u. a. mehr. Ich gehe davon aus, daß es sich bei Menschen ähnlich verhält. In diesem Falle sind demnach die Merkmale (2) und (3) erfüllt, die normale funktionale Einbettung hingegen ist unvollständig, die natürlich auslösende Situation fehlt. Der Auslöser ist ein künstlicher. Genau deshalb spricht man in diesem Falle von künstlich erzeugten Gefühlen. Hingegen sind die ebenfalls in die funktionale Charakterisierung eingehenden somatischen Reaktionen und die Bereitschaft, aggressiv zu reagieren, vorhanden. Wären wir in der Lage, die genauen neurophysiologischen Wege zu verfolgen, die vom Wahrnehmen einer kränkenden Situation bis zum Zustandekommen einer Zornesregung im Gehirn genommen werden, so könnten wir sehen, an welchen nachgeschalteten „Rädchen“ dieses äußerst komplexen Vorganges künstlich gedreht wurde, um auch ohne eine Kränkungssituation Zornesgefühle und -reaktionen zu erzeugen. Daraus scheint aber zugleich zu folgen, daß es sich bei den künstlich erzeugten Gefühlen sonst in jeder Hinsicht um echte Gefühle handelt. Sie sind den Fällen vergleichbar, in denen die Einnahme eines Entspannungsmittels den ersehnten Schlaf für jemanden bringt, der ohne diese 4 Zur Funktionsweise des limbischen Systems als eines zentralen Bewertungssystems des Gehirns vergleiche man Gerhard Roths Das Gehirn und seine Wirklichkeit (1997, 194-212). 316 Achim Stephan Hilfe schlaflose Nächte vor sich hätte. Der so ermöglichte Schlaf mag zwar ein künstlich erzeugter sein, aber dennoch ist er ein genuiner Schlaf. Dagegen scheint es für das neuartige Gefühl „leichtsinniger Schwermut“ noch nicht einmal eine „Job-Deskription“ zu geben; es ist ein un-natürliches, ein synthetisches Gefühl. Weder die Empfindungen, von denen berichtet wird, noch die körperlichen Reaktionen, die mit ihr einhergehen, passen zu einer funktionalen Einbettung, die auf äußere Lebensereignisse Bezug nimmt. Das macht hier das Künstliche aus. Und selbst wenn man unter großen Mühen sehr komplexe Lebenssituationen zusammenstellen könnte, die ebenfalls zu diesen Gefühlsregungen Anlaß geben könnten, so haftete auch jenen etwas ausgesprochen Artifizielles an. Wieder anders sieht es im Falle des neugierigen Kulturanthropologen aus. Für den in ihm künstlich erzeugten Amae-Zustand gibt es zwar eine funktionale Beschreibung, aber nicht im Rahmen unserer Kultur. Ebenso fehlen jener Person die relevanten kognitiven Zustände, die bei Japanern gewöhnlich die entsprechenden Körpersensationen begleiten. Obwohl der Anthropologe Metareflektionen über das von ihm Erlebte anzustellen vermag – so ähnlich muß es also für einen Japaner sein, Amae zu erleben – sind es wahrscheinlich gar keine genuinen Zustände von Amae, die von ihm empfunden werden, sondern nichts weiter als merkwürdige somatische Vorgänge, die sich in keine bekannte Kategorie einfügen lassen. Wenden wir uns nun den möglichen Gefühlen eines künstlichen Systems zu. Was kann sinnvollerweise gemeint sein, wenn wir in diesem Falle von – künstlichen – Gefühlen sprechen? Nun, nicht gemeint ist sicherlich, daß ein solches System dieselben „Körperzustände“ wie Menschen oder andere Organismen haben sollte, um ihm Gefühle zusprechen zu können. Ebenso wenig muß die Realisierungsbasis der Empfindungen derjenigen entsprechen, die bei uns Gefühle realisiert. Auch von künstlichen Organen oder Gelenken wird nicht verlangt, daß sie aus Fleisch und Blut bestehen, sondern nur, daß sie den ihnen zugedachten „Job“ gut verrichten. Mit anderen Worten: Die künstlichen Körperteile sollen diejenigen Aufgaben vollbringen, die im Normalfall ihre natürlichen Gegenstücke leisten. Sie ersetzen die organischen Teile, wenn diese ihre angestammte Funktion nicht mehr erfüllen können. Übertragen auf künstliche Gefühle hieße dies, sie sollten die Aufgaben übernehmen, die normalerweise natürliche Gefühle haben. Aber, und das ist sehr wichtig, sie sollen diese Aufgabe natürlich nicht in uns erfüllen – Gefühle sind nicht transplantierbar, sie sind Zustände oder Prozesse sehr komplexer und in der Regel organischer Systeme. Zu erfüllen hätten die künstlichen Gefühle verhaltenssteuernde Aufgaben in artifiziellen Systemen.5 5 Sollte es gelingen, Personen, die unter einer Schädigung des ventromedialen präfrontalen Cortex leiden, mit einer künstlichen Gefühls- und Bewertungsinstanz auszu- Zur Natur künstlicher Gefühle 317 Einer, der tatsächlich diesen Weg beschreitet, ist der in Bielefeld im Grenzbereich zwischen Neurobiologie und Robotik forschende Holk Cruse. Am einfachen Beispiel der Steuerung eines dreigelenkigen Greifarmes versucht Cruse zu zeigen, wie „Körpermodelle“ dem System bei der Erfüllung seiner Aufgaben nützlich sein können. Ein solches System habe sowohl eine Repräsentation seiner gegenwärtigen „Greif-Position“ wie auch eine der als nächstes zu realisierenden. Stimmen beide Repräsentationen überein, so ist das System, meist ein konnektionistisches Netz, im energetischen Zustand eines relativen Minimums, sein „Harmonie-Wert“ sei dann hoch.6 Umgekehrt verhalte es sich bei großen Abweichungen zwischen den Ist- und SollZuständen. Nach Cruses Ansicht sind es diese Differenzen, die ein System zu einer optimalen Steuerung repräsentieren müsse. Deren Repräsentation stelle zugleich einen ersten Schritt zur Entwicklung eines „Erste-PersonStandpunktes“ dar. Er selbst faßt seine Hypothese in die folgenden Worte: [Ein] System ... hat eine Erste-Person Perspektive, wenn es (a) ein veränderbares Modell seiner internen, die Eigenschaften des eigenen Körpers umfassenden Welt enthält, das (b) dazu verwendet werden kann, die (‚virtuellen’) Daten des Modells mit den ‚realen’ Daten zu vergleichen, die durch die sensorischen Eingänge (und die Erinnerungssysteme ...) zur Verfügung gestellt werden (1999, 170; Übersetzung vom Verf.). Nun mag man fragen, ob Systeme, die in dieser Weise ihren eigenen Körper und die Differenz zwischen Ist- und Sollzuständen repräsentieren können, wirklich Gefühle und nicht nur Quasi-Gefühle haben: Zustände, die nicht wirklich das Etikett „Gefühl“ verdienen. Betrachten wir zur Beantwortung dieser Frage, aber nun ausgedehnt auf beliebige Gefühlsregungen, wieder die drei Kriterien, die wir zuvor festgehalten hatten. Die Bestimmung eines „Gefühls“ über Merkmal (1), seine funktionale Rolle, scheint für künstliche Systeme kein prinzipielles Hindernis darzustellen. Neuronale Netze sind bereits jetzt in der Lage, komplexe Muster gut zu erkennen, es dürfte kein unüberwindbares Problem darstellen, sie auf Situationen einzustellen, die für uns gewöhnlich emotional bedeutsam sind. Ebenso denkbar ist, daß diese Systeme in angemessener Weise reagieren. Dagegen ist – per definitionem – ausgeschlossen, daß die künstlichen Systeme in ähnliche Körperzustände wie wir geraten. Das, so haben wir statten, so ließe sich u. U. deren bedauernswerte Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen und entsprechend zu handeln, ausgleichen; zum Krankheitsbild vgl. man Damasio (1997). 6 Der hier verwendete Ausdruck „Harmoniewert“ ist nicht anthropomorph zu verstehen, er entstammt einer mathematischen Theorie, die u.a. bei der Evaluierung neuronaler Netze verwendet wird. 318 Achim Stephan oben schon festgestellt, ist aber auch nicht zu verlangen. Es wäre in der Tat sehr engstirnig, wollte man die Möglichkeit des Habens von Gefühlen an das Haben unserer organischen Struktur, d. h. an Merkmal (3), knüpfen. Damit würde man zugleich anders strukturierten Bewohnern des Universums absprechen, über emotionale Zustände verfügen zu können. Nicht zuletzt Überlegungen dieser Art führten in der Philosophie des Geistes in den späten sechziger Jahren zu einer Abkehr von der Identitätstheorie, nach der das Haben eines mentalen Zustandes mit dem Haben eines bestimmten physischen Zustandes identisch ist. Seitdem werden vor allem Spielarten des Funktionalismus favorisiert, denen zufolge mentale Zustände über ihre funktionalen oder kausalen Rollen individuiert werden. Aber damit sind wir zugleich bei Einwänden, die gegen funktionalistische Theorien generell vorgebracht werden: Ist das Ausfüllen einer gewissen funktionalen Rolle wirklich schon hinreichend für das Haben von Gefühlen und Empfindungen? Wenn wir der Meinung sind, daß zum Haben eines genuinen Gefühls notwendigerweise gehört, daß dieses auf irgendeine Weise erlebt wird, daß es für denjenigen, dem wir das Gefühl zuschreiben, irgendwie ist, dieses Gefühl zu empfinden, um Thomas Nagels Diktion zu übernehmen, nun, dann garantiert uns die Einnahme einer bestimmten funktionalen Rolle durch einen Systemzustand gerade nicht, daß mit diesem Zustand qualitative Erlebnisse, wirkliche Gefühle also, einhergehen. Liegen die Dinge so, dann könnten sich die mutmaßlichen Gefühle künstlicher Systeme als bloße „Schein-Gefühle“ entpuppen, sie wären nichts anderes als vorgegaukelte, simulierte Gefühle. So wie wir manchmal Gefühle simulieren: Interesse und Zuneigung zeigen, aber eigentlich gelangweilt sind. Aber da widerspräche nun Katrin Hille, eine frühere Mitarbeiterin von Dietrich Dörner, dessen Bamberger Arbeitsgruppe seit Jahren mit der Modellierung unserer Psyche befaßt ist. Hille hat vor einigen Jahren eine Arbeit mit dem Titel Die ‚künstliche Seele’ vorgelegt und darin ausdrücklich betont, daß es nicht nur um die Simulation von Emotionen, sondern um deren Modellierung gehe: Wenn der Biologe den Nährstoffhaushalt im See simuliert, so braucht er dazu weder Nährstoffe noch Wasser. Er simuliert das Ökosystem nur durch ein System von Differentialgleichungen. Auch wir simulieren in gewisser Hinsicht: Wir nutzen keine Eiweißstrukturen als Träger der psychischen Prozesse. In anderer Hinsicht heben wir uns aber von einer bloßen Simulation ab: Für die psychischen Prozesse des Menschen an sich spielt der Stoff, auf dem sie passieren, keine Rolle. Man könnte sie als informationsverarbeitende Prozesse charakterisieren. Wir ahmen aber diese informationsverarbeitenden Prozesse nicht nur nach, sondern wir bilden sie ab. Die Simulation eines solchen Prozesses ist der Prozeß selbst. Wir spre- Zur Natur künstlicher Gefühle 319 chen daher nicht von einer Simulation der psychischen Prozesse (wie der Biologe einen See simuliert), sondern von der Modellierung der psychischen Prozesse. Dieses Modell der psychischen Prozesse des Menschen realisieren wir als Computersimulation (1997, 22). Nach Hilles Ansicht wird demnach eine gelingende Computer-Simulation eines psychischen Prozesses, sei es eines Gefühles oder des Gewinnens einer Einsicht, selbst zu einem Modell solcher Prozesse. Und damit unterscheide sich die Simulation psychischer Vorgänge gravierend von der Simulation anderer Naturvorgänge, zum Beispiel von der Regulierung des Nährstoffhaushaltes eines Sees. Oder, wie Dennett einmal feststellte, von der Simulation eines Hurrikans: Wenn wir das tun, dann ist nicht zu befürchten, daß in unseren Computern Wirbelstürme toben und Mikrochips durch die Luft gewirbelt werden (vgl. Dennett 1978, 191 f.). Aber wie kommt es, daß Hille die Computersimulation für ein Modell und nicht für eine bloße Simulation ansieht? Eine nähere Betrachtung gibt Aufschluß: Simulationsmodelle werden immer zu einem bestimmten Zweck konstruiert. Für die ‚künstliche Seele’ [...] besteht der Nutzen der Modellierung: • in der Beschreibung der psychischen Prozesse des Menschen, • in der Gewinnung von Einsichten in die Struktur und den Ablauf menschlicher Handlungsregulation (1997, 23). Hille interpretiert Emotionen als Modulationsparameter der kognitiven Prozesse, die die Anpassung unseres Verhaltens an die jeweils gegenwärtige Situation leisten; sie rechnet dazu die Selektionsschwelle, die Aktiviertheit, die Abtastrate und den Auflösungsgrad (vgl. 1997, 96). Dabei entspricht die Selektionsschwelle der Ablenkbarkeit von der gegenwärtigen Beschäftigung, die Aktiviertheit der investierten Energie in jene Beschäftigung, die Abtastrate dem Aufmerksamkeitsgrad, mit dem man neben der aktuellen Beschäftigung Ereignisse aus der Umwelt wahrnimmt. Der Auflösungsgrad bezeichnet die Genauigkeit, mit der man sich einer Beschäftigung widmet. Nun, spätestens jetzt dürfte klar sein, daß sich Hille mit ihrer Modellierung innerhalb von Merkmal (1) bewegt. Modelliert wird die funktionale Rolle emotionaler Zustände, aber nicht das mit ihnen einhergehende subjektive Empfinden. So wenig zu befürchten steht, daß ein simulierter Wirbelsturm in meinem Notebook tobt, so wenig steht zu befürchten, daß Hilles Computer leidet, wenn sie auf ihm Schmerzen modelliert und nicht bloß simuliert. Ihr PC hat nach allgemeiner Einschätzung keine phänomenalen Zustände (2), er befindet sich lediglich in verschiedenen elektromagnetischen Zuständen, die Veränderungen der Modulationsparameter repräsentieren. Aber spinnen wir das Ganze etwas weiter aus. Nehmen wir an, die „künstliche Seele“ arbeite nicht nur mit Hilfe einer Theorie emotionsgelade- 320 Achim Stephan nen menschlichen Verhaltens, sondern instantiiere eine solche Theorie, und zwar dadurch, daß das Programm das Verhalten eines hochkomplexen Roboters steuere. Dieser „zeige“ nun wirklich emotional gefärbtes Verhalten, er könne mechanisch rot werden, sich die Antennen raufen, aufgeregt hin und herrollen usw. Und dies regelmäßig in adäquaten Situationen. Hat dieser Roboter nun Gefühle? Nun, in diesem Falle müßten wir sicherlich zugestehen, daß er über Zustände verfügt, die in ihm die Rolle der Verhaltenssteuerung übernehmen, die in uns gewöhnlich Gefühle leisten. Aber empfindet er etwas dabei? Mit dieser Frage stoßen wir auf das alte Qualia-Problem, das sich für alle naturalistischen Theorien des Geistes stellt.7 Sollten sich bewußte Erlebnisse naturwissenschaftlichen Erklärungsversuchen entziehen, und zwar aus prinzipiellen Gründen, so hätten wir keine Basis, aufgrund derer wir begründete Ansichten über das Vorliegen bewußter Empfindungen in komplexeren Systemen haben könnten, die sich deutlich von menschlichen Organismen unterscheiden. Wie können wir hier weiter kommen? Vielleicht liegt ja gar nicht so viel an den empfundenen oder gespürten Emotionen. Könnten wir nicht bereit sein, einem Roboter aufgrund seines emotional gefärbten Verhaltens Gefühle zuzuschreiben? Echte Gefühle? Für ein künstliches System? Sind wir denn nicht ebenso bereit, einigen unserer Artgenossen Gefühle zuzuschreiben, obwohl diesen, wie sie selbst sagen, ein Erlebnis- oder Spüraspekt fehlt? Vor allem durch Krankenberichte aus psychoanalytischer Perspektive haben wir Kenntnis von Patienten, die offenbar nicht in der Lage sind, ihre Gefühle, wenn es denn welche sind, wahrzunehmen. Fachsprachlich wird dann häufig von unbewußten Affekten, z. B. von unbewußter Scham, unbewußter Angst oder unbewußter Aggression gesprochen. Ulrich Moser verdanken wir die folgende Darstellung: Affekte [wie Ärger, Zorn, Wut, Haß, etc.] werden in derselben Weise wie Angst als innere Signale verwendet – immer vorausgesetzt, das affektive Erleben hat überhaupt den Entwicklungsstand eines inneren Meldesystems (Signalsystems) erreicht. Bei vielen neurotischen Entwicklungen (z. B. bei neurotischen Depressionen, Zwangsneurosen, charakterneurotischen Störungen) ist das aggressive Meldesystem ganz verkümmert oder schlecht ausgebildet. Es sind dies Patienten, die ihre aggressiven Impulse nicht spüren, sie infolgedessen auch nicht erkennen und in einen situativen Kontext einordnen können (1978, 236 f.; zitiert nach Thomä und Kächele 1989, 111). 7 Eine Dokumentation der wichtigsten Stationen der Qualia-Debatte bieten Heckmann und Walter (2001); über die neueste Entwicklung informiert der Sammelband von Pauen und Stephan (2002). Zur Natur künstlicher Gefühle 321 Moser nennt zwei mögliche Konsequenzen: Einige Patienten zeigen aggressives Verhalten, bemerken es nicht und vermögen es auch nachträglich nicht, dieses als solches zu sehen. Andere reagieren auf Aggression auslösende Umweltstimuli mit einer emotionalen Aktivierung, analysieren sie andersartig und interpretieren sie z. B. als Angstsignale. Für unsere Belange interessanter noch sind jedoch Fälle, wie sie Leuner am Beispiel eines Herzneurotikers beschreibt (vgl. 1985, 183 f.). Sein Patient spürte seine aggressiven Impulse nicht, er handelte weder aggressiv, noch deutete er die Situation auf andere Weise. Statt dessen reagierte er mit einer psychosomatischen Erkrankung, einer Herzneurose, auf eine Situation, die bei Gesunden geeignet gewesen wäre, heftige Aggressionen auszulösen. Erklärt werden Erkrankungen dieser Art damit, daß der „Körper“ eigentlich adäquat auf die Situation reagiere, die normalerweise z. B. aggressives Verhalten rechtfertigen würde. Da der aggressive Impuls nicht wahrgenommen werde, ein phänomenales Erleben des Zornes oder der Wut nicht vorhanden sei, werde keine adäquate Handlung eingeleitet, die körperliche Erregung persistiere jedoch und könne dadurch zu dauerhaften Erkrankungen führen. Inwiefern kann in diesen Fällen jedoch überhaupt von Gefühlen – unbewußten zwar, aber immerhin: von Gefühlen – gesprochen werden? Vergleichen wir dazu noch einmal die verschiedenen Abweichungen von unserem Norm-Modell, die sich beim „emotionsgesteuerten“ Roboter bzw. bei Patienten mit „unbewußten Gefühlen“ ergeben: Der Roboter zeigt auf eine Situation, die geeignet ist, aggressives Verhalten auszulösen, adäquate Reaktionen. Er antwortet in einer Weise, die wir als aggressiv beschreiben würden. Auf Nachfrage gibt er zu, daß er sich ärgert und z. B. eine Entschuldigung verlangt. Wir entschuldigen uns. Er ist einverstanden und beruhigt sich wieder. Der neurotische Mensch dagegen spürt nichts in einer vergleichbaren Situation. Er fühlt sich nicht gekränkt, kein Zorn steigt in ihm auf wie „sanft eingleitender Honig“. Keine aggressive Handlung von seiner Seite erfolgt, doch Herzrasen packt ihn: „sein Blut ist heiß in der Herzgegend“, so heiß, daß ihn Todesängste quälen. Im Unterschied zum Roboter fehlen beim Neurotiker adäquate Reaktionen; ferner fehlen die privat zugänglichen Empfindungen und die Körpersensationen, die mit Aggressionen einhergehen; anstelle dieser Empfindungen durchlebt er keine oder ganz andere wie z. B. eine Herzphobie. Was uns zu der Annahme unbewußter Aggressionen geführt hat, ist eine Theorie. Es ist die Annahme, daß somatisch das bereitgestellt wird, was zu aggressivem Verhalten nötig wäre und auch führen würde, läge nicht eine Aggressions-Hemmung vor, die die jeweils wahrgenommene Situation bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Und es ist die Erfahrung, daß bei geeigneter Behandlung, die zuvor unbewußten, unzugänglichen Aggressionen spürbar werden können, häufig verbunden mit einem Schwinden der Symptomatik. 322 Achim Stephan Unbewußte Gefühle werden folglich solchen Wesen zugeschrieben, die auch über bewußte Gefühle verfügen können, die in einer bestimmten Situation körperliche Reaktionen zeigen, die einer adäquaten emotionalen Reaktion entsprechen würden, könnte diese auch wirklich erfolgen. Im Gegensatz dazu mag es seltsam erscheinen, auch solchen Systemen unbewußte Gefühle zusprechen zu wollen, die nicht einmal über die Möglichkeit bewußten Empfindens verfügen. Aber könnte es nicht sein, daß Roboter durchaus Empfindungen haben, und wir es nur nicht wissen (können)? Ausschließen kann ich das nicht. Hier kommen wir allerdings in die dunklen Bereiche des „Ignoramus“ in der gegenwärtigen Philosophie und Kognitionswissenschaft. Zusammenfassend ergibt sich damit das folgende Bild: Von den drei Merkmalen, die ich als Kennzeichen für Gefühle vorgeschlagen habe, ist das dritte – die neurophysiologische Basis unserer qualitativen Erlebniszustände – am unbedeutendsten. Sein Vorhandensein sollte nicht als notwenig für das Vorliegen von Gefühlen angesehen werden. Es kann jedoch dazu dienen, einen Zustand, der aus anderen Gründen als ein genuiner Gefühlszustand gilt, als den eines künstlichen Systems zu klassifizieren, und zwar dann, wenn die Realisierungsbasis des Gefühls eine nichtnatürliche ist. Ausschlaggebend dafür, ob es sich bei einem spezifischen Zustand eines künstlichen oder natürlichen Systems überhaupt um einen Gefühlszustand handelt, ist das zweite Merkmal – die phänomenale Qualität, die mit jenem Zustand einhergeht oder zumindest (wie im Falle unbewußter Gefühle) mit ihm einhergehen könnte. Dagegen kann das erste Merkmal, die funktionale Einbettung, weder als hinreichend noch als notwendig für das Vorliegen eines genuinen Gefühlszustandes angesehen werden: Fehlt der Empfindungsaspekt (das zweite Merkmal) nämlich prinzipiell, so genügt auch eine adäquate funktionale Einbettung – etwa bei Verhaltensmodellierungen in künstlichen Systemen – nicht, um diesen Systemen das Haben von Gefühlen zuschreiben zu können. Andererseits zögern wir nicht, bei künstlich erzeugten Gefühlen von echten Gefühlen zu sprechen, auch wenn dabei die funktionale Einbettung defizitär ist, insofern die natürliche Auslösesituation fehlt. Nur wenn sämtliche behavioralen und mentalen Reaktionen fehlen sollten, die die funktionale Rolle eines spezifischen Gefühles ausmachen, würden wir davon absehen, von genuinen Gefühlen zu sprechen. Ein Problem ist jedoch, wie wir (insbesondere) bei künstlichen Systemen objektiv feststellen können, ob sie die für Gefühlszustände charakteristischen phänomenalen Erlebnisse haben. Analogieschlüsse, die sich – wie bei der üblichen Zuschreibung von Gefühlen unter menschlichen Artgenossen – auf eine gemeinsame neuronale Ausstattung stützen könnten, greifen in Zur Natur künstlicher Gefühle 323 diesen Fällen nicht. Hier könnte nur eine Theorie Abhilfe schaffen, die es gestatten würde, phänomenale Zustände reduktiv zu erklären. Solange wir diese nicht haben, und die Perspektiven dafür sehen eher düster aus, können wir weder zeigen, daß künstliche Systeme Gefühle haben, noch können wir zeigen, daß sie keine haben. LITERATUR Aristoteles. Über die Seele (de anima). Übersetzt von Willy Theiler. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983. – Rhetorik. Übersetzt von Franz G. Sieveke. München: Fink Verlag, 1980. Coulmas, Florian (1993) Das Land der rituellen Harmonie. Japan: Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Frankfurt, New York: Campus. Cruse, Holk (1995/96) Foundations of Feelings. In: Wolf Lepenies (Hg.) Wissenschaftskolleg – Institute for Advanced Study – zu Berlin. Jahrbuch 1995/96. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung, 269-295. – (1999) Feeling Our Body – The Basis of Cognition? Evolution and Cognition 5, Vol. 2, 162-173. Damasio, Antonio R. (1997) Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: dtv. Deighton, Russell und Harald Traue (2003) Emotion und Kultur im Spiegel emotionalen Wissens. In diesem Band. Dennett, Daniel (1978) Why you can’t make a computer that feels pain. In: Ders.: Brainstorms. Brighton: Harvester Press, 190-229. Descartes, René (1649) Die Leidenschaften der Seele. (Les Passions de L’Ame.) Herausgegeben und übersetzt von Klaus Hammacher. Hamburg: Meiner, 1984. Heckmann, Heinz-Dieter und Sven Walter, Hg. (2001) Qualia. Ausgewählte Beiträge. Paderborn: mentis Verlag. Hille, Katrin (1997) Die ‚künstliche Seele’. Analyse einer Theorie. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag. Homer. Ilias. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. Nach dem Text der Erstausgabe. Hamburg, 1793. James, William (1920) Psychologie. 2. Auflage. (zitiert nach Damasio, 1997). Leuner, Hanscarl (1985) Lehrbuch des Katathymen Bilderlebens. Bern et al.: Huber Verlag. Moser, Ulrich (1978) Affektsignal und aggressives Verhalten. Zwei verbal formulierte Modelle der Aggression. Psyche 32, 229-258. Pauen, Michael und Achim Stephan, Hg. (2002) Phänomenales Bewußtsein – Rückkehr zur Identitätstheorie? Paderborn: mentis Verlag. Roth, Gerhard (1997) Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt: Suhrkamp. Solms, Mark (1996) Was sind Affekte? Psyche 50, Heft 6, 485-522. 324 Achim Stephan Thomä, Helmut und Horst Kächele (1989) Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie. Bd. 1 Grundlagen. Berlin et al.: Springer Verlag. Traue, Harald und Henrik Kessler (2003) Psychologische Emotionskonzepte. In diesem Band. PERSONENREGISTER Adams, Henry E. 156 Adolphs, Ralph 12, 57 Aharon, Itzhak 65 Ainsworth, Mary 125 Alexander, Franz 184 Alston, William 266 Angel, Ronald 257 Arend, Richard A. 128 Argelander, Hermann 157 Argiolas, Antonio 89, 103 Aristoteles 238-239, 262, 264-265, 275-277, 312 Averill, James R. 251 Bänninger-Huber, Eva 151, 152 Baier, Annette 265 Bandelow, Borwin 51, 117 Bard, Philip 17, 26 Barnard, Kathryn E. 130 Bartels, Andreas 64, 103 Bartlett, Frederic C. 164 Basch, Michael F. 148 Baumrind, Diana 123 Bechara, Antoine 66, 150 Becker-Stoll, Fabienne 128 Bedford, Errol 271, 275 Beebe, Beatrice 122, 124 Belsky, Jay 127 Benecke, Cord 116, 141, 143, 147, 151, 157-158 Ben-Ze’ev, Aaron 12, 264 Bergmann, Martin S. 79 Berlin, Lisa J. 127 Berridge, Kent 150 Betzler, Monika 238, 280 Beutel, Manfred 149 Bianchin, Marino 63 Birbaumer, Nils 41, 47 Bierhoff, Hans-Werner 80-83 Bischof, Norbert 85, 146 Bischof-Köhler, Doris 157 Blackburn, Simon 265 Blair, James 65 Bloom, Floyd 45 Boca, Stefano 252 Bocher, Moshe 65 Bower, Gordon H. 146 Bowlby, John 80, 115, 121-122, 127, 143 Brachfeld, Sheila 130 Braun, Anna K. 80 Brazelton, Berry T. 122-123 Breiter, Hans C. 65 Brenner, Charles 151 Brentano, Franz 272 Bretherton, Inge 147 Brooks-Gunn, Jeanne 148 Bucci, Wilma 27, 180-181 Buck, Ross 202 Buchheim, Anna 80 Büchel, Christian 61, 65 Bush, George 65 Butler, Ann 40, 42-44 Cacioppo, John T. 27 Cahill, Larry R. 63 Canli, Turhan 62, 65 Cannon, Walter B. 17, 26, 220 Carter, Rita 75 Carter, Carol Sue 101 Cassidy, Jude 127 Chorover, Stephan L. 189 Christophe, Véronique 252 Ciompi, Luc 146 Cisamolo, D. 249 Clarkin, John. F. 144 Clore, Gerald L. 139, 149 Cohn, Jeffrey F. 122, 124 Cole, Steve W. 205 Condon, William S. 124 Coryell, Charles D. 58 Coulmas, Florian 310 Crawford, J. W. 130 Crenshaw, Theresa L. 92, 99, 106 Critchley, Hugo 64 Crits-Christoph, Paul 174 Crnic, Keith A. 130 Cruse, Holk 317 326 Personenregister Dahl, Hartvig 116, 166-168, 171, 174176 Dalgleish, Tim 64 Damasio, Antonio R. 11, 21, 22, 57, 66, 150, 188, 238, 264, 288, 291, 304305, 314, 317 Dammann, Gerhard 116 Darwin, Charles 17, 25, 34, 36-37, 115, 118, 120-121, 264 Daudert, Elke 158 Davidson, Donald 277, 279, 282, 297 Davidson, Richard J. 11, 64, 68, 119 Deigh, John 277 Deighton, Russell M. 31, 117, 237, 249, 253-255, 310 d’Elia, Giacomo 27 Dennett, Daniel C. 146, 319 Descartes, René 11, 238, 262, 265, 267-269, 272-275, 313 DeSousa, Ronald 264, 276, 291 de Wolff, Marianne 126-127, 131 Dix, T. 131 Donders, Frans C. 58-59 Döring, Sabine 12 Dörner, Dietrich 318 Dornes, Martin 119, 122, 142-144, 146-148 Dougherty, Darin D. 63, 65 Draghi-Lorenz, Riccardo 120 Dunn Judy 120 Egeland, Byron 128 Ekman, Paul 28, 115, 118, 120, 123, 125-126, 141, 262 Elias, Norbert 194 Elliott, Rebecca 63 Elster, Jon 264, 282 Emde, Robert N. 119-120, 124, 149 Erk, Susanne 18, 57, 62-63, 65, 103, 188 Esser, Günter 125, 129, 131 Evans, Dylan 262, 264 Ewert, Jörg 46, 48 Eysenck, Hans J. 203 Farber, Ellen A. 128 Farrell, Daniel 277 Fehr, Beverley A. 51, 251 Fernandez, I. 249, 253, 255 Field Tiffany M. 119, 130 Fisher, Helen 104-106 Fodor, Jerry A. 287 Fonagy, Peter 139, 144, 158 Fox, Nathan A. 119 Francis, Sue 64 Frankfurt, Harry 265, 267, 280 Freud, Sigmund 17, 26, 116-117, 139140, 142, 146, 151-152, 154, 157, 159, 164-165, 181, 184, 190, 192-193, 218 Frey, Stephen 64 Friesen, Wallace V. 115, 119-120, 125 Frijda, Nico H. 22, 249 Frodi, Ann 130 Frohlich, Penny F. 89, 103 Gaensbauer, Theodore 120, 149 Garner, Pamela W. 130 Gennaro, Susan 130 Giovanni, D. 253 Goldberg, Susan 130 Goldie, Peter 281 Goleman, Daniel 21 Gordon, Robert 277, 282 Gorman, Jack M. 225 Grande, Tilman 158 Grau, Ina 80, 82-83 Grawe, Klaus 184 Gray, Jeffrey A. 203-205 Greene, Joshua D. 67-68 Greenberg, Leslie S. 209-210 Greenspan, Patricia 279 Griffiths, Paul E. 263-264, 278, 306 Gross, James J. 201 Grossmann, Klaus E. 127 Guarnaccia, Peter J. 257 Gündel, Harald A. 206 Güntürkün, Onur 94 Haidt, Jonathan 68 Hamann, Stephan B. 62 Hanlon, Robert 49 Hariri, Ahmad R. 61 Harmon, Robert J. 119 Hart, Allen J. 61 Haviland-Jones, Jeannette M. 21, 126 Heckmann, Heinz-Dieter 320 Heller, Bruce W. 20, 185 Henningsen, Peter 145 Hess, Walter R. 44-45 Hiatt, Leslie R. 244 Personenregister Hiatt, Susan 149 Hille, Katrin 318-319 Hobbes, Thomas 262, 302 Hodos, William 40, 42-44 Hölzer, Michael 116, 175 Hoffmann, Sven Olaf 152, 155 Hofstede, Geert 256 Homer 312 Horowitz, Mardi J. 173-174 Howell, Signe 247 Hülshoff, Thomas 85, 93 Hume, David 11, 237-238, 262, 267, 287-288, 294-306 Isabella, Russell A. 127 Izard, Carroll E. 115, 118-119, 123, 125 Jacobson, Edith 143 James, Susan 273 James, William 17, 25, 149, 184, 267271, 314 Jenkins, Janis H. 257 Jessel, David 90-91 Kächele, Horst 80, 116, 165-166, 174, 181, 320 Kämper, Günter 18 Kagan, Jerome 199-200, 218 Kant, Immanuel 11, 164, 237-238, 262, 264, 287-295, 301, 303, 305-307 Kelly, Harold 82 Kenny, Anthony 273 Kernberg, Otto F. 142-144, 158, 165 Kessler, Henrik 17, 55, 314 Kiehl, Kent A. 68 Kierkegaard, Soren 218 Kihlstrom, John F. 150 Kimbrell, Tim A. 63, 65 King, Laura A. 208 Kirson, Donald 241 Klein, Donald 96-97 Kleinman, Arthur 257 König, Karl 152-153, 155 Kövecses, Zoltán 252 Kohts, Nadia 37 Kohut, Heinz 165 Krause, Rainer 119, 139, 141-142, 153, 158, 181 Kravitz, Edward 49 327 Kruse, Otto 140, 142 LaBar, Kevin S. 61 Laborit, Henri 203-205 Lachmann, Frank M. 122, 124 Lakoff, George 251 Landgraf, Rainer 46-47 Landry, Susan H. 130 Lane, Richard D. 65, 206 Lange, Carl 17, 25 Laucht, Manfred 129 LeDoux, Joseph E. 11, 18, 54-55, 61, 139, 146, 150, 159, 226, 269 Lee, John A. 81-82 Leimann, Arnold L. 41 Leuner, Hanscarl 321 Leuschner, Wolfgang 145, 156 LeVay, Simon 91 Levenson, Robert W. 25, 201, 252, 255 Leventhal, Howard 31 Levy, Robert I. 242, 244-245 Lewis, Michael 21, 115, 120-121, 126, 148 Liebowitz, Michael 96-97 Locke, John 262, 267 Locke, R 130 Logothetis, Nikos K. 58 Long, Anthony A. 264, 276 Lorenz, Konrad 38 Lorenzer, Alfred 143 Luborsky, Lester 174, 179 Lyons, William 277-279 Madell, Geoffrey 277-278, 281 Main, Mary 128, 147 Malatesta, Carol Z. 120, 126, 130 Marks, Joel 279 Markus, Hazel R. 251 Masson, Jeffrey 34 Matas, Leah 128 Mayberg, Helen S. 65 Mayer, John D. McCarthy, Susan 34 McDougall, William 20 McFarland, David 35 McGaugh, James L. 63 Mergenthaler, Erhard 180 Merten, Jörg 151-152 Mesquita, Batja 252 328 Personenregister Messenger, John B. 49 Meston, Cindy M. 89, 103 Meyer, Adolf-Ernst 166 Meyer, Elaine C. 130 Michalson, Linda 115, 120-121, 126 Miketta, Gaby 88, 97, 99, 106 Miller, Nancy B. 129, 131 Mills, C. Wright 195 Mills, Maggie 129 Milrod, Barbara 153 Minsky, Marvin 166 Moir, Anne 90-91 Moll, Jorge 67 Morgan, Drake 65 Morris, John S. 61, 65 Mosbach, Peter 31 Moser, Ulrich 148, 153, 320-321 Mosso, Angelo 57 Murphy, M. R. 100 Murray, Lynne 122, 129, 131 Nash, Robert A. 278 Neu, Jerome 281 Nida-Rümelin, Julian 302 Nieuwenhuyse, B. 249 Nussbaum, Martha C. 264, 277 O’Conner, Cary 241 O’Doherty, John 63 Offenberg, L. 249 Ohl, Frauke 46 Olds, James 47 Oster, Harriet 118-120, 123 Paez, Dario 249, 253, 255 Paivio, Allan 180 Panksepp, Jaak 55 Papousek, Hanus 123 Papousek, Mechthild 123 Paradiso, Sergio 65 Patzig, Günther 275 Pauling, Linus 58 Pauen, Michael 320 Pawlby, Susan J. 125 Pawlow, Iwan P. 117, 190-193 Paykel, Eugene S. 129 Pennebaker, James W. 184, 248-249 Perler, Dominik 273, 295, 298 Petrus, Klaus 263 Phelps, Elizabeth A. 61-62 Philippot, Pierre 249, 252 Phillips, Mary L. 64 Piaget, Jean 165 Pietrini, Pietro 63 Pinker, Steven 287 Pitcher, George 271, 275 Platon 262 Plötzl, Otto 156 Plutchik, Robert 40 Power, Mick 64 Pugmire, David 277, 281 Rachman, Stanley 213 Raine, Adrian 68 Raters, Marie-Louise 68 Rauch, Scott L. 65 Rauland, Marco 89, 95 Redoute, Jerome 103 Reisenzein, Rainer 27 Rey, Georges 263 Rimé, Bernard 207, 249-253, 255 Roberts, Robert C. 271 Rolls, Edmund T. 11, 55-56, 62, 64, 269 Rorty, Amélie O. 263, 268 Rosch, Eleanor 250 Rosenstein, Diana 119-120 Rosenzweig, Mark 41 Roth, Gerhard 139, 149-150, 154, 315 Royet, Jean-Pierre 64 Rubinstein, Benjamin 166 Rusch, Gebhard 145 Russell, James A. 51, 242, 244, 247, 251 Ryle, Gilbert 275 Sabini, John 251 Safran, Jeremy D. 209-210 Salovey, Peter 207 Sander, Louis W. 124 Sandler, Anne Marie 139, 143, 145 Sandler, Joseph 139, 143, 145 Saykin, Andrew J. 165 Schachter, Stanley 17, 27, 115, 120 Schafer, Roy 165 Scherer, Klaus R. 29, 123, 253, 255 Schieche, Michael 128 Schmidt, Martin H. 129 Schmidt, Robert F. 41, 47 Personenregister Schmücker, Gesine 60, 80, 115-116, 123, 125, 129 Schneider, Frank 68 Schultz, Wolfram 65 Schwartz, Judith 241 Sedley, David N. 264, 276 Selz, Otto 164 Sharp, Deborah 129 Shaver, Phillip 241, 251 Sherrington, Charles S. 117, 190, 192193 Shevrin, Howard 156 Shields, Stephanie A. 249 Shin, Lisa M. 64-65, 68 Shweder, Richard A. 243-244, 247, 251 Silver, Maury 251 Simó, Sandra 127 Singer, Jerome 17, 27, 115, 120 Slaby, Jan 238 Slap, Joseph W. 165-166 Sloman, Aaron 263 Small, Dana M. 63-65 Smith, Roger 190-191 Soderstrom, Henrik 68 Soldati, Gianfranco 281 Solms, Mark 315 Solomon, Robert 277, 291, 296 Spangler, Gottfried 127 Spinoza, Baruch de 262, 264 Sprengelmeyer, Reiner 64-65 Sperry, Roger W. 205 Sroufe, Alan L. 115, 120, 148, 267 Steimer-Krause, Evelyne 151 Stellar, Eliot 47 Stellar, James 47 Stemmler, Gerhard 25 Stephan, Achim 68, 239, 320 Stern, Daniel N. 122, 143, 149 Sternberg, Robert 83-84 Stocker, Michael 267, 277-278 Stoleru, Serge 64 Strauß, Bernhard 80, 143 Streeck, Wolfgang 157 Suess, Gerhard 128 Symonds, Percivall M. 123 Tabert, Matthias H. 63 Taylor, Gabriele 277 Teasdale, John D. 65 329 Tebel-Nagy, Claudia 88, 97, 106 Teller, Virginia 166, 171 Tembrock, Günter 37 Thalberg, Irving 278, 280 Thomä, Helmut 143, 146-148, 158, 165, 181, 320 Tinbergen, Nikolaas 35 Tomkins, Silvan S. 21, 27, 141 Traue, Harald C. 17, 22-24, 26, 28, 3031, 55, 117, 184, 186, 199, 203, 206208, 214, 237, 249, 252-253, 255-256, 258, 310, 314 Trevarthen, Colwyn 122 Tronick, Edward Z. 122, 124 Ulich, Dieter 141 van Ijzendoorn, Marinus H. 126-127, 131 van Lawick-Goodall, Jane 39 Vingerhoets, Ad 184 von Zeppelin, Ilka 153 Vuilleumier, Patrik 61 Wallbott, Harald G. 253 Walter, Henrik 18-19, 26, 51, 57, 62, 68-69, 103, 188, 304 Walter, Sven 320 Wedekind, Dirk 51, 117 Weinberg, M. Katherine 124 Weissman, Myrna 129 Westphal, Carl 218 White, Geoffrey M. 241, 246 Wierzbicka, Anna 245 Willaschek, Marcus 68 Winkielman, Piotr 150 Wollheim, Richard 281, 294 Wouters, Cas 195 Wundt, Wilhelm 184 Wurmser, Leon 152 Young, Larry J. 102 Zajonc, Robert B. 29, 150 Zalla, Tiziana 62 Zegans, Leonard 28 Zeki, Semir 64, 103 Zepf, Siegfried 139-140, 142-143, 145, 149, 152, 154-155 Zimmermann, Peter 128 ZU DEN AUTOREN BORWIN BANDELOW. Geschäftsführender Oberarzt an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie, Psychologischer Psychotherapeut. 1970-1976 Medizinstudium in Tübingen und Göttingen, 1976-1985 Psychologiestudium in Göttingen, 1978 Promotion in Medizin (Mikrobiologie), 1996 Habilitation in Psychiatrie und Psychotherapie. 1986-1987 Assistenzarzt im Niedersächsischen Landeskrankenhaus Moringen, 1987-1995 Assistenzarzt in der Psychiatrischen Klinik, der Neurophysiologischen Klinik und der Neurologischen Klinik der Universität Göttingen; seit 1995 Oberarzt der Klinik und Leiter der Poliklinik und Angstambulanz, 2000 apl.-Professor, seit 2002 geschäftsführender Oberarzt. Vorsitzender der Gesellschaft für Angstforschung e.V., Editor-in-Chief von German Journal of Psychiatry. CORD BENECKE. Universitätsassistent am Institut für Psychologie der Universität Innsbruck, Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker, Mitglied der Projektgruppe Klinische Emotions- und Interaktionsforschung unter Leitung von Prof. Eva Bänninger-Huber. 1987-1994 Studium der Psychologie an der Universität des Saarlandes, 1994-2001 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung Klinische Psychologie der Universität des Saarlandes, 2001 Promotion. 1995-2002 Psychoanalytische Weiterbildung am Saarländischen Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie (DPG), 2002 Fellow am Hanse Wissenschaftskolleg. Forschungsschwerpunkt: Mentale Repräsentanzen und Affekte bei psychischen Störungen. Autor von Mimischer Affektausdruck und Sprachinhalt. Interaktive und objekt-bezogene Affekte im psychotherapeutischen Prozeß (Bern 2002). MONIKA BETZLER. Wissenschaftliche Assistentin am Philosophischen Seminar der Universität Göttingen und Feodor-Lynen-Research Fellow am Philosophy Department der University of California at Berkeley. Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Geschichte in München und Lyon, 1992 Promotion. 1994-1996 Scholar an der Kennedy School of Government in Harvard. Forschungsschwerpunkte: Moralpsychologie, Ethik, Handlungstheorie, Theorie der Emotionen. Autorin von Ich-Bilder und Bilder-Welt (München 1994), Herausgeberin von Ästhetik und Kunstphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart. (mit Julian Nida-Rümelin; Stuttgart 1998), Autonomes Handeln. Beiträge zur Philosophie Harry G. Frankfurts. (mit Barbara Guckes; Berlin 2000), Harry Frankfurt: Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Aufsätze. (mit Barbara Guckes; Berlin 2001) und Practical Conflicts. New Philosophical Essays (mit Peter Baumann; Cambridge, im Erscheinen). Zu den Autoren 331 GERHARD DAMMANN. Oberarzt und Ärztlicher Abteilungsleiter der Psychotherapeutischen Abteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel, Diplom-Psychologe, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker (DPV/IPV). Zahlreiche Publikationen zur Diagnostik und Behandlung von Persönlichkeitsstörungen (insb. der Borderline-Störung), zur Psychotraumatologie und zu den affektiven Störungen des Wochenbetts, Herausgeber von Psychotherapie der Borderline-Störungen. (mit P. L. Janssen; Stuttgart 2001). RUSSELL DEIGHTON. Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Medizinische Psychologie der Universität Ulm, Mitglied mehrerer Projektgruppen zum Thema „Emotionale Hemmung und Somatisierung“ unter Leitung von Prof. Harald Traue, Berater in der Psychosozialen Studentenberatung der Universität Ulm. 1989-1993 Studium der Psychologie und Germanistik in Melbourne, seit 1994 Studium der Psychologie in Konstanz, 1998 Psychologie-Diplom, 2002 Promotion in Humanbiologie an der Universität Ulm mit der Arbeit Culture, emotional inhibition & somatization. (in press). SUSANNE ERK. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Psychiatrie III in Ulm, zuvor klinische Tätigkeit in der Inneren Medizin. 19891996 Studium der Medizin in Köln, 1998 Promotion. Forschungsschwerpunkt: Interaktion von Emotion und Kognition, methodische Ausrichtung: Funktionelle Magnet-Resonanz-Tomographie. Seit 2001 Managing Editor der Zeitschrift Nervenheilkunde. Wichtigste Arbeiten: Emotionalität in historischen Psychopathiekonzepten und ihre Bedeutung für ein modernes Verständnis der Persönlichkeitsstörung (Dissertation 1998), „Denken mit Gefühl: Der Beitrag von funktioneller Bildgebung und Simulationsexperimenten zur Emotionspsychologie“ (mit H. Walter; Nervenheilkunde 19 (2000): 3-13), „Cultural objects modulate reward circuitry“ (Erk et al.; Neuroreport 13 (2002): 24992503, „Emotional context modulates subsequent memory effect“ (Erk et al.; Neuroimage 18 (2003): 430-447). MICHAEL HÖLZER. Chefarzt im Bereich Psychotherapie an der Sonnenberg Klinik in Stuttgart, Fachleiter eines Verbundes Psychotherapeutischer Kliniken (SINOVA-Kliniken) in Südwürttemberg, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker (DPV). Medizinstudium und Promotion an der Universität Ulm, Habilitation in der Abteilung Psychotherapie der Universität Ulm. Auswahl an Publikationen: „How to find frames“ (mit H. Dahl; Psychotherapy Research 6 (1996): 177-196), „Die Entwicklung der freien Assoziation durch Sigmund Freud“ (mit H. Kächele; Jahrbuch der Psychoanalyse 22 (1988), 184-217). 332 Zu den Autoren HORST KÄCHELE . Ärztlicher Direktor der Abteilung Psychotherapie und Psychosomatische Medizin an der Universität Ulm. 1963-1968 Studium der Medizin in Marburg, Leeds und München, 1968 Promotion zum Dr. med. 1970-1975 psychotherapeutische und psychoanalytische Weiterbildung an der Abteilung Psychotherapie der Universität Ulm, 1976 Habilitation zu einem Thema der psychoanalytischen Prozeßforschung. 1977 Leiter der Sektion Psychoanalytische Methodik an der Abteilung; seit 1988 auch Leiter der Forschungsstelle für Psychotherapie in Stuttgart. Forschungsfelder: Psychoanalytische Prozeß- und Ergebnisforschung (u. a. bei Eßstörungen), Psychosoziale Folgen der Knochenmarktransplantation, perinatale Psychosomatik. Ca. 400 Publikationen; gemeinsam mit Helmut Thomä Autor von Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie (2 Vol.; in zehn Sprachen übersetzt). GÜNTER KÄMPER. Außerplanmäßiger Professor in der Abteilung Neurobiologie an der Universität Ulm. Studium der Biologie in Köln, Stipendiat am MPI für Verhaltensphysiologie in Seewiesen, Forschungsaufenthalte in den USA und Rußland. Sein besonderes Interesse gilt der Kommunikation zwischen Tieren sowie der Entwicklung von Nervensystemen. Er ist außerdem freiberuflich als Berater im Internetbereich tätig. HENRIK KESSLER. Arzt im Praktikum in der Abteilung Psychotherapie und Psychosomatische Medizin an der Universität Ulm. Studium der Medizin und Philosophie in Ulm und Porto Alegre, Brasilien, Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes, Promotion 2002 mit der Arbeit Entwicklung und Reliabilitätsstudie des FEEL-Tests (Facially Expressed Emotion Labeling), tätig in der Lehre der Fächer „Medizinische Psychologie“ und „Ethik in der Medizin“. Forschungsschwerpunkte: Emotionales Verhalten, Spezifika teilstationärer psychotherapeutischer Behandlung sowie Anwendungsgebiete der philosophischen Diskursethik. GESINE SCHMÜCKER. Psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie). Seit 1995 Mitarbeit an einer prospektiven Längsschnittstudie zur emotionalen Entwicklung von sehr kleinen Frühgeborenen an der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Ulm. Psychologiestudium in Edinburgh, 1989 MA, 1997 PhD an der University of London. Wichtigste Publikationen: D. Sharp, ..., G. Schmücker et al. „The impact of postnatal depression boy's intellectual development” (Journal of Child Psychology and Psychiatry 36 (1995): 1315-1336), H. Kächele, ..., G. Schmücker et al. (1999). „Entwicklung, Bindung und Beziehung – neuere Konzepte zur Psychoanalyse“ (in H. Helmchen et al. (Hrsg.) Psychiatrie der Gegenwart. Berlin 1999), „Mutter-Kind-Interaktion und Bindung in den ersten Lebensjahren“ (mit A. Buchheim; in: B. Strauß, A. Buchheim & H. Kächele (Hrsg.) Klinische Bindungsforschung. Stuttgart 2002). Zu den Autoren 333 JAN SLABY. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kognitionswissenschaft und an der Abteilung Philosophie der Universität Osnabrück. Studium der Philosophie, Soziologie und Anglistik an der HumboldtUniversität Berlin, M.A. 2001 in Philosophie, arbeitet an einer Dissertation zum Thema Emotionen und Intentionalität. Fernsehreporter für EuroSport (Basketball). ACHIM STEPHAN. Professor für „Philosophie der Kognition“ am Institut für Kognitionswissenschaft an der Universität Osnabrück. 1976-1987 Studium der Philosophie, Mathematik sowie Psychotherapie und Psychosomatik in Mannheim und Göttingen, 1988 Promotion in Philosophie in Göttingen, 1991 Gastwissenschaftler an der Rutgers University (NJ, USA), 1998 Habilitation für Philosophie an der Universität Karlsruhe und Fellow des HanseWissenschaftskollegs Delmenhorst. 2000-01 Gastprofessor in Ulm, 2002-03 Forschungsgastprofessor an der VU Amsterdam. Publikationen: Sinn als Bedeutung (Göttingen 1989), Emergenz. (Dresden 1999), Animal Mind (Hg. mit H. Hendrichs u. F. Dreckmann; Erkenntnis 1999); Ethik ohne Dogmen. Aufsätze für Günter Patzig (Hg. mit K. P. Rippe; Paderborn 2001); Phänomenales Bewußtsein – Rückkehr zur Identitätstheorie? (Hg. mit M. Pauen; Paderborn 2002). HARALD C. TRAUE. Professor für Medizinische Psychologie und Leiter der Sektion für Gesundheitspsychologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm. Nach Studium der Elektrotechnik, Kybernetik, Informatik und Kommunikationswissenschaft in Lemgo, Berlin und Bremen Beginn der wissenschaftlichen Tätigkeit an der Universität Ulm. Nach der Promotion Gastprofessur in Kanada, Leiter der Abteilung Psychophysiologie an der Forschungsstelle für Psychotherapie Stuttgart und Habilitation für Medizinische Psychologie im Jahr 1986. Seit 1993 als wissenschaftlicher Beirat am Behandlungszentrum für Folteropfer Ulm, am Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin und am Institut für Fort- und Weiterbildung für Verhaltenstherapie in Bad Dürkheim. Die wissenschaftlichen Arbeitsfelder umfassen: Emotionales Verhalten, Psychophysiologie zentraler und peripherphysiologischer und endokriner Systeme und die Psychosomatik und Verhaltenstherapie von Kopfschmerzen, Chronischen Schmerzen, Depression und gastrointestinalen Störungen. Ein weiterer Schwerpunkt ergibt sich aus der Beschäftigung mit Migration und Traumatisierung durch Folter und organisierte Gewalt. Autor von Emotion und Gesundheit. Die psychobiologische Regulation durch Hemmungen (Heidelberg 1998), Mitherausgeber der Zeitschriften Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin, Medizinische Psychologie und Biofeedback and Self-Regulation. 334 Zu den Autoren HENRIK WALTER. Leitender Oberarzt der 1997 neu eröffneten Abteilung III der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Leiter einer Neuroimaging-Arbeitsgruppe mit den Schwerpunkten Gedächtnis, Emotionen und Handlungssteuerung. Die Arbeitsgruppe untersucht grundlegende Fragestellungen aus der Kognitiven Neurowissenschaft bei Gesunden und entwickelt Paradigmen zur Anwendung bei psychiatrisch erkrankten Patienten. 1981-1988 Studium der Medizin, Philosophie und Psychologie in Gießen, Marburg und Boston, 1991 Promotion in Medizin, 1997 Promotion in Philosophie, 2003 Habilitation in Psychiatrie. Weiterhin arbeitet er über Fragestellungen aus der Philosophie des Geistes. Autor von Neurophilosophie der Willensfreiheit (Paderborn, 2. Aufl. 1999). DIRK WEDEKIND. Wissenschaftlicher Assistent an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Georg-August-Universität Göttingen. Promotion in der Abteilung Neurobiologie bei Prof. Gerald Hüther. Arbeits- und Interessenschwerpunkte: Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen sowie somatoforme Störungen. Er hat bisher vor allem im Bereich neurobiologischer bzw. neuroendokrinologischer Aspekte der Panikstörung geforscht und publiziert. Ein großes Interesse besteht aber auch für die Psychopathologie und Psychopharmakologie sowie allgemeine wissenschaftstheoretische Fragen in der Psychiatrie und Hirnforschung. Im Rahmen seine klinischen Tätigkeit arbeitet er momentan in der Ambulanz für Angststörungen und der Ambulanz für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeiten der Klinik.