DEN GUTEN GEFÜHLEN
IN DANKBARKEIT GEWIDMET
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
TEIL I
NEUROBIOPSYCHOLOGIE DER EMOTIONEN
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
HARALD C. TRAUE und HENRIK KESSLER: Psychologische
Emotionskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
GÜNTER KÄMPER: Emotionen bei Tieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
SUSANNE ERK und HENRIK WALTER: Funktionelle Bildgebung
der Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
HENRIK WALTER: Liebe und Lust. Ein intimes Verhältnis
und seine neurobiologischen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
TEIL II
EMOTIONEN IN MEDIZIN UND PSYCHOLOGIE
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
GESINE SCHMÜCKER: Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit 118
CORD BENECKE und GERHARD DAMMANN: Unbewußte Emotionen
139
MICHAEL HÖLZER und HORST KÄCHELE: Emotion und
psychische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
HARALD C. TRAUE und RUSSELL M. DEIGHTON: Emotionale
Hemmung als Risikofaktor für die Gesundheit . . . . . . . . . . . . . 184
DIRK WEDEKIND und BORWIN BANDELOW: Krankhafte Gefühle.
Angst und Depression aus psychiatrischer Sicht . . . . . . . . . . . . . 217
8
Inhalt
TEIL III:
PHILOSOPHISCHE UND KULTURELLE
ASPEKTE DER EMOTIONEN
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
RUSSELL M. DEIGHTON und HARALD C. TRAUE: Emotion und Kultur
im Spiegel emotionalen Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
MONIKA BETZLER: Vernunft und Leidenschaft.
Zur Erklärung und Rationalität emotionaler Einstellungen . . . . 262
JAN SLABY: Sklaven der Leidenschaft?
Überlegungen zu den Affektlehren von Kant und Hume . . . . . 287
ACHIM STEPHAN: Zur Natur künstlicher Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
ANHANG
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
VORWORT
Dieser Band hat seinen Ursprung in einem interdisziplinären Kolloquium,
das Achim Stephan im Sommersemester 2001 während seiner Zeit als Gastprofessor am Humboldt-Studienzentrum der Universität Ulm gemeinsam
mit Henrik Walter aus der Abteilung Psychiatrie III des Universitätsklinikums organisierte. Zu unserer großen Freude war die Resonanz sowohl
unter den Kollegen zahlreicher Fachrichtungen als auch unter den Studierenden so groß, daß wir uns entschlossen, die damals präsentierten Überlegungen nun in überarbeiteter Form und durch einige weitere Arbeiten ergänzt, einem größeren Publikum vorzulegen. Die Beiträge spannen einen
Bogen von der Psychologie im allgemeinen, der Entwicklungspsychologie
im besonderen und der Medizinischen Psychologie über die Biologie und
die Neurowissenschaften bis hin zu Psychiatrie, Psychotherapie, Psychoanalyse und Philosophie. Der Band ist somit auch ein Zeugnis für die interdisziplinäre Leistungsfähigkeit der Universität Ulm. Doch nicht nur das Interesse der Teilnehmenden war groß – nicht minder ausgeprägt war die Bereitschaft, einander wohlwollend zuzuhören, und die Fähigkeit, über die eigenen Fachgrenzen hinaus kritisch mitzudenken. Dafür möchten wir allen
Teilnehmern herzlich danken. Denn nur in einer guten Mischung dieser drei
Elemente – Interesse, Wohlwollen und konstruktive Kritik – hat interdisziplinäres Arbeiten eine Chance. Stimmt die Mischung, wie es in Ulm der Fall
war, dann bereitet interdisziplinäres Arbeiten richtig Freude.
Osnabrück und Ulm im September 2003
Achim Stephan und Henrik Walter
EINLEITUNG
D
ie vergangenen zehn Jahre wurden wiederholt als die „Dekade des
Gehirns“ bezeichnet. Man könnte sie aber auch die „Dekade der
Emotionen“ nennen, denn nie zuvor spielten Emotionen gleichzeitig in so verschiedenen Bereichen wie der Philosophie, Psychologie, Medizin sowie den Neuro- und Kognitionswissenschaften eine derart wichtige
Rolle. Möglicherweise hat daran aber gerade die sich immens entwickelnde
Gehirn-Forschung einen ganz erheblichen Anteil. Denn nicht zuletzt die
dort erzielten Ergebnisse führten zu der Erkenntnis, daß den Emotionen
auch in zahlreichen anderen, bisher unterschätzten Kontexten eine große
Bedeutung zukommt.
Noch bis Mitte der neunziger Jahre haben die Emotionen in vielen der
oben genannten Disziplinen eher ein Schattendasein geführt. In der Philosophie interessierte sich über Jahrzehnte kaum noch jemand für Emotionen;
sie galten als der vom rationalen Kern des Menschen abgespaltene Teil, den
der vernünftige Part in angemessener Weise zu zähmen hat. Selbst das, was
die Großen der Disziplin wie Descartes, Hume und Kant vor einigen Jahrhunderten über Emotionen beisteuerten, wurde in Forschung und Lehre
wenig beachtet (wenn man einmal von der Tradition der Phänomenologie
und Existenzphilosophie absieht). Auch für die Schwerpunktsetzung innerhalb der Psychologie läßt sich sagen, daß der Erforschung des Denkens
(und Wahrnehmens) für lange Zeit der Vorzug gegenüber der des Fühlens
gegeben wurde. Zwar gibt es in der Psychologie schon länger das Fach der
Emotionspsychologie, dieses hatte sich aber in immer neuen Theorien über
verschiedene Systeme von Basisemotionen oder Grundgefühle festgefahren.
Neuen Schwung in die Emotionsforschung brachte dann vor allem die
Neurowissenschaft. Einen großen Einfluß in der breiten Öffentlichkeit und
in den Geisteswissenschaften hatten und haben die Arbeiten von Antonio
Damasio, in der Grundlagenwissenschaft vor allem die Arbeiten von Joseph
LeDoux. Auch andere Autoren könnte man hier nennen, wie etwa Richard
J. Davidson oder Edmund Rolls. Im Unterschied zu den älteren philosophischen und psychologischen Emotionstheorien erhielt man neben Theorie,
Verhalten und subjektiver Erfahrung nun einen weiteren Zugang zu den
Gefühlen: nämlich über ihr materielles Substrat, wie etwa die Amygdala
(Mandelkern) bei der Angstkonditionierung oder den orbitofrontalen Kortex bei dem Zusammenspiel von Vernunft und Gefühl. Während Damasio
seine Theorien noch an hirngeschädigten Patienten entwickelte und LeDoux
anhand von Experimenten mit Ratten, nahm sich Ende der neunziger Jahre
dann die Gemeinschaft der funktionellen Bildgeber des Themas mit großem
Enthusiasmus an – dokumentiert durch eine Flut an Publikationen.
12
Einleitung
Die großen Hoffnungen, die sich derzeit mit nicht-invasiven Techniken
wie der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRI) verbinden,
hat auch die Arbeit vieler Psychologen verändert, die zunehmend psychologische (oder psycholinguistische) Fragestellungen in enger Kooperation mit
Neurowissenschaftlern (oder in Personalunion als „Neuropsychologen“)
bearbeiten. Ebenso nehmen eher theoretisch orientierte Psychologen und
Philosophen die derzeitige Entwicklung zum Anlaß, klassische Ansichten
über Emotionen im Lichte des neuen Wissens zu überdenken. Auch viele
Psychotherapeuten heißen die Erkenntnisse der Neurowissenschaften willkommen – unter dem vielleicht selbstgerechten, aber durchaus zutreffenden
Motto: Haben wir nicht immer gesagt, daß Emotionen und Unbewußtes
wichtig sind?
Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in der Künstlichen Intelligenzund Robotik-Forschung. Bestimmte die Orientierung an logischen Kalkülen
die Anfänge der Forschung – man denke nur an den „General Problem
Solver“ –, so hat sich inzwischen herausgestellt, daß künstliche „autonome
Agenten“ über so etwas wie gefühlsanaloge Bewertungsmechanismen und
motivationale Module verfügen müssen, um auf unvorhergesehene Situationen adäquat reagieren zu können.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Emotionen und Gefühlen in den
verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen endlich wieder das Forschungs-Interesse zuteil wird, das sie verdienen. Der vorliegende Band
möchte ein größeres Publikum an dieser Entwicklung teilhaben lassen und
eine aktuelle Einführung in das weite Gebiet der Emotionsforschung in
Philosophie, Psychologie, Biologie, Medizin und Neurowissenschaft geben.
Vollständigkeit konnte leider nicht unser Ziel sein. Die Diskussion schreitet
einfach zu rasch voran, als daß wir sie mit der üblichen Trägheit einer
Buchpublikation einfangen könnten. So hat sich seit unserem Seminar im
Jahre 2001 inzwischen das Gebiet der „Social Neuroscience“ herausgebildet.
In diesem Feld werden die neuronalen Grundlagen des Sozialverhaltens
untersucht, und es weist große Überlappungen mit der „Affective Neuroscience“, der Neurowissenschaft der Emotionen auf.1 Auch im Bereich der
Philosophie ist die Entwicklung nicht stehen geblieben.2
1
Dies wird besonders deutlich an dem kürzlich von John T. Cacioppo, Gary G. Berntson,
et al. herausgegebenen voluminösen Reader Foundations in Social Neuroscience (2002), der
82 Originalarbeiten enthält und einer neuen Forschungsrichtung Bahn bricht. Ein guter
Übersichtartikel ist Ralph Adolphs “Cognitive Neuroscience of Human Social Behavior”
in Nature Reviews Neuroscience 1 (2003), 165-178.
2
Ein hervorragendes Buch zur Phänomenologie der Emotionen ist Aaron Ben-Ze'evs The
Subtlety of Emotions (2000). Zur Bedeutung der Emotionen im Bereich der Moralität vgl.
man das von Sabine Döring & Verena Mayer herausgegebene Buch Die Moralität der Gefühle (2002) sowie das von uns parallel zu diesem Band konzipierte Buch Moralität, Rationalität und die Emotionen (Ulm 2003), das in Kürze erscheinen wird.
Einleitung
13
Die Beiträge in diesem Band lassen sich in verschiedener Weise gliedern.
So ließen sich einführende Texte denen gegenüberstellen, die eher spezifische Themen diskutieren. Wir haben uns jedoch dazu entschlossen, Einführungen und spezifische Texte themenbezogen zusammenzustellen: Der erste
Teil dient einer Einführung in den Wissensstand über Emotionen aus neurobiologischer und psychologischer Perspektive. Auf einen Überblick über
psychologische Emotionstheorien folgt ein Beitrag über entwicklungsbiologische Aspekte der Emotionen. Ferner werden erste Ergebnisse über die
Lokalisierung der an emotionalem Verhalten beteiligten Gehirnareale mit
Hilfe nicht-invasiver Techniken vorgestellt und ein Einblick in die neurochemischen Grundlagen emotionalen Verhaltens am Beispiel von Lust und
Liebe gegeben.
Der zweite Teil thematisiert Emotionen aus entwicklungspsychologischer, psychotherapeutischer, psychiatrischer und medizinpsychologischer
Blickrichtung. Auf eine Studie zur frühkindlichen emotionalen Entwicklung
folgen zwei psychoanalytisch orientierte Beiträge über unbewußte Emotionen und psychische Strukturen. Die folgenden Arbeiten beschäftigen sich
mehr mit der Schattenseite von Emotionen und lassen erkennen, wie ungünstig sich Emotionen auswirken können, wenn sie als Depression und
Angst erlebt werden oder durch Hemmung zur Entstehung von Krankheiten beitragen
Ein kulturvergleichender Beitrag und drei philosophische Aufsätze bilden den Inhalt des abschließenden Teils. Während der erste Text die kulturelle Abhängigkeit unseres emotionalen Erlebens beschreibt, stehen im
zweiten Beitrag vor allem empfindungstheoretische und kognitive Theorien
der Emotion auf dem philosophischen Prüfstand. Der dritte Text plädiert
für eine an Kant orientierte Kontrolle der Emotionen durch die Vernunft.
Schließlich wird eine philosophische Analyse unterschiedlicher künstlicher
Gefühle geboten, die uns auf eine notorische Schwierigkeit für die Philosophie des Geistes – das Qualia-Problem – verweist.
Vielleicht wird der geneigte Leser beim Studium der einzelnen Beiträge
bemerken, daß die von uns vorgenommene disziplinäre Einteilung nur eine
Schwerpunktsetzung bedeutet und die „Zuständigkeit“ von Disziplinen
durchlässig ist. Die gegenwärtige „Themen-fokussierte“ Forschung kann
auch gar nicht mehr in den alten Disziplingrenzen verharren – sie erfordert
transdisziplinäres Denken. Jedem der drei Teile ist eine kurze Einführung
vorangestellt, in der die Inhalte der einzelnen Beiträge näher erläutert werden. Wir würden uns freuen, wenn die Texte dazu beitragen, daß sich möglichst viele Leser mit der faszinierenden Welt der Emotionen weiter beschäftigen werden. Wir wünschen viel Spaß dabei!
TEIL I
NEUROBIOPSYCHOLOGIE DER EMOTIONEN
EINFÜHRUNG
D
er erste Teil dieses Bandes gibt eine Einführung in den Wissensstand über Emotionen aus neurobiologischer und psychologischer
Perspektive. Auf einen Überblick über psychologische Emotionstheorien folgt eine mit neuroanatomischen Befunden einhergehende Darstellung entwicklungsbiologischer Aspekte der Emotionen. Es werden neuere Ergebnisse über die Lokalisierung der an emotionalem Verhalten beteiligten Gehirnareale mit Hilfe nicht-invasiver Techniken vorgestellt und ein
Einblick in die neurochemischen Grundlagen emotionalen Verhaltens am
Beispiel von Lust und Liebe gegeben.
Traue und Kessler: Psychologische Emotionskonzepte. Für lange Zeit stand in der
Psychologie die Erforschung des Kognitiven (Denken, Wahrnehmen und
Handeln) im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses. Wie sich in
neueren Untersuchungen gezeigt hat, sind jedoch Urteilsbildung und Verhaltenssteuerung stärker von emotionalen Prozessen abhängig, als man bisher dachte. So überrascht es nicht, daß Emotionen auch in der Psychologie
– nicht zuletzt unter dem Schlagwort der „emotionalen Intelligenz“ – zu
einem ernsthaften wissenschaftlichen Gegenstand avancierten.
In ihrem einführenden Überblick charakterisieren Traue und Kessler
Emotionen oder Gefühle als gestalthafte Grundphänomene menschlichen
Verhaltens, denen in der Regel die folgenden Merkmale zukommen: Sie sind
subjektiv erlebte, häufig auch sprachlich repräsentierte Bewertungen von
inneren und äußeren Stimuli, die im ganzen Körper, besonders aber in Mimik und Gestik, ihren Ausdruck finden, mit physiologischen und endokrinologischen Aktivierungen einhergehen und (häufig: kognitiv kontrolliert)
Handlungen bereitstellen bzw. auslösen.
Die unbestreitbare Komplexität des Gegenstandes findet in einer Vielzahl von theoretischen Annäherungen ihren Ausdruck, die sich fünf unterschiedlichen Traditionen (Darwin, James-Lange, Cannon-Bard, SchachterSinger, Freud) zuordnen lassen und in sieben Varianten vorliegen, nämlich
als Expressionstheorie, Aktivationstheorie, Kognitions-Aktivationstheorie
sowie als neurobiologische, psychoanalytische, systemtheoretische und
adaptive Reizverarbeitungstheorie. Nach einem Überblick über diese Theorien bieten Traue und Kessler eine integrierende Zusammenfassung dessen,
was derzeit als minimaler Konsens unter psychologischen Emotionstheorien
gelten kann.
18
Einführung
Kämper: Emotionen bei Tieren? Das sehr differenzierte menschliche Gefühlsleben ist wie alle physiologischen und neuronalen Funktionen des menschlichen Organismus das Ergebnis einer langen evolutionären Entwicklung. Es
erscheint deshalb sinnvoll, Emotionen als Verhaltensparameter anzusehen,
die im Laufe der Phylogenese allmählich an Komplexität gewonnen haben.
Beim Menschen ist das limbische System entscheidend an der Emotionsregulation beteiligt. Es zeigt sich, daß fast alle Zwischenhirnbereiche dieser
Struktur bereits bei niederen Wirbeltieren wie den Knochenfischen ausgebildet sind. In der über die Amphibien, Reptilien, Vögel und Säuger aufsteigenden Reihe der Wirbeltiere gewinnen zunehmend auch die limbischen
Endhirnareale an Komplexität. Vermutlich haben Hirnstrukturen, die zu
Emotionen befähigen, einen großen Selektionsvorteil geboten.
Kämper spannt in seinem Beitrag einen Bogen von Berichten über tierisches Verhalten, das mit Emotionen einherzugehen scheint, bis hin zu Studien über die neuronalen Grundlagen dieses Verhaltens. Auch wenn bei der
Zuschreibung von Emotionen an Tiere Vorsicht geboten ist, da wir oft
geneigt sind, Emotionen, die bei uns mit bestimmten Verhaltensweisen
einhergehen, schon dann anderen Lebewesen zuzuschreiben, wenn diese
sich bloß ähnlich verhalten, sind einige Übereinstimmungen im Verhalten so
stark, daß sie die Annahme emotionalen Erlebens zumindest sehr wahrscheinlich machen.
Die systematische Erforschung der neuronalen Korrelate emotionalen
Verhaltens ist freilich nur sehr eingeschränkt möglich; Kämper berichtet
über einige Resultate der Angstforschung sowie über Selbstreizungsexperimente bei Tieren.
Erk und Walter: Funktionelle Bildgebung der Emotionen. Die von Kämper vorgelegte neuroanatomische Sicht auf die für Emotionen relevanten Hirnareale findet bei Erk und Walter eine Vertiefung. Anknüpfend an LeDoux werden ein schneller subkortikaler und ein präziser kortikaler Pfad emotionaler
Informationsverarbeitung unterschieden. LeDoux gewann seine Ergebnisse
vor allem an furchtkonditionierten Ratten; jene sind – ebenso wie Untersuchungen an nicht-menschlichen Primaten – jedoch nur bedingt auf den
Menschen zu übertragen.
Bis vor wenigen Jahren war es allerdings nur sehr eingeschränkt möglich,
etwas über diejenigen Bereiche des menschlichen Gehirns zu erfahren, die
an unserem emotionalen Verhalten beteiligt sind. Lediglich Ausfallerscheinungen bei hirngeschädigten Patienten gaben erste Hinweise auf die Bedeutung einzelner Areale. Dies hat sich durch die Möglichkeit nicht-invasiver
Techniken wie insbesondere der funktionellen Magnetresonanztomographie
(fMRT) in den letzten zehn Jahren entscheidend geändert. Nun sind auch
systematische Untersuchungen am gesunden Gehirn möglich. Erk und Walter geben eine Einführung in diese Technik und präsentieren erste Resultate,
Einführung
19
die von verschiedenen Forschergruppen erzielt wurden. Eine besondere
Beachtung finden abschließend fMRT-Studien über Areale, die bei moralischen Entscheidungen mit hohem emotionalen Anteil beteiligt sind.
Walter: Liebe und Lust. Einleitend präsentiert Walter ältere Theorien, die
dem Phänomen der Liebe erklärend zu „Leibe zu rücken“, darunter psychoanalytische, empirisch-psychologische sowie sozialkonstruktivistische Ansätze. Seine Konzentration gilt jedoch hauptsächlich den neurobiologischen
Mechanismen von Lust und Liebe. Eine besondere Rolle kommt dabei insbesondere den Sexualhormonen zu. Die Auswirkungen von „Sexualhormonen“ wie DHEA, Testosteron, Östrogen, Progesteron, Pheromone und
dem „Liebesmolekül“ PEA auf das Paarungsverhalten, sowie von Prolaktin
Oxytocin und Vasopressin auf das Bindungsverhalten werden von Walter
detailliert dargestellt. Es zeigt sich, daß es hier eher um hormonelle und
neurochemische, denn um elektrophysiologische Prozesse geht. Walter legt
großen Wert darauf festzustellen, daß Einsicht in die natürlichen Grundlagen unserer großen Gefühle diese nicht schmälern, sondern eher Bewunderung für die Komplexität unserer Natur erzeugen sollte.
Harald C. Traue und Henrik Kessler
PSYCHOLOGISCHE EMOTIONSKONZEPTE
M
cDougall, dem „grand old man“ der wissenschaftlichen Psychologie zufolge sind Emotionen gemeinsam mit Motiven die Energiequellen, „die Ziele setzen und die Richtung der gesamten menschlichen Aktivität bestimmen“ (1928, 3). Trotz dieser Bewertung kam die
Emotionsforschung in der Psychologie lange Zeit nicht voran und wurde
aus dem Kanon wissenschaftlich zugänglicher Themen ausgegrenzt, weil die
Probleme bei der Erforschung emotionalen Verhaltens erheblich sind.
Emotionale Phänomene sind nicht leicht zu fassen, sie verändern sich im
Zeitverlauf, manchmal subtil, manchmal schnell und aufgrund verschiedener
Stimuli, die sowohl aus dem Individuum selbst als auch aus der Umgebung
kommen können. Untersuchungen im Labor haben besonders unter dem
Problem der Abhängigkeit des Untersuchungsgegenstandes von den Untersuchungsbedingungen zu leiden: Je genauer und experimenteller die Untersuchungsbedingungen kontrolliert werden, um so stärker beeinflußt man
den Untersuchungsgegenstand, das „emotionale Verhalten“. Vor allem die
Spontaneität, ein wesentliches Merkmal vieler Emotionen, geht im Labor
verloren oder kann nicht unter kontrollierten Bedingungen erzeugt werden.
Hinzu kommt, daß die Welt der Gefühle in unseren westlichen Denktraditionen seit Descartes einen schlechten Ruf hat. Er habe leider nicht gesagt
„Ich fühle, also bin ich.“, stellte Bruce W. Heller (1983) von der University
of California einmal ironisch fest. Ob man der cartesianischen Philosophie
mit dieser verengten Sicht wirklich gerecht wird, soll hier nicht weiter erörtert werden. Für die Schwerpunktbildung in der Psychologie in den vergangenen hundert Jahren kann man allerdings zu Recht behaupten, daß dem
Denken der Vorzug gegenüber dem Fühlen gegeben wurde. Doch wie uns
die Neurobiologie heute lehrt, sind Urteilsbildung und Verhaltenssteuerung
weit mehr von emotionalen Vorgängen abhängig, als lange Zeit angenommen wurde. Dennoch haben Werturteile, die sich auf Gefühle stützen, im
Alltag nur wenig Chancen, aufmerksam beachtet zu werden, als ob Gefühle
eine primitivere Art der Urteilsbildung wären und damit menschliches in die
Nähe tierischen Verhaltens rücken würden. Dabei haben die Menschen
unter allen Spezies das komplizierteste und reichhaltigste emotionale Verhaltensrepertoire. Es wird übersehen, daß Emotionen von Gedanken und Gedanken von Emotionen stark beeinflußt werden, ja daß beide psychischen
Psychologische Emotionskonzepte
21
Prozesse untrennbar miteinander verbunden sind. Emotionstheorien hatten
in der Geschichte der Psychologie von je her eine starke Konkurrenz von
kognitiven, rationalistischen und lerntheoretischen Konzepten.
Als ein einflußreicher Theoretiker der Psychologie war Silvan Tomkins
davon überzeugt, daß die Interaktion von Kognitionen und Gefühlen die
treibende Kraft des Verhaltens ist („out of the marriage of reason with affect
comes clarity with passion“). Tomkins (1962) formulierte damit einen psychologischen Sachverhalt, für den erst viel später Neurobiologen eine Erklärung
finden sollten. Es gibt nämlich neurologische Patienten, die Schwierigkeiten
haben, persönliche Entscheidungen zu treffen, obwohl ihre kognitiven Leistungen durch die Hirnstörung nicht beeinträchtigt sind. Sie leiden unter
einer lokalisierten Hirnschädigung der neuronalen Verbindung zwischen
präfrontalem Kortex und dem limbischen System – dem Ort der emotionalen Verarbeitung. Diese Verbindung sorgt für eine Beteiligung von Gefühlen an den meisten Denkvorgängen. Bei diesen Patienten aber bleiben die
kognitiven Informationen gefühlsmäßig neutral, ihnen fehlt die emotionale
Tönung. Dadurch sind die Betroffenen in ihrer Entscheidungsfähigkeit stark
behindert, denn sie fühlen nicht mehr, was für sie „gut“ oder „schlecht“ ist,
obwohl die Informationen logisch korrekt verarbeitet werden. Antonio
Damasio (1994) gelangte aufgrund dieser Beobachtungen zu der Auffassung, daß Gefühle selbst für die Rationalität der Gedanken eine wesentliche
Voraussetzung sind. Die traditionelle Vorstellung einer generellen Überlegenheit des Denkens gegenüber dem Gefühl kann nicht mehr aufrecht erhalten werden.
Die Emotionsforschung hat dennoch in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt (vgl. z. B. Lewis & Haviland-Jones, 2000). Durch den Begriff
der „Emotionalen Intelligenz“ ist ein vorläufiger öffentlicher Höhepunkt
entstanden, der durch die Publikation von Daniel Goleman markiert wird.
Durch die gewitzte Vereinnahmung der Intelligenz als gefühlsabhängig sind
Emotionen hoffähig geworden:
Die Emotionen besitzen demnach eine Intelligenz, die in praktischen Fragen
von Gewicht ist. In dem Wechselspiel von Gefühl und Rationalität lenkt das
emotionale Vermögen, mit der rationalen Seele Hand in Hand arbeitend, unsere momentanen Entscheidungen. Umgekehrt spielt das denkende Gehirn
eine leitende Rolle bei unseren Emotionen. Dieses komplementäre Verhältnis von limbischem System und Neokortex, Mandelkern und Präfrontallappen bedeutet, daß all diese Instanzen vollberechtigt am Gefühlsleben mitwirken. Die Wirkungsweise dieser Hirnareale ist maßgeblich für die Steuerung unseres Gefühlslebens, und von ihr hängt es ab, ob wir emotionale Intelligenz besitzen oder nicht (Goleman 1995, 49).
22
Harald C. Traue und Henrik Kessler
Ein anderer Motor für die zunehmenden Erkenntnisse sind die neurobiologischen Forschungen zum emotionalen Verhalten. Wie Pilze schießen neurobiologische Ergebnisse aus dem sumpfigen und fruchtbaren Boden emotionaler Vielfalt. Damasio hat mit den beiden Monographien Descartes’ Error. Emotion, Reason and the Human Brain (1994) und The Feeling of What
Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness (1999) wichtige
Befunde aus der Neurobiologie des emotionalen Verhaltens auch für fachfremde Wissenschaftler verfügbar gemacht, die in eindeutiger Weise dafür
sprechen, daß Emotionen einen erheblichen Einfluß auf Entscheidungsprozesse ausüben und daß sich Menschen dieses Einflusses nur begrenzt bewußt sind.
Gefühle als psychische Phänomene sind so allgegenwärtig, daß es Laien
schwer fällt, die wissenschaftlichen Probleme mit der Welt der Gefühle zu
verstehen. Auch wenn es keinen vollständigen wissenschaftlichen Konsens
über Emotionen gibt und eine vollständige Objektivierung aller am emotionalen Erleben beteiligten Prozesse derzeit nicht möglich erscheint, kann
man sich darauf einigen, daß Emotionen subjektive Erlebnisse sind, die in
bestimmten Situationen von verschiedenen Personen in ähnlicher Weise
empfunden werden. Offenbar bewerten Menschen Situationen durch ein
inneres Erleben sehr differenziert, wobei auch innere Situationen wie Phantasien, Vorstellungen oder Erinnerungen der Gegenstand solcher Bewertungen sind. Diese Bewertungen unterbrechen Verhalten und leiten neue Handlungen oder Zustände ein. Unabhängig von der Dauer des Gefühls entsteht
eine Handlungsbereitschaft. Gefühle bewirken eine Annäherung oder Abwendung von der ausgelösten Situation, die man sich nicht nur als äußere
Bedingung sondern auch als innere Phantasie denken kann. Für Nico Frijda,
den bekannten holländischen Emotionsexperten, macht das Gewahrwerden
einer Handlungsbereitschaft den Kern vieler Gefühle aus:
Individuen empfinden den Drang sich anzunähern oder abzuwenden, loszuschreien oder zu singen und sich zu bewegen, manchmal aber auch sich zurückzuziehen und nichts zu tun, kein Interesse mehr zu empfinden oder die
Kontrolle zu verlieren (Frijda 1988, 351).
Für manche Emotionen sind die Handlungsbereitschaften in verschiedenen
Individuen sehr ähnlich. Freude ist ein angenehmes Gefühl mit starken
Annäherungstendenzen an andere Personen, Sachen oder Zustände. Freude
steuert sehr stark die Handlungsbereitschaft zur Bindung. In Form von Lust
ist Freude eine äußerst starke, kontaktfördernde Emotion. Angst dagegen
löst das Bedürfnis nach Vermeidung aus, aber auch die Suche nach Schutz.
Wut und Ärger sind leidvolle Gefühle, die ein Bedürfnis nach Annäherung
und Beseitigung der ärgerlichen Ursache erzeugen. Trauer ist eine starke
Annäherung an eine Person oder ein Objekt, von dem man weiß, daß es
Psychologische Emotionskonzepte
23
einem schon abhanden gekommen ist. Insofern ist Trauer das Auflehnen
gegen einen endgültigen Verlust. Ekel und Verachtung lösen eine andere
Form der Aversion als z. B. Angst aus. Es ist weniger die Bedrohung von
außen als die innerlich erlebte, geradezu körperliche Widerwärtigkeit, die
eine Vermeidung von Ekel oder Verachtung erregenden Situationen bewirkt. Andere Emotionen wie Eifersucht, Scham oder Schuld haben weniger
eindeutige Handlungsbereitschaften; sie sind viel stärker von gedanklichen
Konzepten abhängig als die eingangs erwähnten Gefühle. Das Empfinden
von Scham setzt voraus, daß das eigene Verhalten oder das Verhalten nahestehender Personen mit einer Norm kollidiert, die zuvor als Teil des Wertesystems anerzogen und verinnerlicht wurde. Zwar weisen Situationen, die
Schuld, Scham oder Eifersucht auslösen, Ähnlichkeiten auf, aber das sind
Ähnlichkeiten höherer Ordnung. Meistens entstehen sie, wenn gegensätzliche Handlungsbereitschaften aufeinanderstoßen, Verhalten nicht mit Normen übereinstimmt oder durch Begegnungen zwischen Menschen gegensätzliche Gefühle ausgelöst werden (vgl. Traue 1998).
Die angeführten Beispiele ermöglichen eine erste allgemeine Definition:
Emotionen oder Gefühle sind gestalthafte Grundphänomene menschlichen
Verhaltens, die erlebnismäßig beispielsweise als Freude, Angst, Scham oder
Glück für ein Individuum unmittelbar evident sind, sich jedoch einer vollständigen wissenschaftlichen Analyse noch entziehen. Die Analyse emotionalen Verhaltens ist so schwierig, weil daran auf komplexe Weise verschiedene Systeme des Gesamtorganismus beteiligt sind, die auch für sich genommen nicht völlig verstanden werden. In einer groben Einteilung werden
Emotionen von Stimmungen und Affekten abgegrenzt. Stimmungen sind
überdauernde Zustände, die das individuelle Erleben in seiner Qualität färben, aber wenig intensiv sind. Emotionen sind nach dieser Einteilung dagegen umschriebene Erlebnisqualitäten, die sich aus den eher diffusen
Stimmungen herauskristallisieren können oder durch innere oder äußere
Reize ausgelöst werden. Affekte schließlich sind emotionale Zustände
großer Intensität, die kurzfristig und mit großer Heftigkeit eine Person
vollständig ergreifen und beherrschen.
Emotionen stehen in enger Beziehung zu körperlichen Empfindungen
wie Geschmack oder Geruch und zu motivationalen Zuständen. Während
jedoch Motive als Hunger, Durst oder Sexualität zu zielgerichtetem Handeln
führen, werden Handlungen von Emotionen eher unspezifisch unterbrochen
oder modifiziert. Emotion und Motivation können aber auch als verschiedene Aspekte ein und desselben Prozesses gesehen werden.
Für die vollständige Beschreibung von Emotionen sind die folgenden
Komponenten ein nützliches Raster, wobei nicht jede Emotion eine Ausprägung (oder Veränderung) dieser Komponenten aufweisen muß:
24
Harald C. Traue und Henrik Kessler
1.
2.
3.
4.
5.
Subjektives Erleben
Sprachliche Repräsentanz
Kognitive Bewertung von inneren und äußeren Stimuli
Ausdrucksverhalten der Mimik, der Gestik und des gesamten Körpers
Physiologische und endokrine Aktivierungen, die Anpassungsvorgängen
und Reaktionen dienen
6. Kognitiver Entwurf von Handlungen und Handlungsbereitschaften
Zu diesen Komponenten der Emotionen kommt die Annahme hinzu, daß
Emotionen prozeßhaft verlaufen, also als eine zeitliche Folge von sich ändernden Zuständen beschreibbar sind. Mehr oder weniger explizit wird von
den meisten Theoretikern ein phylogenetischer Ansatz vertreten, in dem die
Evolution emotionaler Prozesse im Sinne einer sich verändernden UmweltOrganismus-Schnittstelle verstanden wird. Die Anpassungsleistungen besonders zwischen sozialer Umwelt und dem individuellen Menschen stehen
dabei im Mittelpunkt emotionaler Prozesse. Insbesondere die motorischexpressive Komponente des emotionalen Verhaltens ist in dieser Interpretation zentral, weil mit ihr mögliche Handlungsbereitschaften und Intentionen
des Individuums in seine soziale Umwelt hinein kommuniziert werden. Erst
dadurch gewinnt das emotionale Verhalten seine regulierende Funktion über
das Individuum hinaus.
DIE WICHTIGSTEN EMOTIONSTHEORIEN
Es gibt weder eine einheitliche Theorie der Emotionen noch eine interdisziplinär akzeptierte Definition. Die Komplexität emotionalen Verhaltens erfordert einerseits die Beteiligung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen am Forschungsprozeß, andererseits tragen die verschiedenen Konzepte
dieser Wissenschaften, wenn sie auf Emotionen angewendet werden, zur
Heterogenität einer Theorie emotionalen Verhaltens bei. Dieses Dilemma ist
vorerst nicht auflösbar. Folgt man zusammenfassenden Übersichtsarbeiten
über Emotionstheorien, so kann man die gegenwärtigen Theorien aufgrund
ihrer gemeinsamen Wurzeln fünf Traditionen zuordnen. Die Fragen und
Hypothesen zum emotionalen Verhalten sind dabei unterschiedlich, ebenso
die Untersuchungsmethoden und Meßverfahren, um Hypothesen zu überprüfen. Außerdem überschneiden sich die Erklärungsbereiche des emotionalen Verhaltens. Dabei gewichten die verschiedenen Emotionstheorien die
Komponenten unterschiedlich, und in manchen Emotionstheorien kommen
einige Komponenten nicht vor. Wie wir sehen werden, kann man den Theorien ein integratives Konzept hinzufügen, das die jeweils betonten Aspekte
berücksichtigt und die Gemeinsamkeiten herausarbeitet (Traue 1998; 1999).
Psychologische Emotionskonzepte
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
25
Expressionstheorie
Emotionen als Aktivation
Neurobiologische Emotionstheorie
Psychoanalytische Emotionstheorie
Kognitions-Aktivationstheorie der Emotionen
Systemtheoretische Emotionstheorie
Emotionen als adaptive Reizverarbeitung
Die EXPRESSIONSTHEORIE der Emotionen basiert auf evolutionären Annahmen (Darwin-Tradition). Sie sieht Emotionen als Anpassungsprozesse
des Individuums auf der Ebene der Individuum-Umwelt-Schnittstelle, die
einst starre Reiz-Reaktionsmechanismen entkoppeln und sie durch flexible,
kommunizierbare Handlungs- und Reaktionsmuster ersetzen. Beteiligt sind
motorische, peripher-physiologische und endokrine Aktivierungen, die wesentlich das subjektive Erleben und die nonverbalen Ausdrucksmuster determinieren. Der Expressionstheorie zufolge korrespondieren bestimmte
physiologische, expressive und subjektive Muster mit diskreten Emotionen,
deren Anzahl definiert und begrenzt ist. Für die Entstehung subjektiven
Erlebens wird der Rückkopplung expressiver Muskelaktivität eine besondere
Bedeutung zugemessen. Dieser besondere Punkt bedarf der Erläuterung:
Man geht davon aus, daß mimisches Verhalten durch besondere Interozeption kontinuierlich abgetastet wird und das Individuum über seine Reaktionen informiert (facial feedback hypothesis; vgl. Levenson et al. 1990).
Im Vordergrund der AKTIVATIONSTHEORIE (James-Lange-Tradition)
stehen Muster der Aktivität des autonomen Nervensystems (ANS), die als
Folge emotionaler Stimuli entstehen und von Individuen als Emotionen
wahrgenommen und subjektiv erlebt werden. Obwohl diese Theorie wegen
der „ungenügenden Differenziertheit“ des viszeralen Systems schon bald
auf kritische Stimmen stieß, hat sie die psychophysiologische Forschung
stark beeinflußt: Auf ihr basieren die Annahmen von Reaktionsstereotypien,
die Grundlage der psychosomatischen Krankheitslehre sind. Ältere Studien
arbeiteten mit starken emotionalen Reaktionen in ihren wissenschaftlichen
Experimenten und konnten durch wenige Maße des autonomen Nervensystems erfolgreich Emotionen differenzieren. An der Replikation dieser Untersuchungen sind mehrere Forschergruppen in den USA und Deutschland
beteiligt. Der Nachweis emotionsspezifischer ANS-Muster ist aber nicht nur
konzeptuell schwierig, sondern auch, weil das ANS selbst sehr komplex ist
und immer nur begrenzt vermessen werden kann. Die Muster der Gesichtsmuskelaktivität diskriminieren einige Emotionen hingegen sehr gut. Mehr
als vegetative Maße sind sie auch als rückgekoppelte periphere Prozesse am
subjektiven Erleben stark beteiligt. Neuere Methoden, die mit Hilfe von
Kodiersystemen des Gesichtsausdrucks „reine“ Emotionen identifizieren
konnten, erbrachten auch relativ robuste ANS-Patterns für verschiedene
Emotionen (vgl. Stemmler 1984).
26
Harald C. Traue und Henrik Kessler
NEUROBIOLOGISCHE EMOTIONSTHEORIEN (Cannon-Bard-Tradition)
verstehen Emotionen als zentralnervöse Aktivität spezifischer Hirnstrukturen. Im Mittelpunkt steht dabei das limbische System mit seinen Verbindungen in den Kortex, aber auch die differentielle Bedeutung der linken
Hirnhemisphäre für positive und der rechten Hirnhemisphäre für negative
Emotionen (Hemisphärenlateralität). Während ursprünglich in dieser Theorie von Kernen im limbischen System ausgegangen wurde, die Emotionen in
ihrer Gesamtheit steuern, zeigen Studien mit elektrischer Hirnstimulierung
dissoziierte emotionale Reaktionen. Von solchen dissoziierten Reaktionen
ist dann die Rede, wenn beispielsweise die auf diese Weise erzeugten expressiven Muster nicht mit dem subjektiven Erleben übereinstimmen, z. B. ein
trauriger Gesichtsausdruck ohne die Empfindung von Traurigkeit. Strukturen innerhalb und außerhalb des limbischen System müssen deshalb als
integrierendes Gesamtsystem gesehen werden. Ganz wesentlich organisiert
das limbische System den Vergleich von sensorischer Information mit Gedächtnisinhalten (Walter 1999). In Abhängigkeit von früheren Bewertungen
werden dabei Informationen in autonome und motorische Strukturen und
in den Kortex gesendet. Daraus folgt, daß subjektives emotionales Erleben
und behaviorale Komponenten der Emotionen den autonomen Reaktionen
vorausgehen, sie begleiten oder ihnen nachfolgen können.
Neben den neuronalen Hirnstrukturen werden die monoaminergen Systeme für die globale Regulation emotionalen Verhaltens diskutiert. Bestimmte Psychopharmaka (z. B. Antidepressiva) beeinflussen das serotonerge System und dämpfen damit Angst und depressive Zustände. Die gleichzeitige Aktivität des dopaminergen und des noradrenergen Systems durch
Selbstreizung kann zu lustvollen emotionalen Empfindungen führen (vgl.
Traue 1994). Für eine neurobiologische Basis bestimmter Emotionen sprechen auch Befunde, nach denen bestimmte Stimuli, die in der stammesgeschichtlichen Entwicklung als Gefahrensignale gedeutet wurden (wie beispielsweise Schlangen, Spinnen, dunkle Räume oder spitze Gegenstände), zu
starken autonomen Reaktionen führen, die nicht oder nur wenig bei wiederholter Darbietung habituieren, obwohl diese Reizmuster heutzutage kognitiv
als wenig relevant für den Alltag bewertet werden (prepared emotion).
Als das Resultat konfligierender Triebenergien werden Emotionen von
der PSYCHOANALYTISCHEN EMOTIONSTHEORIE (Freud-Tradition) gesehen. Die zentralen Aussagen sind: 1. Sinneswahrnehmungen des Organismus werden unbewußt bewertet und mobilisieren relevante Triebenergien.
2. Die aktivierten Triebenergien des „Es“ sind im Konflikt mit anderen
Instanzen. 3. Ist wegen der Konflikthaftigkeit der ausgelösten Triebenergien
keine Triebbefriedigung möglich, kommt es zu Emotionsausdruck, emotionalem Erleben und zu neurophysiologischen Veränderungen an Stelle von
zielgerichtetem Handeln. Diese Phänomene beobachtete die Psychoanalyse
vor allem am Beispiel der Angst.
Psychologische Emotionskonzepte
27
Die aktuelle Emotionsdiskussion in der Psychoanalyse ist von einer
Neuorientierung geprägt (vgl. z. B. Bucci 1995, d’Elia 2001). Einige Forschergruppen beschränken sich auf emotionale Inhalte in der Sprache der
Patienten, manche orientieren sich an der Expressionstheorie und untersuchen kommunikative Strukturen, und wieder andere analysieren frühkindliches Bindungsverhalten.
Als zentrale Idee der KOGNITIONS-AKTIVATIONSTHEORIE (SchachterSinger-Tradition) werden Emotionen als Interaktionen zwischen unspezifischer autonomer Erregung und kognitiver Bewertung dieser Erregung unter
Berücksichtigung von Außenreizen verstanden (vgl. z. B. Reisenzein 1983;
Cacioppo et al. 2000). Die am emotionalen Prozeß beteiligten Kognitionen
enthalten Objekt- und Selbstrepräsentanzen, Schemata und Pläne, die zur
unspezifischen Erregung und zu den sozialen Umgebungsbedingungen in
Beziehung gesetzt werden. Die Kognitions-Aktivationstheorie bezieht die
folgenden Überlegungen der Aktivationstheorie, der Theorie kognitiven
Verhaltens und der Copingforschung in ihre Emotionsvorstellung ein. 1. Periphere physiologische Aktivität ist eine notwendige aber keine hinreichende
Bedingung für emotionales Verhalten. 2. Sind Personen peripher physiologisch erregt, suchen sie nach den Ursachen für diese Erregung. 3. Die Attributionen (Zuordnungen) zu solchen Ursachen sind aus Situationsmerkmalen und Kognitionen zusammengesetzt. 4. Die Kognitionen sind ein notwendiges Element und bestimmen die Emotionsqualität. 5. Emotionen sind
das Resultat von Situationsbewertungen, nicht der Situation selbst.
In der SYSTEMTHEORIE DER EMOTIONEN werden zwei Affektsysteme
angenommen, ein System der Basisemotionen (primary affect system oder basic
emotional system) und ein sozial-kognitives Emotionssystem (social emotional
system). Die interindividuelle Stabilität, einheitliche Phänomenologie und
subkortikale Auslösbarkeit sprechen sehr für ein System der Basisemotionen, das als Teil unseres stammesgeschichtlichen Erbes mit wesentlichen
Überlebens- und Reproduktionsfunktionen beschrieben werden kann. Das
sozial-kognitive Emotionssystem ist von kulturellen und gesellschaftlichen
Entwicklungen abhängig. Es zeigt dadurch eine erhebliche Variabilität.
Es ist offenkundig, daß wir bestimmte Gefühle wie z. B. Angst oder
Freude eindeutiger durch Mimik kodieren und erkennen können als andere
Gefühle. Das Gefühl von Leidenschaft ist weniger gut an seinen expressiven
Äußerungen zu erkennen. Legt man das mimische Verhalten für eine phänomenologische Analyse emotionaler Prozesse innerhalb einer Kultur oder
im Kulturvergleich zugrunde, stößt man auf eine Liste primärer Emotionen.
In einer viel beachteten Abhandlung von 1962 publizierte Tomkins eine
Liste mit neun Basisemotionen. Er war damit nicht der erste, der von Basisemotionen sprach, wohl aber der einflußreichste. Daß verschiedene Emotionsforscher zu ähnlichen Beschreibungen der Basisemotionen gelangt sind,
läßt auf die interindividuelle Übereinstimmung dieser Gefühle schließen.
28
Harald C. Traue und Henrik Kessler
Erstens konnten zahlreiche interkulturelle Studien zeigen, daß Basisemotionen in einer Vielzahl ethnischer Gruppen als mimisches Verhalten beobachtbar sind (z. B. Ekman 1993). Das spezifische mimische Verhalten kann
durch entsprechende Situationen ausgelöst werden, hat also ähnliche kulturunabhängige Bedeutungen und wird von Angehörigen verschiedener Kulturen entsprechend identifiziert, wenn man Bilder oder Filme mit mimischen
Gesichtsausdrücken vorführt und bewerten läßt. Zweitens zeigen Studien
zur frühkindlichen Entwicklung das sehr frühe Auftreten der meisten primären Emotionen im Ausdrucksverhalten. Freude, Trauer, Ärger und
Furcht können schon unmittelbar nach der Geburt in den Gesichtern von
Neugeborenen entdeckt werden. Mit diesem Ausdrucksverhalten kann bereits vom Säugling ein Kommunikationssystem mit seinen Bezugspersonen
etabliert werden, ohne daß der Säugling damit die „Absicht“ verfolgen muß,
spezifische Emotionen mitzuteilen. Welche kognitiven Prozesse daran beteiligt sind, entzieht sich mangels Sprache und Bericht weitgehend der wissenschaftlichen Analyse. Da dieses frühkindliche Ausdrucksverhalten jedoch
schon in den ersten Wochen durch Gesichter von Bezugspersonen ausgelöst werden kann, sind komplexe Verarbeitungen der Erkennung und Reproduktion von Gesichtsmimik beteiligt. Das Ausdrucksverhalten selbst ist
aber sicher angeboren, denn auch blind geborene Menschen haben das gleiche mimische Ausdrucksverhalten der Basisemotionen wie sehend geborene. Drittens führen bestimmte Läsionen des Kortex zu bestimmten Einschränkungen der willkürlichen mimischen Motorik. Ausdrucksmuster der
Basisemotionen können aber dennoch entstehen. Umgekehrt bewirken
Läsionen im extrapyramidalen System, z. B. der Basalganglien, eine Störung
der spontanen mimischen Ausdrucksbewegungen, während willkürlich die
Emotionen noch gezeigt werden können.
Das zweite System, das als „sozial-kognitives Emotionssystem“ bezeichnet wird, ist hierarchisch über dem System der Basisemotionen angeordnet
und beeinflußt dieses mit Hemm- und Verstärkungsmechanismen (Traue
1998). Die Kontrollmechanismen wirken auf die Wahrnehmungs- und Ausdruckskomponenten. Ihre Wirkung ist jedoch beschränkt, Aktivitäten des
Systems der Basisemotionen lassen sich nicht vollständig kontrollieren. Leonard Zegans beschreibt die Funktionen des sozial-kognitiven Emotionssystems so:
Es ist dazu bestimmt, die soziale Kommunikation zu erleichtern und die
langfristigen Ziele des Individuums zu steuern. Die physiologischen und expressiven Systeme werden moduliert, um den sozialen und kulturellen Konventionen und Zwängen zu genügen. [...] Während des sozialen Lernens lernen die meisten Kinder, wie die Wahrnehmung und Kommunikation von
starken Gefühlszuständen verändert, gehemmt oder maskiert werden (1983,
243).
Psychologische Emotionskonzepte
29
Das sozial-kognitive Emotionssystem kontrolliert und beeinflußt in begrenztem Maße die primären Emotionen. Diese werden vor allem langfristig
günstig reguliert, indem soziale und kulturelle Bewertungen berücksichtigt
werden. Deshalb die Bezeichnung „sozial-kognitives Emotionssystem“.
Kognitionen bilden die Bewertungen von Individuen und Gesellschaften ab.
Sie werden in sozialen Lernprozessen durch Modell-Lernen oder operante
Konditionierung im Verlauf der Sozialisation vermittelt. Sie sind deshalb
sehr schicht- und kulturabhängig. In umgekehrter Richtung können aber
auch primäre Emotionen das gesamte emotionale Verhalten überschwemmen und die gesamte Kontrolle hinwegfegen. Die Prozesse der Emotionsförderung, -kontrolle und -hemmung werden uns bei den folgenden Betrachtungen zur Gefühlswelt weiter beschäftigen.
Emotionen können auch als ADAPTIVE REIZVERARBEITUNG im Prozeß
des emotionalen Verhaltens gesehen werden, an dem mit zunehmender
Komplexität mehr psychische und physiologische Komponenten beteiligt
sind. Scherer (1981) interpretiert emotionale Prozesse explizit evolutionstheoretisch als Individuum-Umwelt-Schnittstelle, die starre Reiz-Reaktionsketten durch rasch ablaufende Regelmechanismen ersetzt. Dabei wird die
Funktion der Bewertung im emotionalen Prozeß betont. Diesen Bewertungsvorgang sieht Scherer als einen Ablauf in fünf Schritten, die bei externen Reizen hierarchisch ablaufen:
1. Bewertung der Neuartigkeit. Ein Reiz wird auf Neuartigkeit geprüft. Diese
Bewertung kann z. B. zum Schreck führen. Vermutlich wird diese Bewertung ohne kortikale Beteiligung über die sogenannte Orientierungsreaktion
vermittelt, durch die eine schnelle Reizbewertung erfolgt. Bei den primären
Affekten finden wir Überraschung oder Interesse als Äquivalent wieder.
2. Bewertung der Qualität „angenehm – unangenehm“. Diese Bewertung findet
sich in den meisten Emotionstheorien, z. B. als Lust-Unlust-Dimension. In
einer heftig diskutierten Position behauptet Zajonc (1979) aufgrund seiner
experimentellen Arbeiten, daß diese Bewertung ebenfalls ohne kortikale Beteiligung funktioniert, da eine solche Bewertung auch ohne Memorisierung
erfolgen kann. Die Bewertung in unangenehme und angenehme Reize kann
man als Ausgangswert für mehrere primäre Affekte verstehen, z. B. Freude,
Ärger und Furcht.
3. Bewertung der Zielrelevanz. Nach der Bewertung auf der Dimension angenehm-unangenehm wird geprüft, inwieweit der Reiz das Erlangen eines
Zieles fördert oder hindert. Furcht und Ärger als Reaktionen auf die Unterbrechung einer zielgerichteten Handlungskette können resultieren. Fördert
der Reiz die Zielerreichung, können Zufriedenheit, Freude etc. resultieren.
Die Bewertung der Zielrelevanz ist vom zweiten Schritt zu trennen, da auch
angenehme Reize zielgerichtete Handlungen behindern können und dann in
negative Emotionen münden.
30
Harald C. Traue und Henrik Kessler
4. Bewertung der Bewältigungsfähigkeit. Es wird die Bewältigungsfähigkeit des
Organismus hinsichtlich seiner Ziele und Pläne gegenüber Situationen geprüft. Grundlage für diese Einschätzung ist eine Kausalattribution, nämlich
die Feststellung, wodurch ein bestimmter Reiz verursacht wurde. Ohne
diese Ursachenbestimmung ist die Bewertung der Bewältigungsmöglichkeiten oft nicht möglich. Kann der Organismus mit der jeweiligen Reizkonstellation nicht fertig werden, ohne in seinen wichtigen Zielen gefährdet zu sein,
so ist das Resultat Ärger. Kommt der Organismus zu der Bewertung, der
jeweiligen Bedrohung zu erliegen, so ergibt sich Furcht oder Angst, bei habitueller Insuffizienz Hilflosigkeit oder Depression.
5. Bewertung der Selbstkonzeptrelevanz. Aus diesem Verarbeitungsschritt resultieren Emotionen wie Scham, Schuld, Peinlichkeit, Triumph oder Schadenfreude. In die komplexe Reizverarbeitung gehen Informationen über den
externen Reiz, Aspekte des Selbstkonzepts und vor allem soziale Normen
ein. Auf dieser Ebene ist die enge Verknüpfung von Denken und Fühlen am
deutlichsten, denn die Vergleiche werden gedanklich vorgenommen, ebenso
wie die Schlußfolgerungen zunächst gedanklich realisiert und dann in Handeln umgesetzt werden.
INTEGRATIVES KONZEPT VON EMOTIONEN
Trotz unterschiedlicher Akzente in den Emotionstheorien, die sich vor allem auf die Gewichtung einzelner Komponenten beziehen, kann folgende
Konzeptualisierung emotionalen Verhaltens als minimaler Konsens gelten
(Traue 1999):
1. Emotionen dienen der Individuum-Umwelt-Anpassung. Die emotionalen
Strukturen und Funktionen haben sich in einem evolutionären Prozeß des
Nervensystems und der sozialen Lebensform des Menschen entwickelt.
Zwei wesentliche Konsequenzen folgen daraus: Die evolutionsgeschichtlich
neueren Strukturen überlagern die alten Strukturen, heben deren Funktion
jedoch nicht vollständig auf, sondern machen sie kontrollierbar. Darüber
hinaus stehen Emotionen und ihre individuelle Entwicklung in engem Zusammenhang mit der sozialen Lebensform des Menschen. Sie sind ein wichtiges interindividuelles Signalsystem, mit dem internale Zustände und Handlungsabsichten kommuniziert werden.
2. Während ältere Emotionstheorien einzelne Aspekte von emotionalen
Regulationsmechanismen in den Vordergrund stellen, betonen neuere Theorien die Bedeutung des gesamten Nerven- und Neurotransmittersystems für
emotionale Prozesse. Sensorischer Apparat, subkortikale Areale und der
Neokortex sind integriert an Emotionen beteiligt. Dem sensorischen Apparat werden dabei prä-emotionale Phänomene (wie z. B. Schreck) zugeordnet.
Psychologische Emotionskonzepte
31
Subkortikal werden frühe „gut-schlecht“-Bewertungen vorgenommen. Dort
wird die motivationale Lage des Organismus integriert und zu primären
Emotionen mit ihren neuronalen Mustern präaktiviert. Auf kortikaler Ebene
verarbeitet hauptsächlich die rechte Hemisphäre diese komplexen Aktivationsmuster der subkortikalen Areale zu primären Emotionen, die als Gestalten subjektiv erlebbar werden. Die linke sprachnahe Hemisphäre verarbeitet
durch kognitive Prozesse neben den primären Emotionen besonders alle
Emotionen des kognitiv-affektiven Emotionssystems (z. B. Schuld, Scham,
Begeisterung, Eifersucht), die eine Berücksichtigung von Normen, Einstellungen, Bewertungen und Antizipationen voraussetzen.
3. Emotionen können als Prozeß verstanden werden, der anderes Verhalten
initiiert, reguliert oder unterbricht (Interrupt-Funktion). Die für die somatischen Komponenten (autonomen, endokrinen und motorischen Reaktionen) wichtigen subkortikalen Areale können sowohl von externalen und internalen Stimuli als auch von übergeordneten kortikalen Systemen aktiviert
werden. Die an Emotionen beteiligten Prozesse sind hierarchisch strukturiert und umfassen verschiedene Hirnebenen, vom sensorischen Apparat bis
zum Neokortex. Auf jeder Ebene gibt es jedoch automatische und selbstregulierende Mechanismen, die eine vollständige Kontrolle durch ein übergeordnetes System vereiteln. Die Subsysteme sind durch Feedback- und Feedforward-Regelmechanismen verbunden.
4. Emotionale Prozesse sind bei geringer Intensität eher spezifisch mit zentraler und motorischer Aktivität und unspezifisch mit autonomer Aktivität
verbunden. Dabei sind die zentralen Regulationen wichtiger als das periphere Feedback. Theoretisch leitet sich dieses aus der evolutionär begründeten
Kommunikationsfunktion des emotionalen Verhaltens ab. Empirische Evidenz dieser Annahme folgt aus der Stabilität und interindividuellen Übereinstimmung emotionalen Ausdrucksverhaltens und der Unspezifität autonomer Korrelate. Bei Emotionen großer Intensität werden die autonomen und
damit lebenserhaltenden Funktionen bedeutsamer und dominieren die kognitiven Prozesse.
5. Nach der Auslösung des emotionalen Prozesses durch externale oder
internale Stimuli greifen die kortikalen Mechanismen über Bewertung, Stimuluskontrolle, Ausdrucks- und Verhaltenskontrolle entscheidend in den
Prozeß ein. Diese Kontrollmechanismen können ihrerseits durch primäre
Emotionen wie Angst (soziale Angst) initiiert werden. Die willkürliche Kontrolle der Gesichtsmotorik kann dabei mit spontanen Mustern, die subkortikal ausgelöst werden, konkurrieren und zur Intensivierung der Emotionen
führen (Leventhal-Effekt; vgl. Leventhal & Mosbach 1983). Mechanismen
der Emotionshemmung können an motorischer und autonomer Aktivität
wesentlich beteiligt sein und zur Entstehung und Aufrechterhaltung psychosomatischer Erkrankungen beitragen (Traue 1998; Traue & Deighton 2000).
32
Harald C. Traue und Henrik Kessler
6. Die subjektive Erlebnisqualität der Emotionen wird aus verschiedenen
Quellen gespeist. Im Vordergrund stehen dabei zentralnervöse und autonome Aktivierungen und das Feedback afferenter Information aus der mimischen Muskulatur. Langanhaltende Emotionen wie Ängste, depressive Verstimmungen oder andere affektive Störungen werden ganz erheblich durch
dauerhafte Veränderungen des neurobiochemischen Milieus erzeugt. Emotionen können subjektiv aber auch nur auf der Ebene von Vorstellungen,
Bildern und sprachlichen Kategorien erlebt werden. Emotionen verleihen
situativen Bedingungen Bedeutung.
Das Ziel dieses einführenden Kapitels war es, einen Überblick über die
wichtigsten psychologischen Emotionstheorien zu geben. Einige dieser
Konzepte haben eine lang zurückreichende Geschichte in der Psychologie
und sind eher von historischem Interesse, andere sind hochaktuell, werden
zur Zeit noch heftig diskutiert und dienen der Hypothesenbildung für empirische Untersuchungen des emotionalen Verhaltens. Abschließend haben
wir ein integratives Modell vorgeschlagen, das versucht, die wesentlichen
Teile einzelner Theorien zu berücksichtigen und zugleich als eine Zusammenfassung gesehen werden kann. In diesem Rahmen war es uns nicht
möglich, vertiefend auf die einzelnen Theorien einzugehen, beziehungsweise
sie kritisch vergleichend zu diskutieren. Es finden sich in diesem Band jedoch weitere Artikel, die sich mit einigen der von uns erwähnten Aspekte
näher auseinandersetzen.
LITERATUR
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München: Oldenbourg Verlag.
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Günter Kämper
EMOTIONEN BEI TIEREN?
W
ürde man eine repräsentative Umfrage in der Bevölkerung durchführen, ob es bei Tieren Emotionen gibt, ergäbe sich vermutlich
mit deutlicher Mehrheit eine positive Antwort. Die biologische
Forschung hat sich bisher jedoch nur wenig mit dieser Frage beschäftigt.
Dementsprechend ist die Zahl wissenschaftlich fundierter Studien sehr
gering – ein Zustand, über den sich Autoren im populärwissenschaftlichen
Bereich gelegentlich heftig beklagen. So schreiben etwa Masson und
McCarthy: „After a promising start with Darwin, very few scientists have
acknowledged, researched, or even speculated about animal emotions. So
persistent are the forces that militate against admitting the possibility of
emotions in the lives of animals that the topic seems disreputable, not a
respectable field of study, almost taboo“ (1994, 19). Von einem Tabu kann
sicher nicht die Rede sein, eher davon, daß das Thema schwer zu fassen und
noch schwerer experimentell umzusetzen ist. Staatliche Forschungsförderung setzt aber voraus, daß die einem Förderungsantrag zugrundeliegenden
Hypothesen klar formuliert werden können, und daß Tierversuche unmittelbar zu greifbaren Resultaten führen. Angesichts einer so komplexen Thematik ist dies höchstens auf Teilgebieten wie der Angstforschung möglich.
Warum suchen wir nach Emotionen bei Tieren? Es gibt unerschöpfliche
Sammlungen von Anekdoten insbesondere über Haustiere, die darauf hindeuten, daß nicht nur Menschen, sondern auch Tiere Gefühle besitzen. Für
die Wissenschaft besteht hier noch Forschungsbedarf, denn angesichts des
offensichtlichen „weißen Flecks“ auf der wissenschaftlichen Landkarte würden neue Studien auf diesem Feld einen substanziellen Erkenntnisgewinn
erwarten lassen. Neben dem primär zweckfreien Wissenszuwachs gibt es
auch praktische Gründe: Psychologen, Psychiater und Neurologen sind an
den Grundlagen der von ihnen an Menschen beobachteten Phänomene
interessiert. Findet man geeignete Tiermodelle, an denen die neuronalen und
physiologischen Grundlagen emotionalen Verhaltens aufgeklärt werden
können, dann werden sich auch neue Behandlungsmethoden ergeben. Auch
für unser menschliches Selbstverständnis können Studien zur Emotionalität
der Tiere sehr aufschlußreich sein. Wie alle physiologischen und neuronalen
Funktionen ist unsere komplexe Gefühlswelt das Ergebnis einer langen
Evolution, und wenn wir unsere eigenen Ursprünge erkennen wollen, sollten wir uns auch die entsprechenden Fähigkeiten der Tiere ansehen.
Emotionen bei Tieren?
35
Wissen wir eigentlich, wonach wir suchen? Schon bei anderen Menschen
fällt es uns oft schwer, vorhandene Emotionen zu erkennen, sie genau zu
beschreiben, oder im Krankheitsfall zu behandeln – denken wir nur an die
Symptome der Depression. Die zahlreichen Versuche in der Psychologie,
Emotionen zu klassifizieren und zu kategorisieren, belegen dieses Problem.
So ist man sich zwar darüber weitgehend einig, daß es Basisemotionen gibt,
aber die Angaben über deren Anzahl schwanken zwischen zwei und weit
mehr als zehn. Um wieviel schwerer muß es dann sein, solche Klassifizierungen bei Tieren vorzunehmen. Auch die bei Menschen noch einigermaßen klare Unterscheidung zwischen Emotionen und Stimmungen kann bei
Tieren weit weniger klar durchgeführt werden, und in der Praxis wird dazwischen auch kaum unterschieden.
Man kann davon ausgehen, daß bestimmte Emotionen für alle Tiere einen Überlebensvorteil bieten, und in erster Linie sind hier Angst und Furcht
zu nennen, Gefühle, die noch am leichtesten zu erkennen und zu messen
sind (z. B. an Schreckreaktionen). Sie helfen, potentiell gefährliche Situationen richtig einzuschätzen und adäquat zu reagieren. Die Furcht beim Anblick eines Freßfeindes ist vielen Tieren angeboren. So erzeugt schon bei
Enten- und Gänseküken die bewegte Silhouette eines Vogels eine Furchtreaktion (Tinbergen 1951, nach McFarland 1989). Als weiterer wichtiger
Schritt ist es ein Vorteil, wenn ein Tier lernen kann, daß bestimmte Reizsituationen Gefahr bedeuten, oder auch daß sie zwar gefährlich erscheinen, tatsächlich aber harmlos sind. Ein Küken lernt z. B. nach einiger Zeit, die
Silhouette eines Habichts von der einer Ente zu unterscheiden. Die Fähigkeit zum Lernen ist bei den meisten Tieren vorhanden, nicht nur bei Wirbeltieren, sondern auch bei Wirbellosen wie den Insekten und Mollusken. Die
nächsthöhere Stufe stellt die Einbindung kognitiver Mechanismen dar. Dies
bedeutet, daß Reizkonstellationen und Erfahrungen, die früher einmal mit
Gefahr in Verbindung standen, für längere Zeit gespeichert und bei Wiederholung der Situation neu interpretiert und bewertet werden. Zumindest
Säugetiere sind zu solchen Leistungen imstande. Tiere besitzen somit –
wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – die elementaren Fähigkeiten,
welche an der Auslösung von einem Gefühl wie „Angst“ beteiligt sind.
Ausgehend davon kann man weitergehende Fragen formulieren, etwa:
•
•
•
•
Zeigen Tiere neben Angst auch andere „Basisemotionen“ wie Ärger,
Trauer, Freude und Ekel?
Ist bei Tieren eine Struktur vorhanden, die wie das limbische System
beim Menschen entscheidend an der Emotionsregulation beteiligt ist?
Gibt es anatomische Abstufungen von höheren zu niederen Tieren?
Sind bei Tieren die emotionsbegleitenden Signale und die physiologischen Veränderungen in gleichem Kontext, in gleicher Form und in
gleicher Intensität wie beim Menschen vorhanden?
Günter Kämper
36
Einige dieser Fragen werden auf den folgenden Seiten beantwortet, auch
wenn vieles derzeit noch offen bleiben muß.
Die Begriffe Affekt, Gefühl und Emotion werden gelegentlich in eine
Kette aufsteigender Komplexität gestellt: Bestimmte Reize führen zu einem
unbewußten Affekt; dringt dieser ins Bewußtsein vor, dann erzeugt er ein
Gefühl, und wenn zusätzlich auch kognitive Mechanismen beteiligt werden,
wird dies als Emotion bezeichnet. Ein solches Schema trennt die Emotionen allerdings zu sehr von den „niederen“ Vorgängen. Viele Autoren benutzen andererseits die Begriffe Affekt, Gefühl und Emotion synonym. Gerade
unter dem Aspekt einer allmählichen Evolution erscheint es sinnvoll, die
emotionale Komponente eher als einen graduellen Begleitprozeß anzusehen,
sowohl individuell als auch zunehmend in der Entwicklungsstufe der Tierarten. Diese Hypothese wird durch Abb. 1 veranschaulicht. Die Eingangsseite
des Schemas enthält neben den „Reizen“ als zusätzliche Komponente „spezifische innere Antriebe“; dies sind physiologisch, z. B. hormonell bedingte
Motivationszustände, die einen Einfluß auf das emotionale Erleben ausüben. Inwieweit die Wirkung äußerer Reize bei Tieren durch solche Faktoren modifiziert, ergänzt oder ersetzt werden kann, ist in diesem Zusammenhang noch unklar.
Affekt
• genetisch
spezifische
innere Antriebe
(Motivation)
programmierter
Ablauf
• kurze Dauer
Gefühl
• Bewusstwerden
• begrüßen,
des Affekts
• modulierbar durch
bewerten (+,-)
Prägung, Kultur
etc.
Kognition
• Zeit als
zusätzliche
Dimension
• Erinnerungen
an frühere
Ereignisse
dieser Art
• kann Gefühl
Emotionale Komponente
Reize
verstärken
Abb. 1 Emotion als Begleitprozeß in der Kette Reiz – Affekt – Gefühl – Kognition. Die Bedeutung der emotionalen Komponente nimmt dabei zu. Dieses Schema
kann sowohl für die Hierarchie der Phänomene innerhalb eines Organismus gelten
wie für die Fähigkeiten, die mit der Höherentwicklung der Tiere erworben wurden.
Was sagen ernstzunehmende Zeugen zu der Frage, ob Tiere Emotionen
besitzen? Neben vielen Einzelberichten von Personen, die zwar unmittelbar
mit Tieren zu tun haben, aber mit wissenschaftlicher Beobachtung und
Argumentation weniger vertraut sind, finden sich auch bekannte Wissenschaftler, die diese Frage ganz selbstverständlich bejahen. So nennt Charles
Darwin (1872) eines seiner Hauptwerke The Expression of the Emotions in
Man and Animals. Er beschreibt darin unter anderem ausführlich den mit
Emotionen bei Tieren?
37
Furcht und Aggression einhergehenden Gesichtsausdruck bei Katzen und
Hunden sowie die eher subtilen Variationen in der Mimik von Affen
(Abb. 2). Später wurde wiederholt versucht, den emotionalen Ausdruck im
Gesicht von Schimpansen mit dem von Menschen zu homologisieren (z. B.
Abb. 2 C). Das Ergebnis kann allerdings nur teilweise überzeugen: Das
Problem liegt darin, daß die feinen Nuancen der Mimik vor allem der innerartlichen Kommunikation dienen; es sind Signale für Artgenossen, und nur
die verstehen sie richtig zu deuten. Dies weist auch darauf hin, daß sich die
Details der Syntax nach der Aufspaltung der Arten weiter differenziert ha-
Abb. 2
Mimik bei Säugetieren.
Schimpansen verfügen über ein sehr
ausgeprägtes mimisches Repertoire,
das vor allem der innerartlichen
Kommunikation dient (A, C). Versuche, die Ausdrucksformen und die
damit verbundenen Verhaltenssituationen mit denen des Menschen zu
vergleichen, sind allerdings nur bedingt überzeugend. Zwischenartliche
Signale, wie sie eine bedrohte Katze
aussendet, sind dagegen universell
wirksam (B). A und B nach Darwin
(1872), C nach Tembrock (1975) und
Kohts (1935), verändert.
38
Günter Kämper
ben. Es bestand in der Stammesgeschichte keine Notwendigkeit dafür, daß
andere Tierarten die innerartlichen Signale verstehen. Das Blecken des Gebisses mit heruntergezogenen Mundwinkeln dagegen hat sich als artübergreifendes Warnsignal erhalten; es wird von Katzen ebenso wie von Hunden
und Menschen verstanden und angewendet. Auch Konrad Lorenz, Gründervater der Ethologie und Nobelpreisträger, machte angesichts der hitzigen
Debatte in den 70er und 80er Jahren über die Haltung von Haus- und Nutztieren kein Hehl aus seiner Meinung, daß Tiere zu Gefühlen fähig sind. Er
schreibt in einem Artikel unter dem Titel „Tiere sind Gefühlsmenschen“: „Ein
Mensch, der ein höheres Säugetier, etwa einen Hund oder einen Affen,
wirklich genau kennt und nicht davon überzeugt wird, daß dieses Wesen
ähnliches erlebt wie er selbst, ist psychisch abnorm.“ (Der Spiegel Nr. 47,
1980, 251-262). Allerdings hat er dieses Thema in seinen wissenschaftlichen
Arbeiten nicht systematisch verfolgt, sondern er bezieht sich auf seine jahrzehntelangen eigenen Erfahrungen und Beobachtungen an Tieren.
DIE GEFAHR DER ANTHROPOMORPHEN BETRACHTUNG
Für uns Menschen ist es äußerst schwierig, bei der Beobachtung von Tieren
das eigene subjektive Erleben auszuschalten. Bestimmte Signale anderer Lebewesen erzeugen bei uns unweigerlich Gefühle, die wir wiederum in den
Sender der Signale hinein interpretieren. Diese Deutung kann falsch sein
oder auch richtig. Bekannt ist in
diesem Zusammenhang das auf
Tiere angewandte Kindchenschema, eine in der Unterhaltungs- und
Werbeindustrie vielgenutzte Methode. Gerade für die Generationen, die mit den Comics von Walt
Disney aufgewachsen sind, gehören
die Abenteuer vermenschlichter
Mäuse, Füchse und Hunde zur
prägenden Phantasiewelt ihrer
Abb. 3 Die Vermenschlichung von Kindheit (Abb. 3). Mit anderen
Tieren unter Benutzung überdeutlicher
Signale ist durch den alltäglichen Ge- Worten, wir sind es mehr als frühebrauch in der Unterhaltung und Wer- re Generationen gewohnt, menschbung für uns selbstverständlich gewor- liche Gefühle in tierische Verhalden.
tensweisen hineinzuinterpretieren.
Hinzu kommt, daß der Mensch viele der Tiere, mit denen er täglich umgeht, nach seinen Bedürfnissen und nach seinem Geschmack „geschaffen“
hat, nämlich die Haustiere. Gerade bei Katzen und Hunden geht der Züchtungsdruck oft dahin, den Menschen emotional anzusprechen, sowohl im
Emotionen bei Tieren?
39
Aussehen als auch im Verhalten. Eine manchmal überraschend große Lernfähigkeit verhilft den Haustieren zusätzlich zu der Fähigkeit, die Absichten
und Erwartungen ihrer Halter „vorauszuahnen“ und sich zum eigenen Nutzen entsprechend zu verhalten. Wenn wir etwas über die natürliche Evolution der Emotionalität von Tieren und Menschen erfahren wollen, sind
Haustiere daher nicht die besten Untersuchungsobjekte. Vorzuziehen sind
Studien natürlicher Verhaltensweisen an frei lebenden Tieren, und eine
wichtige Grundvoraussetzung ist, daß sich der Beobachter nicht in das Geschehen einmischt.
Die anthropomorphe Betrachtungsweise birgt zweifellos das Risiko einer
falschen Interpretation, sie kann uns aber auch wichtige Hinweise geben,
also als Hypothese dienen. So kann man z. B. dem Schimpansenjungen in
Abb. 4 Attribute wie kraftlos, teilnahmslos und ungepflegt zuordnen, also
etwas, das man auch mit dem Begriff „ein Häuflein Elend“ bezeichnen
könnte. Van Lawick-Goodall (1973) beschreibt das Verhalten dieses Tieres
so: Es wurde zunehmend lustlos, hörte auf, mit anderen Schimpansen zu
spielen und entwickelte stereotype Bewegungsweisen wie
Hin- und Herschaukeln. Die
Mutter des Tieres war gestorben, und es drängt sich hier die
Vermutung auf, daß wir es mit
einem Ausdruck von TRAUER
zu tun haben. Parallelen zum
menschlichen Verhalten bei
Trauer sind einfach nicht zu
übersehen. Auch Konrad Lorenz (1980) schildert, wie sich
der Tod eines engen Bezugstieres auswirken kann. Stirbt bei
monogam lebenden Gänsen
einer der Partner, dann zeigen
Abb. 4 Ein junger Schimpanse, der seine
sich bei dem Überlebenden
Mutter verloren hat, zeigt alle Anzeichen
von Trauer. Nach van Lawick-Goodall
ganz ähnliche Symptome wie
(1973), verändert.
bei dem Schimpansenjungen.
Am Beispiel der Trauer wird
gleich auch ein Dilemma der wissenschaftlichen Arbeit deutlich: Bei Fragen
zum Thema Emotionen ist es aus ethischen Gründen meistens nicht möglich, systematisch Versuche durchzuführen. Ein nach allen Regeln abgesicherter Beweis für eine Hypothese ist unter solchen eingeschränkten Bedingungen nicht zu erbringen. Man muß sich zwangsläufig mit verläßlichen
Einzelberichten begnügen, die erst in ihrer Summe die Hypothese erhärten,
daß es Emotionen wie z. B. Trauer auch bei Tieren gibt.
40
Günter Kämper
PRAKTISCHE FORSCHUNGSANSÄTZE
ANATOMIE
Wie andere Beiträge in diesem Buch ausführlich belegen, sind Emotionen
beim Menschen eng mit dem LIMBISCHEN SYSTEM des Gehirns verbunden.
Eine interessante Frage, wenn auch natürlich kein schlüssiger Nachweis
eines Gefühllebens, ist, wieweit sich dieses System auch bei Tieren findet.
Dieser Frage soll im folgenden nachgegangen werden. Das limbische System
umfaßt mehrere Hirnbereiche. Es enthält Teile des Zwischenhirns (Diencephalon), nämlich Thalamus und Hypothalamus und des Endhirns (Telencephalon) mit Amygdala, Hippocampus und weiteren Arealen. Die
Amygdala (Mandelkern) wird auch als „emotionaler Computer“ bezeichnet.
Eine beidseitige Zerstörung dieser Struktur und des benachbarten Gewebes
bewirkt z. B. bei Affen, daß die Assoziation von Reizen mit Belohnung und
Bestrafung verloren geht; verallgemeinert bedeutet dies den Verlust der
Kontext-Spezifität von Reizen und verbunden damit auch ihrer sozialen
Relevanz. Man spricht dann auch von „Seelenblindheit“ (Klüver-BucySyndrom). Die Tiere fressen nach einem solchen Eingriff z. B. Dinge, die sie
vorher gemieden haben, und sie zeigen eine untypische Furchtlosigkeit
(nach
Plutchik
1994). Aus anatomischen Studien
der Gehirne verschiedener Tiergruppen sind ausreichend Informationen
über
Vorkommen und
Größe der Komponenten
des
Abb. 5 Gehirn eines Fisches (Hornhecht, Ansicht von der linlimbischen
Syken Seite). Schon auf dieser niedrigen Stufe sind die wesentlistems verfügbar;
chen Teile des Diencephalons (Zwischenhirn) gut unterscheidbar: dorsaler Thalamus (schraffiert), ventraler Thalamus (dunkel)
diese sind zusätzsowie Hypothalamus (Hy). Auch das Telencephalon (T) ist deutlich vielfach auch
lich zu erkennen (P Pallium, Mantel des linksseitigen Telendurch cytologicephalons). Cb Cerebellum (Kleinhirn), BO Bulbus olfactorius
sche und physio(Riechhirn), NO Nervus opticus (Sehnerv), OT Optisches Tectum, PO Präoptische Area, Pr Prätectum, PT Posteriores Tuberlogische Befunde
culum, S Striatum (nach Butler & Hodos 1996, verändert).
ergänzt.
Abb. 5 zeigt an dem noch relativ übersichtlich gebauten Gehirn eines Knochenfischs, daß schon bei den niederen Wirbeltieren Di- und Telencephalon
ausgebildet und gut unterscheidbar sind. In der aufsteigenden Wirbeltierrei-
Emotionen bei Tieren?
41
he über die Amphibien, Reptilien, Vögel und Säuger (Abb. 6) erfährt das
Diencephalon relativ wenig weitere Entwicklung, während das Telencephalon, vor allem mit der Ausbildung des Neokortex, eine starke Differenzierung aufweist.
Das Diencephalon besteht bei allen Wirbeltieren aus vier Hauptabschnitten: Epithalamus, dorsaler Thalamus, ventraler Thalamus und Hypothalamus. Sie stellen generelle Schaltstellen für Sinnesinformationen dar, und sie
sind für die Regelung der Stoffwechselgleichgewichte (Homöostase) zuständig. Der Hypothalamus steuert die sogenannten „Allgemeingefühle“ wie
Hunger, sexuelle Appetenz und Atemnot. Wie man an dieser Zusammenstellung sieht, hat das Diencephalon mehrere sehr unterschiedliche elemen-
Abb. 6 Höherentwicklung des Gehirns der Wirbeltiere vom
Frosch bis zum Menschen. Das bei allen Vertebraten vorhandene Diencephalon (dunkelgrau, Pfeile) wird zunehmend vom
Telencephalon verdeckt (nach Birbaumer & Schmidt 1990, und
Rosenzweig & Leimann 1982, verändert).
42
Günter Kämper
tare Funktionen, von denen nur ein Teil mit gefühlsmäßigem Erleben einhergeht. Da die Grundfunktionen bei den verschiedenen Wirbeltierstämmen
ähnlich sind, ist es auch nicht überraschend, daß das Diencephalon bei allen
Wirbeltieren ähnlich aufgebaut ist, d. h. sich in der Evolution nicht wesentlich weiterentwickeln mußte. Es ist verführerisch, die oben erwähnten Allgemeingefühle, aber auch Aggression, Werbe- oder Brutpflegeverhalten in
Zusammenhang mit Emotionen zu stellen, da sie bei uns Menschen mit oft
starken Gefühlen verbunden sind. Hier ist Vorsicht beim Gebrauch des
Begriffs Emotion angebracht, denn sonst müssen wir auch einem hungrigen
Regenwurm ein Gefühlsleben zugestehen. Sinnvoller erscheint es, diesen
eher mechanistischen Antrieben eine noch schwache emotionale Komponente zuzuordnen, wie es Abb. 1 im Bereich der Affekte darstellt. Die Rolle
des Hypothalamus bei der Steuerung dieser Verhaltensweisen wurde durch
Reizversuche geklärt. Durch elektrische Stimulation bestimmter Bereiche
des Hypothalamus lassen sich schon bei Fischen und Amphibien aggressive
Verhaltensweisen wie Beißen und Jagen auslösen. Äußere sensorische Reize
müssen dafür nicht vorhanden sein. Bei Reizung der Area praeoptica, dem
Übergangsbereich zwischen Hypothalamus und Telencephalon, kommt es
zu Werbe- und Nestbauverhalten. Auch dieses sind elementare, zum Überleben notwendige Verhaltensweisen. Trotzdem überrascht gelegentlich die
Ausprägung des Verhaltens, etwa wenn man beobachtet, wie ein Alligatorenweibchen sein Gelege wochenlang bewacht und die Jungen nach dem
Schlüpfen vorsichtig ins Maul nimmt und zum Wasser trägt. Typisch für die
vielfältigen Aufgaben des Diencephalons ist auch die Funktion der Hypophyse. Sie ist unter anderem für die Ausschüttung der Hormone Oxytocin
und Vasopressin zuständig. Diese dienen bei allen Vertebraten primär der
Nierensteuerung, bei Reptilien und Säugern spielen sie dann aber auch eine
Rolle im Fortpflanzungsverhalten, und bei Säugern beeinflussen sie schließlich das Sozialverhalten.
Die limbischen Anteile des Telencephalons weisen im Gegensatz zu denen des Diencephalons in der Wirbeltierreihe eine größere Variabilität auf.
Wesentliche Komponenten sind unter anderem die Hippocampusformation,
das Septum und die Amygdala. Trotz aller Unterschiede lassen sich diese
Strukturen bei fast allen Wirbeltieren finden (Butler & Hodos 1996). Lediglich bei den Agnatha, parasitisch lebenden niederen Fischen (z. B. Neunaugen) konnte bisher kein der Amygdala entsprechendes Areal identifiziert
werden. Homologisierungen aufgrund rein anatomischer Befunde sind zwar
gelegentlich nicht ganz eindeutig, aber zusammen mit elektrophysiologischen Daten und immuncytochemischen Färbungen typischer Zellsubstanzen lassen sich eine Reihe von Arealen mit recht hoher Wahrscheinlichkeit
zuordnen. So gibt es etwa die bei Säugern sehr auffällige Struktur des Hippocampus bei Fröschen nicht in der gleichen Form. Aber in dem Areal, wo
man sie bei Annahme einer einigermaßen linearen Evolution vermuten
Emotionen bei Tieren?
43
würde, im medialen Pallium (Abb. 7), findet man Zellen, die typische Hippocampuseigenschaften aufweisen. Ähnlich verhält es sich mit dem zentralen Subpallium der Fische, das vermutlich Teilen oder der ganzen Amygdala
höherer Wirbeltiere entspricht.
Abb. 7 Querschnitte des Telencephalons bei einem Lungenfisch (links) und einem Frosch (rechts). Areale mit unterschiedlichen zellulären Eigenschaften sind
in der jeweils rechten Hälfte voneinander abgegrenzt gezeichnet. Niedere Wirbeltiere besitzen noch keinen ausgebildeten Hippocampus, aber Bereiche des Medialen Palliums gelten als dessen Vorläufer. Neuronen in diesen Arealen besitzen
ähnliche Fähigkeiten wie die des Hippocampus höherer Wirbeltiere (z. B. Langzeitpotenzierung als eine Form des Lernens). Nach Butler und Hodos (1996), verändert.
Hintergrund der anatomischen Arbeiten ist die Ansicht, daß sich Hirnstrukturen, die zu Emotionen befähigen, wie alle anderen Eigenschaften im
Verlauf der Evolution herausgebildet und allmählich weiterentwickelt haben,
da sie Selektionsvorteile bieten, und daß sich daher abhängig von der Entwicklungshöhe der Tiergruppen verschiedene Ausprägungen der zuständigen Areale nachweisen lassen. Dazu werden im wesentlichen heute noch
lebende Arten studiert, und es wird eine einfache Abstufung von den höheren zu den niederen Wirbeltieren vorausgesetzt (Abb. 8 oben). Hier liegt
allerdings ein Problem, denn tatsächlich untersucht man mit dieser Methode
Tiere, die eine genauso lange, wenn auch weniger komplexe Evolution wie
der Mensch durchlaufen haben (Abb. 8 unten). Mit der Homologisierung
versuchen wir also auf subtile Eigenschaften von Gehirnen zu schließen, die
längst nicht mehr existieren.
PHYSIOLOGIE
ELEKTROPHYSIOLOGIE. Elektrophysiologische Versuche ermöglichen es,
mit Hilfe von Elektroden im Gehirn die Aktivitäten einzelner Areale oder
einzelner Neuronen zu registrieren und durch milde Stromstöße zu modifizieren, um die Ergebnisse dann mit den jeweiligen Verhaltensweisen zu
44
Günter Kämper
korrelieren. W. R. Hess führte, beginnend um etwa 1930, systematisch Hirnreizversuche im Diencephalon von Katzen durch. Diese Experimente zeigten sehr überzeugend, daß emotionale Reaktionen durch Stimulation spezifischer Regionen dieses Hirngebietes ausgelöst werden können (Abb. 9
links). Auch ohne die Anwesenheit eines Feindes zeigten die Tiere z. B. ein
Abb. 8: Die Entwicklungsstufe der
Wirbeltiere wird oft wie eine linear
aufsteigende Treppe gesehen (links).
Tatsächlich ist der Verlauf der
Evolution eher durch einen Baum
zu veranschaulichen (unten). Fast
alle heute lebenden Tierarten
repräsentieren das Ergebnis einer
ebenso langen, wenn auch nicht so
dynamisch verlaufenen Entwicklung
wie der des Menschen. Auf die
Eigenschaften von gemeinsamen
Vorfahren kann man daher nur
indirekt schließen (aus Butler &
Hodos 1996, mit Erlaubnis).
defensives oder ein aggressives Verhalten. In anderen Versuchsreihen wurden Zentren entdeckt, bei deren Reizung die Katzen einen Schlafplatz aufsuchten und einschliefen. Diese Befunde bestätigten die viel ältere Hypothese, daß das Gehirn nach topologischen Prinzipien organisiert ist. Sie hatten
Emotionen bei Tieren?
45
natürlich auch publikumswirksame Demonstrationen zur Folge (Abb. 9
rechts). In der Neurochirurgie ist die exakte Abklärung funktionsspezifischer Areale heute ein wichtiges Standardverfahren, bevor Trakte durchtrennt oder erkrankte Hirnareale entfernt werden (z. B. bei Epilepsie- und
Tumorpatienten).
Abb. 9 Steuerung aggressiver Verhaltensweisen durch Elektroden im Hypothalamus. Links: Bei einer Katze kann aggressives oder Abwehrverhalten
ausgelöst werden, ohne daß ein Beutetier oder eine Bedrohung vorhanden ist
(aus Hess 1954, mit Erlaubnis). Rechts: Ein Kampfstier kann durch Reizung
spezifischer Areale mitten in seiner Attacke gebremst werden (aus Bloom et al.
1985, verändert).
Bei allem potentiellen Nutzen wird die Genehmigung zu elektrophysiologischen Versuchen an höheren Wirbeltieren derzeit sehr restriktiv gehandhabt. Der Anblick von Affen und anderen Tieren mit Elektroden im
Schädel hat immer wieder zu massiven Protesten aus der Tierschutzbewegung geführt, mit entsprechenden politischen Konsequenzen im Tierschutzgesetz. Tatsächlich sind derartige Versuche nicht schmerzhaft, und
die Elektroden können, wie man es auch von Herzschrittmachern kennt,
problemlos über lange Zeit im Körper verbleiben. Aktuelle Forschungen
sind jedenfalls derzeit auf wenige Schwerpunktthemen beschränkt. Neben
dem Thema Kognition gehört dazu auch die Angst bzw. die Beeinflussung
von Angst durch Kognition.
ANGSTFORSCHUNG. Angst und Schrecken sind Zustände, die es erlauben,
gefahrvolle Situationen zu meiden bzw. ihnen auszuweichen. Sie sind überlebenswichtig, und die damit befaßten neuronalen Verschaltungen und physiologischen Vorgänge sind angeboren. Das heißt jedoch nicht, daß sie invariant sind. Erfahrungen, also Lernvorgänge, können die Ausprägung der
Reaktionen wesentlich modifizieren. Typische meßbare Ereignisse sind
rückenmarkgesteuerte Extremitätenbewegungen (Zusammenzucken, Hochspringen) und Aktivitäten des autonomen Nervensystems (Sympathikus),
Günter Kämper
46
das innere Organe, Eingeweidemuskulatur, Muskulatur der Körperhaare
sowie die Schweißdrüsen kontrolliert. Angst läßt sich experimentell auslösen
und untersuchen, und Ratten sind ein etabliertes „Tiermodell“ zum Studium
der physiologischen Vorgänge, die mit Angst und Schreckreaktionen korreliert sind. Angst ist wohl von allen möglichen Emotionen diejenige, die von
allen Autoren als elementar akzeptiert wird (und gleichzeitig wird damit
natürlich auch anerkannt, daß Tiere grundsätzlich zu Emotionen befähigt
sind). Ein typisches Experiment ist folgendermaßen aufgebaut: Eine Ratte
kann über den Käfigboden mit einem Stromstoß einen leichten Schmerzreiz
erhalten, auf den sie durch Zusammenzucken oder Hochspringen reagiert.
Geht diesem Reiz regelmäßig ein Ton voraus, entwickelt das Tier schon
beim Auftreten des Tons typische Angstsymptome, und die Reaktion wird
dann bei Eintreffen des Schmerzsignals noch stärker. Man spricht von konditionierter Angst, und es gibt deutliche Parallelen zu entsprechenden psychischen Erkrankungen (Phobien). An einem solchen Tiermodell lassen sich
die Prinzipien der Signalverarbeitung im Nervensystem aufklären (Abb. 10;
Ewert 1998) und mögliche Behandlungsmethoden für Phobien entwickeln.
So können Ratten beispielsweise auch lernen, daß ein zweiter Ton „Entwarnung“ bedeutet (d. h. wenn beide Töne zu hören sind, ist kein Schmerzreiz
zu erwarten).
Schmerzsignal
Rückenmark
Hirnstamm
Tonsignal
Hirnstamm
Thalamus
Thalamus
Amygdala
Hörkortex
Angstreaktion
Abb. 10 Konditionierte Angst. Nachdem eine Ratte gelernt hat, ein Tonsignal mit
einem Schmerz zu korrelieren, können im lateralen Nucleus der Amygdala Neuronen nachgewiesen werden, die sowohl auf Ton- wie auf Schmerzreize antworten.
Hier laufen die Informationen zusammen, die schließlich zur Angstreaktion führen.
Ausgeklügelte Verhaltenstests, kombiniert mit physiologischen Messungen,
erlauben Rückschlüsse darauf, in welchem Ausmaß eine Basisemotion wie
Angst kognitiv kontrolliert werden kann. Sie können zusätzlich auch einen
exakten Einblick in die hormonellen Vorgänge geben (Ohl & Landgraf
2000). Interessant sind in diesem Zusammenhang vor allem die Streßhormone wie das Corticotropin Releasing Hormon, Vasopressin und Corticosteron (bei Nagern; beim Menschen spielt Cortisol eine entsprechende Rolle). Angst muß dabei durchaus nicht durch eine Schmerzerfahrung ausgelöst
werden, auch unangenehme Situationen erzeugen Zeichen von Furchtsamkeit. Im sogenannten Offenfeld-Test werden Ratten beispielweise in eine
Emotionen bei Tieren?
47
hell erleuchtete Arena gesetzt; als nachtaktive Tiere bedeutet dies für sie eine
gefahrvolle Situation, auf die sie mit Angstsymptomen reagieren. In einer
solchen Situation läßt sich dann etwa feststellen, wie es sich auswirkt, wenn
das Tier allein ist, oder wenn
man einen Artgenossen hinzusetzt. Weitere Hinweise auf
die Grundlagen von Angst
ergaben sich aus erfolgreichen
Züchtungsversuchen,
mit
denen ängstliche und nichtängstliche Rattenstämme erzeugt werden konnten (Landgraf 2003).
SELBSTREIZUNGSVERSUCHE.
Einen Einblick in die neurophysiologischen Grundlagen
Abb. 11 Selbstreizung einer Ratte. Bei Drücken
von Stimmungen (weniger des Hebels wird über einen fest mit dem SchäEmotionen) ergaben Selbst- del verbundenen Draht und eine implantierte
reizungsversuche, die James Hirnelektrode (Pfeile) ein schwacher Stromstoß
Olds in den 40er und 50er erzeugt (nach Olds 1977, verändert).
Jahren an Ratten durchführte.
Elektroden wurden in verschiedene Hirnareale eingeführt, und die Ratten
konnten sich selbst über einen Schalter Stromstöße zufügen (Abb. 11). Saß
die Elektrode in bestimmten Arealen des Di- bzw. Telencephalons, drückten
die Tiere den Hebel freiwillig bis zur völligen Erschöpfung mehrere tausend mal pro Stunde. Offensichtlich empfanden
die Ratten einen Lustgewinn oder ein Glücksgefühl durch die Stimulationen. Olds nannte die
dabei gereizten Hirnbereiche „pleasure centers“,
und sie wurden schließAbb. 12 Dopaminaktivierung durch Selbststimula- lich als Teile des limbition. In einem Längsschnitt durch das Gehirn einer
Ratte ist der Bereich punktiert eingezeichnet, in schen Systems identifidem selbstausgelöste Elektroreize (ICSS intracranial ziert. Selbstreizungsversuself stimulation) eine besonders starke Wirkung che, bei denen statt Strom
ausüben. DA dopaminerge Bahn, NA noradrenerge verschiedene Substanzen
Bahn. Nach Stellar & Stellar (1985) und Birbaumer
über Mikropumpen direkt
& Schmidt (1999), verändert.
48
Günter Kämper
ins Gehirn appliziert wurden, zeigten, daß Dopamin als Transmitter für
dieses „Belohnungssystem“ wirksam ist (Abb. 12). Inzwischen ist bekannt,
daß die so entdeckte dopaminerge Bahn auch von gefühls- und stimmungsaktiven Substanzen beeinflußt wird. Amphetamine, Cocain und vermutlich
Opiate wirken erregend; Alkohol und Beruhigungsmittel führen indirekt
(nämlich durch Aufhebung der Hemmung des dopaminergen Systems durch
eine noradrenerge Bahn) zum selben Effekt.
Auch von anderen Neurotransmittern wie Noradrenalin und Serotonin ist
bekannt, daß sie Einfluß auf die Stimmungslage haben. Allen drei Systemen
ist gemeinsam, daß sie weit in verschiedene Teile des Gehirns ausstrahlen
(Abb. 13), und daß sie vielfältige Funktionen haben. Sie wirken als globale
Modulatoren im Gehirn. Hormone wie
Oxytocin und Cortisol sowie endogene
Opioide sind hier ebenfalls zu nennen.
Studien zu den neuro- und verhaltensmodulatorischen Wirkungen dieser Stoffe werden seit Jahren an Ratten und
Mäusen durchgeführt, und die Übertragbarkeit der Befunde auf den Menschen
ist allgemein akzeptiert. Trotzdem wäre
eine Ausweitung des Spektrums der
untersuchten Tierarten sehr wünschenswert, um den Verlauf der Evolution
besser rekonstruieren zu können. Schon
eine Dokumentation der RezeptorverteiAbb. 13 Dopamin, Noradrenalin
und Serotonin sind Neuromodula- lung für die einzelnen Neurohormone
toren mit unterschiedlichen Wir- sowie Versuche zur Rezeptorblockierung
kungen vor allem auf die Stimmung. und -aktivierung in verschiedenen TierSie werden lokal gebildet und über stämmen wären äußerst aufschlußreich,
weitverzweigte Neuronen verteilt. um Ähnlichkeiten und Unterschiede
Nach Ewert (1998), verändert.
aufzuzeigen.
WIRBELLOSE TIERE
Wie wir gesehen haben, sind emotionale Vorgänge mit Aktivitäten in bestimmten Hirnarealen korreliert, die es in ähnlicher Form beim Menschen
ebenso wie bei den anderen Wirbeltieren gibt. Wie aber steht es mit der
Vergleichbarkeit, wenn solche Bereiche des Nervensystems fehlen, etwa bei
Emotionen bei Tieren?
49
wirbellosen Tieren? Obwohl es dort keine Strukturen gibt, die dem Di- oder
Telencephalon entsprechen, findet man auch hier Verhaltensweisen wie
Aggression und Brutpflege. Wirbellose besitzen ein relativ (!) einfach gebautes Nervensystem, und man konnte die Nervenschaltkreise für viele
Funktionen wie z. B. Laufen, Fliegen und Hören aufklären. Am Beispiel des
Hummers wird seit einigen Jahren auch das Aggressionsverhalten intensiv
untersucht. Überraschenderweise fand man zumindest zum Teil eine Beteiligung der gleichen Neurohormone wie bei Wirbeltieren, zum Teil waren es
jedoch auch andere. Von besonderer Bedeutung ist offensichtlich Serotonin.
Es erhöht die Bereitschaft zum Kampf, und ein Tier, das gerade einen
Kampf verloren hat, kann durch Gabe eines Serotoninagonisten veranlaßt
werden, den Gewinner erneut zu attackieren (Kravitz 2000). Dieses Neurohormon ist also wie bei den Wirbeltieren an der Steuerung von aggressivem
Verhalten beteiligt, allerdings eher mit umgekehrtem Vorzeichen, denn bei
uns ist Serotonin mit einer friedlichen, gelösten Stimmung korreliert.
Auch bei den wirbellosen Tieren besteht noch viel Forschungsbedarf. So
sind die am höchsten entwickelten Wirbellosen, die Tintenfische, bisher
kaum untersucht. Dabei weisen sie ein überraschend komplexes Verhaltensrepertoire auf. Kalmare zum Beispiel zeigen bei der Balz dem Weibchen mit
einer Körperseite ein „verführerisches“ Farbenspiel, während sie gleichzeitig
Männchen, die auf der anderen Seite schwimmen, ein aggressives Muster
präsentieren können (Hanlon & Messenger 1996). Man kann dies als Betrug
interpretieren und damit als eine Verhaltensweise, die nur unter Kontrolle
der tatsächlichen Gefühlslage möglich ist. Eine solche Verhaltensweise wird
als durchaus sehr hochentwickelt angesehen.
ZUSAMMENFASSUNG
Es kann als sicher gelten, daß zumindest höhere Tiere und insbesondere
Säugetiere Emotionen besitzen. Wir können jedoch nur indirekte Schlüsse
auf das tatsächliche emotionale Erleben von Tieren ziehen, und zwar indem
wir ihr Verhalten interpretieren, physiologische Funktionen untersuchen
und den Aufbau des Gehirns über die verschiedenen Stufen der Evolution
vergleichen.
Die Befunde sprechen dafür, daß sich die Fähigkeit zu emotionalem Erleben und Verhalten in der Evolution von den Fischen zu den Säugern
ausgehend von den Allgemeingefühlen allmählich weiter entwickelt hat und
zu komplexeren Formen führte.
Wirbeltiere besitzen die auch beim Menschen für emotionales Verhalten
benötigten Hirnstrukturen: die Bestandteile des limbischen Systems lassen
sich über fast die gesamte Wirbeltierreihe nachweisen. Neuromodulatoren
wie Dopamin haben zumindest bei höheren Wirbeltieren ähnliche Wirkungen auf die Stimmung wie beim Menschen.
50
Günter Kämper
LITERATUR
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Susanne Erk und Henrik Walter
FUNKTIONELLE BILDGEBUNG
DER EMOTIONEN
Das Klügste, was bisher über Emotionen gesagt wurde, ist, daß jeder
weiß, was sie sind – bis man ihn bittet, sie zu definieren.
(Fehr und Russell 1984)
A
uch wenn Emotionen schwierig zu definieren sein mögen, so wissen
und spüren wir im allgemeinen doch recht genau, daß wir fühlen, sei
es Angst, Trauer oder Freude. Gefühle beeinflussen unser Denken
und Verhalten und sind nicht ohne weiteres willentlich zu beeinflussen,
vielmehr widerfahren sie uns. Was passiert im Gehirn, dem Zentrum unseres
Denkens und Fühlens, wenn wir vor Angst nicht denken können oder vor
Freude singen?
In der Hirnforschung hat die Erforschung der Emotionen lange Zeit eine untergeordnete Rolle gespielt. Neurowissenschaftler beschäftigten sich in
den letzten Jahrzehnten weit mehr mit den einfacher zu erforschenden kognitiven Aspekten des menschlichen Geistes. Erst die Erkenntnis, daß Geist
mehr ist als Kognition, daß das subjektive Empfinden nur einen Teilbereich
des gesamten emotionalen Prozesses darstellt und daß die Untersuchung der
emotionalen Reizverarbeitung und objektiv meßbarer Reaktionen wichtige
Erkenntnisse zuläßt, hat die zunehmende Beschäftigung mit den emotionalen Funktionen des Gehirns bewirkt.
Für Emotionen spielt die Balance von Neurotransmittern, Hormonen
und Neuromodulatoren eine wesentliche Rolle (vgl. dazu Wedekind & Bandelow zu „Depression“ sowie Walter zu „Liebe und Lust“, beide in diesem
Band). Inzwischen gibt es aber auch die Möglichkeit, die Aktivität des Gehirns an lebenden Menschen mit Methoden der funktionellen Bildgebung
direkt zu untersuchen. Dies ist eine Möglichkeit, Befunde, die an Tieren
oder Patienten mit Hirnschädigungen bzw. -erkrankungen erhoben wurden,
nun auch bei Gesunden zu überprüfen. Im folgenden wollen wir einen
Überblick über die funktionelle Bildgebung von Emotionen und ihre mögliche Relevanz für moralphilosophische Überlegungen geben. Um diese besser einordnen zu können, werden wir zunächst kurz die Strukturen des Gehirns, die für emotionale Informationsverarbeitung eine besondere Rolle
spielen, erklären sowie einige wichtige tierexperimentelle Befunde darstellen.
52
Susanne Erk und Henrik Walter
NEUROANATOMIE DER EMOTIONEN
Die Struktur des Gehirns, die am häufigsten mit Emotionen in Zusammenhang gebracht wird, ist das LIMBISCHE SYSTEM (Abb. 1). Es hat sich entwicklungsgeschichtlich aus dem Riechhirn abgespalten, das eines der ältesten, und für die Nahrungsaufnahme und die Orientierung essentielles Sinnessystem der Wirbeltiere darstellt und beim Menschen weitgehend zurückgebildet ist.
Abb. 1: Die wichtigsten Strukturen des limbischen System in
der Seitenansicht. Blick auf das
Gehirn von der inneren Seite
(links = vorne).
Bei den Fischen besteht das Endhirn ausschließlich aus den zum Riechapparat gehörenden Anteilen (Palaeopallium), während sich bei Amphibien und
Reptilien bereits ein weiterer Hirnabschnitt entwickelt hat, der auch Information aus anderen Sinnesorganen verarbeitet und als Archaeopallium bezeichnet wird. Erst bei den Säugetieren aber entwickelt sich ein neuer Hirnabschnitt, der Neokortex. Dieser schiebt sich im Laufe der Entwicklung zwischen die paläo- und die archenzephalen Anteile und verdrängt diese sowohl
nach innen als auch nach unten. Durch die massive Entwicklung des Neocortex wird das Archaeopallium nach innen verschoben und bildet einen
großen gekrümmten Bogen, der in der Embryonalentwicklung durch den
Balken (Corpus callosum), einer Struktur, die beide Großhirnhälften durch
zahlreiche Nervenfasern miteinander verbindet, in zwei Teile gespalten wird.
Die Rindengebiete, die aus dem äußeren und inneren Randbogen hervorgegangen sind, bilden das sogenannte limbische System (von lat. limen = Rand,
Saum). Dem limbischen System vorne angeschlossen hat sich das Corpus
amygdaloideum (Amygdala, Mandelkern), das sich entwicklungsgeschichtlich
vom Basalganglion abgespalten hat (Abb. 2).
Abb. 2: Die Entwicklung des
limbischen Systems im Querschnitt.
Funktionelle Bildgebung der Emotionen
53
Das limbische System wird auch als Übergangsregion bezeichnet, da es an
der Schwelle zum Neokortex liegt. Während der Neokortex mit der bewußten Verarbeitung von Reizen in Verbindung gebracht wird, wurde das limbische System mehr mit unbewußten, emotionalen Reaktionen, Erinnerungsvermögen und Stimmungen in Zusammenhang gebracht. Inzwischen ist
diese strikte Unterteilung jedoch so nicht mehr aufrechtzuerhalten.
Zum limbischen System gehören das Indusium griseum, eine dünne Rindenlamelle oberhalb des Balkens, und der Gyrus dentatus, die über zwei Faserbündel, die Striae longitudinalis lateralis und medialis miteinander verbunden sind und die ältesten Teile des limbischen Systems darstellen. Der
oberhalb des Balkens gelegene Gyrus cinguli geht am hinteren Ende des Balkens in den Gyrus parahippocampalis über, der an seinem vorderen Ende
breiter wird (Pes hippocampi), dann nach hinten umbiegt (Uncus hippocampi) und sich medial wieder verbreitert (Area entorhinalis). Unterhalb des
Balkens verläuft der Fornix, eine Faserstruktur, welche im Corpus mamillare
entspringt und die Hauptverbindung zwischen der Hippokampusformation
und der Zwischen- und Mittelhirnregion darstellt. Die beidseitigen Hippokampusformationen werden durch die Commissura anterior, eine phylogenetisch alte Verbindung zwischen den beiden Hemisphären, die durch den
neokortikalen Balken verdrängt wurde, miteinander verbunden. Es existieren zahlreiche Verbindungen zwischen den Regionen des limbischen Systems und dem Neokortex. Über die Hippokampusformation geht die neuronale Information über den Fornix zum Corpus mamillare. Vorher gehen
Faserbündel zum Hypothalamus ab. Vom Corpus mammillare ziehen Faserbündel zum Thalamus und zum Mittel- und Rautenhirn. Auf diese Weise
kann das limbische System über den Hypothalamus viszeromotorische und
über das Tegmentum (Mittelhirn) zentral-autonome Reaktionen auslösen
(z. B. Reflexe bei emotionalen Erregungen). Von der Hippokampusformation gehen weitere Faserbündel zum Amygdalakomplex und zum Temporallappen ab.
Die Amygdala nimmt eine zentrale Stelle im limbischen System ein. Sie
verfügt über zahlreiche Verbindungen zur Hippokampusformation, zum
Hypothalamus, zum Mittel- und Rautenhirn und zum Frontalhirn. Die enge
Beziehung zum Riechapparat bei Säugern weist darauf hin, daß die Amygdala eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung zwischen Sinneswelt und emotionalen Verhaltensweisen spielt (z. B. beim Sexualverhalten, der Nahrungsaufnahme, bei Abwehrreaktionen etc.). Bei Primaten hat sich dieses Kerngebiet weiter ausdifferenziert und funktionelle Beziehungen zu allen wichtigen Kerngebieten des zentralen Nervensystems entwickelt. Die Amygdala
projiziert auch zum Assoziationskortex und zur präfrontalen Hirnrinde und
schafft damit eine Verbindung kognitiver, sensomotorischer und emotionaler Reaktionen. Komplexe sensorische Informationen aus Außen- und Innenwelt des Organismus werden so mit entsprechenden Gedächtnisinhalten
54
Susanne Erk und Henrik Walter
assoziiert und mit bestimmten Bewegungsabläufen und kognitiven Prozessen in eine funktionelle Beziehung gebracht.
Eine weitere wichtige Struktur für emotionale Informationsverarbeitung
ist die INSULA. Sie ist eine Region der Hirnrinde, die an der Basis der lateralen Furche hinter dem Temporallappen liegt. Auch das im Mittelhirn liegende zentrale Höhlengrau wird zunehmend als emotionsrelevante Struktur
angesehen.
Zum weiteren Verständnis der funktionellen Zusammenhänge haben
tierexperimentelle Studien und Untersuchungen an Patienten mit Hirnschädigungen wichtige Erkenntnisse beigetragen.
TIEREXPERIMENTELLE ERKENNTNISSE UND LÄSIONSSTUDIEN
Einer der am besten untersuchten „emotionalen“ Prozesse ist die Furchtkonditionierung. In seinen Untersuchungen an Ratten konnte Joseph LeDoux feststellen, daß der Amygdala, einem Teil des limbischen Systems,
dabei die zentrale Rolle zukommt (LeDoux 1996). Er unterscheidet in der
Reaktion auf einen emotionalen Reiz einen niederen, subkortikalen und
einen höheren, kortikalen Pfad der Informationsverarbeitung (Abb. 4). Der
subkortikale Pfad verläuft über den Thalamus als Umschaltstelle aller ankommenden Reize direkt zur Amygdala, die eine „Bewertung“ des jeweiligen Reizes vornimmt. Dieser Weg hat den Vorteil, daß er zwar schneller,
jedoch aufgrund der subkortikalen Verarbeitung auch ungenauer ist. LeDoux nennt ihn daher treffend „quick and dirty“.
Abb. 3: Die zwei Pfade der Informationsverarbeitung bei der Furchtkonditionierung (nach LeDoux 1996). Subkorti), kortikaler Weg (- - - -)
kaler Weg, (
Der kortikale Pfad der Informationsverarbeitung führt vom Thalamus über
neokortikale Assoziationsareale sowie über den Hippokampus zur Amygdala. Hierbei kann die Information präziser verarbeitet werden, können also
z. B. Objekte genauer erkannt, der Kontext, in dem der Reiz auftritt, beurteilt und Erinnerungen an ähnliche Situationen aktiviert werden, um mit
Funktionelle Bildgebung der Emotionen
55
Hilfe dieser Informationen den ankommenden Reiz im Detail bewerten zu
können. Dies braucht natürlich mehr Zeit. Daher ist dieser Pfad zwar genauer, aber auch langsamer. An einem Beispiel dargestellt sieht dies folgendermaßen aus: Stellen Sie sich vor, Sie befänden sich bei einem Spaziergang
im Wald. Plötzlich entdecken Sie vor sich eine Schlange. Sie werden erschrecken, Ihr Herz wird schneller schlagen, Ihre Nebennieren werden Adrenalin ausschütten und Sie werden vermutlich weglaufen. Dies wäre die
Folge einer raschen Reizverarbeitung und sehr sinnvoll, wenn es sich hierbei
um eine gefährliche Giftschlange handelt. Hätten Sie nun statt des subkortikalen, raschen Verarbeitungsweges erst „Ihr Großhirn eingeschaltet“, dann
hätten Sie vielleicht bei näherer Betrachtung feststellen können, daß die
vermeintliche Schlange eigentlich ein gekrümmter Ast ist und sich nur aufgrund des Windes ein wenig bewegt, und weiter bedacht, daß Schlangen in
diesen Breitengraden und um diese Jahreszeit eigentlich eher selten sind. In
dem Falle, daß es sich aber tatsächlich um eine Schlange gehandelt hätte,
hätten Ihre detaillierten Analysen von Farbe und Maserung der Schlangenhaut und der Abruf Ihres Wissen um die Gefährlichkeit von Schlangen allgemein und deren Auftreten in deutschen Waldgebieten unter Umständen
dazu geführt, daß die Schlange Sie erwischt. Mit anderen Worten: Bei potentieller Gefahr lieber einmal zuviel weggerannt, als einmal zu gründlich nachgedacht. Evolutionär betrachtet ist diese Strategie dem Überleben höchst
förderlich.
Diese wichtigen Erkenntnisse von LeDoux beziehen sich jedoch nur auf
die Furchtkonditionierung bei Ratten und können nicht ohne weiteres auf
den Menschen übertragen werden. Panksepp (1998) geht davon aus, daß
jede Basisemotion (vgl. dazu Traue & Kessler, in diesem Band) eine eigene
stammesgeschichtliche Entwicklung mit spezifischen neurophysiologischen
Schaltkreisen aufweist. Rolls (1999) weist darauf hin, daß die meisten (emotional wirksamen) Reize beim Menschen komplexer Natur sind und eines
kortikalen Verarbeitungsmechanismus bedürfen. Er schlägt ein Modell vor,
das er in Untersuchungen an nichtmenschlichen Primaten entwickelt hat.
Für Rolls sind Emotionen Zustände, die durch Belohnung oder Bestrafung
hervorgerufen werden: Belohnende angenehme Stimuli wollen dabei erreicht, bestrafende schmerzhafte vermieden werden. Die Stimuli können
dabei in primäre (angeborene) und sekundäre (erlernte) Verstärker unterteilt
werden. Die Funktion der Emotionen liegt Rolls zufolge in der Erzeugung
autonomer (z. B. Erhöhung des Herzschlags) und endokriner (z. B. Adrenalinausschüttung) Reaktionen, die den Körper für eine Handlung vorbereiten,
d. h. handlungsfähig machen. Darüber hinaus erzeugen sie eine gewisse
Flexibilität der Handlung, um ein bestimmtes Ziel (Erwerb von Belohnung
oder Vermeiden von Strafe) zu erreichen, indem sie neben einfachen ReizReaktionsmustern auch assoziative Lernvorgänge fördern. Emotionen sind
nach Rolls ferner motivierend, wichtig für die Kommunikation und soziale
56
Susanne Erk und Henrik Walter
Bindung und beeinflussen die kognitive Evaluation von Ereignissen und
Erinnerungen. Darüber hinaus erleichtern sie die Speicherung von Gedächtnisinhalten und „triggern“ den Abruf von Ereignissen. Die zentralen
Hirnstrukturen für die Bewertung von eintreffenden Reizen sind für Rolls
die Amygdala und der orbitofrontale Kortex (OFC). Beide Strukturen haben
zahlreiche Verbindungen zu höheren kortikalen Arealen, über die Verhaltensantworten und autonome Reaktionen gesteuert werden (Abb. 4). Nach
Rolls findet assoziatives Lernen bereits in der Amygdala und im orbitofrontalen Kortex statt.
Abb. 4: Die Vernetzung von Amygdala und orbitofrontalem Kortex (nach Rolls 1999)
Auch wenn nichtmenschliche Primaten dem Menschen ähnlicher sind als
Ratten, so können doch erst Untersuchungen am Menschen selbst genauere
Auskunft über die emotionale Informationsverarbeitung geben. Bis vor
einiger Zeit konnte man jedoch nur durch Studien an Patienten mit Hirnläsionen hierüber Erfahrungen gewinnen. Interessanterweise konnte hier die
zentrale Bedeutung der Amygdala und des orbitofrontalen Kortex ebenfalls
Funktionelle Bildgebung der Emotionen
57
belegt werden. Patienten, die eine Läsion der Amygdala aufweisen, zeigen
kaum kognitive Defizite, aber deutliche Defizite in der emotionalen Informationsverarbeitung (Adolphs et al. 1994). Auch wenn das Verständnis für
das Konzept von Angst oder Furcht unbeeinträchtigt ist, zeigen diese Patienten klare Beeinträchtigungen darin, emotionale Gesichtsausdrücke (insbesondere ängstliche) als solche zu erkennen (Adolphs et al. 1999). Darüber
hinaus weisen Patienten mit einer beidseitigen Läsion der Amygdala einen
Mangel an Furcht auf, der sie aufgrund der mangelnden Fähigkeit, Gefahren
zu erkennen, im Alltag deutlich beeinträchtigt.
Schädigungen des orbitofrontalen Kortex führen zur sogenannten „erworbenen Soziopathie“ (Damasio 1994). Bei erhaltener Intelligenz handeln
die betroffenen Patienten sozial verantwortungslos, sind unfähig, kurzfristige Belohnungen adäquat einzuschätzen und haben im Alltag deutliche Entscheidungsschwierigkeiten. Darüber hinaus finden sich bei diesen Patienten
subtile emotionale Defizite, die sich in emotionaler Verflachung, Unbeteiligtsein, Gefühllosigkeit und Störungen des emotionalen Lernens und der
emotionalen Wahrnehmung äußern.
Die beschriebenen Funde zeigen, daß die in tierexperimentellen Untersuchungen gezeigten Strukturen auch beim Menschen eine bedeutsame
Funktion für die Verarbeitung von Emotionen haben. Die Entwicklung der
modernen funktionell-bildgebenden Verfahren wie der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT) hat es jedoch erst ermöglicht, nicht nur dem erkrankten
(Walter 1998), sondern auch dem gesunden menschlichen Gehirn sozusagen
„bei der Arbeit zuzuschauen“ (Erk & Walter 2000) und Hypothesen über
emotionale Informationsverarbeitung gezielt zu testen.
FUNKTIONELLE BILDGEBUNG DES GEHIRNS
Seit mehr als einem Jahrhundert versuchen Wissenschaftler, der funktionellen Organisation des menschlichen Gehirns mit Techniken auf die Spur zu
kommen, die Veränderungen im zerebralen Blutfluß messen. Der italienische Physiologe Angelo Mosso zeichnete im Jahr 1881 bei einem Patienten,
der nach einer neurochirurgischen Operation einen Defekt des knöchernen
Schädels aufwies, Pulsationen des Gehirns auf. Er konnte nachweisen, daß
die Pulsation im Gehirn regional ansteigt, nicht aber der periphere Puls,
wenn der Patient zum Beispiel eine Rechenaufgabe lösen mußte. Mosso
folgerte daraus – zu Recht wie man heute weiß –, daß sich die Durchblutung
des Gehirns mit Veränderungen der neuronalen Aktivität ändert. In den
siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts entdeckten Forscher die
Möglichkeit mittels nuklearmedizinischer Techniken den Blutfluß in vivo zu
58
Susanne Erk und Henrik Walter
messen. Man bediente sich hierbei eines radiopharmazeutisch hergestellten
Materials, 15O-markierten Wassers (H 215O), mit einer kurzen Halbwertszeit
von etwa zwei Minuten, die wiederholte Messungen bei ein und der selben
Versuchsperson zuließ.
Zeitgleich mit der Entwicklung der Positronen-Emissions-Tomographie
wurde eine andere Technik zur Messung des zerebralen Blutflusses entwikkelt, die auf dem Verhalten von Wasserstoffatomen in einem magnetischen
Feld basiert – die Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT). Die Prinzipien
der MRT wurden 1946 entdeckt und 1973 für die Bildgebung weiterentwikkelt. Die Möglichkeit zur funktionellen Bildgebung kam auf, als entdeckt
wurde, daß während neuronaler Aktivität auch lokal begrenzte Änderungen
im Sauerstoffgehalt des Blutes auftraten. Die Entdeckung von Pauling und
Coryell, daß der Sauerstoffgehalt des Hämoglobins den Grad, zu dem Hämoglobin ein magnetisches Feld stört, beeinflußt, nutzte Ogawa, um zu
zeigen, daß Veränderungen in der Sauerstoffbeladung des Blutes mit der
MRT gemessen werden können. Das Signal, welches dabei entsteht, wurde
als Blood-Oxygen-Level-Dependent-Signal oder BOLD-Signal bekannt. Der
darauf folgende rasche Nachweis der BOLD-Signalveränderungen bei gesunden Menschen während mentaler Aktivität gab den Anstoß zum sich
schnell entwickelnden Feld der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT). Der Vorteil dieser Methode liegt darin, daß hierbei keine
radioaktive Substanz benötigt wird und die MRT damit für den Organismus
keine Belastung darstellt. Bei der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie wird also die Veränderung der magnetischen Eigenschaften des Blutes
genutzt, die sich in Abhängigkeit davon ändern, ob Hämoglobin mit Sauerstoff besetzt ist oder nicht. Je größer der Sauerstoffgehalt des Blutes, desto
stärker das gemessene Signal. Bei der neuronalen Aktivierung bestimmter
Hirnareale steigt der Sauerstoffgehalt des Blutes an dieser Stelle an (neurovaskuläre Kopplung). Dies erfolgt durch eine reflektorische Erweiterung der
Arteriolen bei erhöhter neuronaler Aktivität und einer vermehrten Anflutung arteriellen sauerstoffreichen Blutes in dieser Region.1
Die Standardmethode der PET und fMRT zur Untersuchung geistiger
Funktionen basiert auf Methoden der kognitiven Psychologie zur Isolierung
mentaler Prozesse. Die ersten Untersuchungen dieser Art gehen auf Donders zurück: Er untersuchte die Geschwindigkeit, mit der Versuchspersonen
1
Bis vor kurzem war noch unklar, mit welchen neuronalen Aktivitäten die Änderung des
Blutflusses tatsächlich korreliert. Durch gleichzeitige elektrophysiologische Ableitungen
und fMRT am Affen konnte Logothetis dies jedoch vor kurzem klären. In seinen Experimenten zeigte sich, daß das BOLD-Signal nicht mit den Aktionspotentialen (= spikende
Neuronen = Output) korreliert, sondern mit dem lokalen, extrazellulären Feldpotential
(Logothetis et al. 2001). Dieses spiegelt die Summe synchronisierter synaptischer Aktivität, die wiederum auch die Quelle für das Signal beim EEG ist.
Funktionelle Bildgebung der Emotionen
59
auf einen allgemeinen Lichtreiz mit Knopfdruck reagieren, und subtrahierte
diese von der Geschwindigkeit, mit der dieselben Versuchspersonen auf
einen Lichtreiz einer bestimmten Farbe reagieren (Donders 1868/1969). Er
fand heraus, daß die Farbunterscheidungsaufgabe 50 ms länger benötigte.
Damit isolierte er als erster einen mentalen Prozeß (Farbunterscheidung)
durch Subtraktion einer Kontrollaufgabe (Drücken bei Licht) von einer
Aktivierungsaufgabe (Drücken bei Licht und Farbunterscheidung). Ähnlich
wie die Reaktionszeitmessung von Donders funktioniert auch die Messung
der zerebralen Aktivität: Während einer Ruhemessung (Kontrollbedingung)
wird der regionale zerebrale Blutfluß (fMRT oder H 2O-PET) gemessen.
Während der Aktivierungsmessung werden die gleichen Parameter erfaßt,
während die Versuchsperson eine bestimmte geistige Aufgabe löst. Unterschiede in der hämodynamischen Antwortfunktion bestimmter Regionen
zwischen Ruhe- und Aktivierungsbedingung geben Hinweise auf die Hirnaktivität während bestimmter mentaler Prozesse Man schaut dem Gehirn
also praktisch bei der Arbeit zu.2
Diese methodischen Voraussetzungen der Untersuchung des gesunden
menschlichen Gehirns sind zwar eine notwendige, jedoch noch lange keine
hinreichende Bedingung, um die Funktionalität des Gehirns bei der Verarbeitung von Emotionen zu untersuchen. Nachdem wir nun den „Apparat“
(das Gehirn) und die Methode (die funktionelle Bildgebung) näher beleuchtet haben, ist es notwendig den Gegenstand zu definieren, der untersucht
werden soll – womit wir wieder auf die Frage zurückkommen, was Emotionen eigentlich sind.
FUNKTIONELLE BILDGEBUNG DER EMOTIONEN BEIM MENSCHEN
Die neurowissenschaftliche Untersuchung von Emotionen ist vor eine Vielzahl komplexer Probleme gestellt. Um fundierte Erkenntnisse zu erlangen,
müssen die Ergebnisse funktioneller Studien vergleichbar sein. Dies stellt
jedoch gerade bei der Untersuchung von emotionalen Prozessen ein großes
Problem dar. Emotionen sind nicht ohne weiteres objektiv meßbar und sie
können nicht zuverlässig und reproduzierbar hervorgerufen werden. Der
subjektive Erlebnisaspekt und die kognitive bewertende Komponente ma2
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß die Subtraktionsmethode voraussetzt, daß Hirnfunktionen einfach aufaddiert werden und bei Bedarf einzelne Komponenten subtrahiert werden können. Dies ist natürlich ein vereinfachtes Verständnis komplexer Hirnvorgänge, das den tatsächlichen Verhältnissen nur unter bestimmten Umständen annähernd gerecht wird. Neuere Auswertungsverfahren stellen die wechselseitigen Interaktionen von Hirnarealen in den Vordergrund (Stichwort Konnektivität) und
bedienen sich auch nichtlinearer mathematischer Verfahren.
Susanne Erk und Henrik Walter
60
chen Emotionen zu einem inter-individuell nur schwer zu vergleichenden
Phänomen. Ein weiteres Problem ist die Operationalisierung bei der Untersuchung von Emotionen: Untersucht man das subjektive Erleben einer Emotion oder die Wahrnehmung derselben, deren (positive oder negative) Valenz
oder eher deren Intensität? Sind Basisemotionen, die nach Ekman angeborene
Gefühle von kurzer Dauer mit charakteristischen Ausdrucks- und Verhaltensmustern sowie distinkten physiologischen Reaktionen darstellen (vgl.
Schmücker, in diesem Band), oder eher diskrete Stimmungen, die als eine
länger dauernde affektive Tönung verstanden werden können, Gegenstand
der Untersuchung? Intensität und zeitlicher Aspekt der untersuchten Emotion
spielen dabei eine wichtige Rolle. Hinzu kommt die Wahl der Emotionsinduktion wie z. B. das Erinnern autobiographisch relevanter emotionaler
Begebenheiten, das Betrachten von emotionalen Gesichtsausdrücken oder
das Lernen emotionaler Worte – kurz: Die Wahl des Paradigmas beeinflußt
die Ergebnisse einer Untersuchung beträchtlich!
Es ist hilfreich, vor der Untersuchung eines Phänomens, dieses erst einmal vorläufig zu definieren. Dabei hat sich eine integrative Arbeitsdefinition
als brauchbar erwiesen: Aufbauend auf den Erkenntnissen der Psychologie,
lassen sich Emotionen als komplexe mentale Zustände mit einem bestimmten zeitlichen Ablauf charakterisieren, die
•
•
•
•
•
einen spezifischen subjektiven Erlebnisaspekt haben,
mit physiologischen Veränderungen in Körper und Nervensystem
einhergehen,
über eine motorisch-expressive Komponente verfügen,
kognitive bewertende Elemente aufweisen, und
eine bestimmte evolutionär entstandene Funktion haben.
Alle genannten Aspekte zeigen, daß bei der Untersuchung von Emotionen
mit der funktionellen Bildgebung viele Aspekte berücksichtigt werden müssen, um verläßliche und vergleichbare Ergebnisse zu erhalten. Daher mag es
nicht verwundern, daß einige der bisherigen Erkenntnisse uneinheitlich sind.
Dennoch haben sich, seitdem gegen Ende der 90er Jahre immer intensiver
emotionale Prozesse mit PET und fMRT untersucht werden, einige Regionen des Gehirns als besonders bedeutsam für die emotionale Informationsverarbeitung erwiesen.
Die Hirnregionen, die am häufigsten und am konstantesten mit emotionalen Prozessen in Zusammenhang gebracht werden, sind die Amygdala,
der ventromediale präfrontale (orbitofrontale) Kortex, die Insula und der
Nucleus accumbens als Teil des ventralen Striatums, das wiederum einen
Teil der Basalganglien darstellt, sowie der Gyrus cinguli anterior.
Funktionelle Bildgebung der Emotionen
61
Die AMYGDALA ist eine kleine mandelförmige Struktur, die aus 13 Kernen (nuclei) besteht und im vorderen Anteil des rechten und linken Temporallappens liegt. Sie ist die meistuntersuchte Struktur in der Erforschung der
Emotionen und für die Furchtkonditionierung ist ihre Rolle in Tierversuchen gut belegt. Spielt die Amygdala auch beim Menschen eine vergleichbare Rolle? Hierzu wurden mehrere fMRT-Studien veröffentlicht, die zum
einen zeigen konnten, daß die Amygdala beim Menschen ebenfalls aktiv an
der Furchtkonditionierung beteiligt ist und zum anderen, daß ihre Aktivität
mit der Zeit abnimmt, d. h., sie habituiert (Büchel et al. 1998, LaBar et al.
1998). In den genannten Experimenten wurden Versuchspersonen Bilder
von neutralen Gesichtern gezeigt, von denen einige mit einem unangenehmen Ton gepaart wurden. Es zeigte sich, daß die Aktivität in der Amygdala
jeweils zu Beginn der Darbietung eines unangenehmen Reizes auftrat, jedoch nach einer gewissen Zeit deutlich abnahm. Interessanterweise konnte
in einem anderen Experiment nachgewiesen werden, daß die Amygdala
ebenfalls aktiviert wird, wenn die konditionierten Gesichter nur so kurz
gezeigt werden, daß sie von der Versuchsperson nicht bewußt wahrnehmbar
waren (Morris et al. 1998). Nach dem oben beschriebenen Modell von LeDoux kann man postulieren, daß diese Reize über einen subkortikalen Pfad
zur Amygdala gelangen.
Gesichter, die Basisemotionen ausdrücken, sind aufgrund ihrer evolutionär verankerten Bedeutung häufig verwendete Stimuli zur Emotionsinduktion. Man hat zeigen können, daß die Aktivität der Amygdala – im Vergleich
zum Gyrus fusiformis, einer Struktur im visuellen Kortex, die für die Gesichtererkennung spezialisiert ist – unabhängig von der Manipulation der
Aufmerksamkeit ist (Vuilleumier et al. 2001). Es ließ sich aber auch zeigen,
daß die Aktivität der Amygdala durch Interpretation der Stimuli und Labeling abnimmt und statt dessen der rechte präfrontale Kortex aktiviert wird,
das heißt, daß die Aktivität der Amygdala durch den präfrontalen Kortex
moduliert bzw. reguliert wird (Hariri et al. 2000).
In zwei weiteren Studien wurde untersucht, wie sich die Aktivierung der
Amygdala verhält, wenn neutrale Gesichtsausdrücke der eigenen und solche
einer fremden Rasse dargeboten werden – hier ging es also um die Rolle der
Amygdala bei der Verarbeitung von Stimuli aus unterschiedlichen sozialen
Gruppen. Eine der Studien konnte nachweisen, daß die AmygdalaAktivierung bei der Präsentation der Gesichter der eigenen Rasse habituiert,
während dies bei denen der fremden Rasse nicht der Fall war (Hart et al.
2000). Die andere Studie zeigte ebenfalls, daß die Aktivierung der Amygdala
mit der Fremdheit korrelierte, jedoch nur wenn die Gesichter nicht vertraut
waren; bei vertrauten Gesichtern beider sozialer Gruppen fand sich keine
Aktivierung der Amygdala (Phelps et al. 2000). Vertrautheit bedeutet Sicherheit und Fremdheit potentielle Gefahr, insofern sind diese Ergebnisse
von einem evolutionären Standpunkt aus sehr einleuchtend.
62
Susanne Erk und Henrik Walter
Bisher wurde deutlich, daß die Amygdala vornehmlich bei Furcht bzw.
negativen Emotionen eine wichtige Rolle spielt. Inzwischen konnte man
aber durch bildgebende Studien zeigen, daß dies auch für positive (Hamann
et al. 1999) und belohnende Reize (Zalla et al. 2000) gilt. So war eine Aktivierung der Amygdala sowohl dann nachzuweisen, wenn Versuchspersonen
sich an negative emotionale Ereignisse erinnerten, als auch dann, wenn sie
positive Ereignisse erinnerten. In einem Belohnungsexperiment, in dem
Versuchspersonen in einem Reaktionszeitparadigma ein positives oder negatives Feedback über ihre Leistung erhielten (ohne freilich zu wissen, daß
dies unabhängig von ihrer tatsächlichen Leistung geschah), fand man in
Gewinnphasen eine zunehmende Aktivierung der linken Amygdala, während in Verlustphasen eher die rechte Amygdala aktiviert war (Zalla et al.
2000). Diese Ergebnisse stützen das Modell von Rolls, der die Amygdala als
Evaluationsstruktur primärer und sekundärer Verstärker versteht (s. o.) und
ihr neben einer Funktion beim assoziativen Lernen auch eine Bewertungsfunktion zuschreibt, für die kognitive Elemente eine Rolle spielen.
Die Interaktion von Emotion und Kognition tritt inzwischen auch in
funktionell bildgebenden Studien zunehmend in den Vordergrund – zu
Recht, denn Emotion und Kognition lassen sich nicht gut voneinander dissoziieren (Erk & Walter 2000). Eine fMRT-Studie zur kognitiven Repräsentation von Furcht untersuchte die neuronalen Korrelate des Bewertungsprozesses. Den Versuchspersonen wurde vor der Untersuchung erklärt, daß
sie bei der Präsentation eines blauen Quadrates einen leichten elektrischen
Schock verabreicht bekämen, insgesamt aber nicht häufiger als dreimal während des Experiments (Erwartungsbedingung), während ein gelbes Quadrat
bedeute, daß sie sicher keinen elektrischen Schock erhalten würden (sichere
Bedingung). Die Versuchspersonen wußten nicht, daß sie während des gesamten Experiments keinen dieser aversiven Reize verabreicht bekommen
würden. Während der Erwartungsbedingung war im Vergleich zur sicheren
Bedingung eine deutliche Aktivierung der linksseitigen Amygdala sichtbar.
Zusätzlich fand sich eine Aktivierung zweier weiterer Regionen, der Insula
und des Gyrus cinguli anterior, die nach Ansicht der Autoren die kortikale
Repräsentation von Furcht vermitteln (Phelps et al. 2001).
Die Interaktion von Emotion und Kognition läßt sich gut anhand der
Gedächtnisleistung untersuchen. Verschiedene Studien haben den Einfluß
von Emotionen auf das Langzeitgedächtnis untersucht. Man konnte nachweisen, daß eine Aktivierung der rechten bzw. linken Amygdala während
der Präsentation negativer emotionaler visueller Stimuli (Filmclips, Bilder)
mit der Anzahl später erinnerter Stimuli korreliert, und daß der Grad der
emotionalen Intensität dabei eine Rolle spielt (Canli et al. 1998, 2000). Dieser Befund ließ sich auch für positive Stimuli nachweisen (Hamann et al.
1999). Wir selbst konnten kürzlich zeigen, daß die Aktivität der Amygdala
während der Einspeicherung neutraler, nicht emotionaler Worte in einem
Funktionelle Bildgebung der Emotionen
63
negativen emotionalen Kontext die spätere Wiedererinnerung vorhersagt
(Erk et al. 2003). Eine Hypothese über die Rolle der Amygdala bei der Bildung des Langzeitgedächtnisses ist, daß diese die Bildung von Langzeiterinnerungen durch die Modulation der Hippokampusaktivität für emotionale
Reize beeinflußt (Cahill & McGaugh 1998). Eine fMRT-Studie konnte in
Übereinstimmung mit dieser Hypothese zeigen, daß die Amygdala zwar an
der Bildung des Langzeitgedächtnisses für emotionale Stimuli beteiligt ist,
jedoch nicht an der Bildung des Kurzzeitgedächtnisses (Tabert et al. 2001).
Diese Annahme wird durch tierexperimentelle Befunde gestützt (Bianchin et
al. 1999).
Eine andere Region, deren Bedeutung für die emotionale Informationsverarbeitung in Tierexperimenten und Läsionsstudien gezeigt werden konnte,
ist der ORBITOFRONTALE KORTEX (OFC). Funktionell bildgebende Untersuchungen konnten dies auch beim Menschen nachweisen (Elliott et al.
2000). Die medialen und lateralen Anteilen des OFC können getrennt aktiviert werden, je nachdem, ob der Reiz eher ein belohnender oder ein bestrafender ist. So wurde in einem Belohnungsexperiment gezeigt, daß der mediale OFC bei Gewinn und der laterale Anteil des OFC bei Verlust aktiviert
wird (O’Doherty et al. 2001). Eine ähnliche Dissoziation fand sich in einem
sehr lebensnahen Experiment, in dem Versuchspersonen Schokolade essen
mußten, bis sie nicht mehr konnten. Nach jedem Stück mußten sie auf einer
20-stufigen Skala zwischen „unbedingt noch ein weiteres essen“ und „wenn
ich noch eines esse, wird mir schlecht“ eine Wertung abgeben. Unmittelbar
nach einer Wertung, die mindestens zwei Punkte unter der vorangegangenen sein sollte (der Genuß von Schokoladestücken variierte zwischen einer
halben und zweieinhalb (!) Tafeln) wurde eine PET-Aufnahme gemacht. Es
zeigte sich, daß der mediale und der laterale OFC gegenläufig aktiviert wurden: Eine Veränderung von belohnend nach unangenehm ging mit einer
Reduktion der Aktivierung im medialen und einer erhöhten Aktivierung im
lateralen OFC einher (Small et al. 2001).
In verschiedenen Untersuchungen zu Ärger und Aggression fand man
den OFC involviert, so zum Beispiel dann, wenn autobiographische ärgerliche Erlebnisse erinnert wurden (Dougherty et al. 1999, Kimbrell et al. 1999).
Im Unterschied dazu fand sich in einer anderen Studie, bei der die neuronalen Korrelate imaginierter Aggressionserlebnisse untersucht wurden, eine
Reduktion des Blutflusses im OFC bei der Imagination von aggressivem
Verhalten im Vergleich zu neutralem Verhalten (Pietrini et al. 2000). Wie
lassen sich diese offenbar diskrepanten Befunde erklären? Ein Unterschied
zwischen diesen beiden Studien war, daß es sich im ersten Fall um erlebten
Ärger handelt, während die zweite Studie vorgestelltes, aggressives Verhalten der Versuchsperson selbst untersuchte. Im zweiten Fall war es also nötig, in einer bestimmten Situation Aggression wirksam werden zu lassen.
64
Susanne Erk und Henrik Walter
Wenn der orbitofrontale Kortex daran beteiligt ist, aggressives Verhalten
eher zu inhibieren, dann sollte er bei der Realisierung aggressiven Verhaltens
weniger aktiv sein, was mit der Reduktion des Blutflusses einhergehen würde. Für diese Erklärung spricht unter anderem, daß Schädigungen des orbitofrontalen Kortex mit disinhibiertem, aggressiven Verhalten einhergehen
können (Davidson et al. 2000).
Die Rolle der Mittlerfunktion des OFC zwischen primären Verstärkern
und kognitiv-emotionalen Prozessen, wie sie von Rolls angenommen wird,
zeigt sich in Untersuchungen zu verschiedenen Reizmodalitäten. So findet
sich eine Aktivierung des OFC bei unangenehmer auditorischer Reizverarbeitung (Frey et al. 2000), der Bewertung angenehmer olfaktorischer Stimulation (Royet et al. 2000), sowie bei angenehmer Berührung und angenehmem Geschmack und Geruch (Francis et al. 1999). Die neuronalen Verbindungen von OFC und somatosensorischen Zentren des Gehirns, die durch
tierexperimentelle Befunde gut belegt sind, konnten durch die Ergebnisse
einer weiteren funktionellen Studie auch für den Menschen nachgewiesen
werden. Hierbei wurde der elektrodermale Hautwiderstand (skin conductance response = SCR) während eines Belohnungsexperiments gemessen
und die mit einem Anstieg der SCR einhergehende neuronale Aktivierung
untersucht, die im OFC lokalisiert war (Critchley et al. 2000).
Bei der Verarbeitung innerer Reize aus dem Körper spielt die INSULA eine wichtige Rolle. Daher verwundert es nicht, wenn diese Region häufig mit
der Basisemotion Ekel in Verbindung gebracht wird. Ekel wird verstanden
als ein aus der primitiven Empfindung des Widerwillens (distaste) entstandenes Gefühl. Studien mit funktioneller Bildgebung haben eine Aktivierung
der Insula beim Betrachten von Gesichtern, die Ekel ausdrücken, nachweisen können (Phillips et al. 1997, Sprengelmeyer et al. 1998). In einer anderen
Studie konnte eine Aktivierung der Insula bei der Erinnerung an autobiographische Schulderlebnisse gezeigt werden (Shin et al. 2000). Dies ist insofern interessant, weil Schuld phänomenologisch als „Ekel vor sich selbst“
verstanden werden kann (Power & Dalgleish 1997). Wichtig zu erwähnen ist
ferner, daß Studien, die viszerale bzw. somatosensorische Empfindungen
untersuchen, ebenfalls eine Aktivierung der Insula berichten, so zum Beispiel beim Genuß von Schokolade, der als angenehm empfunden wird
(Small et al. 2001). Sexuelle Erregung (Stoleru et al. 1999), aber auch der
Anblick eines Fotos des geliebten Partners gehen ebenfalls mit einer Aktivierung in der Insula einher (Bartels & Zeki 2000).
Eine Struktur, die – wie auch der orbitofrontale Kortex – mit Belohnung
und in diesem Zusammenhang mit der Dopamin-Ausschüttung in Zusammenhang gebracht wird und in der letzten Zeit zunehmend den Gegenstand
funktionell bildgebender Untersuchungen bildet, ist der im ventralen Striatum gelegene NUCLEUS ACCUMBENS, dessen Funktion im dopaminergen
Belohnungssystem in tierexperimentellen Untersuchungen an Ratten und
Funktionelle Bildgebung der Emotionen
65
Affen gut untersucht ist (Schultz et al. 2000). Eine Aktivierung dieser Region findet sich auch in fMRT-Experimenten an Menschen, die die Belohnung bzw. die Erwartung von Belohnung untersuchen: so zum Beispiel bei
natürlichen Verstärkern wie sexuellen Stimuli (Bocher et al. 2001), Schokolade (Small et al. 2001), Kokain (Breiter et al. 1997) – ein Befund, der die
Rolle des Nucleus accumbens bei der Sucht näher beleuchtet –, Blickkontakt mit attraktiven Gesichtern (Aharon et al. 2001) oder Geld, dem vermutlich stärksten erlernten Verstärker (Breiter et al. 2001). Vor dem Hintergrund tierexperimenteller Befunde an Makaken, die zeigen, daß der Nucleus
accumbens eine wichtige Rolle bei der Entwicklung sozialer Dominanz
spielt (Morgan et al. 2002), ist die Aktivierung dieser Region beim Anblick
attraktiver Sportwagen, einem der vielen artifiziellen sozialen Verstärker, die
wir kürzlich beschrieben haben, bemerkenswert (Erk et al. 2002). Diese wird
dann verständlich, wenn man davon ausgeht, daß teure Sportwagen vor
allem dazu dienen, soziale Dominanz und Stärke zu signalisieren, auch wenn
sie sonst zu wenig nütze sind – ähnlich dem Pfauenrad im Tierreich.
Eine ganze Reihe von Studien über Emotionen hat Aktivierungen im
GYRUS CINGULI ANTERIOR (ACC, für „anterior cingulate cortex”) und im
angrenzenden Bereich des medialen präfrontalen Kortex nachgewiesen,
auch wenn diese Region nicht immer im Vordergrund der Untersuchung
stand (Bush et al. 2000). Aktivierungen des ACC wurden für Angst (Kimbrell et al. 1999, Morris et al. 1998), Ärger (Blair et al. 1999, Dougherty et al.
1999, Sprengelmeyer et al. 1998), Trauer (Blair et al. 1999, Lane et al. 1998,
Mayberg et al. 1999), Freude und Ekel (Lane et al. 1998), Schuld (Shin et al.
2000) und ganz allgemein für positive und negative Emotionen gefunden
(Canli et al. 1998, Paradiso et al. 1999, Rauch et al. 1999, Teasdale et al.
1999). Dies legt schon einmal nahe, daß der ACC weniger an der Verarbeitung einer bestimmten Emotion beteiligt ist, sondern eher eine Funktion
innehat, die allgemein mit emotionaler Informationsverarbeitung in Zusammenhang gebracht werden kann. Der Gyrus cinguli anterior kann als
Schnittstelle zwischen kognitiven und emotionalen Prozessen verstanden
werden und ist in die Bewertung emotionaler und motivationaler Information sowie die Regulation emotionaler Reaktionen involviert. Daher ist es nicht
verwunderlich, daß er bei der Schmerzverarbeitung entscheidend beteiligt
ist. Kürzlich konnte sogar gezeigt werden, daß verschiedene Regionen des
Gyrus cinguli anterior an verschiedenen Informationsverarbeitungsprozessen bei der Schmerzverarbeitung beteiligt sind, wie der Reizwahrnehmung
an sich, der Intensitätskodierung entsprechend der physikalischen Reizstärke
und der subjektiven Schmerzintensität (Büchel et al. 2002).
66
Susanne Erk und Henrik Walter
ZUR ROLLE DER EMOTIONEN BEI MORALISCHEN ENTSCHEIDUNGEN
Ein Vorteil der funktionellen Bildgebung ist es, daß mit Ihrer Hilfe das, was
die experimentelle Psychologie untersucht, nunmehr mit bestimmten Hirnprozessen in Verbindung gebracht werden kann. Da diese Messungen beim
gesunden Menschen nicht-invasiv durchführbar sind, ergibt sich, wie geschildert, die Möglichkeit, mit Hilfe eines neuen Fensters dem Gehirn bei
der Arbeit zuzusehen. Im Gegensatz zur rein experimentellen Psychologie
kann man daher psychologische Fragestellungen substratnäher bearbeiten.
Dadurch lassen sich manchmal sogar alte Streitfragen der Philosophie des
Geistes mit neuen Ansätzen untersuchen und bringen so mehr empirische
Relevanz in die Debatte.
Ein Beispiel ist die Frage, welche Rolle Emotionen im Zusammenhang
mit moralischen Urteilen bilden. Es ist allgemein bekannt, daß heftige Affekte einem moralisch geleiteten Verhalten eher hinderlich sind. Weniger
bekannt ist, daß es inzwischen gute Evidenzen dafür gibt, daß emotionale
Bewertungsprozesse höherstufiger Natur für angemessenes soziales und
sittliches Verhalten nicht nur nicht hinderlich sind, sondern offenbar sogar
unverzichtbar. Dies machen zumindest Studien an Patienten mit Läsionen
im Bereich des orbitofrontalen Kortex plausibel (Bechara 1999, Damasio
1994). Die sozialen und sittlichen Defizite dieser Patienten sind vermutlich
durch eine Störung emotionaler Bewertungsprozesse bedingt. Doch wie
immer ist die Interpretation von Studien bei Patienten mit Hirnverletzungen
dadurch eingeschränkt, daß hier eben eine klare Funktionsstörung durch
Verletzung, Tumor oder Gewebeuntergang vorliegt und damit die normalen
Verhältnisse deutlich gestört sind.
Inzwischen hat man begonnen, auch gesunde Probanden Paradigmen
auszusetzen, die moralisches Verhalten oder Urteilen operationalisiert untersuchbar machen, beispielsweise anhand moralischer Dilemmata. Im Leben
gibt es viele Situationen, die ein moralisches Dilemma enthalten, d. h.
Situationen, in denen eine Person ein moralisches Prinzip verletzen muß,
um einem anderen gerecht zu werden. Ein klassisches Beispiel ist die Frage,
ob es gerechtfertigt ist, ein Menschenleben zu opfern, um viele zu retten.
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen an einer Bedienung zum Stellen einer Weiche.
Sie sehen einen führerlosen Zug auf die Weiche zurasen. Die Weiche ist so
eingestellt, daß der Zug einen Weg nehmen wird, auf dem er fünf auf den
Gleisen stehende Menschen töten wird. Es besteht allerdings die Möglichkeit, die Weiche umzustellen, so daß der Zug auf ein Gleis gelenkt wird, auf
dem ein einzelner Mensch steht. Was würden Sie tun? Die meisten entscheiden sich dafür, die Weiche umzustellen, um die fünf Menschen zu
retten, auch wenn dabei ein Mensch umkommt. Dieses Dilemma läßt sich
aber auch anders stellen: Nunmehr geht es nicht darum, eine Weiche umzustellen, sondern die einzige Möglichkeit, die fünf Menschen zu retten, be-
Funktionelle Bildgebung der Emotionen
67
steht darin, einen wohlbeleibten Menschen von einer Brücke vor den Zug
zu stoßen, und den Zug so zu stoppen. Was würden Sie tun? Die meisten
Menschen würden die Person nicht vor den Zug stoßen. Die spannende
Frage ist nun: Warum nicht? Die Arithmetik der auf dem Spiel stehenden
Menschenleben ist identisch. Der Unterschied zwischen den beiden Varianten besteht darin, daß die „Opferung“ des einen Menschen im ersten Fall zu
einem gewissen Grade unpersönlich ist (Umstellen einer Weiche), im zweiten Fall aber ein aktives persönliches hautnahes Eingreifen (Stoßen von der
Brücke) erfordert. Nun lassen sich viele Argumente finden, warum man sich
so oder so entscheiden sollte, und diese werden je nach moralischem Standpunkt unterschiedlich ausfallen. Interessant wäre aber nicht nur zu wissen,
wofür sich die Menschen in der Regel entscheiden, sonder auch, warum sie
es tun.
Diese Frage wurde von Philosophen und Psychiatern in einem fMRTExperiment gestellt, in dem Versuchspersonen 60 Dilemmata der oben
geschilderten Art zu entscheiden hatten (plus nicht-moralische Entscheidungen als Kontrollsituationen; Greene et al. 2001). Dabei zeigte sich folgendes Ergebnis: Handelte es sich um „persönliche Varianten“ des Dilemmas, so waren Regionen des Gehirns aktiv, die mit emotionaler Informationsverarbeitung in Verbindung gebracht werden. Bei den unpersönlichen
Entscheidungen waren dagegen eher Regionen aktiv, die bei kognitiven
Aufgaben (wie etwa Arbeitsgedächtnisaufgaben) eine Rolle spielen. Außerdem zeigte sich in einem Anschlußexperiment, bei dem die Reaktionszeiten
gemessen wurden, ein interessanter Verhaltenseffekt: Moralische Entscheidungen brauchten in ihrer unpersönlichen Variante länger als nicht moralische Entscheidungen, und beide Entscheidungen benötigten mehr Zeit,
wenn sie „unangemessen waren“, d. h. von der arithmetischen Lösung, die
meisten Menschen zu retten, abwichen (z. B. die Weiche nicht umzustellen).
Bei den persönlichen Entscheidungen drehte sich dieser Effekt dagegen um.
Bei der „angemessenen“ (arithmetisch besten Lösung, d. h. möglichst viele
Menschleben zu retten) brauchten die Versuchpersonen am allerlängsten,
bei der Opferung vieler Menschleben (d. h. den Menschen nicht von der
Brücke zu stoßen) am kürzesten.
Was sagen uns diese Ergebnisse? Sie zeigen, daß – zumindest bei moralischen Dilemmata – emotionale Hirnfunktionen eine Rolle spielen und erklären können, warum Menschen in der Regel eine bestimmte Entscheidung
als die moralisch richtige ansehen. Natürlich zeigen sie nicht, was die richtige Entscheidung ist. Aber das Experiment ist deshalb beispielhaft, da es das
erste Beispiel seiner Art ist, das hilft festzustellen, wie die Mechanismen
moralischen Urteilens funktionieren. Und diese Erkenntnisse sollten, so
zumindest die von uns vertretene Ansicht, eine Rolle dabei spielen, wie wir
moralische Entscheidungen beurteilen. Inzwischen existieren weitere Studien zu den Hirnmechanismen moralischer Entscheidungen (Moll et al. 2002a,
68
Susanne Erk und Henrik Walter
2002b; vgl. auch Shin et al. 2000) Eine Übersicht bei Greene & Haidt
(2002), die auch neuropsychologische Studien und Studien zum SerotoninStoffwechsel einschließt (vgl. auch Davidson et al. 2000), zeigt, daß bei moralischen Entscheidungen vermutlich die folgenden Regionen in der einen
oder anderen Weise beteiligt sind: der frontomediale Kortex, die Amygdala,
der orbitofrontale Kortex, der hintere Gyrus temporalis superior, der inferior parietale Kortex, der vordere Temporalpol, sowie der dorsolaterale Präfrontalkortex. Ein großer Teil dieser Regionen spielt für die emotionale
Informationsverarbeitung eine wichtige Rolle.
Natürlich läßt sich fragen: Warum sollte uns all dies – von einem moralischen Standpunkt aus – kümmern? Die eine Frage, so das klassische Argument, sei schließlich rein deskriptiver (beschreibender) Natur: Wie handelt
der Mensch? Die andere Frage dagegen, die moralisch relevante normative
Frage, sei davon völlig unabhängig: Wie sollte der Mensch handeln? Nun
sollte inzwischen klar geworden sein, daß wir nicht der Ansicht sind, daß
diese beiden Fragen völlig unabhängig voneinander diskutiert werden sollten
– unbestritten der logischen Nichtableitbarkeit normativer aus deskriptiven
Aussagen (sonst: naturalistischer Fehlschluß). Die Trennung von Fakten
und Normen ist im realen Leben keinesfalls so strikt, wie uns die formale
Logik weismachen will. Dies ist immer wieder auch eine These von Philosophen gewesen, von Aristoteles bis hin zum Pragmatismus eines Hilary
Putnam (vgl. die Beiträge in Raters & Willaschek 2002, 225–324).
Doch ist das Thema des Zusammenhangs von Sein und Sollen zu groß,
um hier ausführlich behandelt zu werden.3 Statt dessen wollen wir auf ein
Beispiel hinweisen, das unseren Standpunkt plausibel machen und auf die
Relevanz empirischer Ergebnisse für moralische Fragen hinweisen soll. In
unserer Gesellschaft nehmen die Taten von Patienten mit einer ausgeprägten dissozialen Persönlichkeitsstörung („Psychopathen“) in der öffentlichen
Aufmerksamkeit einen großen Raum ein. Inwieweit sind diese Menschen
verantwortlich für ihre Taten? Und inwieweit sind sie in der Lage, in Zukunft anders zu handeln, als sie es bis dahin getan haben? Neuere Untersuchungen mit Hilfe der funktionellen Bildgebung an „Psychopathen“ haben
Auffälligkeiten der emotionalen Informationsverarbeitung gefunden, die
erklären könnten, warum solche Menschen häufiger Gewalttaten begehen
als andere Menschen (z. B. Kiehl et al. 2001, Raine et al. 1998, Schneider et
al. 2000, Soderstrom et al. 2002). Diese ersten Untersuchungen können
noch nicht als gesichertes Wissen angesehen werden, da sie nur an kleinen
Kollektiven erhoben wurden, noch widersprüchlich sind und sich nur vereinzelt der Frage nach der Genese dieser Auffälligkeiten widmen. Aber sie
legen natürlich die Frage nahe, welche Hirnmechanismen notwendig sind,
3
Zum Zusammenhang von Moralität, Rationalität und Emotionen vgl. Stephan und Walter (2003).
Funktionelle Bildgebung der Emotionen
69
damit wir überhaupt moralisch angemessen handeln können. Die normative
Frage, wie wir handeln sollten, ist von unseren diesbezüglichen Fähigkeiten
offenbar beeinflußt und dies hat auch Auswirkungen auf unsere theoretischen Vorstellungen von moralischer Verantwortlichkeit (vgl. dazu Walter
2003).
Wir haben in diesem Artikel dargelegt, welche Hirnstrukturen an emotionaler Informationsverarbeitung beteiligt sind und wie dies mit Hilfe neuer,
funktionell bildgebender Verfahren auch beim Menschen direkt nachgewiesen werden kann. Emotionen sind, wie wir an Beispielen gezeigt haben, an
kognitiven Vorgängen beteiligt, und sogar selbst teils kognitiver Natur, nämlich über ihre Bewertungsfunktion. Neueste Erkenntnisse legen nahe, daß
Emotionen auch beim Fällen moralischer Urteile involviert sind. Trotz einer
Vielzahl von Emotionstheorien sind wir von einer integrativen Theorie
noch weit entfernt. Eine solche integrative Theorie sollte, ja muß, nicht nur
psychologische Aspekte berücksichtigen, sondern auch unsere Erkenntnisse
zur Neuroanatomie, Neurophysiologie und Neurochemie emotionaler Vorgänge.
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LIEBE UND LUST.
EIN INTIMES VERHÄLTNIS UND SEINE NEUROBIOLOGISCHEN GRUNDLAGEN
Nüchtern betrachtet ist das romantische Verliebtsein eine chemisch
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Ausgangslage für eine soziale Neuorientierung, wie die Scheidungsraten in den westlichen Ländern belegen.
(Carter 1999, 76)
I
n den letzten Jahrzehnten hat die Erforschung des menschlichen Geistes erhebliche Fortschritte gemacht. Es gibt intelligente Systeme, die
fast jeden Schachspieler schlagen können; die Wahrnehmungsforschung
verfügt über detailliertes Wissen darüber, wie Form, Farbe und Bewegung
verarbeitet werden; wir wissen einiges über die neurochemischen Grundlagen von Schizophrenie und Depression und inzwischen arbeitet die Neurowissenschaft gemeinsam mit anderen Disziplinen gar an der Erforschung
der neuronalen Grundlagen unseres Bewußtseins.
Auch wenn viele Menschen das Unternehmen der Erforschung des
menschlichen Geistes spannend finden, so ist doch oft ein gewisses Unbehagen zu spüren. Dieses hat vermutlich ganz verschiedene Gründe. Dazu
zählen etwa so einfache Dinge wie schlichte Unwissenheit und daraus folgende Verunsicherung, so realistische Bedenken wie die Angst vor der Gefahr des praktischen Mißbrauchs solchen Wissens sowie weltanschauliche
Gründe wie die Bedrohung eines dualistischen oder religiösen Weltbildes.
Trotz alledem scheint es viele Menschen nicht zu stören, daß es Schachcomputer gibt, trotzdem sind Patienten dankbar, daß man psychische Erkrankungen heute professionell und oft sogar erfolgreich behandeln kann
und keiner fühlt sich persönlich angegriffen, wenn eine wissenschaftliche
Arbeit, sagen wir, zu den neuronalen Korrelaten von Geschwindigkeitswahrnehmung unter wechselnden Reizbedingungen erscheint.
Wenn man Menschen danach fragt, wo die Grenzen der Künstlichen Intelligenz liegen, so sehen viele diese nicht in höchsten geistigen Leistungen,
sondern eher im Bereich des Emotionalen: Die Idee künstlicher Gefühle
erscheint den meisten als absurd, selbst wenn sie komplexere Formen der
Künstlichen Intelligenz für möglich halten. Und an die Möglichkeit der
Liebe eines Roboters zu denken, erscheint geradezu lächerlich.
76
Henrik Walter
Doch was ist mit der menschlichen Liebe? Können wir diese verstehen?
Ist Liebe etwas neurobiologisch Erklärbares, das aus verstehbaren Mechanismen unseres Gehirns und unseres Körpers resultiert? Auch dies erscheint
vielen Menschen entweder absurd oder, falls möglich, so doch keinesfalls
erstrebenswert: Denn die Erforschung der Liebe könnte derselben den Reiz
und die Aura des Mysteriösen, des sich jeder Ratio Entziehenden und letztlich Unverstehbaren nehmen – und dies möchten nur die wenigsten.
Dieses Schicksal teilt die Liebe zumindest teilweise mit anderen typisch
menschlichen Eigenschaften wie dem Bewußtsein, der Willensfreiheit oder
der Spiritualität. Jedoch scheint der psychologische Widerstand gegen den
Erwerb naturwissenschaftlichen Wissens über die Liebe von einer besonderen Resistenz. Dies ist einerseits überraschend angesichts der Tatsache, daß
wir über Liebe und damit verbundene Phänomene wie Zuneigung, Treue,
Bindung und Sex inzwischen sehr viel mehr wissen als etwa über Bewußtsein. Wer – aus der Welt der kognitiven Neurowissenschaft kommend – in
die Welt der Liebesforschung eintaucht, ist überrascht, wieviel dort schon
bekannt ist. Insbesondere unterscheidet sich die Neurobiologie der Liebe
von der Neurobiologie anderer Phänomene dadurch, daß hier die neurohumorale Seite unseres Gehirns, also das Reich der Neurotransmitter, Neuromodulatoren und Hormone, eine viel größere Rolle spielt und psychische
Phänomene insofern viel enger in Kontakt mit der materiellen Welt der
Neurochemie in Verbindung gebracht werden können als im Bereich der
Kognition. Anderseits überrascht dieser psychologische Widerstand auch
wieder nicht: scheinen doch die Emotionen und die Liebe im besonderen
eine der letzten Bastionen, die sich einer reduktionistischen Sicht des Menschen entziehen. Und dies, so die Meinung vieler, sollte möglichst auch so
bleiben. Natürlich bleibt es jedem unbenommen, sich nicht für eine Erklärung der Liebe zu interessieren. Wer jedoch Liebe nicht nur erleben, sondern auch verstehen möchte, was die mit dem Liebesleben verbundenen
Phänomene sind, was ihnen zugrunde liegt, findet in der Psychobiologie
einen immensen Reichtum an Wissen.
Im folgenden werde ich einen Überblick über unser heutiges Wissen
über die psychologischen und neurobiologischen Grundlagen von Liebe
und Lust geben. Die Berücksichtigung der Sexualität ist aus naturalistischer
Sicht dabei unvermeidbar, denn die Mechanismen der Liebe sind eng mit
denen der Sexualität verbunden. Ferner möchte ich am Beispiel der Liebe
dafür argumentieren, daß ein besseres Verständnis der Liebesmechanismen
die Möglichkeit der Liebe keinesfalls zerstört. Ganz im Gegenteil: Bei den
mit Liebesphänomenen verbundenen Prozessen handelt es sich um derart
komplexe, ineinander verwobene Phänomene, daß man immer wieder nur
ehrfürchtig erstaunt ist, daß diese überhaupt funktionieren. Darüber hinaus
kann ein Verständnis der Neurobiologie der Liebe uns dabei helfen, uns
besser zu verstehen, im glücklichsten Fall sogar, besser zu leben. Insofern ist
Liebe und Lust
77
die wissenschaftliche Beschäftigung mit solch menschlichen Phänomenen
immer auch ein Stück Philosophie: durch ein vertieftes Selbstverständnis zu
einem neuen Umgang mit sich selbst und anderen beizutragen.
EXPLANANDUM UND EXPLANANS
Wenn man einen Aufsatz über ein Thema schreibt, in dem Erklärungen
vorkommen, sollte man klarstellen, was deren Gegenstand ist. In der Wissenschaftstheorie wird zwischen dem Explanandum (dem zu Erklärenden)
und dem Explanans (dem Erklärenden) unterschieden. Unser Explanandum
ist „die Liebe“. Doch was ist das: die Liebe?.
Um es klar zu sagen: Der Fokus dieses Artikels liegt auf der Liebe zwischen Mann und Frau, der – neurobiologisch betrachtet – unweigerlich mit
Aspekten der Sexualität und Bindungsmechanismen verbunden ist. Dabei
gehe ich davon aus, daß die Erfahrungsräume der Leser sich weit genug
überlappen, und somit den Lesern die Phänomene, über die ich im folgenden schreibe und für die ich Erklärungen anbiete, hinreichend bekannt sind.
Soweit also zum Explanandum. Was aber ist das Explanans?
Zunächst einmal wollen wir grundsätzlich festhalten, daß es überhaupt
um ein Explanans geht. Das ist nicht selbstverständlich. Viele Bücher über
die Liebe sind deskriptive Schilderungen, d. h. also beschreibende Darstellungen von Liebeserfahrungen und/oder persönliche Ansichten darüber,
was Liebe ist. Deren Wirkung und Überzeugungskraft beruhen vor allem
darauf, daß sie das Gefühl hervorrufen, daß hier jemand etwas sehr Wahres
mit sehr schönen Worten gesagt hat und wir ein Aha-Erlebnis haben und
denken: Ja, genauso so ist es.
Hier aber geht es darum, Phänomene der Liebe zu erklären. Solche Erklärungen sind vielfältig. Viele große (und weniger große) Philosophen haben Theorien der Liebe formuliert. Am bekanntesten ist wohl der Mythos
von Plato, der den Urmensch als vollkommene Kugelgestalt dreierlei Geschlechts schildert (männlich, weiblich, bisexuell). Da sie die Götter bedrohten, zerteilte sie Zeus in zwei Hälften. Seitdem sind die Menschen von dem
Verlangen bzw. der Sehnsucht getrieben, sich wieder zu einem Ganzen,
Vollkommenen zu vereinen. Praktisch alle mythischen und philosophischen
Theorien der Liebe sind jedoch zu einer Zeit entstanden, als man noch
nichts über die Mechanismen von Sexualität und Liebe wußte. Es gibt ferner
psychoanalytische Theorien, die Liebe (oder zumindest Verliebtheit) auf ein
„Wiederfinden“ zurückführen, d. h. auf die Steuerung der Objektwahl durch
die unbewußte Ähnlichkeit des Objektes mit infantilen Vorbildern. Empirisch-psychologische Theorien ermitteln mit Hilfe von Fragebögen oder
sozialpsychologischen Verhaltensexperimenten Ansichten und Einstellun-
78
Henrik Walter
gen zur Liebe und formulieren dann ein empirisch gestütztes Konzept der
Liebe. Darüber hinaus finden sich sozialkonstruktivistische Theorien, die
davon ausgehen, daß die Idee der Liebe von der jeweiligen Gesellschaft
vorgegeben wird und daß ihr Erleben sozial geformt und konstruiert ist.
Außerdem existieren evolutionäre Ansätze, die versuchen, das Phänomen
der Sexualität und Strategien der Auswahl und Gewinnung eines Partners
mit evolutionstheoretischen Mechanismen zu erklären. Und schließlich gibt
es unzählige Liebestheorien in psychologischen Ratgebern, die aus einer
idiosynkratischen Mischung dieser Theorien mit persönlichen therapeutischen Erfahrungen bestehen.
Hier aber geht es um mehr. Es geht darum, die neurobiologischen Mechanismen der Liebe darzustellen, d. h. bestimmte Phänomene der Liebe auf
neurobiologische Ursachen zurückzuführen. Es wird also weniger auf die
Unterschiede von Liebesphänomenen, sondern mehr auf deren gemeinsame
Grundlagen eingegangen. Trotz der erheblichen kulturellen Unterschiede
zwischen den Menschen, ist deren neurobiologische Ausstattung fast völlig
identisch. Neurobiologische Erklärungen sind proximate und nicht ultimate
Erklärungen. Was bedeutet das? Diese Unterscheidung stammt aus der Biologie bzw. der Evolutionstheorie. Proximate Erklärungen nehmen Bezug auf
proximate Ursachen (Nahursachen) im Gegensatz zu ultimaten Erklärungen, die bezug auf ultimate Ursachen (Fernursachen) nehmen. Ein Beispiel
mag den Unterschied verdeutlichen: Eine ultimate Erklärung für das Phänomen „Durst“ liegt darin, daß es für Organismen evolutionär vorteilhaft
war, zu „wissen“, wann sie Wasser brauchten, daß sie „motiviert“ waren,
Wasser zu suchen, daß sie dabei ein starkes „Bedürfnis“ nach Wasser empfanden und daß dieses Bedürfnis nach seiner „Befriedigung“ verschwand.
Organismen, die Mechanismen des Durstes entwickelten, haben überlebt,
und die Existenz von Durst erklärt sich aus ihrer Überlebensfunktion. Eine
proximate Erklärung des Durstes bezieht sich auf die nunmehr existierenden
Mechanismen des Durstes, d. h. die neurobiologischen Mechanismen der
Regulation des Wasserhaushaltes: nämlich die Existenz von Rezeptoren im
Hypothalamus, die die Osmalarität des Blutes messen, was wiederum Verhaltensprogramme steuert, die in Wassersuche münden. Eine ultimate Erklärung erklärt also, warum etwas der Fall bzw. warum es zustande gekommen ist, eine proximate Erklärung gibt darüber Auskunft, wie etwas funktioniert.
An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, daß eine neurobiologische Erklärung andere Erklärungen nicht ausschließt. Sie bildet vielmehr die Basis,
auf der sich das Phänomen der Liebe ereignet. Etwas genauer sollte man
sagen: Eine neurobiologische Erklärung schließt andere Erklärungen nicht
notwendigerweise aus. Sie kann aber sehr wohl einer Theorie anderen Ursprungs widersprechen. Wenn zum Beispiel eine sozialkonstruktivistische
Theorie behaupten würde, daß die Wichtigkeit des Körperkontaktes für den
Liebe und Lust
79
Aspekt der Bindung in der Liebe eine gesellschaftliche Konstruktion sei, so
könnte man dies unter Hinweis auf noch zu erläuternde proximate Mechanismen, bei dem Oxytocin eine wesentliche Rolle spielt, mit Fug und Recht
zurückweisen. Und noch ein Hinweis: Selbstverständlich ist es so, daß, wenn
erst einmal Mechanismen in der Welt sind, diese zu allen möglichen Zwekken benutzt (und mißbraucht) werden können. So ist das Bedürfnis nach
Süßspeisen evolutionär erklärbar, es gibt Mechanismen dafür und diese sind
bei Kindern nun einmal anders ausgebildet als bei Erwachsenen. Dies macht
sich etwa die Süßwarenindustrie zunutze, verdient damit eine Menge Geld
und verschafft nicht zuletzt der Zunft der Zahnärzte eine solide Existenzgrundlage. Daraus folgt jedoch nicht, daß das Bedürfnis nach Süßigkeiten
ein kulturelles bzw. gesellschaftliches Artefakt ist. Im Gegenteil: Der jetzige
Zustand unserer Kariesgesellschaft ist nur dadurch möglich geworden, daß
das Verlangen nach Süßem auf solch stabilen neurobiologischen Füßen
steht. Auch die romantische Liebe, die erst im 18. Jahrhundert zur Idee der
Liebesheirat führte, beruht auf stabilen neurobiologischen Fundamenten,
die eine unverzichtbare Rolle in der Erklärung von Liebesphänomenen einnehmen.
Kurz, unser primäres Explanans ist die Neurobiologie mit all ihren
reichhaltigen Facetten. Doch bevor wir uns der Neurobiologie der Liebe
nähern, will ich zunächst Erklärungsansätze der Partnerliebe aus der Sicht
der Psychoanalyse, der akademisch-wissenschaftlichen Psychologie und der
Evolutionstheorie vorstellen, die sozusagen das Hintergrundmuster für die
neurobiologischen Erkenntnisse über Liebe und Lust bilden.
FRÜHKINDLICHE PRÄGUNGEN DURCH MUTTER-KINDBEZIEHUNGEN
Die Psychoanalyse vertritt bekanntermaßen die These, daß frühkindliche
Erfahrungen entscheidend für unser Verhalten im Erwachsenenleben sind.
Dies sollte dann auch, oder vielmehr: erst recht, für unser Liebesleben gelten. Sie hat zwar keine allgemein akzeptierte, explizite Theorie der Liebe
entwickelt, ihre Grundannahmen legen eine solche Theorie allerdings nahe
(Bergmann 1994): Liebesbeziehungen sind der Versuch, eine intime Nähe
zu Personen zu gewinnen, wobei dieser Versuch durch die in der frühen
Kindheit erworbenen inneren Symbolisierungen von Liebesobjekten (Repräsentanzen), d. h. letztlich der Eltern oder ihrer Ersatzpersonen, geprägt
wird („Übertragungsliebe“). Dabei stehen zwei Bedürfnisse in einem Spannungsverhältnis zueinander. Einerseits soll das neue Liebesobjekt dem frühen Bild der Eltern so ähnlich wie möglich sein, andererseits besteht das
Bedürfnis, daß der Liebespartner die von wesentlichen Objekten der Kind-
80
Henrik Walter
heit zugefügten Wunden heilen soll. Glückliche Liebe wird dann möglich,
wenn zwischen diesen entgegengesetzten Wünschen eine hinlängliche Balance erreicht wird. Zu anderen Zeiten bleibt der Konflikt ungelöst und
führt zu den verschiedensten Kompromißbildungen, d. h. verschiedenen
Spielarten der Liebe.
Die Bedeutung von Erfahrungen in der frühen Kindheit für das spätere
Verhalten und Erleben in Beziehungen Erwachsener ist inzwischen auch
experimentell nachgewiesen worden. Dazu hat unter anderem die Bindungsforschung beigegetragen (Bierhoff & Grau 1999, 22-44, Strauß, Buchheim
& Kächele 2002). Die Bindungstheorie (attachment theory) wurde von dem
Psychoanalytiker John Bowlby in den siebziger Jahren entwickelt und befaßte sich zunächst mit der Bindung zwischen Kleinkindern und deren primärer Bezugsperson (in den meisten Fällen: der Mutter). Mit Bindungsverhalten
ist das Verhalten von Kindern gemeint, das diese in Situationen zeigen, in
denen sie Angst, Streß oder Trauer empfinden (z. B. Weinen, Nachlaufen)
und durch das diese die Nähe der Mutter sicherstellen wollen, die darauf in
der Regel mit Fürsorgeverhalten (Beruhigung, Trösten, Beschützen) reagiert.
Der Ansatz von Bowlby unterschied sich von herkömmlichen psychoanalytischen Ansätzen vor allem dadurch, daß er die biologische Funktion des
Bindungsverhaltens betonte und entsprechendes Verhalten im Erwachsenenalter nicht als regressiv, sondern als Bestandteil vertrauter Beziehungen
ansah (für weitere Ausführungen vgl. Schmücker, in diesem Band).
Später wurden Verfahren entwickelt, um den Bindungsstil bei älteren
Kindern zu messen, sowie Interviews, mit denen man auch Erwachsene
Bindungsstilen zuordnen kann. Mit Hilfe dieser Instrumente wurden eine
Vielzahl von Untersuchungen durchgeführt. Dabei zeigte sich, daß der Bindungsstil über lange Phasen des Lebenslaufs stabil ist und auch über Generationen weitergegeben werden kann. Zudem hat er, wie zu erwarten, Auswirkungen auf das Paarverhalten: Sichere Personen sind häufig mit sicheren
Partnern liiert und ängstliche mit vermeidenden. Bindungsstile ermöglichen
die Vorhersage der Beziehungsqualität und -stabilität und hängen mit dem
Verhalten in Streßsituationen zusammen. Die Bindungstheorie liefert daher
ein gutes Erklärungsmodell für Paarkonflikte.
Daß frühe emotionale Faktoren ihre Wirkungen auf späteres Verhalten
durch Änderungen der Hirnorganisation ausüben, wurde durch neuere tierexperimentelle Untersuchungen direkt nachgewiesen (Braun et al. 2002). So
kommt es etwa durch wiederholten stundenweisen Elternentzug während
der ersten Lebenswochen bei Ratten zu bleibenden Verschiebungen von
Synapsengleichgewichten im cingulären und infralimbischen Kortex, also
Hirnarealen, die für die emotionale Informationsverarbeitung zuständig
sind. Aber auch viele der Neurotransmittersysteme verändern ihre Empfindlichkeit durch frühkindliche Trennungserlebnisse.
Liebe und Lust
81
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sowohl psychoanalytische, als
auch entwicklungspsychologische und neurobiologische Experimente dafür
sprechen, daß frühe emotionale Erfahrungen entscheidenden Einfluß auf
unsere späteren intimen Beziehungen haben. Doch welcher Art sind diese
Beziehungen eigentlich? Welche Formen der Liebe gibt es? Damit beschäftigt sich wissenschaftlich die akademische Liebesforschung.
LIEBE AUS AKADEMISCHER SICHT
Die akademische Liebesforschung ist inzwischen 25 Jahre alt (Bierhoff in
„Lust und Liebe“ 2002, 42 ff.). Einer ihrer Grundsteine wurde von dem
Soziologen John Alan Lee im Jahr 1973 gelegt. Er unterschied sechs „Liebesstile“, die er aus philosophischen und literarischen Texten extrahierte
und mit griechischen Namen belegte. Wie jede (psychologische) Kategorisierung ist auch diese natürlich idealisiert – Lee selbst hat niemals behauptet,
daß Menschen entweder dem einen oder anderen Stil zugehörig sind. Deshalb bezeichnete er die verschiedenen Liebesstile auch als „Farben“, die in
bestimmten Mischungsverhältnissen auftreten. Insofern ähneln die Liebesstile den Grundfarben, aus denen jeder existierende Farbton gemischt werden kann. Lee nennt die sechs „Grundfarben/formen“ der Liebe: EROS –
die romantische Liebe, LUDUS – die spielerische Liebe, STORGE – die
freundschaftliche Liebe, MANIA – die eifersüchtige Liebe, PRAGMA – die
pragmatische Liebe und AGAPE – die selbstlose Liebe (vgl. Tab. 1).
Diese Einteilung ist Grundlage sozialpsychologischer Forschungen über
die Liebe geworden. Der Sozialpsychologe Hans-Werner Bierhoff entwikkelte mit Kollegen 1993 auf der Grundlage amerikanischer Fragebögen einen umfangreichen Test, mit dessen Hilfe errechnet werden kann, wie stark
jemand verschiedenen Liebesstilen zuneigt. Dabei kann ein und dieselbe
Person mehrere Liebesstile gleichzeitig in sich vereinen. Bierhoff (2002)
zufolge stellt sich die heutige Situation auf der Grundlage von mehr als
zwanzigtausend untersuchten Personen folgendermaßen dar. Am höchsten
im Kurs steht bei uns derzeit der romantische Liebesstil. Altruismus,
Freundschaft und Eifersucht folgen, während das Pragmatische und das
Spielerische eindeutig tiefer rangieren. Diese Reihenfolge hätte in den siebziger Jahren sicher anders ausgesehen! Es zeigen sich auch kulturelle Unterschiede: Chinesen schätzen die romantische Liebe zwar ebenso, bewerten
aber die altruistische und die pragmatische Liebe höher als die Menschen im
Westen. Sie verbinden diese beiden Stile zu einer eigenen Form der Liebe,
die man als gegenseitige Verpflichtung der Partner interpretieren könnte.
Wie Menschen lieben, scheint also eng mit den sich stetig ändernden kulturellen Einflüssen zusammenzuhängen.
82
Henrik Walter
Eros – nach dem griechischen Gott der Liebe
Die romantische Liebe wird in unzähligen Filmen und Romanen thematisiert. Sie ist gekennzeichnet durch Leidenschaft und sexuelle Zuneigung. Romantisch Liebende nehmen den
Partner als physisch attraktiv und ihr Sexualleben als intensiv und befriedigend wahr.
Storge – kooperative Liebe
Die freundschaftliche Liebe ist eher das Ergebnis gemeinsamer Interessen und Gewohnheiten; oft erwächst sie aus einer bereits bestehenden Freundschaft. Die Partner kooperieren
gut und streiten selten; Vertrauen und Sicherheit stehen im Mittelpunkt der Beziehungen.
Agape – von griech.-lat. Nächstenliebe
Beruht eine Partnerschaft hingegen in erster Linie auf Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit,
spricht Lee von altruistischer Liebe: Hier steht das Wohl des Partners vor dem eigenen.
Mania – von griech. Raserei und Wahnsinn
Die Besitz ergreifende Liebe ist durch das Gefühl der Eifersucht bestimmt. Emotionale
Höhen und Tiefen wechseln einander ab, je nachdem, ob sich der Eifersüchtige seines
Partners momentan sicher ist oder nicht. Gedanken an mögliche Untreue des Partners
erlebt der Eifersüchtige als quälend und bestimmend.
Ludus – nach dem Festspiel in der Antike
In der spielerischen Liebe manifestiert sich das Ausleben sexueller Freiheit. Der spielerisch
Liebende sieht mit jeder neuen „Eroberung“ seine Attraktivität bestätigt. Er sucht daher
Affären und nicht wirklich eine langfristige Bindung. Oft unterhält er mehrere Beziehungen
gleichzeitig.
Pragma – der Nutzen
Die pragmatische Liebe wählt den Partner aus Vernunft und zum Zweck einer vorteilhaften
Beziehung. Gefühle werden eher verdrängt oder weniger wichtig genommen. Pragmatisch
Liebende haben eine genaue Vorstellung von ihrer Zukunft, mit der die Partnerschaft vereinbar sein muß.
Tab. 1. Sechs Liebesstile nach Lee 1967 (nach Bierhoff 2002, 44)
Diese beschreibende Unterteilung in Liebesstile gewinnt Erklärungskraft,
wenn sie als Grundlage empirischer Untersuchungen dient, mit anderen
theoretischen Ansätzen verwoben und/oder für Vorhersagen verwendet
wird (Bierhoff & Grau 1999). So können sich widersprechende Alltagsweisheiten auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden: „Gleich und gleich gesellt sich gern“ und „Gegensätze ziehen sich an“ – was gilt für das Reich der
Liebe? Hier spricht die Forschung eindeutig für die zuerst genannte Volksweisheit. Zwar kommt es vor, daß jemand einen Menschen mit völlig konträren Eigenschaften besonders anziehend findet. Meist ähnelt der andere
dabei aber einer Idealvorstellung von einem selbst (Ich-Ideal), das man nicht
erfüllt. In der Kombination der Liebesstile zeigt sich jedoch keine Gegensätzlichkeit. Vielmehr tendieren beide Partner häufig zum selben Liebesstil.
Bierhoff versucht diese Tatsachen dadurch zu erklären, indem er Liebesbeziehungen in Begriffen der sozialpsychologischen Theorie der Austauschbeziehungen (nach Harold Kelly) erklärt. Ihr zufolge können Menschen nur
Liebe und Lust
83
dann eine dauerhafte Beziehung aufbauen, wenn sie sich gegenseitig belohnen können. Analog zu wirtschaftlichen Tauschbeziehungen entstehen in
einer Beziehung Gewinne und Kosten, die sich in einer Beziehungsbilanz
bündeln lassen. Wenn sich nun Liebesstile ähneln, führt dies dazu, daß beide
Partner daraus etwas gewinnen – zumindest gilt dies für die romantische,
freundschaftliche, pragmatische und altruistische Art zu lieben. Die eifersüchtige und spielerische Liebe dagegen führen, aus jeweils verschiedenen
Gründen, eher zu einer negativen Bilanz, was sich daran zeigt, daß die darauf gründenden Beziehungen meist weniger dauerhaft sind. Deshalb eignet
sich eine solche Theorie (in Kombination mit anderen empirisch feststellbaren Merkmalen) recht gut für die Vorhersage von Trennungen (Bierhoff &
Grau 1999). Zwar muten Termini wie Austausch oder Gewinn sehr nüchtern und abschreckend an. Allerdings zeigt sich in der Beratungspraxis, daß
eine illusionslose Kosten-Nutzen-Analyse Paaren zu verstehen hilft, warum
Ihre Partnerschaft nicht funktioniert. Und, vielleicht noch wichtiger, sie
zeigt auch auf, was beide bei einer Trennung verlieren würden und damit
auch, warum sie nicht voneinander loskommen.
Intimität
Gefühle und Erfahrungen, die Nähe und Verbundenheit fördern. Dazu gehören: 1) Wohlwollen, d. h. der Wunsch, das Wohlergehen des Geliebten zu fördern; 2) gemeinsames Erleben
von Glück; 3) Respekt; 4) Verläßlichkeit, d. h. auf den Anderen in Zeiten der Not zählen zu
können; 5) wechselseitiges Verständnis; 6) Teilen des Besitzes; 7) Erhalt emotionaler
Unterstützung; 8) Gewährung emotionaler Unterstützung; 9) intime Kommunikation; 10)
Wertschätzung.
Leidenschaft
Zustand des intensiven Verlangens nach Einheit mit dem Anderen. Ausdruck einer Anzahl
von Wünschen und Bedürfnissen, wie die nach Selbstachtung, Ernährung, Affiliation, Dominanz, Unterwerfung und sexueller Erfüllung. Variabel, ausgeprägt, meist verbunden mit einer
psychophysiologischen Erregung, oft mit sexueller Leidenschaft gleichgesetzt. Es gibt aber
auch andere Arten der Leidenschaft, die mit psychophysiologischer Erregung einhergehen,
z. B. der leidenschaftliche Wunsch, zu einem Menschen oder einer Gruppe zu gehören.
Wichtigster Mechanismus ist die intermittierende, insbesondere frühkindliche Verstärkung,
d. h. die periodische, manchmal zufällige Belohnung einer spezifischen Verhaltensantwort
auf einen Stimulus. Für die Leidenschaft gilt, was für die Verstärkung gilt: Wenn eine intermittierende Verstärkung durch eine kontinuierliche, vorhersagbare Verstärkung abgelöst
wird, vermindert sie sich, so wie sich der Belohnungswert der Verstärker vermindert. Mit
anderen Worten: Gewöhnung verringert die Leidenschaft.
Entscheidung und Selbstverpflichtung
Der Kurzzeitaspekt dieser Komponente besteht in der Entscheidung, einen anderen zu
lieben, der Langzeitaspekt darin, diese Liebe aufrechtzuerhalten. Beide Aspekte können
unabhängig voneinander in Erscheinung treten, z. B. bei arrangierten Heiraten (Langzeit
ohne Kurzzeitaspekt). Das heutige Ideal der „Liebesheirat“ ist eine Institutionalisierung der
Langzeitkomponente auf der Basis des Kurzzeitaspektes.
Tab. 2: Die drei Komponenten der Liebe (nach Sternberg 1999)
Henrik Walter
84
Eine weitere, inzwischen recht bekannte psychologische Theorie geht
nicht von Liebesstilen aus, sondern versucht, Liebesbeziehungen durch drei
grundlegende Dimensionen zu charakterisieren. Diese Drei-Komponentenoder Dreieckstheorie der Liebe (triangle theory of love) wurde von Robert
Sternberg (1988), einem Psychologen aus Yale formuliert. Sie hat insofern
einen generellen Anspruch, da sie versucht, auch andere Arten der Liebe als
die zwischen Mann und Frau zu charakterisieren, und außerdem in Anspruch nimmt, fehlgeschlagene Formen der Liebe zu umfassen. Die drei
grundlegenden Dimension der Liebe nach Sternberg (vgl. Tab. 2) sind Intimität (intimacy), Leidenschaft (passion) und Entscheidung/(Selbst-)Verpflichtung (decision/commitment). Die drei Komponenten haben unterschiedliche Charakteristika. So sind etwa Intimität und Selbstverpflichtung
in engen Beziehungen relativ stabil, während die Leidenschaft dazu tendiert,
eher instabil zu sein und in unvorhersagbarer Weise zu fluktuieren. Weitere
Unterschiede finden sich in den Eigenschaften der bewußten Kontrollierbarkeit, der Stärke der Empfindung, der Wichtigkeit für Kurz- bzw. Langzeitbeziehungen, der Häufigkeit, in der diese Komponenten in verschiedenen Liebesarten (Liebesstilen) auftreten, dem mit ihnen einhergehenden
psychophysiologischen Arousal und der Empfänglichkeit für bewußte Überlegungen. Entsprechend den Mischungsanteilen dieser drei Komponenten
charakterisiert Sternberg schließlich sieben Arten der Liebe (vgl. Tab. 3).
Art der Liebe
Intimität
Leidenschaft
Entscheidung
Verpflichtung
Keine Liebe
-
-
-
Mögen
+
-
-
Betörende Liebe
-
+
-
Leere Liebe
-
-
+
Romantische Liebe
+
+
-
Kameradschaftliche Liebe
+
-
+
Törichte Liebe
-
+
+
Vollkommene Liebe
+
+
+
Tab. 3: Sieben Arten der Liebe (Sternberg 1988, 1998)
Die Einteilung von Sternberg scheint einen großen Teil tatsächlich existierender Liebesbeziehungen abzubilden. Wie alle Kategorisierungen kann sie
Liebe und Lust
85
natürlich nicht jede individuelle Variation in Liebesbeziehungen abbilden.
Sie weist jedoch darauf hin, daß Liebe nicht ein einzelner, sondern eher ein
Mischzustand ist, so daß verständlich wird, warum so viele Menschen so
Unterschiedliches meinen, wenn sie das Wort Liebe benutzen.
ZUR NATURGESCHICHTE DER LIEBE
Auch die menschliche Liebesfähigkeit ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hat ihre Naturgeschichte (vgl. zum folgenden Hülshoff 1999). Auch
unsere Vorfahren und unsere tierischen Verwandten zeig(t)en liebesähnliche
Verhaltensweisen. Diese entspringen vermutlich zwei Wurzeln: Einerseits
aus dem Verhalten gegenüber potentiellen Sexualpartnern und andererseits
aus dem Verhalten gegenüber dem eigenen Nachwuchs, kurz: aus Brunstverhalten, dem Vorläufer der Partnerliebe, und Brutpflegeverhalten, dem
Vorläufer der Elternliebe. Die bei Tieren zu beobachtenden Strategien der
Werbung eines Paarungsgenossen wie z. B. Balzverhalten und Imponiergehabe sind ebenso wie die dafür entwickelten optischen und chemischen
Signale Charakteristika, die ihren Ursprung weit vor der Entstehung des
Menschen haben. Der Mensch hat diese Merkmale geerbt bzw. sie weiterentwickelt und ausdifferenziert. Ein tieferes Verständnis von Liebe setzt die
Kenntnis dieser Verhaltensweisen voraus. Das gleiche gilt für das Brutpflegeverhalten. Darunter sollen hier alle Verhaltensweisen verstanden werden,
die dazu führen, daß Mutter und Kind bzw. teilweise auch Vater und Kind
verschiedenster Spezies eine enge Beziehung eingehen, d. h. solche Phänomene wie Prägung, Kindchenschemata, Hilfeappelle, Regression auf Seiten
des Kindes sowie alle Instinkte, Verhaltensweisen und Einstellungen, die
dem Überleben und Gedeihen des Nachwuchses förderlich sind.
Es ist umstritten, inwieweit Brunst- und Brutpflegeverhalten zusammenhängen. Manche Psychologen wie etwa Norbert Bischof sind der Ansicht,
daß sie streng auseinandergehalten werden müssen. (Bischof sieht dies im
generellen Vorhandensein eines Inzesttabus auch im Tierreich bestätigt.)
Andere wiederum postulieren wenigstens Wechselwirkungen zwischen beiden Bereichen, etwa derart, daß die mehr bzw. weniger liebevolle Behandlung, die wir als Kind erfahren haben, sich auf unsere Liebesfähigkeiten im
Erwachsenenalter deutlich auswirkt.
Bevor wir im weiteren auf die proximaten Erklärungen von Liebesfähigkeit eingehen, möchte ich zunächst noch einmal die Frage nach den ultimaten Ursachen der Liebesfähigkeit beantworten: Warum haben sich die später
zu besprechenden Mechanismen der Liebesfähigkeit überhaupt entwickelt?
Die Antwort auf diese Frage ist nicht möglich, ohne das Wesen der Sexualität zu erörtern.
86
Henrik Walter
Die Mechanismen von Liebe, Sexualität und Fortpflanzung sind unauflösbar miteinander verbunden. Sexualität kann aus evolutionstheoretischer
Sicht als eine Strategie angesehen werden, die zu einer besseren Genmischung führt. In der Evolution haben sich auf Dauer nur solche Strategien
der Fortpflanzung erhalten, die „ökonomisch“ sind, d. h. bei denen Investition (an Zeit, Energie, Aufwand) in einem angepaßten Verhältnis zum Ertrag (Anzahl von erfolgreichen Nachkommen) steht. Im Bereich der Wirbeltiere zeigen sich zwei unterschiedliche Strategien der Fortpflanzung, nämlich
eine qualitative (weibliche) und eine quantitative (männliche). Die qualitative
Strategie läuft darauf hinaus, viel in eine geringe Anzahl von Nachwuchs zu
investieren, die quantitative besteht darin, wenig in viele Nachkommen zu
investieren. Dieser grundlegende Unterschied zeigt sich schon auf der Ebene der Keimzellen. Weibliche Eizellen sind groß, enthalten nicht nur das
Genom, sondern auch viele Nährstoffe und die Energiekraftwerke der Zelle
(Mitochondrien). Sie werden selten gebildet und ihr Lebenszyklus ist aufwendig organisiert. Die männliche, quantitative Strategie besteht in der Produktion möglichst vieler, sehr kleiner und kurzlebiger Keimzellen, von denen sich nur ein Bruchteil fortpflanzen kann.
Aus dieser Sicht haben Evolutionsbiologen auch das Fortpflanzungsverhalten interpretiert. Frauen, so ihre These, investieren quantitativ viel mehr
in einzelne Nachkommen, da sie aufgrund von Schwangerschaft und Stillzeit notwendigerweise sehr viel Zeit und Mühe für einen einzelnen Nachkommen aufwenden müssen. Die Fortpflanzung ist zudem ein Gesundheitsrisiko mit höherer Infektionsgefährdung, Schwangerschaftskomplikationen und Gefahren bei der Geburt. Daraus ergeben sich Folgerungen für
das Verhalten bei der Partnerwahl. Weibliche Individuen müssen wählerischer sein, d. h. sehr genau darauf achten, ob der männliche Partner äußere
Anzeichen dafür bietet, daß er eine gute genetische Ausstattung mitbringt,
so daß die Wahrscheinlichkeit steigt, daß ihr Nachwuchs überlebt und sich
ihre Investition lohnt. Männliche Individuen müssen dies beweisen, indem
sie einerseits Dominanz, andererseits Gesundheit und biologischen Reichtum demonstrieren. Einige zeigen dies durch solch überflüssige Dinge wie
einen Pfauenschwanz, ein prächtiges Geweih oder ein teures Auto. Der
männliche Anteil an der Fortpflanzung beschränkt sich nicht selten auf das
Zeugen der Nachkommen, nur in den wenigsten Fällen kümmern sich
Männchen auch um diese. Wichtig für männliche Individuen ist daher, daß
das betreuende Weibchen gesund genug ist, ein Nachkommen zu gebären
und aufzuziehen und außerdem, daß sie einigermaßen sicher sein können,
daß sie in der Tat auch der Vater sind.
Aus diesen allgemeinen Prinzipien erscheint es verständlich, daß sich bei
Männchen und Weibchen Mechanismen entwickelt haben, die diese Dinge
gewährleisten – und die bei der Partnerwahl eine entscheidende Rolle spielen. Die Evolutionspsychologie untersucht Partnerwahlstrategien unter den
Liebe und Lust
87
genannten Prämissen auch beim heutigen Menschen. Dazu zählt etwa die
Neigung von Frauen, bei der Partnerwahl vor allem auf körperliche Attribute der Gesundheit als auch auf Faktoren zu achten, die Schutz, Geborgenheit und materielle Sicherheit signalisieren. Umgekehrt besteht bei Männern
die Tendenz, auf Vitalität und Jugendlichkeit bei Frauen zu achten, die mit
der potentiellen Fähigkeit einhergehen, gesunde Kinder auf die Welt zu
bringen und aufzuziehen. Dabei spielt das Aussehen der Brüste, TaillenBecken-Relationen, das Aussehen der Haut und anderes mehr eine wesentliche Rolle. So existieren biologisch fest verankerte Präferenzschemata, die
natürlich unter den heutigen Bedingungen kulturell überformt werden können: Die Finanzkraft eines Mannes dürfte heute sicher eine größere Rolle
spielen als seine Körperkraft.
Natürlich sind diese Überlegungen heftig umstritten, zum Teil werden
sie massiv bekämpft. Allerdings gibt es für den Einfluß einiger dieser Faktoren, die das gegenseitige Werbeverhalten beeinflussen, starke empirische
Argumente aus Verhaltensuntersuchungen, wie etwa die Taillen-BeckenRelationen oder die Bedeutung der materiellen Situiertheit des Mannes. In
den wenigsten Fällen jedoch sind die Mechanismen bekannt, die solches
Verhalten vermitteln. Und so kann man lange darüber streiten, ob das
nachweisbare Verhalten nun Erbe unserer evolutionären Vergangenheit ist
oder Merkmal einer geschichtlich jungen gesellschaftlichen Entwicklung.
Wie fast immer, sind solche Dichotomien falsche Alternativen. In gewissem Sinne ist beides wahr. Natürlich haben sich bestimmte Verhaltensweisen und die ihnen zugrunde liegenden Mechanismen im Laufe unserer
Stammesgeschichte entwickelt. Ebenso natürlich ist es jedoch, daß die Mechanismen unter anderen Bedingungen anders genutzt werden können. Die
Attraktivität evolutionärer Erklärungen, nämlich ihre Sinnhaftigkeit und
Nachvollziehbarkeit ist zugleich ihre Schwäche: Allein daraus, daß etwas
einleuchtend und gut begründet erscheint, folgt noch nicht, daß es auch
wahr ist. Zudem leiden evolutionäre Erklärungen darunter, daß sie nicht
direkt experimentell überprüft werden können. Deshalb ist für ein Verständnis ultimater Erklärungen die Kenntnis der Mechanismen, die ein bestimmtes Verhalten bewirken, so nützlich. Im folgenden soll daher auf die
zur Zeit bekannten Mechanismen von Liebe, Lust und Fortpflanzung eingegangen werden. Daß diese Vorgänge mit positiven Gefühlen einhergehen,
ist aus evolutionärer Sicht ausgesprochen sinnvoll: Da Sexualität und Fortpflanzung im Regelfall viel Mühe, Verzicht, Gefahr, Stress, u. ä. mehr bedeuten, ist es nicht verwunderlich, daß ein körpereigenes Belohnungssystem
für die damit verbundenen Anstrengungen existiert, dem wir uns nun zuwenden wollen.
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Henrik Walter
DAS GEHIRN ALS ORGAN DER LIEBE
Eine Erläuterung von Gehirnmechanismen der Liebe und Lust stößt auf das
Problem, daß das Gehirn eines der komplexesten Systeme ist, das wir kennen. Es ist auf vielen Ebenen organisiert, deren Kenntnis man eigentlich
voraussetzen müßte, bevor man Erklärungen geben kann. Da wir in diesem
Rahmen nicht erst das Gehirn erklären können, müssen wir uns auf die
Erläuterung einiger weniger Grundannahmen beschränken.
Grob unterscheidet man das zentrale Nervensystem (Gehirn und Rükkenmark), das periphere Nervensystem (Nervenstränge) und das autonome
Nervensystem (spezielle, unwillkürliche neuronale Systeme, die unsere vegetativen Funktionen steuern, im Gehirn ihren Ursprung haben, oder in unseren Eingeweiden relativ autonom, d. h. unabhängig vom ZNS, aktiv sind).
Das Gehirn kann auf verschiedenen Organisationsebenen betrachtet werden: von grob anatomisch unterscheidbaren Hirnstrukturen, über Sinnessysteme (Geruch, Geschmack, visuelles System, etc.), neuronale Netzwerke,
hin zu Nervenzellkolumnen, einzelnen Neuronen bis hin zur Synapse, Neurotransmittern und Rezeptoren, d. h. zur Molekülebene. Zudem ist das Gehirn eng mit dem hormonellen System und dem Immunsystem verwoben.
Im Zentrum dieser Arbeit steht vor allem die Ebene der Moleküle, da sie
offenbar für Lust und Liebe eine entscheidende Rolle spielen (für eine
Übersicht vgl. Tab. 4).
Natürlich spielt für unser Liebesleben auch die Qualität und Intensität
unserer Sinne eine Rolle: Wir können uns auf einen Blick verlieben, der
Geruch anderer Menschen ist für unsere Sympathien von großer Bedeutung,
unser Gehör ist für erotische Stimulantia offen, und unser Tastsinn spielt in
unserem Liebesleben eine wichtige Rolle, wie die Bedeutung erogener Zonen klar macht. Doch auf diese Themen wird im Rahmen dieses Aufsatzes
nur eingegangen, insofern wir Kenntnis über spezifische Mechanismen auf
molekularer Ebene besitzen. Erst zum Schluß wird noch einmal ein großer
Sprung auf die Ebene makro-anatomischer Systeme des Gehirns gemacht,
da uns neue Techniken der funktionellen Bildgebung seit kurzem erlauben,
dem Gehirn auch bei Liebe und Sex zuzuschauen.
Die Vielzahl von Stoffen, die bei Liebe und Lust eine Rolle spielen, lassen sich nach Miketta & Tebel-Nagy (1996) grob in zwei Klassen einteilen:
zum einen in die „Bühnenarbeiter“, die die Voraussetzungen für Sexualität
und damit Liebe schaffen, d. h. die Sexualhormone; zum anderen in die
„Hauptdarsteller“, die aus anderen Substanzen wie PEA oder Oxytocin
bestehen. Eine wichtige Botschaft, die uns die Funktionen all dieser Substanzen vermitteln, ist, daß Sexualität mit Liebe einerseits und Eltern-Kindmit Partner-Liebe andererseits eng und fast untrennbar zusammenhängen.
Der Grund dafür ist schlicht und einfach, daß in all diesen Bereichen stets
die gleichen Bühnenarbeiter und Schauspieler mitspielen. Beginnen wir mit
der Bühnenarbeit.
Liebe und Lust
89
Neurotransmitter sind chemische Botenstoffe, die Signale zwischen Nervenzellen
übertragen. Diese synaptische Datenübertragung funktioniert schnell („elektronische
Post“). Mittlerweile kennt man mehr als 30 verschiedene Neurotransmitter. Neurotransmitter bestehen meist nur aus einem einzigen Molekül, einer Aminosäure. So
auch das für die Liebe wichtige Adrenalin und sein kleiner Bruder, das Noradrenalin.
Beide sind Neurotransmitter im (unwillkürlichen) sympathischen Nervensystem. Beide
Botenstoffe steigern blitzschnell die Herz-Kreislauf-Funktionen und versetzen den
Körper so in eine Art Alarmzustand. Weitere wichtige Neurotransmitter für Lust und
Liebe sind Dopamin und Serotonin. Dopamin gilt als das zentrale Belohnungshormon. Ein Mangel kann Parkinson, ein Überschuß Schizophrenie bewirken. In der
richtigen Konzentration sorgt Serotonin für innere Ausgeglichenheit, ein Mangel kann
Depression und Aggression bewirken.
Hormone sind chemische Botenstoffe, die von endokrinen Drüsen in die Blutbahn ausgeschüttet werden. Deshalb wirken sie langsamer als die Neurotransmitter
(„hormoneller Briefversand“). Die Steuerzentrale der Hormonregulation ist die 0.5 g
schwere Hypophyse, die wiederum über den Hypothalamus gesteuert wird (vgl. Abb.
1). Nur wenige Hormone produziert die Hypophyse selbst. Sie steuert jedoch die
Freisetzung von Sexualhormonen, die überwiegend in den Eierstöcken (Östrogene,
Progesteron) bzw. in den Hoden (Testosteron) gebildet werden. Ein geringerer Anteil
von allen Sexualhormonen wird sowohl bei Männern als auch bei Frauen in der
Nebenniere produziert. Adrenalin und Noradrenalin sind nicht nur Neurotransmitter,
sondern auch Hormone, die im Nebennierenmark produziert werden.
Sowohl Neurotransmitter als auch Hormone wirken über spezifische Rezeptoren. Daher bestimmt nicht allein die Konzentration der Botenstoffe, sondern auch die
Menge und Empfindlichkeit der jeweiligen Rezeptoren die Effekte von Neurotransmittern und Hormonen.
Neuropeptide bestehen aus einer Aneinanderreihung von relativ wenigen Aminosäuren. Sie wirken modulierend auf Neurotransmitter bei der synaptischen Übertragung, aber auch über die Blutbahn als Hormone. Wichtige Vertreter in der Liebesbrigade sind Oxytocin, Vasopressin und Prolaktin, die im Hypothalamus bzw. in der
Hypophyse gebildet werden.
Weitere Botenstoffe, die an der Regulation von Lust und Liebe beteiligt sind:
Neurotransmitter: Acetylcholin, Histamin, GABA (Gamma-Amino-Butter-Säure).
Steroidhormone: Kortison. Neuropeptide: ACTH (Adrenokortikales Hormon), a-MSH
und verwandte Peptide, opioide Peptide (Endorphine), LH (Luteinisierendes Hormon),
CRF (Corticotropin-releasing-factor), Neuropeptid Y, Galanine, Cholecystokinin,
Substanz P und andere Tachykinine, VIP (Vasoactive intenstinale peptide) und
Angiotensin II.
Tab. 4.: Moleküle der Gefühle
(nach Rauland 2001, Argiolas 1999, Meston & Frohlich 2000)
SEXUALHORMONE UND GESCHLECHTSROLLEN
Es gibt wohl kaum Punkte im Leben, in denen Menschen sich in so kurzer
Zeit so drastisch dauerhaft ändern wie in der Pubertät. Diese Änderungen
sind durch Modifikationen im Hormonhaushalt bedingt, d. h. vor allem
(aber nicht nur) der Sexualhormone Testosteron und Östrogen. Sexualhormone sorgen für die Ausprägung der sekundären Geschlechtsmerkmale, sie
90
Henrik Walter
steuern den Zyklus der Frau und sie regeln den Ablauf der Schwangerschaft.
Außerdem machen sie uns vom Kind zu Mann bzw. Frau und verändern
damit auch unser Denken entscheidend. Erst unter dem Einfluß der Sexualhormone beginnen wir, uns für Liebe und Sexualität zu interessieren und
unser Leben anders einzurichten. Sexualhormone beeinflussen unser Befinden jedoch auch über die Pubertät hinaus: Beschwerden in den Wechseljahren, wenn die Hormonproduktion versiegt, Stimmungsschwankungen während des Menstruationszyklus, Lustverlust durch die Antibabypille, Depression nach der Geburt. Glatzenbildung, Potenz und Aggression hängen mit
Testosteron zusammen, wenn auch in einer nicht immer einfach zu durchschauenden Weise.
Eigentlich beginnt alles jedoch noch viel früher. Sexualhormone können
nämlich ihre Effekte auf unsere Psyche nur dann entfalten, wenn das Gehirn auf die Flut der Hormone in der Pubertät vorbereitet ist. Im Prinzip
erfolgt die weibliche bzw. männliche Prägung des Gehirns nämlich schon
vor der Geburt. Und auch hier spielen die Sexualhormone die entscheidende
Rolle. In der Embryonalentwicklung wird das Gehirn zunächst weiblich
angelegt. Und so würde es auch bleiben, wenn nicht der Einfluß von Testosteron dafür sorgen würde, daß sich bei genetisch männlichen Individuen
das Gehirn im letzten Drittel der Schwangerschaft verändert. Bleibt die
Testosteronausschüttung in dieser kritischen Phase aus, z. B. durch hormonelle Störungen oder medikamentöse Einflüsse bei der Mutter, so entwickelt
sich auch bei genetischen Männern ein weibliches Gehirn. Kurioserweise ist
bei dieser Hirnprägung nicht das Testosteron selbst wirksam, sondern es
wird zuvor in Östrogen umgewandelt. Bei genetisch weiblichen Individuen
wird Testosteron deshalb nicht wirksam, da diese durch das Vorhandensein
eines Eiweißstoffes, des sogenannten Alpha-Fetoproteins, geschützt werden.
Die Hormoneinwirkung auf das fetale Gehirn hat auch Einfluß auf das
Paarungsverhalten. Einigen Theorien zufolge werden die Sexualpräferenz
(welches Geschlecht als Partner bevorzugt wird) und das Sexualverhalten
(eher „männliche“ oder „weibliche“ Sexualität) zu verschiedenen Zeitpunkten geprägt (Moir & Jessel 1989, 114-125).. Eine der sicher nachgewiesenen
Wirkungen der fetalen hormonalen Prägung besteht in der geschlechtsspezifischen Ausprägung der vorderen (präoptischen) Region des Hypothalamus:
Diese ist bei männlichen Individuen wesentlich größer und neuronenhaltiger
als bei weiblichen und ist für die Sexualorientierung und das Sexualverhalten
besonders bedeutsam, wie experimentelle Untersuchungen an Nagern bewiesen haben. Diese Hirnregion wird z. B. dann aktiv, wenn ein männliches
Tier sich einem potentiellen Partner nähert und mit ihm kopuliert. Sind
diese Neuronen zerstört, ist auch das Kopulationsverhalten stark beeinträchtigt. Allerdings zeigen die Männchen immer noch Interesse an den
Weibchen.
Liebe und Lust
91
Die Tatsache, daß das Sexualverhalten bei genetisch männlichen Individuen von einer zeitlich kritischen Einwirkung von Testosteron abhängt,
könnte erklären, warum die Neigung zur Homosexualität bei Männern häufiger vorkommt als bei Frauen. Bei der Entwicklung des weiblichen Gehirns
geht alles auch ohne Testosteron seinen normalen Gang. Beim männlichen
Gehirn gibt es dagegen viele Möglichkeiten, wie die zeitliche Abstimmung
der embryonalen Testosteroneinwirkung, d. h. die vorgeburtliche hormonelle Prägung anders als üblich verlaufen kann (Moir & Jessel 1989).1
Auch Streß kann die sexuelle Prägung beeinflussen: Ist eine Rattenmutter
gestreßt, so zeigen ihre genetisch männlichen Nachkommen im Durchschnitt weniger männliche Eigenschaften, sind häufiger homosexuell interessiert und zeigen mehr mütterliches Verhalten. Dies ist vermutlich dadurch
bedingt, das eine streßbedingte Vermehrung körpereigener Opiate (Endorphine) eine zeitlich verfrühte Ausschüttung von Testosteron bewirkt. Ob
diese Tiere tatsächlich homosexuell werden, hängt aber auch von ihren Lernerfahrungen ab. Werden die verweiblichten männlichen Nachkommen mit
sexuell aktiven Weibchen aufgezogen, entwickeln sie sich in der Regel doch
zu heterosexuell orientierten Männchen.
Nun kann man auch fragen, warum (und nicht: wie) Streßsituationen zu
einer höheren Ausprägung an Homosexualität führen. Mit anderen Worten:
Hat die Homosexualität einen tieferen naturgeschichtlichen Sinn? Oder ist
sie, wie manche Konservative gerne argumentieren, ein widernatürliches
Verhalten? Diese Frage bezieht sich auf ultimate Erklärungen – und für sie
existiert auch eine Antwort. Diese kommt aus der Soziobiologie. Mit Hilfe
der Homosexualität können sich Populationen an schwierige Lebensbedingungen anpassen. Aufgrund der engen physiologischen Verflechtung von
Brunst- und Brutpflegeverhalten zeigen homosexuell orientierte Männchen
auch vermehrt mütterliches Verhalten. Unter schwierigen Lebensbedingungen ist es vorteilhaft, wenn der ohnehin geringzahlige Nachwuchs gut versorgt wird. Und dies ist nicht nur von Vorteil für den Nachwuchs: Wie populationstheoretische Überlegungen verdeutlichen, hat der brutpflegende
Verwandte einen Vorteil davon: So wie Eltern 50% ihrer genetischen Ausstattung über ihre Kinder weitergeben, so gibt auch ein direkter Verwandter
25% seiner genetischen Ausstattung über seine Geschwister weiter. Dies
erklärt, warum Homosexualität evolutionär vorteilhaft sein kann, obwohl
dies auf den ersten Blick nicht möglich erscheint, da sich homosexuell orientierte Lebewesen im Regelfall nicht fortpflanzen. Vor allem erklärt es, warum sich Homosexualität in der Naturgeschichte erhalten hat: Schließlich
bringt sie, evolutionstheoretisch gesehen, auch Vorteile. Insofern kann nicht
1
Beim Menschen gibt es neuropathologische Hinweise bei an AIDS verstorbenen homosexuellen Männern, daß Homosexualität mit einer veränderten Größe hypothalamischer
(präoptischer) Kerngebiete zusammenhängen könnte (LeVay 1993).
92
Henrik Walter
behauptet werden, sie sei widernatürlich – ganz abgesehen von der trivialen
Tatsache, daß eine mögliche „Widernatürlichkeit“ eines Verhaltens, für sich
genommen, kein (moralisches) Argument gegen dieses Verhalten darstellt.
DIE ALCHEMIE VON LUST UND LIEBE – SEXUALHORMONE
UND PAARVERHALTEN
DHEA (Dehydroepiandrosteron) ist „die Mutter aller Hormone“, d. h. die
chemische Vorstufe der meisten anderen Geschlechtshormone.2 Es hat von
allen Hormonen sowohl bei Männern wie bei Frauen die höchste Konzentration, bei erwachsenen Männern etwa das 100 bis 500-fache von Testosteron. Im Gegensatz zu anderen Hormonen erreicht es schon im 25. Lebensjahr seinen Höhepunkt und fällt dann im weiteren Verlauf des Lebens kontinuierlich ab. In gewisser Weise teilt DHEA uns mit, wann wir zum Sex
bereit sind oder nicht. Falls Ergebnisse aus Tierstudien auch für uns gelten,
so ist DHEA am Geschlechtstrieb beteiligt, am Orgasmus und am SexAppeal. Orale Empfängnisverhütungsmittel senken den DHEA-Spiegel, was
Anlaß zu der Frage gibt, wie und warum diese eigentlich wirken. DHEA hat
auch vielfältige andere Wirkungen, so verbessert es kognitive Fähigkeiten,
schützt das Immunsystem, beugt Krebs vor, wirkt antidepressiv, bewirkt
Abbau von überflüssigen Fettsäuren, senkt den Cholesterinspiegel und fördert das Knochenwachstum. Daher ist es nicht verwunderlich, daß es in der
Medizin vielfältig eingesetzt wird und als Jungbrunnen gilt.
Die Wirkung von Testosteron auf unser Sexualverhalten ist nach einem
plastischen Vergleich von Crenshaw am ehesten mit dem jungen Marlon
Brando vergleichbar – erotisch, sinnlich, verführerisch, dunkel, aber mit gefährlichem Unterton. Testosteron ist, übrigens bei Männern wie Frauen, für
unseren aggressiven Geschlechtstrieb verantwortlich, der uns dazu bringt,
Sex zu suchen, die Initiative zu ergreifen und zu beherrschen. Es stimuliert
das Verlangen auch unmittelbar, vielleicht weil es den Dopamin-Spiegel
erhöht. Allerdings wirkt es, entgegen einer weit verbreiteten Meinung, mehr
auf den Trieb als auf die Potenz oder die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs. Testosteron ist auch unser „Kriegshormon“: Es löst Angriffslust,
Konkurrenzgefühle und sogar Gewalt aus. Es macht reizbar und risikobereit. Ohne Testosteron markiert ein Wolf weder sein Revier, noch greift er
Eindringlinge an. Und es ist, so läßt sich hier nahtlos anfügen, sicherlich
kein Zufall, warum junge Männer sehr viel leichter zu Gewalttaten und kriegerischen Tätigkeiten zu motivieren sind, als ältere Männer oder Frauen.
2
Einen Überblick über den Zusammenhang des neuroendokrinen Systems (des Systems
der inneren Drüsen) gibt Abb. 1.
Liebe und Lust
93
Testosteron wirkt als starkes Aphrodisiakum – für beide Geschlechter –
ist dabei aber seltsam widersprüchlich. Einerseits fördert es das Verlangen
nach Geschlechtsverkehr und Orgasmus, andererseits bewirkt es eine Reizbarkeit (insbesondere wenn es jäh in die Höhe schnellt) und Rücksichtslosigkeit, die einen für das andere Geschlecht unter Umständen gerade unattraktiv machen. Auf jeden Fall bewirkt es einerseits das Verlangen nach Sex,
anderseits aber auch das Bedürfnis, allein zu sein und sexuelle Situationen
vollkommen unter Kontrolle haben zu wollen. Deshalb fördert es nachgewiesenermaßen besonders die Masturbation oder Abenteuer für eine Nacht.
Abb. 1: Neuroendokrines System
(verändert nach Hülshoff 1999, 136)
Im Hypothalamus werden Freisetzungshormone (releasing hormones = RH) gebildet, die dazu führen,
daß Hormone aus dem Vorderlappen der Hypophyse freigesetzt werden, die auf innere Drüsen wirken
(ACTH = Adrenocorticotropes Hormon, FSH = Follikelstimulierendes Hormon, LH = Luteinisierendes
Hormon). Oxytocin (und Vasopressin, hier nicht gezeigt) werden im Hypothalamus gebildet und werden
einerseits in verschiedene Hirnareale ausgeschüttet, andererseits in den Hinterlappen der Hypophyse
transportiert und von dort ins Blut abgegeben. PEA = Phenylethylamin. In der Hypophyse werden noch
weitere, hier nicht gezeigte Hormone gebildet wie das TSH, STH und MSH.
Östrogen ist dagegen die „Marilyn Monroe“ der Hormone. Es ist verantwortlich für eine gewisse Weichheit, sowohl körperlich als auch seelisch,
und verstärkt die Anziehungskraft von Frauen auf Männer. Östrogen be-
94
Henrik Walter
wirkt das Wachstum der Brüste und stattet die Frau mit den grundlegenden
körperlichen Merkmalen des Sex-Appeals aus. Der Geruch und der Geruchssinn einer Frau stehen unter dem Einfluß von Östrogen. Wenn Östrogen am Werk ist, nimmt eine Frau ihren Partner in die Arme und sehnt sich
nach Penetration. Es steuert ihre Empfänglichkeit und läßt sie nachgiebig
gegenüber dem Mann werden, der, unter dem Einfluß von Testosteron
stehend, nicht anders kann, als ihr nachzustellen. Interessanterweise hat
Östrogen auch einen Einfluß auf kognitive Funktionen, wie etwa die räumliche Vorstellungskraft. Viele der kognitiven Unterschiede zwischen Männern
und Frauen sind davon abhängig, in welcher Phase des Menstruationszyklus
sich diese befinden. Oder, wie es der Kognitionspsychologe Güntürkün
(1999) einmal pointiert ausgedrückt hat: In der Regel denken Frauen anders.
Dies gilt im übrigen nicht nur für kognitive, sondern auch und gerade für
emotionale Funktionen, wie die Existenz des PMS (prämenstruelles Syndrom) zeigt.
Das Progesteron, das andere am weiblichen Menstruationszyklus beteiligte Hormon, ist ein natürlicher „Triebtöter“. Es läßt das sexuelle Verlangen erlöschen, in erster Linie, indem es, wiederum bei beiden Geschlechtern, Testosteron reduziert. Gestagen, das synthetische Progesteron wird
u. a. zur chemischen Kastration bei Triebtätern eingesetzt. Außerdem ist es
der Hauptwirkstoff der sogenannten Minipille. Vermutlich wirkt die Minipille vor allem auf eine Weise empfängnisverhütend, die ursprünglich nicht
vorgesehen war, nämlich durch Beendigung des sexuellen Interesses. Überdies verringert Progesteron bei Tieren positive sexuelle Geruchsstoffe (Pheromone) und kann sogar dazu führen, daß eine Frau für den männlichen
Geruchssinn abstoßend wirkt – was natürlich die Wahrscheinlichkeit einer
reizvollen Begegnung am Samstagabend stark herabsetzt.
Im Bereich des Brutpflegeverhaltens wirkt Progesteron paradox. Einerseits macht es – ähnlich wie Testosteron – Weibchen reizbar und aggressiv.
Andererseits ist es am mütterlichen Reflex, den Nachwuchs zu schützen,
wesentlich beteiligt. Doch bei näherem Hinsehen (aus ultimater Perspektive)
sind diese Wirkungen zusammengenommen gar nicht so „unsinnig“. Im
Tierreich greifen Männchen oft ihre Jungen an und fressen sie mitunter
sogar auf. Daher ist es sinnvoll, daß Weibchen ihre Jungen gegen männliche
Artgenossen, die ja potentielle Sexualpartner sind, aggressiv verteidigen. Zu
diesem Zweck ist es natürlich hilfreich, wenn gleichzeitig ihr sexuelles Verlangen drastisch reduziert ist.
Auch Pheromone sind Derivate des DHEA. Sie sind Lockstoffe, sexuelle Signale, die über den Geruch von einem Individuum zum anderen weitergeleitet werden. Bei Tieren steuern Pheromone die Balz und die Paarung
in ganz entscheidender Weise. Beim Menschen sind visuelle Signale vermutlich wirksamer als Geruchssignale. Aber auch beim Menschen beeinflussen
Pheromone durch unterschwellige Wirkungen auf das sexuelle Geruchs-
Liebe und Lust
95
empfinden möglicherweise die Wahl des Partners (Rauland 2001). Die Düfte, die hier eine Rolle spielen, werden vor allem über den Schweiß abgesondert. Männlicher Schweiß enthält das moschusartig duftende Androstenon
oder das eher nach Urin riechende Androstenol in sechsfach höherer Konzentration als Frauenschweiß. Daher riechen Männer auch strenger. Allerdings heißt dies nicht, das verschwitzte Männer besonders attraktiv sind. Im
Gegenteil: Eigentlich wirkt dieser Duft in hohen Konzentration eher abstoßend. Allerdings ändert sich die Empfindlichkeit der Frauennase in Abhängigkeit vom Zyklus. Sind sie kurz vor dem Eisprung, wird dieser Duft nicht
als so unangenehm empfunden. Fehlen die männlichen Ausdünstungen in
der Umgebungsluft, wie etwa in Internaten und Klöstern, haben die Frauen
ihre erste Menstruation später und seltener einen Eisprung.
Frauen strömen hauptsächlich über ihre Vagina sogenannte Kopuline
aus, einen Geruchscocktail aus verschiedenen Fettsäuren. Diese wirken
anziehend auf Männer vor allem dann, wenn die Frau kurz vor dem Eisprung steht. Zugleich erhöhen Kopuline die Ausschüttung von Testosteron
beim Mann. All diese Mechanismen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, daß es
zur Paarung dann kommt, wenn die Frau empfängnisbereit ist.
Die (unbewußte) Attraktionskraft von Androstenon und Kopulinen auf
das jeweils andere Geschlecht läßt sich direkt nachweisen. Dies zeigen psychologische Experimente, bei denen Stühle in einem leeren Raum mit
menschlichen Pheromonen ausgezeichnet waren: z. B. durch die Befestigung eines benutzten Tampons unter einem Stuhl oder durch das Einsprühen von Stühlen mit Androstenon. Es zeigte sich, daß Männer und Frauen,
ohne daß sie dies wußten, beim Betreten eines leeren Raumes mit mehreren
Stühlen genau diese bevorzugten, die mit Lockstoffen imprägniert waren.
Tatsächlich gibt es sogar ein Organ für diesen sechsten Sinn, das sogenannte Nasovomeral-Organ (Rauland 2001). Dabei handelt es sich um eine
0,2 bis 2 mm große Struktur, die in der Nasenscheidewand unten auf dem
Boden der Nase sitzt und die eng mit dem Hypothalamus, der Produktionsstätte vieler Hormone, verbunden ist. Die Reichweite der Pheromone ist
allerdings auf wenige Zentimeter begrenzt, so daß sie erst dann richtig wirksam werden, wenn potentielle Partner sich körperlich näherkommen. Interessanterweise gibt es abgesehen von den Achselhöhlen noch eine andere
Region, die pheromonreich ist: Dies ist der Ort zwischen den Nasenflügeln
und unserem Mund, die Stelle also, der wir beim Küssen mit unserer Nase
besonders nahe kommen. Der Kuß, so Rauland, wird somit auch „nasentechnisch“ zu einem angenehmen und elektrisierenden Erlebnis. Damit
bewegen wir uns von der Sexualität mehr in Richtung Liebe. Und an dieser
Stelle müssen wir ein Molekül besprechen, das einen außerordentlichen Ruf
als Liebemolekül erlangt hat. Was hat es damit auf sich?
96
Henrik Walter
DAS „LIEBESMOLEKÜL“ PEA
PEA (Phenylethylamin) wurde mit der romantischen Liebe in Verbindung
gebracht, genauer gesagt, mit dem Phänomen der Verliebtheit. Wenn Sie auf
Wolken schweben, laut singen und euphorisch verliebt sind, dann ist wahrscheinlich PEA am Werk. PEA ist eine natürliche amphetaminähnliche
Substanz – eine pflanzliche amphetaminähnliche Substanz ist das Kokain!
PEA ist in Schokolade, im Blut von Verliebten und Diätgetränken enthalten.
Ein niedriger PEA-Spiegel oder ein jähes Absinken seiner Konzentration
könnte eine Erklärung für Liebeskummer sein.
Entdeckt wurde PEA in den sechziger Jahren. Bei Ratten bewirkt die
Gabe von PEA, daß sie vergnügt hin und herspringen und lauthals quieken,
was von den Forschern als Popcorn-Verhalten bezeichnet wurde. RhesusAffen begeistern sich in Vergnügungsschreien oder Glücksrufen und
schmatzen mit den Lippen. Sie fühlen sich sichtlich wohl. Doch bekannt als
Liebesmolekül wurde PEA erst später. Im Jahre 1979 veröffentlichten die
beiden New Yorker Psychiater Michael Liebowitz und Donald Klein eine
Studie über Liebessüchtige, in der Mehrzahl Frauen. Sie vermuteten als Ursache eine Störung des PEA-Stoffwechsels. Der zu niedrige PEA-Spiegel, so
die These, ließ die Patienten wie Süchtige immer wieder nach dem neuen
PEA-Kick gieren. Richtig populär wurde diese These, als Liebowitz 1983
sein Buch The Chemistry of Love veröffentlichte. Plötzlich schien das Phänomen Verliebtsein reduzierbar auf ein einziges Molekül. Wie aufregend!
Durch die Gabe spezieller Antidepressiva (MAO-Hemmer) ist es möglich,
die Konzentration von PEA zu erhöhen. Liebowitz behandelte einige seiner
Liebessuchtpatienten mit MAO-Hemmern und in der Tat begann zum Beispiel ein Mann, seine Partnerinnen sorgfältiger auszuwählen und weniger
unter dem suchtähnlichen Phänomen zu leiden. Vorher hatte ihm keine
Verhaltens- und Gesprächstherapie helfen können.
PEA ist, wie oben schon erwähnt, unter anderem in Schokolade enthalten. Immer wieder wird behauptet, daß man bei Liebeskummer dem süßen
Genuß von Schokolade frönt, um den PEA-Spiegel anzuheben. Dies leuchtet unmittelbar ein. Diese These hat nur einen Schönheitsfehler: PEA in der
Schokolade gelangt überhaupt nicht ins Gehirn. Wahrscheinlich beschränkt
sich der beruhigende Effekt von Schokolade daher auf den Magen und den
Darm. Auch wird PEA nicht nur mit positiven Effekten in Verbindung
gebracht. So konnte eine erhöhte Ausschüttung von PEA in Phasen hohen
Stresses nachgewiesen werden, nämlich bei Ehepaaren in Scheidung und bei
Fallschirmspringern.
Was ist also von PEA in Bezug auf Lust und Liebe zu halten? Nun, es
gibt, wie geschildert, klare Evidenzen für eine Rolle des PEAs beim Phänomen des Liebeskicks. Kritisch anzumerken ist jedoch, daß einige dieser Evidenzen auch anders erklärt werden können, so etwa die Wirkung von Anti-
Liebe und Lust
97
depressiva auf Liebessüchtige. Zudem gibt es trotz vieler Spekulationen zur
Zeit keinen Nachweis von PEA-Rezeptoren im Gehirn. Auch gibt es wenig
Wissen über die Wechselwirkung von PEA mit anderen Liebesmolekülen.
Dies ist ganz anders bei den zuvor geschilderten Hormonen, über die man
sehr viel mehr weiß. Insofern muß man die Rolle des PEAs relativieren.
Einige der Liebeskickphänomene lassen sich auch ohne PEA erklären, etwa
über die ACTH-vemittelte Freisetzung von Cortison und Adrenalin, wie es
Miketta und Tebel-Nagy ausgeführt haben. Der Adrenalinstoß, dem wir uns
bei Begegnungen mit unserem Objekt der Begierde ausgesetzt sehen, kann
viel vom Liebeskick – das Herzklopfen, die Aufregung, die schweißnassen
Hände – erklären. Die adrenalinvermittelte Erregung kann dabei nicht nur
Teil der Verliebtheit sein, sondern auch erst dazu führen; dies zeigten sozialpsychologische Experimente der sechziger Jahre, die die Grundlage für die
Zwei-Faktoren-Theorie der Emotion waren (Emotion = unspezifische physiologische Erregung plus spezifischer Inhalt). Wenn sich zwei Menschen
gemeinsam in einer Situation befinden, die eine allgemeine Erregung hervorruft (z. B. Stehen auf einer schwindelerregenden Hängebrücke) so führt das
zu einer höheren gegenseitigen Attraktivitätseinschätzung. Nicht umsonst
verlieben sich in vielen Filmen die Protagonisten in gemeinsam durchlittenen gefährlichen Situationen ineinander.
Allerdings kann es genauso gut sein, daß man in Zukunft weitere und
bessere Evidenzen über die Rolle von PEA beim Verliebtsein entdecken
kann. Was sich jedenfalls festhalten läßt, ist, daß ein so komplexes Phänomen wie Verliebtheit – von der Liebe ganz zu schweigen – mit Sicherheit
nicht auf ein einziges Molekül zurückgeführt werden kann. Dies wäre genauso falsch, wie die Schizophrenie mit nichts anderem als einem DopaminMangel und die Depression mit einem Serotonin-Mangel zu identifizieren,
oder Schmerzen ausschließlich mit der Erregung von C-Fasern. Solche verkürzenden Aussagen müssen eher unserem verständlichen Drang nach Vereinfachung zugeschrieben werden oder dem Wunsch, durch provozierende
Thesen Popularität zu gewinnen.
Wie Miketta und Tebel-Nagy schreiben, gebührt Liebowitz und Klein
trotz allem ein großes Verdienst. Sie haben Anfang der achtziger Jahre die
Neurochemie der Liebe zu einem Forschungsgebiet erhoben und eine kontroverse Diskussion in Gang gesetzt. Auch wenn wir Verliebtsein oder Liebe nicht auf die Wirkung eines Moleküls reduzieren können, folgt daraus
keineswegs, daß wir Lust und Liebe nicht durch ein komplexes Zusammenspiel einer Vielzahl von Molekülen zu wesentlichen Teilen erklären könnten.
Zu dieser Erklärung gehören unbedingt das Verständnis weiterer Moleküle
und ihrer Wirkungen, die die enge Verbindung von Elternliebe und Partnerliebe aufzeigen. Ihnen wollen wir uns nun zuwenden.
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Henrik Walter
BINDUNGSMOLEKÜLE
Unter Bindungsmolekülen sollen hier Moleküle verstanden werden, die
sowohl bei der Mutter-Kind-Beziehung als auch bei Frau-Mann-Beziehungen von Relevanz sind. Prolaktin ist ein „sanftes“ Hormon, das wie der
Name schon andeutet, vor allem dazu dient, die Milchproduktion bei Müttern in Gang zu setzen. Wenn der Prolaktin-Spiegel ansteigt, nimmt der
Geschlechtstrieb ab. Wenn es bei Männern zu einer abnorm hohen Prolaktin-Konzentration kommt, verlieren sie ihren Sexualtrieb und werden impotent. Diese Entwicklung ist nach Normalisierung des Prolatkin-Spiegels
reversibel. Dopamin steigert indirekt das sexuelle Verlangen, indem es Prolaktin hemmt. Umgekehrt können bestimmte Dopamin-Hemmer, wie sie
etwa bei der Behandlung der Schizophrenie eingesetzt werden, zu einem
Prolaktin-Anstieg führen, der als ungewünschte Nebenwirkung zu Libidoverlust und – bei Frauen – zu einer Milchsekretion führt. Östrogen erhöht
die Prolaktin-Ausschüttung nach und nach und mindert daher den aggressiven Geschlechtstrieb, so daß das rezeptive Verlangen bei der Frau überwiegt.
Die Wirkung des Prolaktins erscheint aus evolutionärer Perspektive
sinnvoll. Prolaktin selbst hält einerseits die Milchproduktion in Gang. Andererseits ist es so, daß das Saugen des Babies den Prolaktin-Wert auf das bis
um Zehnfache erhöht. Bei Frauen, die ihr Kind regelmäßig stillen, verändert
sich der Prolaktin-Spiegel – und damit ihr sexuelles Verlangen – erheblich.
Es ist eine geradezu „weise“ Einrichtung der Natur, daß junge Mütter erst
wieder ein Kind empfangen können, wenn das vorhergehende abgestillt ist.
Was könnte eine Mutter besser vor einer erneuten Schwangerschaft schützen als eine verringerte Libido, oder, falls das noch nicht ausreicht, die Unterbindung des Eisprungs? Diese Wirkung hat Prolaktin. Prolaktin spielt
auch beim Geschlechtsakt eine Rolle, indem es nach dem Orgasmus jäh und
steil ansteigt. Vermutlich ist es für die reduzierte bzw. fehlende Lust nach
dem Orgasmus verantwortlich.
Das Wissen um solche Zusammenhänge kann für viele Beziehungen von
höchster praktischer Relevanz sein. Viele Paare, insbesondere nach Geburt
ihres ersten Kindes, leiden darunter, daß sich mit dem Kind nicht nur das
Leben im Allgemeinen, sondern auch das Sexualleben im besonderen stark
verändert. Dies hat keineswegs nur mit der neuen sozialen Rolle der Mutter
zu tun, sondern ist – bei stillenden Müttern – eine direkte Konsequenz proximater Mechanismen: Je intensiver eine Frau stillt, desto höher ihr Prolaktin-Spiegel und desto geringer ihre Libido. Wichtig dabei ist zusätzlich zu
wissen, daß Prolaktin lediglich die initiale Phase des Sexualverhaltens beeinträchtigt, die Libido. Die sinnliche Genußfähigkeit und die Orgasmusfähigkeit werden durch Prolaktin dagegen nicht beeinträchtigt.
Liebe und Lust
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Zwei Hormone, die viel mit der Entwicklung der emotionalen Bindung
zwischen Mutter und Kind, sowie zwischen Mann und Frau zu tun haben,
sind Oxytocin und Vasopressin. Als Kurzcharakterisierung benutzt
Crenshaw die Stichworte „hormoneller Superkleber“ (Oxytocin) und „Monogamiemolekül“ (Vasopressin). Miketta spricht ganz ähnlich und ebenfalls
sehr passend vom „Kuschelhormon“ bzw. „Treuehormon“. Beide Hormone sind Polypeptide, die aus neun Aminosäuren bestehen und sehr eng miteinander verwandt sind (sie unterscheiden sich nur durch zwei Aminosäuren). Wie so viele der nützlichen und wichtigen Moleküle unseres Seelenlebens (z. B. das Serotonin), sind diese entwicklungsgeschichtlich uralt und
kommen schon bei einfachen Organismen vor. Beide sind in der Medizin
schon länger bekannt und werden therapeutisch genutzt. So wird Oxytocin
zur Weheneinleitung in der Geburtshilfe eingesetzt, Vasopressin dient der
Regulierung des Wasserhaushaltes und des Durstes und kann als Nasenspray gegeben werden, um eine Form des Diabetes, der mit starkem Wasserverlust einhergeht (Diabetes insipidus), zu behandeln. Doch das Wissen um
ihre Rolle für das Sexualverhalten und den Aufbau menschlicher Bindungen
ist jünger und noch längst nicht so verbreitet.
Oxytocin ist ein gutes Beispiel dafür, daß ein evolutionär altes Molekül in
den proximaten Mechanismen sowohl der Brutpflege als auch der Brunst
eine wesentliche Rolle spielt. So wirkt es bei Frauen in verschiedenen Phasen der Mutterschaft: Während der Geburt sorgt es z. B. dafür, daß sich der
Uterus zusammenzieht. Deswegen wird es als Wehenmittel eingesetzt. Allerdings zeigt sich hier, wie wichtig die genaue zeitliche Feinabstimmung für
seine Wirkung ist: Oxytocin wird in Kernen des Hypothalamus produziert,
in die Hypophyse transportiert und dort in die Blutbahn abgegeben. Es wird
innerhalb weniger Minuten abgebaut. Die Freisetzung erfolgt allerdings
nicht kontinuierlich, sondern pulsatil, d. h. in Schüben. Deshalb wirkt Oxytocin auch als Wehenmittel besser, wenn man es schubförmig verabreicht.
Nach der Geburt spielt Oxytocin eine Rolle beim Stillen. Das Saugen des
Säuglings (!) bewirkt eine Oxitocin-Freisetzung, diese wiederum einen erhöhten Milchfluß. Doch Oxytocin hat beim Stillen nicht nur mechanische
Wirkungen (Milchfreisetzung), sondern wirkt auch auf die Stimmung der
Mutter: Es verschafft angenehme, manchmal nahezu lustvolle Gefühle.
Viele Frauen berichten, daß Stillen sie beruhigt und in gewissem Sinne erotisierend auf sie wirkt. Diese emotionale Wirkung schafft vor allem eines: Sie
verstärkt die emotionale Bindung von der Mutter an ihr Kind.
Die positive Wirkung von Oxytocin auf Brutpflegeverhalten läßt sich im
Tierversuch experimentell demonstrieren: Spritzt man einer jungfräulichen
Ratte das Hormon in eine bestimmte Hirnregion, leckt sie sofort fürsorglich
neugeborene Ratten ab. Ohne Oxytocin würde sie die Kleinen gar nicht
beachten, sondern unter Umständen sogar töten. Auch bei Männchen bewirken solche Injektionen, daß sie sich viel zärtlicher um ihre Jungen küm-
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Henrik Walter
mern, das Nest sorgfältiger bauen und die Jungen selbstlos beschützen. Bei
Schafen ist Oxytocin an der Prägung von Mutterschafen auf ihr Junges beteiligt. Wenn Schafe mit Oxytocin-Hemmern behandelt werden, kümmern
sie sich nicht um ihre Lämmer. Die Gabe von Oxytocin führt dagegen zu
mütterlichem Verhalten. Wenn einem Schaf ein neugeborenes Lamm als
Pflegekind vermittelt werden soll, so geht dies relativ einfach: Es muß in
Kontakt mit dem Lamm gebracht werden bei gleichzeitiger Stimulation der
Vagina (die zu einer Oxytocin-Ausschüttung führt). Dies ist australischen
Schafzüchtern schon seit Generationen bekannt.
Doch Oxytocin (und Vasopressin) wirken auch auf das Partnerverhalten.
So wurde bei männlichen menschlichen Versuchspersonen der Plasmalevel
von Vasopressin und Oxytocin während sexueller Aktivitäten gemessen
(Murphy et al. 1987). In Phasen sexueller Erregung zeigte sich ein deutlicher
Gipfel des Vasopressin-Spiegels (ein erhöhter Vasopressin-Spiegel geht
durch seine Kopplungen mit Testosteron auch mit erhöhter Aggressivität
einher.) Vor der Ejakulation fällt der Vasopressin-Spiegel ab und während
der Ejakulation zeigt sich ein Oxytocin-Peak. Wird Männern vor der Ejakulation ein Oxytocin-Hemmer verabreicht (der die Wirkungen des Oxytocin
neutralisiert) so ist der Orgasmus zwar noch möglich, aber deutlich weniger
lustvoll. Bei Frauen steigt der Oxytocin-Spiegel während des Orgasmus
ebenfalls an und führt zu den typischen muskulären Kontraktionen des
Uterus während des weiblichen Orgasmus.
Die sexuell stimulierende Wirkung von Oxytocin ist bei Tieren gut beschrieben. So erhöht seine Gabe die Paarungsbereitschaft und die entsprechenden Aktivitäten sowohl bei Weibchen wie bei Männchen. Vermutlich
ist es aber auf das Zusammenspiel mit Testosteron angewiesen, da Oxytocin
diese Wirkungen bei kastrierten Männchen nicht zeigt. Auch beim Menschen ist die sexuell stimulierende Wirkung von Oxytocin beschrieben. Bei
Forschungen zu den kognitiven Wirkungen von nasal appliziertem Oxytocin
zeigte sich, daß bei Männern eine Nebenwirkung auftrat, nämlich ungewollte Erektionen. Oxytocin wird öfter auch als Orgasmushormon bezeichnet.
Die beim Orgasmus freigesetzten hohen Oxytocindosen bewirken übrigens
eine Entspannung und Müdigkeit – hohe künstlich zugeführte Dosen lösen
einen Gähnreflex aus. Ist Oxytocin so etwas wie die „chemische Zigarette
danach“? Auf jeden Fall ist es vermutlich am Gefühl der engen persönlichen
Verbundenheit nach einer befriedigenden sexuellen Begegnung beteiligt, so
ähnlich, wie es die Bindung zwischen stillender Mutter und ihrem Säugling
verstärkt. Es ist nachgewiesen worden, das Oxytocin auch durch Zärtlichkeit gesteigert werden kann. Die moderate Ausübung taktiler Reizung auf
das Hautorgan in rhythmischen Abständen, mit anderen Worten: das Streicheln, bewirkt eine Freisetzung von Oxytocin und führt zu einer Beruhigung und einem Wohlgefühl, das die Bindung der beteiligten Personen verstärkt.
Liebe und Lust
101
Oxytocin und Vasopressin haben auch Wirkungen auf das Sozialverhalten gegenüber Partnern. Dafür existiert ein Tiermodell, das deshalb interessant ist, da es aus zwei Spezies besteht, die sich sehr ähnlich sind, sich aber
im Sozial- und Bindungsverhalten drastisch unterscheiden (Carter et al.
1999). Es handelt sich um zwei Arten der Lemminge, nämlich die Präriewühlmaus aus Illinois und die Bergwühlmaus aus Wyoming. Die plakative
Story dazu lautet: Die Präriewühlmaus ist monogam, die Bergwühlmaus
nicht. Und dies, so die Botschaft für die Regenbogenpresse, sei allein durch
das „Monogamiemolekül“ Vasopressin bedingt.
Doch ganz so simpel ist die Sache natürlich nicht. Monogamie ist, auch
bei Tieren, immer eine relative Sache. Ungefähr drei Prozent der Säugetierarten sind monogam. Unter Monogamie versteht man in der Ethologie eine
Form des Sozialverhaltens, das charakterisiert ist durch Paarbindung (die
selektiv, d. h. auf ein Individuum bezogen ist), elterliche Fürsorge und Nestverteidigung. Auch monogame Tiere gehen öfters „fremd“, wie genetische
Untersuchungen nachgewiesen haben. Die Wühlmäuse sind aus zwei Gründen ein interessantes Studienobjekt: Zum einen gewöhnen sich wilde
Wühlmäuse relativ leicht an die Gefangenschaft, so daß es möglich ist, mit
ihnen quantitative Versuche zum Sozialverhalten durchzuführen. Zum anderen existieren zwei Arten mit deutlichen Unterschieden bezüglich der
Monogamie bei sonst sehr starker Ähnlichkeit. Die Präriewühlmaus verbringt nach der ersten Kopulation mit ihrem Partner viel Zeit; sie sitzen
häufig aneinandergeschmiegt herum, sie verteidigen ihr Nest gegen fremde
Eindringlinge gemeinsam und das Männchen hilft fleißig beim Nestbau und
der Jungenaufzucht. Beim Tod des Partners sucht die Präriewühlmaus nur
höchst selten einen neuen Partner. Ganz anders die Bergwühlmäuse: Sie
teilen nicht ihr Nest, leben nicht in einem sozialen Verband, suchen kaum
Körperkontakt und zeigen überhaupt keine Partnerpräferenz.
Man wunderte sich schon lange, daß man die Präriewühlmäuse meist nur
in Paaren fing. Die Tiere entwickeln ihre Partnerbindung nach der ersten
Kopulation. Trennt man die Tiere künstlich, so behalten sie eine Vorliebe
für Ihren Partner fast eine Woche lang. Nach etwa 15 Tagen ist diese besondere Anhänglichkeit des Paares allerdings gelöscht. Was sind die zugrundeliegenden Mechanismen dieses Verhaltens? Wie man herausfand, spielen
hierbei die Bindungshormone eine entscheidende Rolle, wobei Vasopressin
vor allem bei Männchen, Oxytocin vor allem bei Weibchen beteiligt ist.
Wenn es bei Präriewühlmäusen zur Kopulation kommt – in der Regel
etwa 100 Kopulationen in 36 Stunden –, wird das Gehirn des Männchens
mit Vasopressin überflutet. Daraufhin fängt es an, sein Weibchen bzw. das
Nest zu verteidigen, bleibt seiner „Gattin“ treu, kümmert sich um die Jungen und ist ausgesprochen aggressiv gegen fremde Männchen. Bei der Bergwühlmaus findet sich dieses Verhalten nicht. Autoradiographische Studien
zeigen völlig unterschiedliche Verteilungen der Vasopressin-Rezeptoren bei
102
Henrik Walter
beiden Arten. Außerdem läßt sich das postkoitale monogame Verhalten der
Präriewühlmaus durch Gabe eines Vasopressin-Blockers in das Gehirn vor
der Kopulation verhindern. Wie erzeugt Vasopressin diese Effekte? Nun,
zum einen bewirken Vasopressin-Infusionen auch bei „jungfräulichen“
Tieren aggressives Verhalten, was die Nestverteidigung und die Aggression
gegen Nebenbuhler erklärt (gegenüber Jungen wird ein Vasopressininfundiertes Männchen jedoch nicht aggressiv). Zum anderen ist Vasopressin bekannt für seine positive Wirkung auf das Gedächtnis. Dies könnte
dazu führen, daß das Männchen seine „Gattin“ und seine Jungen besser
geruchlich erkennen und sich an sie erinnern kann. Diese Erklärung, wenn
sie denn zutrifft, zeigt sehr schön, wie sich ein komplexes Verhalten („Monogamie“) dadurch erklären läßt, daß neurochemische Änderungen, Verhaltenskomponenten beeinflussen, aus denen sich das komplexere Verhalten
zusammensetzt.
Beim Weibchen übernimmt offenbar das Oxytocin die Hauptrolle. Hier
zeigt sich, daß eine Blockade des Oxytocins zu einer Aufhebung der Partnerpräferenz führt (ohne Beeinflussung des Kopulationsverhaltens). Auch
hier zeigen Prärie- und Bergwühlmäuse ein unterschiedliches Rezeptorprofil.
Bei Präriewühlmäusen kommt es unter anderem zu einer höheren Rezeptorkonzentration im Nucleus accumbens, dem Belohungszentrums des Gehirns. Dies kann so interpretiert werden, daß das Weibchen dem Männchen
deshalb treu bleibt, weil es durch die Kopulation belohnt wurde, sich dies
merkt und mehr davon haben möchte.
Die Wirkungen der Bindungshormone sind vermutlich nur im Zusammenspiel mit der Kaskade anderer Hormone und Transmitter zu verstehen.
So hängt die Aggressivität bei der Nestverteidigung einerseits mit dem Testosteron zusammen, andererseits weiß man, daß Prolaktin dabei ebenfalls
eine Rolle spielt. Das Streßhormon Corticol wirkt ebenfalls auf das
Bindungsverhalten der Wühlmäuse, allerdings in unterschiedlicher Weise bei
den Geschlechtern. Zur Zeit arbeiten die Forscher daran, die genetische
Regulation dieser Hormone zu untersuchen. So wurde ein Gen mit dem
Rezeptor, der Vasopressin bindet, von monogamen Präriemäusen auf Labormäuse verpflanzt. Wenn man diesen Mäusen Vasopressin injiziert, zeigen sie vermehrt gesellige Verhaltensweisen (Young et al. 1999). Da sich die
Genfamilie, die Vasopressin und Oxytocin umfaßt, bei allen Säugetieren und
Vögeln nachweisen läßt, ist es wahrscheinlich, daß diese auch bei Primaten
und auch beim Menschen eine Rolle bei Bindungsphänomenen spielt. Zur
Zeit wird dies experimentell bei nicht-menschlichen Primaten untersucht.
Die Bedeutung des Oxytocins für Bindungsverhalten beim Menschen kann
als gesichertes Wissen gelten. Doch erst zukünftige Forschungen werden
weitere Klärungen darüber liefern können, worin beim Menschen die Zusammenhänge zwischen Sexualverhalten, Kindesliebe und Partnerliebe im
einzelnen liegen.
Liebe und Lust
103
Im Bereich der Sexualität und der Bindung sind noch weitere Überträgerstoffe an der Verhaltensregulation beteiligt, wie z. B. die körpereigenen
Opiate, das Stickstoffoxid, die klassischen Neurotransmitter und weitere
Neuropeptide. Auf sie kann hier nicht alle eingegangen, sondern nur auf die
Literatur verwiesen werden (Argiolas 1999, Meston & Frohlich 2000). Schon
jetzt sollte aber klar geworden sein, daß sich sowohl Sexualität als auch emotionale Zuneigung (von der Mutter-Kind- bis hin zur Partnerbindung) ganz
ähnlicher proximater Mechanismen bedienen, die eine gute Erklärungsgrundlage für viele Phänomene in diesen Bereichen bieten.
LIEBE ZWISCHEN DEN OHREN
Dieser Artikel begann mit psychologischen Betrachtungsweisen der Liebe
und endete (vorerst) bei den Molekülen der Gefühle. Von der Psychologie
zu den Molekülen ist es allerdings ein weiter Weg. Dazwischen liegen eine
Reihe von intermediären Organisationsebenen des Gehirns. Eine neue Methode, Gehirnfunktionen auf einer gröberen Auflösungsebene beim Menschen direkt und nicht-invasiv zu erforschen, sind die Methoden der funktionellen Bildgebung (vgl. Erk & Walter, in diesem Band). Zunächst wurden
diese Techniken hauptsächlich für Untersuchungen kognitiver Funktionen
wie z. B. Wahrnehmung, Gedächtnis oder Sprache eingesetzt. Erst seit kurzem werden auch emotionale Funktionen erforscht und inzwischen existieren erste Arbeiten zu funktionellen Gehirnaktivierungen bei der Präsentation sexueller Stimuli oder während des Orgasmus (vgl. z. B. Redoute et al.
2000).
Im Jahr 2001 wurde die erste fMRT-Studie zu den neuronalen Grundlagen der romantischen Liebe veröffentlicht (Bartels & Zeki 2001). Per e-mail
forderten die Autoren tausend Studenten aus London und Umgebung auf,
sich zu melden, wenn sie sich „wahrhaft, wahnsinnig und tief“ verliebt fühlten. Sie erhielten ca. 70 Antworten, drei Viertel davon kamen von Frauen.
Nach ausführlichen Interviews suchten die Autoren insgesamt elf weibliche
und sechs männliche Probanden aus elf verschiedenen Nationalitäten aus.
Interessanterweise war keiner der Teilnehmer frisch verliebt – alle liebten
ihre Partner seit mindestens zwei Jahren. Auf einem Testbogen, der in einer
früheren Studie verwendet worden war, erreichten die Teilnehmer höhere
„Liebeswerte“ als die „Besten“ der früheren Studie und in einem Vorversuch zeigte sich, daß ein Foto des Partners die Teilnehmer buchstäblich zum
Schwitzen brachte: Der Anblick des Fotos bewirkte einen Anstieg der galvanischen Hautantwort, ein Test, der auch beim Lügendetektor eingesetzt
wird. Es handelt sich also wirklich um „schwere Fälle“.
104
Henrik Walter
Die Präsentation des Fotos war auch der entscheidende Stimulus, während dessen die Hirnaktivität der Liebenden im fMRT untersucht werden
sollte. Als Kontrollbedingung dienten Fotos von Mitstudenten, die sich von
Alter, Geschlecht und an Äußerlichkeiten (für andere) nicht von dem geliebten Partner unterschieden. Wenn die Teilnehmer im Scanner lagen, ein Foto
ihres Partners sahen und dabei liebevoll an ihn dachten, zeigte sich Aktivität
in vier kleinen, voneinander getrennten Arealen des Gehirns im Vergleich
zur Kontrollbedingung, d. h. den Fotos von Kommilitonen. Alle vier Bereiche gehörten zum limbischen System. So fanden sich Aktivierungen im
cingulären Kortex, im Insellappen und in den Basalganglien (Nucleus caudatus und Putamen). Über die Funktionen dieser Areale im Rahmen romantischer Gefühle läßt sich nur spekulieren, allerdings fundiert: Der cinguläre
Kortex etwa ist am Erkennen der Gefühle anderer beteiligt, eine bei der
Liebe wesentliche Funktion. Im Bereich der Insel werden Signale aus dem
Vegetativum (Magen-Darm-Trakt) verarbeitet. Die Schmetterlinge im Bauch
bei Verliebten finden dadurch eine neuronale Erklärung. Außerdem zeigen
andere Untersuchungen, daß die Insel um so aktiver ist, je attraktiver Gesichter eingeschätzt werden. Interessanterweise zeigten sich gleichzeitig
deutliche Deaktivierungen in Bereichen, die mit negativen Emotionen (und
damit mit Abwendung im allgemeinen) in Verbindung gebracht werden, so
etwa im Bereich des rechten präfrontalen Kortex, der bei Trauer und Depression beteiligt ist, sowie der Amygdala, die insbesondere bei der Angstverarbeitung eine zentrale Rolle spielt.
Im Vergleich zu unserem Wissen über hormonelle und neurochemische
Mechanismen sind die Ergebnisse funktionell bildgebender Untersuchungen
noch sehr spärlich. Doch steht diese Forschung auch erst am Anfang. Trotz
ihrer methodischen Probleme stellt sie einen großen Fortschritt gegenüber
vielen anderen Untersuchungen dar, da hier die Gehirnaktivität am lebenden
Menschen nicht-invasiv (und damit prinzipiell beliebig oft) dargestellt werden kann. Vermutlich sind aus diesem Bereich in Zukunft weitere spannende Erkenntnisse über die Mechanismen von Lust und Liebe zu erwarten.
Inwieweit sie einen wirklichen Erkenntnisfortschritt darstellen, wird stark
davon abhängen, ob sich die Wissenschaftler Experimente ausdenken werden, die an psychologische Theorien anknüpfen und somit dazu beitragen,
rein psychologische Theorien anhand der objektivierbaren Mechanismen
unseres „Organs des Geistes“ (Kant) zu überprüfen.
Ein Versuch, die geschilderten physiologischen proximaten Mechanismen, psychologische Kategorien und evolutionäre, ultimate Ursachen zu
einer Theorie der Liebe zu verbinden, findet sich bei der Anthropologin
Helen Fisher. Sie wurde bekannt durch ihr Buch Anatomie der Liebe (1993).
In diesem Werk hat sie anhand der Daten des Demographischen Jahrbuchs der
Vereinten Nationen die Scheidungsmuster in 62 Industrie- und Agrargesellschaften für alle verfügbaren Jahre zwischen 1947 und 1989 untersucht.
Liebe und Lust
105
Danach zeigt sich, daß es nicht etwa das „verflixte siebte Jahr“ ist, in dem
Ehen scheitern, sondern daß der Gipfel der Scheidungen weltweit im vierten
Jahr liegt, um dann stetig abzufallen. Dies entspricht dem traditionellen
Abstand zwischen zwei aufeinanderfolgenden Geburten beim Menschen
von ebenfalls vier Jahren. Fischer nimmt deshalb an, daß die weltweite Tendenz beim Menschen, ein Paar zu bilden und für etwa vier Jahre zusammenzubleiben, eine alte Fortpflanzungsstrategie der Hominiden widerspiegelt,
ein Paar zu bilden und zumindest während der Zeit zusammenzubleiben, in
der das Kind von der Mutter gestillt wird und die frühe Kindheit andauert.
Danach trennten sich viele Partner, um denselben Prozeß mit einem anderen Gefährten von neuem zu beginnen. Die moderne serielle Monogamie,
die man in den verschiedensten Gesellschaften beobachten kann, ist wahrscheinlich das letzte späte Erbe einer einstigen Fortpflanzungssaison.
Helen Fisher (2001) vertritt die Auffassung, daß man „Liebe“ als drei
grundlegende, voneinander verschiedene, aber untereinander zusammenhängende emotionale Systeme im Gehirn betrachten kann: Lust, Anziehung
und Verbundenheit. Der Sexualtrieb (beim Menschen: Lust oder Libido) ist
durch ein heftiges Verlangen nach sexueller Belohnung charakterisiert, er ist
vor allem an Östrogene und Androgene geknüpft. Evolutionär entwickelte
er sich hauptsächlich, um Individuen zu motivieren, sich mit irgendeinem
passenden Mitglied der eigenen Art sexuell zu vereinigen. Das System der
Anziehung (beim Menschen vor allem in der leidenschaftlichen Liebe ausgeprägt) zeichnet sich dagegen durch gesteigerte Energie und konzentrierte
Aufmerksamkeit für einen bevorzugten Geschlechtspartner aus. Beim Menschen geht die Anziehung mit Gefühlen der Hochstimmung einher, mit
eindringlichem Nachdenken über das Liebesobjekt und einem heftigen Verlangen nach gefühlsmäßiger Vereinigung mit einem bestimmten Partner
oder einem potentiellen Partner. Anziehung, so Fishers Hypothese, ist vor
allem an ein hohes Niveau von Dopamin und Noradrenalin sowie an ein
niedriges Niveau von Serotonin im Gehirn gebunden. Dieses emotionale
System entwickelte sich vor allem, um es Individuen zu ermöglichen, zwischen verschiedenen potentiellen Geschlechtspartnern zu wählen, dabei die
Paarungsenergie zu erhalten und sie dazu zu stimulieren, ihre Aufmerksamkeit bei der Werbung auf ein genetisch überlegenes Individuum zu konzentrieren. Das System der Verbundenheit (beim Menschen: kameradschaftliche Liebe) weist bei Vögeln und Säugetieren besondere Merkmale wie gegenseitige Territorialverteidigung, und/oder gegenseitiges Nestbauen auf,
ebenso sind gegenseitiges Füttern und soziale Hautpflege, die Aufrechterhaltung enger Nachbarschaft, Trennungsangst, geteilte elterliche Routinetätigkeiten und andere, davon abgeleitete Verhaltensweisen typisch. Bei den
Menschen ist Verbundenheit auch durch das Gefühl der Ruhe, der Sicherheit, des sozialen Behagens und gefühlsmäßigen Einsseins gekennzeichnet.
Verbundenheit beruht Fisher zufolge vor allem auf den uns inzwischen gut
106
Henrik Walter
bekannten Neuropeptiden Oxytocin und Vasopressin. Dieses emotionale
System entwickelte sich, um Individuen zu motivieren, positive soziale Verhaltensweisen auszubilden und/oder ihre verwandtschaftlichen Beziehungen
lange genug aufrechtzuerhalten, um artspezifische elterliche Pflichten zu
erfüllen.
Die drei neuronalen Schaltkreise der Liebe variieren in Häufigkeit und
Dauer von einer Art zur anderen, von einem Individuum zum anderen und
während des Lebens eines jeden Individuums. Sie agieren im Zusammenspiel miteinander und mit anderen Körpersystemen. Im Laufe unserer
menschlichen Geschichte sind sie zunehmend unabhängiger voneinander
geworden. Vor allem aber, so Fisher (2001), tragen sie bei zu den weltweit
ähnlichen Mustern von Ehe, Ehebruch, Scheidung und Wiederverheiratung,
zu der großen Häufigkeit von sexueller Eifersucht, Stalking und Gewalt
gegen Ehegatten sowie zur weiten Verbreitung von Mord, Selbstmord und
klinischer Depression im Fall der Zurückweisung durch einen Geschlechtspartner.
REFLEKTIONEN
In diesem Artikel wurde deutlich, daß die Liebe ein Gebiet ist, das die psychologische und neurowissenschaftliche Forschung schon längst in Angriff
genommen hat. Unser Wissen in diesem Bereich ist viel größer (und auch
anwendungsrelevanter) als in vielen Bereichen der kognitiven Neurowissenschaft; dennoch ist es natürlich vorläufig. Vieles von dem, was hier steht,
könnte sich morgen schon als falsch oder zumindest als revisionsbedürftig
darstellen. Doch das ist die Natur empirischen Wissens. Das fehlbare Wissen um die „wetware“, die Moleküle der Gefühle, spielt jedoch für (gute)
Paar- und Sexualtherapeuten schon heute eine bedeutende Rolle. Die Biologie der Liebe macht manches Beziehungsproblem verständlich. Crenshaw
(1999) etwa schildert, wie die natürliche Abfolge der hormonellen Lebensphasen (neben den typischen Herausforderungen der Lebensphasen) mit
dazu beiträgt, warum gleichaltrige Männer und Frauen in der Regel nicht gut
zusammenpassen. Doch hier soll nicht weiter auf therapeutische Implikationen eingegangen werden. Vielmehr möchte ich das Augenmerk auf die meta-philosophische Frage richten, was die oben geschilderten Erkenntnisse
für unser Selbstbild bedeuten können. Miketta und Tebel-Nagy (1996)
schreiben dazu in ihrem Buch zum Oxytocin:
Der Siegeszug des Liebeshormones in der Öffentlichkeit begann 1991, als
die Wissenschaftsjournalistin und Pulitzer-Preisträgerin Nathalie Angier einen Artikel in der New York Times über das „Kuschelhormon“ veröffent-
Liebe und Lust
107
lichte. Hunderte hoffnungsvoller Leser erkundigten sich danach in den genannten Forschungsinstituten, ob sie eine Oxytocinspritze gegen Impotenz
bekommen könnten. In Deutschland beschwerten sich besorgte Philosophen über die reduktionistische Sichtweise der Liebe. Sollte all das, was uns
Menschen zu Menschen macht, von einem kleinen unscheinbaren Stoff aus
unserem Hirn gesteuert werden? Der Begriff „Oxytozinismus“ wurde geprägt, als Synonym für das, was Menschen nicht wahrhaben wollen.
Hier werden zwei typische Reaktionen angesprochen, die man in diesem,
wie auch in vielen anderen Bereichen, die die Erforschung unseres Seelenlebens betreffen, finden kann. Die einen sind besorgt, die anderen begeistert. Wenden wir uns zunächst den Begeisterten zu. Endlich hat man herausgefunden, wie diese komplizierten Dinge funktionieren! Und nicht nur
das: Man kennt sogar Moleküle, die etwas bewirken können. Nichts wie her
damit! Oft sind es kranke oder leidende Menschen, die so reagieren. Die
Sexualität ist ein bedeutender Bestandteil des menschlichen Lebens, und
viele Menschen, die damit Problem haben, stürzen sich natürlich sofort auf
jede mögliche neue Therapie. Dies wurde z. B. bei der Einführung von Viagra® deutlich. Doch nicht nur wirklich Kranke und Leidende reagieren oft
eher enthusiastisch auf solche Neuentwicklungen. Viele verbinden damit
auch die Hoffnung auf eine neue Art von Droge, auf einen Stoff, der
Glücksgefühle, vielleicht sogar Mega-Orgasmen verschaffen kann. Und das
vielleicht ohne die gefährlichen Nebenwirkungen, die die bekannten Drogen
haben.
Diese Reaktion ist zunächst einmal verständlich. Tatsächlich wurden viele Wirkungen der „Moleküle der Gefühle“ durch ihren Einsatz in der Medizin entdeckt. Mit der richtigen Indikation und der richtigen Anwendung
können diese Neuentdeckungen kranken Menschen tatsächlich helfen. Allerdings ist hier folgendes zu bedenken: Die Einnahme eines Medikamentes
gleicht im Prinzip einer Ganzkörperdusche mit dem Ziel, den Raum zwischen zwei Zehen naß zu machen. Dies kann durchaus sinnvoll sein: Wenn
ich eine eiternde Wunde im Zehenzwischenraum habe, kann es helfen, in
Desinfektionsmitteln zu baden. Besser wäre es allerdings, den Zeh lokal zu
behandeln. Dies ist bei psychoaktiven Substanzen allerdings oft unmöglich,
obwohl es gerade hier vorteilhaft wäre. Die Evolution ist sparsam und benutzt die einmal in die Welt gekommenen Moleküle für viele Funktionen.
Viele der Neurotransmitter und -peptide werden an vielen unterschiedlichen
Stellen für unterschiedliche Funktionen genutzt. Deshalb gilt für psychoaktive Substanzen, wie eigentlich für fast jedes Medikament: keine Wirkung
ohne Nebenwirkung. Die Indikation zum Einsatz eines Medikamentes liegt
dann vor, wenn die erwarteten positiven Wirkungen die möglicherweise
auftretenden Nebenwirkungen in einem Maß überwiegen, das einen Einsatz
rechtfertigt. Im Bereich der Liebesmoleküle ist die Sache noch viel kompli-
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Henrik Walter
zierter. Hier liegen Substanzen vor, die in einer nicht durchschauten – und
vielleicht auch nicht vollständig durchschaubaren – Wechselwirkung miteinander stehen. Zudem werden diese Substanzen in zeitlich feiner Abstimmung freigesetzt und funktionieren als „Liebeskaskade“ eben nur dann
richtig, wenn sie im richtigen Verhältnis zueinander stehen und das richtige
Timing ausweisen. Dies ist durch eine medikamentöse Gabe nicht nachzubilden. Diese Zusammenhänge sollte man sich deshalb klar machen, weil
der Reflex: „Aha, hier ist ein Mechanismus, also kann ich die damit einhergehenden Wirkungen auch künstlich hervorrufen“, meist verfrüht und praktisch immer verfehlt ist. Die Gefahr, daß ein proximater Mechanismus, ist er
einmal entdeckt, manipuliert werden kann, besteht natürlich immer. Warum
sonst ist die Drogenindustrie ein derart florierendes Geschäft? Kokain, so
der wissend Süchtige, ist besser als jeder Orgasmus. Dies ist vermutlich
wahr, allerdings sind die Nebenwirkungen des Kokains auch gravierender
als die „Nebenwirkungen“ eines natürlichen Orgasmus. Insofern liegt die
eigentliche Gefahr weniger in der Entdeckung von Mechanismen, sondern
mehr in der Verfügbarkeit von Stoffen, die uns häufig die Natur zur Verfügung stellt. Das Wissen um Kausalzusammenhänge und Effekte, insbesondere der schädlichen, kann auch dazu beitragen, einen möglichen Mißbrauch
zu reduzieren – oder ihn zumindest in öffentlichen Mißkredit zu bringen.
Ein gutes Beispiel ist Ecstacy, das noch vor Jahren als „friedliche Partydroge“ angesehen wurde. Heute weiß man, daß Ecstacy zwar einen friedfertigen
Zustand erzeugt, aber das Gehirn stark und teilweise irreversibel schädigen
kann. Das Wissen um Mechanismen kann hier nicht schaden. Es kann unter
Umständen auch dazu beitragen, eine wohlüberlegte Entscheidung für die
Anwendung einer Substanz zu treffen.
Doch ist es ja vielleicht gar nicht die Sorge um den Mißbrauch von Mechanismen, die die zweite Reaktion, die Besorgnis, hervorruft. Vielleicht ist
es eher die Sorge, daß ein komplexer psychischer Prozeß auf so etwas Profanes wie Hirnmechanismen reduziert wird. Was steckt hinter dieser Sorge?
Nun, dies können ganz verschiedene Dinge sein. Häufig sehen Menschen
(zu Recht) ihr Weltbild in Frage gestellt, das mit den neuen Erkenntnissen
entweder in Widerspruch steht oder nicht vereinbar ist. Dies kann zum
Beispiel ein dualistisches Weltbild sein, das die Existenz einer Seelensubstanz oder, allgemein gesagt, einer nicht materiell-energetischen geistigen
Wirkkraft postuliert. Oft sind es aber gar nicht Dualisten, die ihre Besorgnis
am lautesten kund tun. Es kann sich dabei auch um Materialisten reinsten
Wassers handeln, die die Sorge umtreibt, daß eine neurobiologische Betrachtungsweise den sozialen oder historischen Kontext vernachlässigt, in dem
ein Verhalten steht. Doch diese Besorgnis verwechselt allzuoft die Fragen
nach dem „Warum“ und „Wie“. So erklärt uns die noch so exakte Physiologie des Brutpflegeverhaltens nicht, warum es zustande gekommen ist. Wir
erinnern uns an die Unterscheidung proximater und ultimater Erklärungen.
Liebe und Lust
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Doch natürlich ist nicht jede proximate Erklärung eine evolutionäre Erklärung. Wenn etwa ein seelischer Zustand, sagen wir eine Niedergeschlagenheit, dadurch erklärt wird, daß bestimmte Veränderungen im Gehirn stattfinden, so ist diese Tatsache durchaus vereinbar damit, daß diese Veränderung durch ein Verlusterlebnis entstanden ist. Die – nicht dualistisch motivierte – Angst vor naturalistischen Erklärungen, wird allzuoft durch ein
unangemessenes Entweder-Oder gespeist. Entweder findet ein Vorgang
eine alltagspsychologische intentionale Erklärung oder er ist durch einen
neurobiologischen Vorgang bedingt. Oft haben Menschen die Ansicht, daß
sie nur im ersten Falle an den Geschehnissen der Welt beteiligt wären, während sie im zweiten Fall zum ohnmächtigen Zuschauer objektiver Naturtatsachen herabgewürdigt würden. Doch diese Vereinfachung wird der Welt
nicht gerecht: Nicht die Tatsache, daß alle psychischen Vorgänge ihre neurobiologischen Mechanismen haben, ist relevant, sondern die Frage, was die
Entstehungsbedingungen der in Frage stehenden Ereignisse sind.
Ein schönes Beispiel ist das Oxytocin. So könnte man natürlich beunruhigt und besorgt darüber sein, daß ein Molekül an der Entstehung von Bindung und der Wirkung von Zärtlichkeit beteiligt ist. Doch warum eigentlich?
Fühle ich mich zu jemandem hingezogen, weil mein Oxytocin-Spiegel hoch
ist? Oder ist mein Oxytocin-Spiegel hoch, weil ich mich zu jemandem hingezogen fühle? Diese Fragen sind unsinnig, oder besser: schlecht gestellt,
wenn sie etwa im Rahmen von „Streichelereignissen“ gesehen werden. Wie
wir wissen, erhöht Streicheln die Oxytocin-Ausschüttung und führt über
diesen Mechanismus (und vermutlich einige weitere) dazu, daß sich die Bindung zwischen zwei Organismen verbessern kann. Die Frage nach der „eigentlichen Ursache“ von Bindung wird hier obsolet. Wie sollen denn Veränderungen des Seelenlebens bewirkt werden, wenn nicht über materiellenergetische Träger? Ist es wirklich schlimm, daß hier Oxytocin eine Rolle
spielt? Oder daß es für Muttergefühle eine Rolle spielt? Nein, dies ist, im
rechten Licht betrachtet, keine wirkliche Bedrohung. Was interessiert, ist
nicht, ob Bindung durch Oxytocin vermittelt wird. Was interessiert, ist, auf
welchem Wege dies zustande kommt. Bindungsgefühle werden nicht dadurch
herabgewürdigt, daß sie durch Oxytocin vermittelt sind. Allerdings macht es
einen gewaltigen Unterschied, ob eine Oxytocin-Ausschüttung durch Streicheln zustande kommt, durch eine Infusion oder eine gewaltsame Zuführung durch die Nase.
Aber dennoch: Ist es nicht so, daß uns die wissenschaftliche Erklärung
unseres Seelen-, erst recht unseres Liebeslebens, irgendwie ein ungutes Gefühl bereitet? Nun, das muß jeder für sich selbst feststellen. Ich denke, das
Wissen um diese komplexen Zusammenhänge kann nicht nur Unbehagen,
sondern auch Bewunderung für die Komplexität der Natur erzeugen. Doch
woher stammt das mögliche Unbehagen? Es hat vermutlich damit zu tun,
daß wir befürchten, die Kontrolle über uns zu verlieren, oder die Privatheit
110
Henrik Walter
und Eigenheit unserer Empfindungen an einen allgemein verstehbaren Mechanismus einzubüßen. Zudem wird es von der (falschen) Vorstellung bzw.
Furcht gespeist, daß eine neurobiologische Erklärung der Liebe bedeuten
würde, daß dadurch andere Verstehensarten der Liebe, wie sie etwa die Literatur, das unmittelbare Empfinden oder der verbale Austausch darstellen,
entwertet würden. Doch dies folgt in keinster Weise. Der Wissenschaft von
der Liebe ist es geradezu inhärent, die Details, die Individualität und die
Nuancen der Liebe zu vernachlässigen und sich vielmehr auf das Allgemeine, Überindividuelle und Überprüfbare zu fokussieren. Bis jetzt gibt es keine
ernstzunehmenden Klagen darüber, daß unser Wissen über die Mechanismen der Sexualität dieselbe weniger aufregend macht – es sei denn, man
verwechselt theoretisches Wissen mit praktischer Erfahrung. Mit derselben
entspannten Haltung sollte man auch unser zunehmendes Wissen über die
Liebe betrachten. Natürlich soll hiermit nicht geleugnet werden, daß für die
Neurobiologie der Liebe gilt, was auch für andere Selbsterkenntnisse zutrifft: Wissen über sich selbst führt im Rahmen der Selbstreflektion immer
zu einer Veränderung des Selbstverständnisses. Dabei kommt es unvermeidlich auch zu Verlusten, nämlich zum Verlust oder zumindest zur Veränderung früherer, vereinfachter und unmittelbar verständlicher Vorstellungen
über reale Phänomene. Wissen ist in einem gewissen Sinne unhintergehbar:
Man kann nicht mehr das frühere, naive Verständnis von sich selbst haben.
Doch dies folgt aus jeder reflektierten Einsicht in die Bedingungen des eigenen Seins. Nichts spricht dagegen, ein vertieftes, verfeinertes Verständnis
seiner selbst zu kultivieren. Und wer wollte sich davor fürchten?
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Liebe und Lust
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TEIL II
EMOTIONEN IN
MEDIZIN UND PSYCHOLOGIE
EINFÜHRUNG
D
er zweite Teil dieses Bandes thematisiert Emotionen aus entwicklungspsychologischer, psychotherapeutischer, psychiatrischer und
medizinpsychologischer Perspektive. Auf eine Präsentation von
Studien und Theorien zur frühkindlichen emotionalen Entwicklung folgt ein
psychoanalytischer Beitrag über unbewußte Emotionen und Affekte. Die
weiteren Arbeiten beschäftigen sich dann mehr mit der Schattenseite von
Emotionen und lassen erkennen, wie dysfunktional Emotionen sein können,
wenn sie als Depression und Angst erlebt werden, durch Hemmung zur
Entstehung von Krankheiten beitragen oder im Verein mit fundamentalen
psychischen Strukturen (FRAMES) wiederholt zu situations-unangemessenem
Verhalten führen.
Schmücker: Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit. Die Frage, welche
unserer Eigenschaften und Fähigkeiten angeboren sind und welche erst
unter dem Einfluß kultureller Besonderheiten erworben werden, wird auch
im Hinblick auf Emotionen kontrovers diskutiert. Schmücker stellt verschiedene Richtungen vor: In Darwins Tradition stehen Izard, Ekman und
Friesen. Sie nehmen an, daß frühes affektives Verhalten angeboren ist und
daß es Basisemotionen gibt (wie z. B. Ekel, Freude, Ärger, Traurigkeit und
Angst), deren Ausdruck in allen Kulturen gleichermaßen gut erkannt wird.
Im Gegensatz dazu vertreten Schachter und Singer, Lewis und Michalson
sowie Sroufe einen konstruktivistischen Ansatz. Ihrer Ansicht nach sind
Emotionen vor allem das Resultat kognitiver Vorgänge (Erkennen und Bewerten) und insofern vom jeweiligen Stand der kognitiven Entwicklung
abhängig.
Im Zentrum von Schmückers Beitrag stehen mehrere Studien, die die
große Bedeutung belegen, die der emotionale Austausch zwischen Mutter
und Kind für dessen spätere Entwicklung hat. Dabei sind Mutter und Kind
aktive Partner, die die Interaktion gegenseitig bestimmen. Bowlby zufolge
haben das Verhalten (und der emotionale Ausdruck) des Kleinkindes vor
allem die Funktion, eine im Idealfall sichere Bindung zu den Eltern herzustellen. Die Qualität der ersten Bindungsbeziehungen (es werden sicher
gebundene, unsicher-vermeidende, unsicher-ambivalente und desorganisiertdesorientierte Bindungsmuster unterschieden) ist auch für alle weiteren
sozialen Beziehungen prägend, wenngleich bedeutende Lebensereignisse in
späteren Jahren den typischen Ablauf sozialer Interaktionen noch beeinflussen können.
116
Einführung
Benecke und Dammann: Unbewußte Emotionen. Die zentrale und für lange Zeit
heftig umstrittene Annahme Freuds, daß zahlreiche psychische Zustände
und Vorgänge unbewußt vor sich gehen, wird durch neuere Ergebnisse der
Neuro- und Kognitionswissenschaften bestätigt. Nach wie vor kontrovers
wird hingegen diskutiert, ob es auch unbewußte Emotionen gibt. Während
das Vorliegen unbewußter Emotionen unter Neurobiologen als gesichert
gilt, behaupten einige Vertreter der kognitiven Psychologie, daß Emotionen
schon aus begrifflichen Gründen bewußt sein müßten.
Benecke und Dammann, die in ihren in der Tradition der Psychoanalyse
stehenden Überlegungen auch an die moderne Säuglingsforschung (und
damit an Schmückers Beitrag) anknüpfen, wenden sich sowohl dem begrifflichen Problem zu, wie unbewußte Emotionen zu konzeptualisieren sind; sie
zeigen aber auch, welche Hinweise es für ihre Existenz gibt und wie wir
ihrer gewahr werden können. Da es ihnen jedoch nicht nur um deskriptiv
unbewußte Emotionen geht, sondern auch um dynamisch Unbewußtes,
diskutieren sie darüber hinaus die Auswirkungen unbewußter Emotionen
auf das psychische Geschehen. Dabei erörtern sie auch das Verhältnis von
Affekten, Motiven und Trieben.
Hölzer und Kächele: Emotion und psychische Struktur. Der Begriff der psychischen Struktur ist für die Psychotherapie-Forschung im allgemeinen und die
Psychoanalyse im besonderen von großer Bedeutung. Unter anderem werden darunter „pathologische“, von der Akkomodation im Alltagsleben ausgeschlossene Schemata verstanden, die für eine neurotische Einengung der
Sichtweise sorgen und folglich zu inadäquaten Handlungen führen können.
Unter den verschiedenen Versuchen, die psychische Struktur in adäquater Weise zu erfassen, gilt die von Hartvig Dahl vorgeschlagene Analyse mit
Hilfe von sogenannten FRAMES (Fundamental Repetitive And Maladaptive
Structures) in der neueren Therapieforschung als besonders aussichtsreich.
Hölzer und Kächele geben eine Einführung in diese Methode und illustrieren sie anhand eines Beispiels aus der therapeutischen Praxis. Sie zeigen aber
auch Schwierigkeiten auf, die es bei der Identifikation von FRAMES gibt und
plädieren dafür, die FRAMES-Analyse durch eine systematische Emotionsanalyse zu ergänzen. Dabei deuten sie Emotionen als intentionale Einstellungen, die nach drei Dimensionen (Objekt/Selbst, Positiv/Negativ, Aktiv/Passiv) kategorisiert werden können.
Da nach verbreiteter Ansicht alle psychischen Störungen in irgendeiner
Weise als Affektstörungen zu deuten sind, erscheint die Orientierung an den
von den Patienten erlebten und verbalisierten Emotionen auch aus therapeutischer Perspektive als besonders fruchtbar.
Einführung
117
Traue und Deighton: Emotionale Hemmung als Risikofaktor für die Gesundheit.
Verschiedene Krankheitsprozesse hängen mit der Verarbeitung von Emotionen und ihrer Hemmung zusammen. Traue und Deighton gehen der
Frage nach, warum dies so ist, und auf welche Weise sich die Hemmung
von Gefühlen nachteilig auf den menschlichen Organismus auswirkt. Die
beiden Autoren beginnen mit einem allgemeinen Überblick über die Natur
und Funktion von Emotionen als Modulatoren menschlichen Verhaltens.
Nach einem historischen Exkurs zum Begriff der Hemmung, in dem auf
wichtige Arbeiten von Sherrington, Pawlow und Freud eingegangen wird,
wenden sich Traue und Deighton ausführlicher den gesellschaftlichen Anforderungen zu, die an unser Gefühlsleben gestellt werden: Welche Formen
emotionalen Ausdrucks sind erwünscht, welche verpönt oder untersagt? In
vielen Berufsfeldern und sozialen Beziehungen spielt die Kontrolle von
Emotionen – „Gefühlsarbeit“ –, die nicht selten mit der Hemmung von
Gefühlen einhergeht, sogar eine immer größer werdende Rolle.
Die äußerst komplexen Vorgänge emotionaler Hemmung liegen in verschiedenen Formen vor. Traue und Deighton unterscheiden in ihrer Arbeit
genetische, repressive, suppressive und dezeptive Typen der emotionalen
Hemmung und zeigen, wie diese über neurobiologische, sozial-behaviorale
und kognitive Pfade zu gesundheitlichen Störungen führen können. Schließlich schildern sie, in welcher Weise verschiedene Psychotherapien mit und
an Emotionen arbeiten, um körperliche Streßreaktionen zu mildern: Je nach
Therapieform wird den Methoden der emotionalen Entladung, der emotionale Einsicht, des emotional adaptiven Verhaltens oder der Exposition ein
unterschiedlicher Stellenwert beigemessen.
Wedekind und Bandelow: Krankhafte Gefühle. Angststörungen und Depressionen zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Die beiden Störungen sind oft miteinander verflochten und nur schwer kategorial zu trennen. Ihr Auftreten ist ein Zeichen dafür, daß den betroffenen Patienten in
belastenden Situationen keine angemessene Bewältigungsstrategie mehr zur
Verfügung steht.
Wedekind und Bandelow vergleichen in ihrem Beitrag die beiden Störungen miteinander, stellen Behandlungsmöglichkeiten vor, beschreiben die
mit ihnen einhergehenden neurochemischen Veränderungen, insbesondere
Imbalancen im noradrenergen und serotonergen System, und berichten über
Ergebnisse mit bildgebenden Verfahren. Darüber hinaus gehen die beiden
Autoren ausführlich auf die Entstehungsbedingungen von Angststörungen
und die Phänomenologie verschiedener Phobien ein. Die „Fähigkeit“, Angst
zu erleben, geht in der Regel mit der Fähigkeit einher, lebenslang zu lernen.
Wedekind und Bandelow schließen mit einem integrativen Modell, das neurochemische, neuroanatomische und psychologische Einsichten miteinander
verbindet.
Gesine Schmücker
EMOTIONALE ENTWICKLUNG
IN DER FRÜHEN KINDHEIT
I
n diesem Beitrag soll ein Überblick über die empirischen Ergebnisse der
emotional-kommunikativen Fähigkeiten in den ersten Lebensjahren
vermittelt werden. Unterschiedliche theoretische Ansätze werden gegenübergestellt und die Signifikanz des emotionalen Austauschs in der Mutter-Kind-Interaktion für die spätere Entwicklung diskutiert.
GESICHTSAUSDRUCK UND GEFÜHLSZUSTAND
Kurz nach ihrer Geburt haben Säuglinge schon die Fähigkeit, auf differenzierte Weise mit der Umwelt zu kommunizieren. Sie können vokalisieren,
sich mit Blick oder Körper hin- oder wegwenden und unterschiedliche Gesichtsausdrücke zeigen. Studien, die sich mit der frühen emotionalen Entwicklung befassen, fokussieren meist den Gesichtsausdruck als denjenigen
Ausdruckskanal, der am deutlichsten Emotionen zeigt (Oster 1978; Izard
1979a; Izard et al. 1983). Ab welchem Entwicklungsstadium diese Gesichtsausdrücke als Indizien für Emotionen angesehen werden können, insofern
sie einen Gefühlszustand reflektieren, wird freilich unterschiedlich interpretiert. Diese Diskussion soll hier kurz, am Beispiel von drei theoretischen
Ansätzen, umrissen werden.
Charles Darwin (1872) war einer der ersten, der sich systematisch mit
dem Affektausdruck im menschlichen Gesicht befaßte, indem er systematische Beobachtungen bei seinen Kindern dokumentierte. Als ein Vertreter
der discrete emotions theory knüpfte Izard (1971) mit seiner differential emotions
theory (DET) an die Theorie Darwins an. Er entwickelte Kodierungsschemata,
um die frühen Gesichtsausdrücke und Gesichtsbewegungen bei Säuglingen
zu klassifizieren (AFFEX: Izard et al. 1983; MAX: Izard 1979a). Entscheidend
ist dabei Izards Annahme, daß frühes affektives Verhalten angeboren und
stereotyp ist. Die differential emotions theory nimmt an, daß es eine angeborene
Übereinstimmung zwischen Ausdruck und Gefühl gibt. So wird Weinen aus
Schmerz von dem Gefühl des Schmerzes begleitet. Die genetische Grundlage von Gesichtsausdrücken scheint auch durch die Arbeit von Ekman &
Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit
119
Friesen (1971) bestätigt zu werden. In unterschiedlichsten Kulturen können
sogenannte basic emotions (Primäraffekte oder basale Emotionen) identifiziert
werden. Die meisten Forscher haben sich auf die folgenden fünf basic emotions geeinigt: Freude, Ekel, Traurigkeit, Ärger und Angst. Ihr mimischer
Ausdruck wird interkulturell gezeigt und erkannt.
Auch wenn sich das Affektsystem vermutlich aus dem Instinktsystem
entwickelt hat, lassen sich menschliche Reaktionen auf affektive Signale
nicht instinktiv im Sinne vorprogrammierter Handlungen, sondern eher als
Handlungsdispositionen verstehen (Dornes 1997). Sehr hilfreich ist die von
Krause (1983; 1985) vorgeschlagene Definition des Affektsystems, wonach
dieses als eine aus fünf Komponenten bestehende funktionelle Einheit aufgefaßt werden kann:
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
Neurophysiologische Komponente
Handlungskomponente (Innervation der Skelettmuskulatur)
Ausdruckskomponente (Gesichtsausdruck, Vokalisation und Körperhaltung)
Subjektive Empfindung der ersten drei Komponenten
Interpretation der subjektiven Empfindung
Die unterschiedlichen kindlichen Emotionen zeigen sich zu verschiedenen
Entwicklungsstadien (wobei sich nicht alle Autoren über den Zeitpunkt des
Erscheinens einig sind). Es ist wichtig, zwischen einem Gesichtsausdruck,
der eine Emotion darstellt, und einem Gesichtsausdruck, der gleichzeitig
von dem dazugehörigen Gefühl begleitet wird, zu differenzieren. Emotionen wie Überraschung (Field 1982), Interesse (Izard 1979b) und Ekel (Rosenstein & Oster 1988) scheinen schon kurz nach der Geburt im Gesicht des
Säuglings funktionell präsent zu sein. Izard (1979b) rechnet auch das Lächeln
zu den Emotionen, die bereits nach der Geburt sichtbar sind, während Field
et al. (1982) diese Emotion erst für ein Säuglingsalter von 3 Wochen bestätigen würden.
Emde & Harmon (1972) sehen das Lächeln eines Neugeborenen als endogen an, d. h. es folgt nicht als Reaktion auf externe Reize. Wenn Neugeborene lächeln, so die Autoren, wird die Augenmuskulatur der Neugeborenen
nicht innerviert, das Lächeln ist hauptsächlich in den Mundwinkeln zu sehen. Die typische Innervation der Augenmuskulatur mit Faltenbildung um
die Augen, die bei dem Gesichtsausdruck der Freude identifiziert worden
ist, (sogenanntes Duchenne-Lächeln) ist erst mit 4-6 Wochen sichtbar.
Es ist schwierig zu klären, ab wann in diesem frühen Stadium der menschlichen Entwicklung ein Gesichtsausdruck von einem kongruenten Gefühl
begleitet wird. Doch Davidson und Kollegen (Davidson & Fox 1982; Fox &
Davidson 1984) konnten zeigen, daß bei Neugeborenen das autonome Nervensystem und das Gehirn emotionsspezifische Aktivitäten aufweisen.
120
Gesine Schmücker
Hiermit könne zumindest die Möglichkeit des emotionalen Ausdrucks gleich
nach Geburt auf neuronaler Ebene bestätigt werden. Oster & Rosenstein
(1996) adaptieren das von Ekman & Friesen (1978) zur Auswertung von
Gesichtsausdrücken Erwachsener bereitgestellte Manual. Sie berichtet, daß
fast alle Muskelbewegungen, die für erwachsene Gesichtsausdrücke notwendig sind, um unterschiedliche emotionale Zustände zu enkodieren, bereits bei Geburt oder davor vorhanden sind. Dies weist auf eine genetische
Prädisposition zur emotionalen Kommunikation hin. Mit zunehmendem
Alter konnten weitere Gesichtsausdrücke identifiziert werden:
Ärger war mit 3 Monaten klar sichtbar (Malatesta 1985) und auch Traurigkeit zum Zeitpunkt von 3-4 Monaten (Gaensbauer 1982). Ein voll ausgeprägter Ausdruck von Furcht war mit 6-8 Monaten zu differenzieren (Emde
et al. 1976).
Ein großer Konsens besteht darin, daß die sogenannten secondary emotions
(z. B. Scham, Eifersucht) erst mit zunehmender Entwicklung und Sozialisation des Kindes präsent sind. Aber auch hier gibt es Studien die behaupten,
z. B. Eifersucht schon im fünften Monat identifiziert zu haben (DraghiLorenz 2000). Doch nur weil eine Situation (im Beisein ihres Kindes wendet
sich die Mutter liebevoll einem anderen Kind zu) Eifersucht auslösen könnte, und ein Kind mit negativem Affekt reagiert (Weinen), sollte nicht darauf
geschlossen werden, daß dies ein Ausdruck von Eifersucht ist. Die Mehrzahl der Autoren sehen als Voraussetzung von Eifersucht nämlich einen
sense of self an, dieser ist jedoch erst ab dem 2. Lebensjahr zu erwarten
(Dunn 1994; Lewis 1995).
Die von Schachter & Singer (1962), Lewis & Michalson (1983) sowie Sroufe
(1979) vertretene konstruktivistische Theorie stellt einen Gegensatz zu der
Position Darwins und dessen Nachfolgern dar. Prominente Vertreter jener
Ansicht postulieren, daß Emotionen ein Resultat und eine Folge kognitiver
Prozesse sind (Schachter & Singer 1962). Der Schwerpunkt liege nicht auf
Emotionen als etwas Angeborenem, sondern als einem Produkt von Kognitionen, welches als solches eine gewisse kognitive Entwicklung voraussetze.
So könnten Neugeborene noch keine Emotionen zeigen oder Gefühle haben, da die kognitiven Voraussetzungen noch nicht bestehen. Demnach
kommt ein spezifisches Gefühl dadurch zustande, daß die Person einen
unspezifischen Erregungszustand aufgrund des Kontextes als ein spezifisches Gefühl interpretiert.
Nach Sroufe (1979) sind Emotionen anfangs undifferenzierte VorläuferZustände (precursor states) von Unbehagen und keinem Unbehagen (distress
and non distress), die sich erst mit der Zeit in verschiedene Emotionen differenzieren. Kognition wird als der zentrale Mechanismus in dieser Entwicklung der Differenzierung gesehen. So postulieren die Konstruktivisten,
daß sich „diskrete“ Emotionen erst im Alter von 2-3 Monaten entwickeln
Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit
121
können. Diese benötigen als notwendige Bedingung elementare Formen
von kognitiver Aktivität, die das Bewußtsein fördern. Emotionale Erfahrungen werden erst als möglich erachtet, wenn kognitive Faktoren wie Erkennung und Bewertung stattfinden können. Dies ist abhängig von dem Stand der
kognitiven Entwicklung.
Lewis & Michalson (1985) nehmen eine Mittelposition ein: Ein Gesichtsausdruck kann differenziert sein, ohne daß diesem unbedingt differenzierte Gefühle korrespondieren müssen. In den ersten Monaten ist der Ausdruck differenzierter als der innere Zustand. Gesichtsausdrücke können ein
Zeichen des emotionalen Zustands sein, doch dies ist nicht zwingend.
Bowlby, der Vater der Bindungstheorie (1969), sieht Emotionen in Zusammenhang mit einem Bewertungsprozeß, der emotional ist und bewußt oder
auch unbewußt erlebt werden kann. Mit der Bindungstheorie gelang Bowlby
eine Synthese aus Prinzipien der Ethologie und der Psychoanalyse, welche
die Bindung des Kindes an seine Eltern beschreibt: Das Kind verhält sich
so, daß sein Verhalten die Nähe seiner Bezugspersonen gewährleistet. Dieses Verhalten ist angeboren und nicht gelernt und besteht z. B. im Weinen,
Blickkontakt aufnehmen, Lächeln oder Vokalisieren. Wenn Eltern nicht
beeinträchtigt sind (z. B. durch psychische Belastung), zeigen sie ein komplementäres Verhalten, d. h. sie reagieren auf das kindliche Verhalten in
angemessener Weise z. B. durch Kontaktaufnahme, Zuwendung oder emotionale Reaktionen. Auch das elterliche Verhalten ist der Bindungstheorie
nach angeboren und nicht erlernt. Es gibt angeborene Signale, die einen
spezifischen emotionalen Ton haben. Sie sind nicht nur graduell abgestuft,
sondern differenziert, d. h. sie variieren nicht nur in Intensität, sondern auch
in Qualität und liegen auf einem Kontinuum mit einem positiven und negativen Pol. Säuglinge werden als vorgeprägt (pre-adapted) angesehen, differenzierte Signale auszusenden, die von entsprechenden Stimuli aktiviert
werden. Diese Signale lösen unterschiedliche Reaktionen bei der Bezugsperson aus, die für das Überleben des Säuglings essentiell sind.
Den Zusammenhang zwischen Gefühlszuständen und Gesichtsausdrükken sieht Bowlby ähnlich eng wie Darwin, aus dessen Werk er die folgende
Passage zitiert: „there is an intimate relation which exists between almost all
emotions and their outward manifestation“ (1969, 104). Darüber hinaus betont er die überlebensrelevanten Funktionen (den evolutions-ethologischen
Ansatz) der Bindung zwischen Säugling und Mutter. Emotionen stehen für
Bowlby im Zusammenhang mit einem Bewertungsprozeß; dieser ist emotional und kann gefühlt (bewußt erlebt) werden oder auch nicht. Im Gegensatz zu den Konstruktivisten, die behaupten, daß Emotionen nur dann als
Emotionen gelten können, wenn sie bewußt erlebt werden, akzeptiert
Bowlby also auch unbewußte Gefühle.
122
Gesine Schmücker
Die erste Kommunikation zwischen Mutter und Kind beschreibt Bowlby
mit dem Ausdruck expressive movements (Ausdrucksbewegungen), und vermeidet so die Verwendung des Terminus „Emotionen“. Diese angeborenen
Signale haben einen spezifischen emotionalen Ton und sind differenziert.
Drei Signale, die schon gleich nach Geburt identifiziert wurden, sind Weinen,
Orientierung und Lachen. Durch diese Signale werden der Bindungstheorie
zufolge Reaktionen bei Bezugspersonen ausgelöst, die für das Überleben der
Spezies notwendig sind. Die Gefühlsausdrücke der Kinder und die Reaktionen der Bezugspersonen sind beobachtbar und bestimmen den Aufbau der
Bindungsbeziehung. Daß Emotionen sichtbar sind und mit den Gefühlen
übereinstimmen, ist eine zentrale Annahme und ermöglicht die Operationalisierung der Bindungsbeziehung (siehe den Abschnitt „Methoden der Erfassung von Mutter-Kind-Interaktionen“).
Der Gesichtsausdruck von Säuglingen ist schon früh differenziert, was
auf die Fähigkeit zur emotionalen Kommunikation schließen läßt. Ab welchem Entwicklungsstand von einem begleitenden Gefühl gesprochen werden kann, ist noch eine offene Frage. Doch scheint es wahrscheinlich, daß
eine frühe Kongruenz zwischen Gesichtsausdruck und Gefühlen besteht
(Dornes 1997). Ein Gesichtausdruck hat die Funktion der Kommunikation,
denn er ist von außen sichtbar. Ein den Ausdruck begleitendes Gefühlserleben dient dagegen der inneren Handlungsmotivation.
EMOTIONALER AUSTAUSCH ZWISCHEN MUTTER UND KIND
Von Geburt an wird dem emotionalen Austausch zwischen Mutter (bzw. primärer Bezugsperson) und Säugling eine große Bedeutung für die soziale und
kognitive Entwicklung des Kindes zugeschrieben (Bowlby 1969; Stern 1985;
Murray et al. 1996). Der emotionale Austausch ermöglicht dem Kind, sich
zu einem sozial adaptiven Wesen zu entwickeln. Studien der Mutter-Säuglings-Interaktion in den ersten Monaten zeigen, daß Mütter und ihre Kinder
in ausgewogener Weise miteinander kommunizieren können (Beebe &
Lachmann 1988; Brazelton et al. 1974). Mutter und Säugling sind beide
aktive Partner, die einen Beitrag leisten und die Interaktion gegenseitig
bestimmen (Cohn & Tronick 1988; Murray & Trevarthen 1985; Stern 1974;
Trevarthen 1979). Emotionen spielen eine wichtige Rolle im Leben eines
Individuums. Sie motivieren dazu, Interaktionen im sozialen Umfeld aufzunehmen oder aufrechtzuerhalten. Auch wird in Interaktionen der affektive
Zustand reguliert und an die sozialen oder kulturellen Gegebenheiten angepaßt.
Das Verhalten der Eltern ist darauf angelegt, die kindlichen Regulationsund Entwicklungsprozesse teilnehmend zu begleiten, zu stimulieren und
Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit
123
kompensatorisch zu unterstützen. Papousek & Papousek (1978) prägten den
Begriff „intuitive parenting“. Das heißt, daß Eltern sich in ihrem Verhalten
an den kindlichen Signalen orientieren, die Selbstregulationsprozesse erkennen lassen. Wenn keine störenden Faktoren auf die Interaktion einwirken,
ist das Zusammenspiel der elterlichen und kindlichen Prädispositionen für
beide harmonisch und befriedigend. Diese optimalen Bedingungen erleichtern den Prozeß der kindlichen Entwicklung und fördern dessen Selbstwertgefühl (Papousek & Papousek 1979).
Welcher Aspekt der emotionalen Entwicklung prädiktiv für die spätere
Entwicklung des Kindes zu sein scheint, ist Fragestellung vieler Studien.
Wie der emotionale Austausch in der Mutter-Kind Beziehung definiert und
gemessen wird, ist oft von Studie zu Studie verschieden, doch gibt es auch
einige Gemeinsamkeiten.
DEFINITION UND MESSBARKEIT DER MUTTER-KIND-INTERAKTION
Frühe wissenschaftliche Studien, die sich mit der Gestaltung der MutterKind-Beziehung befassen, fokussierten ausschließlich die Seite der Mutter,
wobei die Charakteristika von Risikogruppen, wie z. B. delinquente Kinder,
von besonderem Interesse waren. In einer Übersichtsarbeit unterteilte beispielsweise Symonds (1939) das Elternverhalten in zwei Kategorien: Akzeptanz-Zurückweisung und Dominanz-Unterwürfigkeit, dabei wurde das Verhalten
der Kinder während der Interaktion nicht betrachtet.
Später berücksichtigte z. B. Baumrind (1971) bei der Interaktion Eltern
und Kind. Sie unterschied folgende Muster von Eltern-Kind-Interaktionen:
autoritär, autoritativ, freizügig und restriktiv-vernachlässigend. Eine autoritative
Beziehung wurde beispielsweise als eine Interaktion definiert, in der Eltern
rationale Kontrolle über ihr Kind ausüben, doch das Kind ermuntern, verbal zu interagieren, d. h. das Kind wird in die Bewertung miteinbezogen.
Neuere Klassifizierungsschemata zur Beurteilung der Qualität einer Mutter-Kind-Interaktion berücksichtigen meist affektive Aspekte des Mutter- und
Kindverhaltens (Schmücker 1997). Die detaillierte Auswertung des mimischen Ausdrucks im Vergleich zum verbalen oder körperlichen Ausdruck
von Emotionen hat besonders viel Forschungsinteresse geweckt (Ekman et
al. 1972; Oster 1978; Izard et al. 1991) – nicht zuletzt aus pragmatischen
Gründen: Emotionen sind mimisch vergleichsweise leicht zu erkennen,
dagegen ist der emotionale Inhalt bei verbalen Äußerungen oft nicht so
eindeutig zu definieren und wurde somit eher vernachlässigt (Scherer 1986).
Andere Autoren setzten einen Schwerpunkt auf die temporalen Merkmale der
Interaktion. In ihrer Pionierstudie filmten Brazelton et al. (1974) den Gesichtsausdruck von Mutter und Kind und analysierten diesen sekundenge-
124
Gesine Schmücker
nau. Eine Interaktion wurde als reziprok bezeichnet, wenn Mutter und Säugling sich synchron von positiven zu negativen Verhaltenszuständen (behavioral states) bewegten. So wurde nicht nur untersucht, wie affektiv positiv
oder negativ die Interaktion gestimmt, sondern auch, wie Mutter und Kind
in ihrem Affekt zeitlich aufeinander abgestimmt waren. Anfangs wurde eine
synchrone Interaktion als ein optimaler Zustand erachtet (Condon & Sander
1974); auch zeigten sich synchrone Interaktionen eher mit positiven Emotionen und weniger mit Ärger oder Traurigkeit gekoppelt.
Spätere Arbeiten in diesem Feld bestätigten, daß Säuglinge und Mütter
ihr Verhalten mit meßbarer zeitlicher Verzögerung aufeinander abstimmen.
Interaktionen von gesunden Dyaden waren gekennzeichnet durch einen
ausgewogenen Grad an Synchronizität, einem moderaten positiven Affekt
und einem schwachen negativen Affekt (Tronick & Cohn 1989; Cohn &
Tronick 1987). Es zeigte sich, daß das Verhalten in den beobachteten Interaktionen zum Teil aus dem eigenen vorherigen Verhalten sowie aus dem
Verhalten des Interaktionspartners abgeleitet werden kann. Typische Mutter-Kind-Interaktionen sind charakterisiert durch ein Oszillieren zwischen
koordinierten (synchronen) und unkoordinierten Zuständen. Der unkoordinierte Zustand wird als normal interactive communicative error bezeichnet, der in
der Regel gegenseitig korrigiert wird (mutual reparation). Dieses Korrigieren
von sogenannten interaktiven Fehlern, so Tronick & Weinberg (1997), wird
als ein kritischer und einflußreicher Prozeß in normalen Interaktionen bezeichnet. Durch das Erleben von erfolgreichen reparativen Prozessen, in
denen ein negativer Affekt in einen positiven Affekt umgewandelt wird, ist
es dem Säugling möglich, einen positiven affektiven Kern zu etablieren
(Emde 1983; 1985).
Beebe & Lachmann (1994) bestätigen ebenso, daß eine normale Interaktion einen Prozeß des „Korrigierens“ darstellt und deuten auf einen Zusammenhang zwischen einem mittleren Niveau der Feinfühligkeit und dem
Vorhandensein von Abweichungen und Korrekturen in der Mutter-KindInteraktion hin. Bei fehlender Feinfühligkeit oder übermäßiger Feinfühligkeit sind diese Prozesse ungünstiger ausgeprägt. Ein mittleres Ausmaß an
Feinfühligkeit scheint optimal zu sein, da dieses mit einer sicheren Bindung
assoziiert ist.
METHODEN DER ERFASSUNG VON MUTTER-KIND-INTERAKTIONEN
Um eine bessere Einschätzung der Forschungsergebnisse zu gewährleisten,
werden einige der Methoden, mit denen die Qualität der Mutter-KindInteraktion erhoben wird, vorgestellt. Eine weit verbreitete mögliche Meßmethode beobachtet Mutter und Kind in der Interaktion miteinander und
Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit
125
videographiert sie. In der Kodierung wird auf spezifische Aspekte der Interaktion fokussiert und diese nach einem definierten Schema ausgewertet. In
der Regel erfolgt die Auswertung entweder durch time-sampling, indem man
eine festgelegte Zeiteinheit für den Auswertungsrahmen bestimmt, oder
durch event-sampling, bei dem die Auswertung nach der Häufigkeit eines
definierten Parameters erfolgt. Folgende Variationen lassen sich dabei zusammenfassen: Manche time-sampling-Methoden werten jeden sog. Frame
eines Films aus (d. h. 25 Frames pro Sekunde), andere vergeben eine Kodierung pro Minute (Esser et al. 1986) oder sie vergeben eine Kodierung für
eine 10-minütige Interaktion (Pawlby & Schmücker 1992). Eine Interaktion
kann danach ausgewertet werden, wie oft ein spezifisches Lächeln auftritt
(z. B. ein Duchenne-Lächeln, d. h. ein Lächeln mit Falten um die Augen)
oder wie feinfühlig sich eine Mutter auf einer Skala von 1-9 (Ainsworth et al.
1974) gegenüber dem Kind verhält.
Eine andere Methode hat sich z. B. in den Arbeiten von Ekman & Friesen (1978) und Izard et al. (1980) durchgesetzt. Hier werden anhand von
Fotos oder dem Frame eines Films, das Zusammenspiel von Gesichtsmuskeln ausgewertet und die daraus entstehenden Emotionen benannt.
Je nach Komplexität des einzuschätzenden Konstrukts kann die Reliabilität sehr unterschiedlich ausfallen. Verhaltensnahe, konkrete Konzepte erleichtern beispielsweise eine nachvollziehbare Auswertung, doch je abstrakter das Konzept ist, desto schwieriger wird sich jene gestalten. CollegeStudenten wurden Emotionsausdrücke von Säuglingen zwischen 1-9 Monaten vorgeführt (Izard et al 1980). In 50% der Fälle stimmte die Einschätzung mit objektiven muskulären Analysen überein (bei rein zufälliger Einschätzung wäre die Quote nur 12.5%). Freude wurde am besten erkannt,
dann Trauer, Überraschung, Interesse, Furcht, Ärger und am schlechtesten
Ekel.
Je nach Forschungsparadigma fällt die Situation, in der Mutter und Kind
gefilmt werden, mehr oder weniger strukturiert aus: Die Spanne reicht von
einer möglichst naturgetreuen Interaktion (trotz Anwesenheit der Beobachterin) bis hin zu einer Interaktion nach dezidierter Anleitung. Zwischen
diesen Extremen befindet sich die sogenannte semi-strukturierte Interaktion, zu der die Fremde Situation gezählt werden kann. Mit dieser Methode
wird die Bindungssicherheit des Kindes erfaßt. Hier werden in einer Folge
von acht dreiminütigen Episoden Mutter, Kind und Fremde Person in unterschiedlicher Abfolge getrennt und wieder vereinigt. Die Mutter wird aufgefordert, sich so normal wie möglich zu verhalten, und das Kind wird dazu
ermuntert, sich frei zu beschäftigen.
Die Umgebung, in der eine Untersuchung stattfindet, kann ebenfalls variieren: Mutter und Kind werden in einer vertrauten Umgebung gefilmt (zu
Hause), oder sie befinden sich in einem Forschungslabor. Hausbesuche
können den Vorteil haben, daß sich Eltern und Kind entspannter geben als
126
Gesine Schmücker
in einer ihnen fremden Umgebung, wenn alltägliche Interaktionen beobachtet werden sollen. Für Untersuchungen, die eine präzise Standardisierung
erforderlich machen, ist ein Setting in einem Labor vorzuziehen. De Wolff
& van IJzendoorn (1997) konnten jedoch keinen Unterschied bezüglich der
Ausprägung von mütterlicher Feinfühligkeit und dem Bindungsmuster des
Kindes feststellen, je nachdem ob Untersuchungen zu Hause oder in einer
Forschungseinrichtung durchgeführt wurden.
SOZIALISATION VON EMOTIONEN
Mit zunehmendem Alter des Kindes entwickelt es ein eigenes emotionales
Repertoire, was durch kontinuierliche Interaktionen mit der Umwelt geformt wird. Hierbei spielen seine Bezugspersonen eine zentrale Rolle. In
den meisten Studien übernimmt die Mutter diese Funktion, was sich durch
ein Übergewicht an Interaktionsforschung bei Kindern und ihren Müttern
zeigt.
Nach der differential emotions theory werden die intensiven und unregulierten Emotionen, die das Säuglingsalter charakterisieren, durch gedämpftere
d. h. weniger intensive Emotionen ersetzt. Im ersten Lebensjahr scheinen
Emotionen nicht bewußt moduliert zu werden. Weinen z. B. wird im Lauf der
Entwicklung weniger intensiv, da sich durch das kontingente Verhalten der
Bezugsperson Erwartungen etabliert haben. Der Säugling hat gelernt, daß
auf sein Weinen eingegangen wird, was die Intensität seiner emotionalen
Äußerung weniger intensiv werden läßt (Malatesta & Haviland 1985).
Mit zunehmendem Alter scheint der enge Zusammenhang zwischen Gefühlsausdruck und Gefühlszustand nicht mehr gegeben, da Kinder durch
den Prozeß der Sozialisierung lernen können, Gesichtsausdruck und Gefühl
voneinander zu trennen. Ekman (1982) identifizierte 4 Kategorien expressiver Transformation: Übertreibung, Minimisierung, Maskieren und Neutralisation. Jedoch ist die Forschungsaktivität in bezug auf diese Transformationen
eher gering.
Vertreter der konstruktivistischen Position sehen zunächst keinen Zusammenhang zwischen dem Gesichtsausdruck und Gefühlen (Lewis et al.
1984). Säuglinge könnten differenzierte Gesichtsausdrücke zeigen, doch dies
würde nicht zwingend eine differenzierte Gefühlswelt beinhalten (Lewis &
Michalson 1985). Eine Konkordanz zwischen Gesichtsausdruck und Gefühlen sei erst durch einen Lernprozeß möglich. Ab dem 6. bis 18. Monat jedoch bestehe ein Zusammenhang, der durch Einflüsse der Sozialisation
danach wieder diskonkordant werde. Diese Autoren vertreten die Position,
daß sich erst durch Sozialisation ein Zusammenhang zwischen emotionalem
Ausdruck und einem Gefühlszustand etabliere.
Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit
127
Da die Bindungstheorie in den letzten Jahren viel zum Verständnis der
entstehenden Mutter-Kind-Beziehung beigetragen hat, soll auf deren Untersuchungsmethodik und Ergebnisse hier etwas genauer eingegangen werden.
Je nachdem, wie die Bezugsperson sich auf das Kind einlassen kann, entwickelt das Kind eine sichere oder unsichere Bindungsbeziehung. Nach Bowlby ermöglicht eine sichere Bindung dem Kind, sich der Umwelt und dem
Fremden zu nähern und beides zu explorieren. Durch seine Erfahrung im
ersten Lebensjahr hat das Kind die Gewißheit, daß es die Bezugsperson bei
Gefahr als Hafen der Sicherheit aufsuchen kann und dort emotional sowie
physisch geschützt wird.
Mit dem Verfahren der Fremden Situation wird das Bindungsmuster des
Kindes festgestellt. In dieser standardisierten Laborsituation (acht dreiminütige Sequenzen) werden die emotionalen Ressourcen des meist einjährigen
Kindes untersucht. Das Kind wird in einer ihm fremden Situation (unbekannter Raum mit ihm fremder Person) zweimal einer kurzen Trennung
(max. 3 Minuten) von seiner Bezugsperson ausgesetzt. Anhand der Reaktion
des Kindes bei der Wiedervereinigung mit seiner Bezugsperson, wird das
Kind in eine von vier Bindungsmustern klassifiziert (sicher-gebunden, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent und desorganisiert-desorientiert).
Grossmann (1981) zeigte Neutralisierung von expressivem Verhalten mit
12 Monaten in der Fremden Situation. Einige Kinder zeigten als Reaktion auf
eine Wiedervereinigung mit ihrer Bezugsperson ein Vermeiden an Nähe
(Klassifikation: unsicher-vermeidend). Sie demonstrieren weniger negativen
Affekt, wenn die Mutter sich räumlich trennt, oder weniger positiven Affekt,
wenn sie wiederkommt. Doch Analysen des Kortisolspiegels zeigen, daß
diese Kinder sehr gestreßt sind. Der Streß ist jedoch nicht sichtbar, weil
diese Kinder vermehrt ihre Umgebung explorieren und so nicht offensichtlich unter der Trennung von der Mutter leiden (Spangler 1995).
Bindungsforscher (Grossmann et al. 1985; Simó et al. 2000) erklären das
kindliche Verhalten damit, daß diese Kinder eine Bezugsperson haben, die
nicht unterstützend auf ihre emotionale Befindlichkeit eingeht. Die Mütter
sind meist emotional zurückweisend oder abwehrend. Diese Kinder erfahren Bestätigung von ihrer Bezugsperson, indem sie unabhängiges Verhalten
zeigen, d. h. sie werden in ihrem Explorationsverhalten unterstützt und
haben weniger positive Erfahrung in ihrem Bedürfnis nach Sicherheit gemacht. Aus Sicht der Bindungstheoretiker, haben unsicher-ambivalent gebundene Kinder unterstimulierend oder wenig responsive Mütter (Belsky &
Isabella 1988), die zudem oft widersprüchlich handeln. Sie zeigen intrusivstörendes Verhalten, können aber auch feinfühlig sein. Für die Kinder ist
das mütterliche Verhalten schwer voraussagbar (Cassidy & Berlin 1994).
Bezugspersonen hingegen, die feinfühlig mit ihrem Kind in Interaktionen
zu beobachten sind oder auch Gemeinsamkeit und Synchronizität zeigen (de
Wolff & van IJzendoorn 1997), haben mit größerer Wahrscheinlichkeit
128
Gesine Schmücker
Kinder, die sicher gebunden sind. Feinfühliges Elternverhalten wird anhand
von vier Merkmalen definiert: Wahrnehmen der Signale und Bedürfnisse des
Säuglings, angemessenes Interpretieren der Signale, angemessenes Reagieren
und promptes bzw. kontingentes Reagieren.
Das Bindungsmuster eines Kindes sollte nicht als determiniert erachtet
werden. Im Laufe der kindlichen Entwicklung zum Erwachsenenalter gibt
es viele Faktoren die Kinder in ihrer Bindungsbeziehung beeinflussen und
zu einer Veränderung im Bindungsmuster führen können (Becker-Stoll
1997; Zimmermann et al. 2000). Dies sind meist Veränderungen von Interaktionserfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen, sei es der Verlust dieser
Beziehung oder ein Neuanfang (Egeland & Farber 1984).
EMOTIONEN UND DIE KINDLICHE ENTWICKLUNG
Daß der emotionale Austausch ein wichtiger Baustein der kindlichen Entwicklung ist, wurde bereits erläutert. Inwiefern die Fähigkeiten des Kindes,
sich kognitiv und sozial zu entfalten, mit der Qualität dieses Austausches
zusammenhängen, ist vielfach untersucht worden. Im folgenden werden
Ergebnisse aus der Bindungsforschung sowie Erkenntnisse aus Studien an
klinischen Stichproben dargestellt.
Frühe Studien bringen das Bindungsmuster des Kindes in einen engen
Zusammenhang mit einer Reihe von kindlichen Fähigkeiten. Ob ein Kind
sicher oder unsicher gebunden ist, scheint eine gewisse Voraussagekraft
bezüglich der individuellen Unterschiede in sozialen und PersönlichkeitsDimensionen zu haben, z. B. wie hoch die Frustrationstoleranz in Problemlösesituationen ist (Matas et al. 1978); wie die Qualität des Affekts im Spiel
ist (Main 1973); oder wie neugierig sich ein Kind zeigt (Arend et al. 1979).
Zweijährige, die mit 12 Monaten in der Fremden Situation als sicher gebunden eingestuft wurden, konnten in einer Überforderungssituation die Hilfe
der Mütter besser nutzen, um die Aufgabe zu lösen, und blieben konzentrierter als Kinder mit unsicherer Bindungsqualität (Schieche 1996). Im Kindergartenalter zeigen sicher gebundene Kinder (mit 1 Jahr klassifiziert) mehr
soziale Kompetenz, sie lösen Konflikte mit Gleichaltrigen selbständiger, sie
spielen konzentrierter und sie unterstellen anderen weniger oft feindselige
Absichten (Suess et al. 1992).
Studien mit klinischen Stichproben ermöglichen eine Untersuchung der
Mutter-Kind-Interaktion unter erschwerten Bedingungen. Sie zeigen, wie
z. B. durch eine Depression der Mutter oder durch eine Frühgeburt die
Mutter-Kind-Interaktion beeinträchtigt werden kann.
Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit
129
Wie Mutter und Kind in dem beobachtbaren Aspekt ihrer Beziehung,
der Interaktion, emotional miteinander interagieren, erweist sich als prädiktiv für die weitere Entwicklung des Kindes (z. B. Murray et al. 1993, Miller
et al. 1993; Esser et al. 1995). Wenn die Mutter beeinträchtigt ist, kann nicht
nur die emotionale Entwicklung des Kindes in Mitleidenschaft gezogen
werden, sondern auch dessen spätere soziale und kognitive Entwicklung. So
zeigen Murray et al. (1993), daß postnatal depressive Mütter weniger säuglingszentriert sind als gesunde Mütter, und stellen einen Zusammenhang mit
der schlechteren kognitiven Entwicklung ihrer 18 Monate alten Kindern im
Vergleich zu Kindern gesunder Mütter her.
Sogar im Alter von 4 Jahren können sich noch Beeinträchtigungen in der
kognitiven Entwicklung zeigen, wenn die Mütter im ersten Lebensjahr des
Kindes depressiv waren (Sharp et al. 1995). Eine Erklärung für diese Beeinträchtigung ist die Annahme, daß Mütter mit postnataler Depression im
Vergleich zu gesunden Müttern weniger zugänglich sind. Depressive Mütter
kontrollieren ihre Kinder mehr (Mills et al. 1985), machen mehr kritische
Aussagen, engen ihre Kinder körperlich mehr ein (Schmücker 1997) oder
ziehen sich emotional und körperlich zurück (Weissman & Paykel 1974).
Studien zeigen weiterhin, daß die Qualität der Mutter-Partner-Beziehung
einen Einfluß auf die Entwicklung des Kindes haben kann: Je positiver der
Affekt zwischen Mutter und Partner, desto mehr Wärme zeigt sich in der
Eltern-Kind-Beziehung und desto weniger wahrscheinlich sind externalisierende Verhaltensauffälligkeiten des Kindes (Miller et al. 1993).
In der Mannheimer Risikokinderstudie, in der die Entwicklung von Kindern mit unterschiedlichem psychosozialen und biologischen Risiko untersucht wurde (siehe Esser et al. 1993; Laucht et al. 1992; Schmidt et al. 1992)
zeigte sich, daß in der Mutter-Kind-Interaktion insbesondere das sogenannte „negative Erziehungsverhalten“ der Mutter (Esser et al. 1995) die weitere
psychosoziale Entwicklung ihrer Kinder mitbestimmte.1 Die psychosozialen
Risiken in den untersuchten Familien wirken sich über das Erziehungsverhalten der Mutter als Mediator-Variable auf die psychosozialen Probleme
der Kinder aus. Weitere Untersuchungen derselben Stichprobe ergaben, daß
Mütter und Kinder, deren Interaktionen mit 2 und 4,5 Jahren als „gestört“
definiert wurden, schon in ihren Interaktionen mit 3 Monaten auffällig waren. Besonders bei den Müttern zeigte sich, daß sie ihr Kind weniger anlächelten und sich nicht so oft der Ammensprache bedienten. Diese Ergebnisse unterstreichen, daß die Qualität der frühen Mutter-Kind-Interaktion
bereits in den ersten Monaten als prädiktiv für die fortlaufende Entwicklung
des Kindes angesehen werden kann.
1
Was genauer unter „negativem Erziehungsverhalten“ zu verstehen ist, bleibt allerdings vage und wird weder durch Begriffsbestimmungen präzisiert noch an typischen Beispielen illustriert.
130
Gesine Schmücker
Die sozioemotionale Entwicklung von Frühgeborenen im ersten Lebensjahr wurde sehr intensiv untersucht. Frühgeborene, die durch ihre physische
Unreife organischen Risiken ausgesetzt sind, unterscheiden sich in ihrer
affektiven Entwicklung häufig von Reifgeborenen, doch sind hier die Ergebnisse nicht ganz einheitlich. Im ersten Lebensjahr zeigen Frühgeborene in
der Interaktion mit ihrer Mutter mehr negativen Affekt (Brachfeld et al.
1980), weniger positiven Affekt (Garner & Landry 1992), sind passiver und
nicht so sozial zugewandt wie Reifgeborene (Malatesta et al. 1986). So
scheint das Gestationsalter, d. h. die Dauer der Reifung im Mutterleib, die
emotionale Expressivität der Säuglinge zu beeinflussen.
Frodi & Thompson (1985) hingegen finden keinen Unterschied hinsichtlich des affektiven Gesichtsausdrucks oder der affektiven Regulation bei
Frühgeborenen im Vergleich zu Reifgeborenen; aber die frühgeborenen
Kinder dieser Studie waren in der Mehrzahl weniger belastet: Die Frühgeborenen-Stichprobe in Garner & Landrys Studie (1992) hatten ein niedrigeres
Geburtsgewicht und Gestationsalter. Dies weist daraufhin, daß das Ausmaß
der Belastung entscheidend für die affektive Entwicklung des Kindes zu sein
scheint.
Nicht nur Frühgeborene, sondern auch deren Mütter weisen in ihrem affektiven Verhalten im Vergleich zu Müttern von Reifgeborenen weniger
optimale Interaktionen auf. Auch hier sind die Ergebnisse zum Teil widersprüchlich: In einer Studie von Barnard et al. (1984) zeigten sich Mütter im
ersten Lebensjahr ihrer frühgeborenen Kinder passiver und weniger liebevoll. Sie zeigten weniger positiven Gesichtsausdruck als Mütter von Reifgeborenen (Crnic et al. 1983; Malatesta et al. 1986). Auch in der Studie von
Goldberg et al. (1990) waren Mütter von Frühgeborenen weniger emotional
einfühlsam als Mütter von Reifgeborenen. Andere Studien dagegen zeigen,
daß Mütter Frühgeborener mehr Körperkontakt aufnahmen (Brachfeld et al.
1980; Malatesta et al. 1986) und zärtlicher waren als Mütter von Reifgeborenen (Crawford 1982). Field (1977) und auch Crnic et al. (1983) stellen fest,
daß Mütter von frühgeborenen Säuglingen aktiver waren als Mütter von
Reifgeborenen. So scheinen sich manche Mütter auf die sensiblen Bedürfnisse ihrer frühgeborenen Säuglinge einstellen zu können.
Diese sich widersprechenden Ergebnisse können nur dann erhellend in
den Wissensstand über die Einflüsse der Frühgeburtlichkeit integriert werden, wenn die Merkmale der Stichproben (wie z. B. das organische Risiko
der Kinder und die psychische Verfassung der Mütter) miteinbezogen werden. Die verminderte Interaktionssensibilität der Mütter könnte zum Teil
auf die eingeschränkte Expressivität des Frühgeborenen zurückgeführt werden, aber auch auf die vorzeitige Geburt, die für Mütter den Verlust einer
normalen Schwangerschaft und eine große psychische Belastung darstellt
(Meyer et al. 1995). Mütter reagieren oft mit Angst und Depression auf die
Frühgeburt (Gennaro 1988; Locke et al. 1997).
Emotionale Entwicklung in der frühen Kindheit
131
Inwiefern die Interaktionsauffälligkeiten bei frühgeborenen Kindern und
deren Müttern für Entwicklungsverzögerungen mit verantwortlich gemacht
werden können, ist nicht geklärt. Doch Ergebnisse von anderen klinischen
Stichproben wiesen auf den signifikanten Beitrag hin, den die affektive
Kommunikation auf die Entwicklung des Kindes leistet (Esser et al. 1995;
Murray et al. 1993; Miller et al. 1993).
Welche Parameter die Interaktionsqualität als optimal oder für das Kind
förderlich definieren, ist von der jeweiligen Studie und der zugrundeliegenden Theorie abhängig. Dix (1991) beurteilt den Affekt als den möglicherweise wichtigsten Aspekt in der Erfassung der Eltern-Kind-Beziehung und
faßt die Erkenntnisse der Zusammenhänge zwischen der Eltern-KindBeziehung und dem Affekt in folgenden vier Punkten zusammen:
(1)
(2)
(3)
(4)
Negativer sowie positiver Affekt begleiten das Pflegeverhalten (parenting)
der Affekt der Eltern spiegelt die Qualität des Umfelds wider, in dem
das Kind aufwächst
Eltern werden von unterschiedlichen Stressoren sowie Unterstützung
beeinflußt
chronischer und intensiver negativer Affekt der Eltern ist ein Zeichen
einer dysfunktionalen Familie.
Ein Zusammenhang zwischen der Interaktionsqualität bei Mutter und Kind
und der Entwicklung des Kindes konnte in einigen Studien gezeigt werden.
Wenn Eltern lernen, in der Interaktion feinfühliger und angemessener auf
ihr Kind einzugehen, vergrößert sich vermutlich die Chance für eine bessere
Entwicklung des Kindes (z. B. de Wolff und van IJzendoorn 1997). Dies
wäre ein Ansatzpunkt für Interventionen.
SCHLUSSFOLGERUNG
Der frühe emotionale Austausch zwischen Mutter und Kind ist ein Grundbaustein, auf den die weitere Entwicklung des Kindes aufbaut. Daß Säuglinge in den ersten Lebenswochen die Möglichkeit haben, differenziertes Emotionsausdrucksverhalten zu zeigen ist unbestritten, doch ab welchem Entwicklungsschritt mit dem Zeigen von Emotionen auch das Erleben von
Gefühlen einhergeht, ist noch offen.
Einige Studien haben den Zusammenhang zwischen einem spezifischen
Interaktionsverhalten und einer besseren Entwicklung gezeigt. In der Mutter-Kind-Interaktionsforschung sind die Meßmethoden eher heterogen was
die Methoden des Datenerhebens sowie die zu untersuchenden Konstrukte
anbelangt. Die prima facie Widersprüchlichkeit einiger Ergebnisse kann aus
132
Gesine Schmücker
diesem Grunde oft nicht geklärt werden, da die Methodik selten einheitlich
ist. Doch zeigt sich ein gewisser Konsens, was eine gelungene Interaktion
zwischen Mutter und Kind ausmacht. Eine zeitliche sowie affektive Komponente scheint bedeutend, doch die exakte Definition dieser Parameter ist
noch nicht geklärt. In der Bindungsforschung ist die Meßmethode einheitlicher, und die Konstrukte sind nicht so vielfältig. Eine feinfühlige Bezugsperson trägt zu einem großen Maß dazu bei, daß sich ein Kind als sicher
gebunden entwickelt, was wiederum eine optimale Voraussetzung für einen
positiven Entwicklungsverlauf darstellt. Doch sollten frühe Interaktionserfahrungen nicht immer als determinierend für den ganzen Lebenslauf angesehen werden. Wichtige Lebensereignisse im Laufe der Entwicklung, wie
der Verlust einer Bezugsperson oder der Aufbau einer Vertrauensbeziehung,
können den Verlauf beeinflussen.
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Cord Benecke und Gerhard Dammann
UNBEWUSSTE EMOTIONEN
Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt und uns durch
die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die
Außenwelt durch die Angaben der Sinnesorgane. (Freud 1900, 617 f.)
D
ie These Freuds, daß das Seelenleben im wesentlichen unbewußt
ist, bildet bis heute die fundamentale Grundannahme der Psychoanalyse und wird mittlerweile in weiten Teilen von anderen Wissenschaftsdisziplinen, insbesondere der Neurobiologie,1 gestützt. Freud
(1915b) lehnte es allerdings ab, von „unbewußten Affekten“ zu sprechen.
Noch heute wird insbesondere von kognitiven Psychologen die Ansicht
vertreten, daß es Emotionen ohne bewußtes Erleben nicht geben kann: „In
agreement with Freud, I would argue that it is not possible to have an unconscious emotion because emotion involves an experience, and one cannot
have an experience that is not experienced“ (Clore 1994, 285).
Für führende Neurobiologen wie Joseph LeDoux oder Gerhard Roth
steht die Existenz von unbewußten Emotionen dagegen außer Frage:
Evolutionär sind die Emotionen nicht als bewußte, sprachlich oder sonstwie
differenzierte Gefühle entstanden, sondern als Hirnzustände und körperliche
Reaktionen. Die Hirnzustände und körperlichen Reaktionen sind die grundlegenden Tatsachen einer Emotion und die bewußten Gefühle sind die Verzierungen, die dem emotionalen Kuchen zu einen Zuckerguß verhalfen (LeDoux
1998, 325).
1
Gerhard Roth unterzieht die zentralen Aussagen der Freudschen Theorie einer dezidierten kritischen Prüfung anhand der Befundlage der Neurobiologie und kommt zu dem
Schluß, daß „die Übereinstimmungen zwischen der Psychoanalyse Freuds und den neueren Erkenntnissen der Hirnforschung [...] zumindest so weit gehen, daß sich ein intensives Gespräch zwischen beiden ‚Lagern‘ lohnt“ (Roth 2001, 376). Bezieht man die Entwicklungen seit Freud mit ein (z. B. Krause 1997, 1998; Sandler & Sandler 1999; Zepf
2000; Fonagy et al. 2002), so stellt sich die Psychoanalyse als eine lebendige, moderne
Wissenschaft dar, auch wenn viele ihrer Begrifflichkeiten einen etwas verstaubten Klang
zu haben scheinen.
140
Cord Benecke und Gerhard Dammann
Im folgenden Beitrag soll sich der Frage zugewandt werden, wie unbewußte
Emotionen konzeptualisierbar sind, welche Hinweise es auf ihre Existenz
gibt, welchen Stellenwert und welche Wirkungen unbewußte Emotionen im
psychischen Geschehen haben und wie wir unbewußter Emotionen gewahr
werden können.
PSYCHOANALYTISCHE EMOTIONSTHEORIE
Obwohl in der klinischen Arbeit von Psychoanalytikern unbewußte „Gefühle“ (z. B. unbewußte Schuldgefühle, unbewußte Aggression usw.) von je her
eine große Rolle spielen, existiert bis heute keine einheitliche psychoanalytische Emotionstheorie. Dies liegt darin begründet, daß Freud in seiner Theoriebildung dem Trieb die zentrale Bedeutung beimaß und Emotionen, Affekte, Gefühle im wesentlichen als abgeleitete Größen betrachtete (vgl. Kruse 2000). Affekte werden als Entladungsvorgänge von Triebregungen betrachtet. Das Wesentliche sind die Triebe und diese finden durch Affektrepräsentanzen und Vorstellungsrepräsentanzen ihren Ausdruck (Freud
1915b). Erst sehr viel später gesteht Freud (1926) den Affekten, insbesondere der Angst, einen von den Trieben in gewisser Weise unabhängigen Status
zu. Die Angst dient dem Ich nun als Signal zur Mobilisierung von Abwehrmechanismen. Hier sind die Affekte kein bloßes Epiphänomen von Triebregungen, sondern haben bedeutsame Funktionen innerhalb der unbewußten Dynamik.
Zwar meinte Freud (1926), daß Affekte wie die Angst eine biologische
Notwendigkeit seien. Dennoch hat sich in der Psychoanalyse lange und zum
Teil bis heute die Vorstellung erhalten, daß keine evolutionär entstandenen,
biologisch vorgeprägten Emotionen existieren, sondern daß sich die diskreten Emotionen durch Sozialisationserfahrungen aus der undifferenzierten
Lust-Unlust-Matrix entwickeln (vgl. Zepf 2000).
In den letzten Jahren gab es, insbesondere unter dem Eindruck der Ergebnisse der Säuglingsforschung, verschiedene Revisionsversuche der psychoanalytischen Konzeption von Emotionen. Dabei wurde zum einen versucht, das durch die duale Triebtheorie angelegte Primat zweier Hauptemotionen (Liebe und Haß) zu überwinden bzw. die erdrückende Evidenz für
die Existenz eines früh vorhandenen, biologisch vorgeprägten Emotionssystems zu integrieren. Zum anderen richten sich die Bemühungen auf die
Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Trieben/Motiven und Emotionen. Damit einhergehend finden die spezifischen beziehungsregulierenden, interaktiven Funktionen der verschiedenen Emotionen eine immer
stärkere Beachtung.
Unbewußte Emotionen
141
Eine an das biologische Erbe anknüpfende Emotionskonzeption, inklusive einer funktionalen Spezifität von Affekten und den daraus resultierenden Handlungsdispositionen wurde von Krause (1990) unter Verweis auf
eine „Propositionale Struktur der Affekte“ vorgelegt. Jedem der Primäraffekte kann eine spezifische Auslösekonfiguration, d. h. eine bestimmte subjektive Bewertung einer Situation bzw. eines Objektes, zugeschrieben werden sowie ein spezifischer Regulierungswunsch bzw. eine spezifische Botschaft an den jeweiligen Interaktionspartner (Krause et al. 1992).2
Im Kontext der Interaktionsregulierung bedeutet dies, daß die negativen
Affekte Wünsche nach veränderter Objektbeziehung beinhalten, während
der positive Affekt „Freude“ eine belohnende und verführende Funktion
inne hat, also den Wunsch nach Fortführung der laufenden Aktivität.3 Über
den Affektausdruck können Regulationswünsche und Handlungsbereitschaften dem Interaktionspartner mitgeteilt werden; gleichzeitig kann der
Interaktionspartner dadurch Rückschlüsse auf den subjektiven Bedeutungsgehalt einer Situation für den Sender ziehen.
Krause et al. (1992) untergliedern „Emotionen“ bzw. das „Emotionssystem“ in zwei Bereiche mit jeweils mehreren Komponenten, wodurch auch
eine Unterscheidung von Affekt, Gefühl und Selbst- bzw. Fremdempathie
möglich wird. Zum Bereich der „occurring emotions“ gehören drei Komponenten: (1) eine motorisch-expressive Komponente (z. B. Mimik), (2) eine
physiologische und (3) eine motivationale Komponente (Handlungsbereitschaft in der Willkürmotorik). Zum Bereich der „experienced emotions“
zählen (4) die Komponente der Wahrnehmung der körperlichen Korrelate,
(5) die Benennung und Erklärung der Wahrnehmungen, und (6) die Wahrnehmung der situativen Bedeutung (Krause 1997). Das Vorhandensein der
ersten drei Komponenten bedarf keiner selbstreflexiven Anteile und wird als
Affekt bezeichnet. Bei Hinzutreten der Wahrnehmungs- bzw. Erlebenskomponente wird von Gefühl gesprochen, wobei dies noch keine sprachlichsemantische Fassung erhalten muß. Erst wenn auch letzteres gegeben ist (5),
2
Trotz der Vielzahl unterschiedlicher Gefühlszustände und emotionalen Reaktionen beim
Menschen (die meisten Sprachgemeinschaften verzeichnen gewöhnlich mehrere hundert
verschiedene Emotionswörter), hat sich innerhalb der Emotionsforschung die Vorstellung von sogenannten Primär- oder Basisaffekten durchgesetzt. Unter „Primäraffekten“
(Krause 1990), „primary motives“ (Tomkins 1982), „basic emotions“ (Ekman 1992) werden eine begrenzte Anzahl von Affekten verstanden, die, ausgehend von Untersuchungen des motorisch-expressiven Anteils (insbesondere der Mimik), als zu einem hohen
Grade kulturinvariant angesehen werden (Ekman, Friesen & Ellsworth 1972). Ekman
(1992) nennt Ärger, Angst, Trauer, Freude, Ekel und Überraschung, für welche die Kulturinvarianz als gesichert erscheint; gewöhnlich wird auch Verachtung (z. B. Krause
1990) zu den Primäraffekten gezählt.
3
Ausführliche Diskussionen der Funktionen der Primäraffekte finden sich in Ulich &
Mayring (1992), Krause (1990; 1998; 2002) und Benecke (2002).
142
Cord Benecke und Gerhard Dammann
mit „einem ‚realen’ Wissen über den Verursacher und den Erleber des Affekts“ (Krause et al. 1992, 242), wird von Selbst- bzw. Fremdempathie gesprochen. Bei gesunden Erwachsenen ist Krause zufolge unter normalen Randbedingungen keine Kongruenz der verschiedenen Bereiche zu erwarten. Die
Unbewußtheit des Emotionsprozesses ist demnach der Normalfall. Von
einer voll bewußt erlebten Emotion kann also nur gesprochen werden,
wenn alle Komponenten gegeben sind.4
MOTIVE UND EMOTIONEN
Für das Verständnis der Funktion von Emotionen, nicht nur aus psychoanalytischer Perspektive, ist das Verhältnis zwischen Trieb/Motiv einerseits und
Emotion andererseits entscheidend. Die weitgehende Anerkennung der
biologischen Präformierung von Affekten hat innerhalb der Psychoanalyse
zu einer Tendenz geführt, „die Triebtheorie ganz durch eine Emotionstheorie zu ersetzen“ (Kruse 2000, 67). Kernberg (1991) beispielsweise dreht das
Verhältnis von Trieb und Affekt um, indem er Triebe als hierarchisch übergeordnete Integrationsprodukte der entsprechenden „hedonischen“ bzw.
„anhedonischen“ Affekte betrachtet; Affekte seien die Bausteine der Triebe.
Krause betrachtet Affekte als „die psychischen Repräsentanzen von hierarchisch organisierten, aus dem Körperinneren und durch externe Reize aktivierbaren zielorientierten Motivsystemen“; weiter schreibt er: „Die Triebe
zeigen sich also meist in Form spezifischer Appetenzen, d. h. als Affekte“
(Krause 1998, 49). Dornes (1997, 42) regt an, „Affekte und nicht Triebe als
primäre Motivationssysteme“ zu betrachten und zu akzeptieren, daß „Motive wie Interesse/Neugier, Freude, Furcht und Überraschung nicht Umwandlungen von Trieben sind, sondern selbständige und triebunabhängige
Antriebskräfte“. Auch Zepf (1997a; 1997b; 2000) schafft das Freudsche
Triebkonzept unter der Hand ab, indem er die Bedürfnisstruktur eines jeden
Menschen als ausschließlich sozial hergestellt betrachtet.
Es wird deutlich, daß das Verhältnis zwischen Affekten und Motiven/
Trieben letztlich nicht geklärt ist, was vor allem daran liegt, daß der Motivbzw. Trieb-Begriff sehr unterschiedlich verwendet wird. Versteht man unter
Motiv eine aktuelle, konkrete Handlungsbereitschaft, dann ist das Motiv
eher ein Teil des Affekts. Wird unter Motiv/Trieb ein hierarchisch übergeordnetes Ziel verstanden, wie z. B. das nach Bindung oder Status oder, noch
weiter oben angesiedelt, das nach Selbsterhaltung oder Fortpflanzung, dann
4
Die weiter unten erwähnten Studien zum mimisch-affektiven Verhalten zeigen entsprechend, daß das sehr reichhaltige interaktive Geschehen weitgehend ohne bewußtes „Monitoring“ abläuft (Krause 1997).
Unbewußte Emotionen
143
erscheint eine Gleichsetzung von Motiv und Affekt wenig glücklich: Die
Annahme, es gebe ein biologisch verankertes Motiv, sich zu ärgern, Angst
zu haben oder zu trauern, erscheint wenig plausibel. Die Zepfsche Position,
wonach der Mensch als Tabula rasa geboren wird, ohne jegliche biologisch
vorgeprägte motivationale Grundausrichtung oder emotionale Ausstattung,
erscheint ebenfalls unangemessen. Unserer Ansicht nach sind Affekte weder
mit Motiven gleichzusetzen, noch sind sie deren Repräsentanzen oder Bausteine. In Relation zu hierarchisch übergeordneten, biologisch verankerten
Motivsystemen verstehen wir Affekte als Werkzeuge der Motive. Je nach aktiviertem Motivsystem und situativen Bedingungen bzw. deren Interpretation
durch das Subjekt stellen Affekte mehr oder weniger adäquate Werkzeuge
zur Bewältigung der Situation im Hinblick auf das Motiv dar (Benecke
2002). Die einem spezifischen Individuum eigene dominante Motivkonstellation, die individuellen Bewertungs- und Interpretationsmuster und die
entsprechenden emotionalen Reaktionsmuster sind allerdings in hohem
Maße von individuellen, insbesondere frühkindlichen Erfahrungen abhängig
und bilden sich in den sogenannten Repräsentanzen ab.
REPRÄSENTANZEN UND EMOTIONEN
In den letzten Jahren wurde eine Fülle von Forschungsergebnissen vorgelegt
(vornehmlich aus der Bindungsforschung und der sog. Neuen Säuglingsforschung; Übersichten bei Dornes 1997 und Strauß et al. 2002), die in beeindruckender Weise zeigen, wie frühe Beziehungserfahrungen verinnerlicht
werden und sich als psychische Repräsentanzen abbilden. Lorenzer (1972)
sprach von „Interaktionsformen“, Bowlby (1973) von „inneren Arbeitsmodellen“, Jacobson (1964) und Kernberg (1976) von „Selbst- und Objektrepräsentanzen“, Stern (1985) von „RIGs“,5 Sandler & Sandler (1984) von
„dynamischen Schablonen“, Thomä (1999) von „unbewußten Schemata“.
Diese Konzepte sind zwar nicht identisch,6 aber das Gemeinsame ist, daß
sie sich auf den Aufbau einer psychischen Innenwelt und die Ersetzung von
äußeren Handlungsregulationen durch subjektinterne Regulierungen bezie5
RIG := Representation of Interactions that have been Generalized.
6
Der wesentliche konzeptionelle Unterschied findet sich darin, inwieweit die Repräsentanzen tatsächliche Erfahrungen widerspiegeln oder durch intrapsychische Prozesse verändert sind. So orientieren sich die Repräsentanzkonzepte von Bowlby und Stern am tatsächlichen Geschen: Bowlby betrachtet die innere Welt als „einigermaßen genaue Widerspiegelung dessen, was eine Person in der äußeren Welt erfahren hat“ (Bowlby et al.
1986, 43 f., zitiert aus Dornes 1998). „Eine RIG ist etwas, das noch nie in genau dieser
Weise geschehen ist, und doch enthält sie nichts, das nicht schon einmal wirklich geschehen wäre“ (Stern 1985, 110).
144
Cord Benecke und Gerhard Dammann
hen, wobei die Emotionen eine bestimmende Rolle einnehmen. Der Aufbau
der Repräsentanzen erfolgt durch Abstraktion und die innere Verarbeitung
realer Interaktionen.
Laut Kernberg (2001) bilden sich die Repräsentanzen unter dem Einfluß
von „Spitzenaffekten“, d. h. Affektzuständen höchster Intensität. Wir gehen
dagegen davon aus, daß in der normalen frühkindlichen Entwicklung intensive Affektzustände durch die Pflegeperson hinreichend „herunter“-reguliert
werden (mastering), wodurch es dann zu einer Verinnerlichung eben dieser
Regulierungsfunktion von Affekten kommt.7 Findet dagegen kein oder nur
ein unzureichendes Mastering der Affekte des Kindes statt, führt dies zu
extrem bedrohlichen Repräsentanzen, wie sie für Borderline-Patienten beschrieben wurden (vgl. Clarkin et al. 1999).
Psychische Repräsentanzen umfassen affektiv aufgeladene Vorstellungen
über das Selbst, die Objekte und die Interaktionen zwischen beiden. Diese
Repräsentanzen manifestieren sich in aktuellen Beziehungsmustern, sie werden re-inszeniert. Die Außenwelt wird dabei recht konsistent auf der
Grundlage dieser inneren Schablonen wahrgenommen und interpretiert.
Meist begegnet uns die Außenwelt in Form von persönlichen zwischenmenschlichen Begegnungen, welche nach Maßgabe der inneren Schemata
verarbeitet werden. Diese innere Verarbeitung bestimmt schließlich das
Interaktionsverhalten des Subjektes, worauf dann die jeweiligen Interaktionspartner wiederum reagieren, was meist zu einer Stabilisierung des unbewußten Musters führt. Der (maladaptive) Zirkel schließt sich (in Variationen). Im Kern dieses Zirkels stehen die psychischen Repräsentanzen – sie
bestimmen die Wahrnehmung, die Interpretation, die inneren Schlußfolgerungen und Erwartungen und schließlich auch das Verhalten. Entscheidend
für das Verständnis eines jeden Menschen ist also die individuelle Beschaffenheit der jeweiligen Repräsentanzenwelt: Welche Bilder existieren vom
Selbst, welche Bilder existieren von anderen, welche Affekte sind mit diesen
Bildern verknüpft.8
7
In diesem Umgang mit Affekten spiegelt sich die Abwehr der Bezugsperson. So beschreiben Fonagy et al. (1995), wie z. B. Mütter die durch ihre Säuglinge in ihnen ausgelösten Affektzustände abzuwehren versuchen und wie diese Abwehr zu einem den kindlichen Bedürfnissen unangemessenen Interaktionsverhalten führt. Diese Affektabwehr
wiederum kann vom Kind verinnerlicht werden. Dornes (1997, 79 f.) beschreibt die
Auswirkungen einer elterlichen, abgewehrten Depression auf die Affektivität des Kleinkindes.
8
Dabei ist zu vermuten, daß die Affekte die am wenigsten variablen Elemente der Innenwelt darstellen. So führt beispielsweise das Nichteintreten der jeweils gefürchteten Katastrophen bei Patienten mit schweren Angsterkrankungen keineswegs zu einer Verminderung der Angst – der Patient (bzw. die Angst) sucht sich sofort eine neue Bedrohung. Der
Affekt macht die Welt. Die Patienten erleben das freilich anders herum – sie haben Angst,
weil die Welt so schlimm ist. Gleiches dürfte für andere Affekte gelten.
Unbewußte Emotionen
145
Auch wenn eine differenzierte Repräsentanzenwelt sich nach heutigem
Kenntnisstand schon sehr früh entwickelt, so wird üblicherweise angenommen, daß sich ein Bewußtsein darüber erst mit dem Spracherwerb, die an
die Entwicklung der Symbolfunktion gekoppelt ist, bildet. Mit der Entwicklung der Symbolfunktion, der Bildung von Begriffen, ist die Voraussetzung
gegeben, daß psychische Repräsentanzen selbstreflexives Bewußtsein erlangen können (Zepf 1997a). Das heißt aber nicht, daß sich das Subjekt von
nun an seines Handelns und seiner Innenwelt durchgängig bewußt wäre. Im
psychodynamischen Verständnis sind die Repräsentanzen keine einfachen
Abbilder der realen Interaktionen, sondern stellen vielmehr immer auch
konflikthafte Kompromißbildungen dar. Zudem werden sie bei ihrer Aktualisierung den gegebenen Umständen angepaßt.
Sandler & Sandler unterscheiden zwischen dem Vergangenheitsunbewußten und dem Gegenwartsunbewußten. Das Vergangenheitsunbewußte
enthält „die ganze Stufenleiter unmittelbarer, drängender Wünsche, Impulse
und Reaktionen des Individuums, die früh in seinem Leben entstanden
sind“ (1984, 802), inklusive der damals entwickelten Konfliktlösungen, die
eine „imperative Qualität“ erhalten und reaktiviert werden, „wann immer
die mit dem spezifischen Konflikt (oder dem Signal eines unlustvollen Affektes) verbundene Pein oder Angst sich meldet“ (ib., 803). Die (immer
auch objektbezogenen) Inhalte des Vergangenheitsunbewußten werden in
eine „erwachsene Form“ gebracht. Diese in eine für den Erwachsenen angemessene Form übersetzten infantilen Impulse bzw. Phantasien bilden die
Inhalte des Gegenwartsunbewußten. Das Gegenwartsunbewußte stellt also
„Modifikationen der phantasierten Interaktion zwischen Selbst und Objekt
dar“ (ib., 806). Führen diese modifizierten Phantasien und Impulse zu keinen Konflikten, können sie ungehindert ausgelebt werden. Üblicherweise
lösen aber auch die in eine erwachsene Form gebrachten Kindheitsimpulse
negative Affektsignale aus, so daß eine „zweite Zensur“ greift; der modifizierte Impuls muß erneut bearbeitet oder abgewehrt werden.
Aus einer neurobiologischen Perspektive kommt Henningsen (2000)
ebenfalls zu dem Schluß, daß die Repräsentanzen keine statischen, im Gedächtnis gespeicherten Einheiten sind, sondern daß vielmehr davon ausgegangen werden muß, daß die Selbst- und Objektbilder in einer je gegebenen
Situation immer wieder neu, dynamisch und kontextabhängig konstruiert
werden.9 Ergebnis dieser „Neukonstruktion“ sind im Wesentlichen mehr
oder weniger realitätsangemessene Phantasien über das Selbst und die Objekte und die mit diesen Phantasien verbundenen Emotionen.
9
Diese Prinzipien der Dynamik und Konstruktivität gelten wohl für Gedächtnisleistungen
generell (vgl. z. B. Rusch 1991; Leuschner et al. 1998).
146
Cord Benecke und Gerhard Dammann
EMOTIONEN UND PHANTASIEN
Zum Verständnis der menschlichen Emotionalität ist es deshalb unumgänglich, die Wechselwirkungen zwischen Phantasien und Emotionen zu betrachten. Während Emotionen vor dem Erwerb der Symbolfunktion von
der aktuellen (interaktionellen) Realität abhängen (siehe unten), können sie
später durch die Kopplung an die Phantasie auch durch aktuell nicht vorhandene Realitäten ausgelöst oder aufrechterhalten werden. Das Verhältnis
von Emotion und Vorstellung läßt sich folgendermaßen hypostasieren:
Ebenso wie Beziehungen und Handlungen in der Realität von Emotionen
begleitet und gesteuert werden, werden auch die Beziehungen und Handlungen in der Phantasie von Emotionen begleitet gesteuert.
In vielen Konzepten dominiert die Sichtweise, daß Emotionen durch
kognitive Operationen ausgelöst werden. So spricht Bischof (1989) in diesem Zusammenhang von einem internen Umweltsimulator, von einem Probehandeln in der Phantasie zur Auswahl von Handlungen, ebenso der Philosoph Dennett (1999), aber auch schon Freud (1933). Dornes schreibt:
„Unter einem symbolisierten Affekt verstehe ich, daß wir uns Personen und
Situationen vorstellen können, und daß solche Vorstellungen einen Affekt
auslösen können“ (Dornes 1995, 34). Die Möglichkeit der phantasiebedingten Affektauslösung verändert die Gefühlswelt des Menschen also in mehrfacher Hinsicht. Zum einen können aktuelle Zustände/Affekte durch das
Evozieren von Phantasien reguliert werden; zum anderen können die Affekte durch Kopplung an entsprechende Phantasien erheblich intensiviert werden und durch die anhaltende oder wiederholte Aktivierung einer Phantasie
zu einer Art Dauerzustand werden, wodurch die ursprünglich adaptive
Funktion des Affektes verloren gehen kann. Letzteres trifft natürlich auch
und gerade dann zu, wenn es sich um eine unbewußte Phantasie handelt
oder um ein unbewußtes Schema (Thomä 1999), wodurch die aktuellen
Beziehungen gemäß dieses Schemas dauerhaft affektiv eingefärbt werden
können.
Aber Denkprozesse haben nicht nur Einfluß auf die Affektivität, auch
das Umgekehrte gilt. So geht z. B. Bower (1981) in seinem assoziativen
Netzwerkmodell des stimmungsabhängigen Erinnerns von einer bidirektionalen Aktivierbarkeit zwischen Emotionsknoten und den damit verknüpften
Komponenten (z. B. Ereigniseinheiten) aus. Auch die neurophysiologische
Forschung legt eine Beeinflussung von kognitiven Vorstellungsinhalten
durch Emotionen nahe: „Wie die Dinge heute liegen, hat die Amygdala
einen größeren Einfluß auf den Kortex als der Kortex auf die Amygdala, so
daß emotionale Erregung das Denken dominieren kann“ (LeDoux 1998,
325). Ciompi, der den Zusammenhang von Affekt und Kognitionen unter
chaostheoretischer Perspektive betrachtet, spricht von „Schaltwirkungen
von Affekten auf Denken und Verhalten“ (1997, 262).
Unbewußte Emotionen
147
Man muß aber wohl annehmen, daß diese Schaltwirkungen noch über
die Selektion und emotionale Einfärbung von Kognitionen hinausgehen,
und zwar in dem Sinne, daß Affekte eine aktive Rolle bei der Gestaltung
von Phantasien haben können.10 Man könnte von einer Gestaltungswirkung
der Affekte auf die Vorstellungswelt sprechen (Benecke 2002). Es ist von
einem echten Wechselwirkungsprozeß zwischen Vorstellungen und Affekten auszugehen. Phantasien können Affekte auslösen, gleichzeitig haben
Affekte wiederum organisierende Gestaltungswirkung auf die Wahrnehmung, das Denken und Handeln.
Werden Emotionen allgemein als biologisch sinnvolle Einrichtung angesehen (s.o.), so kann die Adaptivität durch die Verknüpfung mit unbewußten Phantasien verloren gehen. Thomä verdeutlicht dies anhand der Unterscheidung zwischen Aggression und Destruktivität. Während Aggression
biologisch sinnvoll ist und auch im Tierreich vorkommt, ist Destruktivität
etwas spezifisch Menschliches und erfüllt keinen biologischen Zweck.
Thomä betrachtet Aggression und Destruktivität als nicht-triebhafte Prozesse, was gerade ihr Zerstörungspotential konstituiert. „Was der menschlichen
Aggressivität ihre Bösartigkeit verleiht und sie so unerschöpflich macht, ist
ihre Bindung an bewußte und unbewußte Phantasiesysteme, die sich selbst
scheinbar aus dem Nichts generieren und zum Bösen degenerieren“ (1990,
37). Scheinbar harmlose Kränkungen „setzen destruktive Prozesse in Gang,
weil diese harmlosen äußeren Reize durch unbewußte Phantasien zu einer
schweren Bedrohung werden“ (ib.). Destruktivität ist in eine Polarität von
Ohnmacht und Allmacht eingebunden und dient dann der „Wiederherstellung des beschädigten Selbstwertgefühls“ (ib., 33).
Eine Konzeption des Menschen ohne die Annahme solcher lebensgeschichtlich entstandenen, unbewußten, emotionalen Dynamiken kann unse-
10 So konnte in mehreren Studien gezeigt werden, daß Kinder mit unterschiedlichen Bindungsqualitäten (erhoben im Alter von 1 Jahr) sich später sehr in ihrer Phantasie unterscheiden: Dreijährige sollten bspw. Puppengeschichten (die um bindungsrelevante Themen zentriert waren) zu Ende spielen; Sechsjährigen wurden Bilder vorgelegt, auf denen
Trennungssituationen dargestellt waren, und die Kinder wurden gefragt, wie sich das
Kind auf dem Bild fühlen könnte und was es als nächstes vermutlich tun werde. Während sicher gebundene Kinder bereitwillig die Trennungsgeschichten zu Ende spielten,
verweigerten sich unsicher gebundene häufiger dem Spiel; sie hatten z. B. keine Idee, wie
es weitergehen könnte oder wollten etwas anderes spielen. Die anfänglich zu beobachtende Antwort- bzw. Spielverweigerung unsicher gebundener Kinder zeugt von einer
Abwehr schon in frühem Alter. Ist diese Weigerung erst einmal überwunden, zeigen sich
affektiv hoch aufgeladene Phantasien: Häuser brennen, Eltern haben tödliche Autounfälle, Kinder bringen sich am besten um (Bretherton et al. 1990; Main 1995; Übersicht bei
Dornes 1998). Die drastischen Phantasien unsicher gebundener Kinder geben den mit
Bindungssituationen verbundenen Affekten eine kognitive Gestalt, einen zum Affekt
passenden kognitiven Rahmen.
148
Cord Benecke und Gerhard Dammann
rer Ansicht nach keine plausiblen Erklärungsansätze für Geschehnisse wie
beispielsweise den Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium bieten, da
es sich nicht mehr um eine raptusartige, aus einem kurzfristigen Affekt entstandene Tat handelt. Der Mensch ist ein Homo symbolicus (Thomä 1990),
mehr noch: ein Homo symbolicus subconscientivus.
FRÜHE UNBEWUSSTHEIT VON EMOTIONEN
Angesichts der Ergebnisse der modernen Säuglingsforschung, die ein reichhaltiges, differenziertes affektives Ausdrucksverhalten schon beim Kleinkind
dokumentieren, hat sich heute die Ansicht weitgehend durchgesetzt, daß der
Mensch mit einer biologisch vorgeprägten emotionalen Grundausstattung
auf die Welt kommt. Daß von der Affektausdrucksfähigkeit eines Kleinkindes auf das Vorhandenseins des entsprechenden Gefühls geschlossen werden kann, wurde verschiedentlich kritisiert (z. B. Sroufe 1979; Lewis et al.
1984). Entsprechend der Unterscheidung innerhalb des Emotionssystems in
occurring und experienced emotions (siehe oben), machen die Kritiker einer
initialen Konkordanz von Gesichtsausdruck und Gefühl das Vorhandensein
eines Ich- bzw. Selbstbewußtseins zur Voraussetzung eines emotionalen
Erlebens. So unterschieden bspw. Lewis & Brooks-Gunn (1978) zwischen
„emotional state“ und „emotional experience“, wobei letztere ein IchBewußtsein zur Voraussetzung hat, was nach Meinung der Autoren erst mit
neun Monaten gegeben ist. So könnten Säuglinge zwar emotionale Zustände
haben, aber keine Gefühle erleben. Für Basch (1976) beginnt echtes emotionales Erleben erst im Alter von eineinhalb Jahren, da er dies von dem Erwerb
der Symbolfunktion abhängig macht. Auch für Moser können die Komponenten 1-3 des Emotionssystems (occurring emotion) aktiviert sein, ohne
daß damit das Erleben eines Affekts einhergeht: „Das Kind ist wohl fähig
zum Ausdruck von Affekten, man nimmt jedoch nicht an, daß bereits ein
Prozeß des Erlebens von Affekten vorliegt“ (1983, 9).
Dornes geht dagegen davon aus, „daß die Konkordanz von Ausdruck
und Gefühl der primäre, nicht erlernte Zustand ist“ (1993, 121). Für diese
Sichtweise sprechen mehrere Argumente: Während die Ausdruckskomponente eines Affekts Signalfunktion hat, hat die Erlebenskomponente eine
motivierende Funktion und schafft Handlungsdispositionen. Im Falle einer
Diskonkordanz von Ausdruck und innerem Zustand würde die dem Ausdrucksverhalten entsprechende, zu adaptivem Verhalten motivierende,
Komponente fehlen. Zum anderen würde das Objekt zu „falschen“ Pflegehandlungen veranlaßt, da ein Zustand signalisiert wird, der nicht vorhanden
ist. Eine solche Konstellation scheint evolutionär höchst unwahrscheinlich,
da der adaptive Wert des Affektsystems eingeschränkt wäre. Die Studien an
Unbewußte Emotionen
149
schwer mißhandelten oder vernachlässigten Kindern (Gaensbauer 1982a,
1982b; Gaensbauer & Hiatt 1984) zeigen, daß sich der Affektausdruck, abweichend von der normalen zeitlichen Entwicklung, in diesen Fällen entsprechend den gemachten Erfahrungen entwickelte und als angemessene,
ontogenetisch adaptive emotionale Reaktion in entsprechenden Situationen
betrachtet werden kann. Zudem sind die mimischen Affektexpressionen der
Kleinkinder von anderen, zum gezeigten Affekt passenden Verhaltensweisen begleitet.11
Es scheint also deutlich, daß schon in frühester Kindheit eine adaptiv
sinnvolle, differenzierte Innenwelt emotionaler Zustände besteht. Die Frage,
ob und in welcher Form von einem emotionalen Erleben gesprochen werden kann, wird dann eher zu einem terminologischen Problem, z. B., wenn
argumentiert wird, daß Erleben ein Ich-Bewußtsein zur Voraussetzung hat.
Auch wenn im frühen Säuglingsalter die Fähigkeit zur selbstreflexiven
Wahrnehmung noch nicht entwickelt ist und damit auch noch kein selbstreflexives, bewußtes Erleben von Affektzuständen, so ist doch klar, daß emotionale Erfahrungen in irgendeiner Form gespeichert werden, sonst wären
die gemachten Erfahrungen bis zur Ausbildung des Ich-Bewußtseins für die
psychische Entwicklung irrelevant. Zudem kann die Entwicklung des IchBewußtseins und der Aufbau der Repräsentanzenwelt, nicht getrennt von
emotionalen Erfahrungen gesehen werden (Stern 1985; Emde 1983; Zepf
1997a).
Das emotionale Geschehen vor der Ausbildung der Sprachfunktion muß
also insofern als unbewußt angesehen werden, da die Voraussetzungen für
ein selbstreflexives Erleben nicht gegeben sind. Nichtsdestotrotz finden diese
Erfahrungen ihre Niederschläge im „emotionalen Erfahrungsgedächtnis“
(Roth 2001, 372) und bestimmen ganz entscheidend das psychische Geschehen auch in späteren Lebensphasen (Beutel 2002).
DESKRIPTIV UNBEWUSSTE EMOTIONEN
Für zahlreiche Kognitions- und Emotionsforscher ist das Vorhandensein
von unbewußten Emotionen ein Widerspruch in sich, da eine Emotion
immer eine bewußte Erfahrung oder ein subjektives Gefühl voraussetzen
müsse. Die traditionale emotionspsychologische Sichtweise definiert Emotionen immer als subjektive Erfahrungen, die selbstverständlich ein Bewußtsein voraussetzen (James 1884; Clore 1994).
11 Das Ärgergesicht wird von schlagenden Arm- und tretenden Fußbewegungen begleitet,
das Trauergesicht von einer zusammengesunkenen Körperhaltung usw.
150
Cord Benecke und Gerhard Dammann
Eine wesentliche Entwicklung innerhalb der Kognitionspsychologie
stellte die Konzeption eines „kognitiven Unbewußten“ durch Kihlstrom
(1999) dar, unter dem er eine Reihe psychischer Phänomene zusammenfaßte, bei denen kognitive Prozesse in Abwesenheit von bewußter Wahrnehmung stattfinden. Kihlstrom und andere Vertreter dieses Modells haben
sich dabei insbesondere auf Analogien zum impliziten Gedächtnis gestützt,
bei dem Effekte früher gelernter Wörter beobachtet werden können, obwohl diese nicht mehr aktiv erinnert werden. Kihlstrom schlägt aus diesem
Grund vor, das „emotionale Unbewußte“ und die „impliziten Emotionen“
als korrespondierende Begrifflichkeiten für unbewußte affektive Reaktionen
zu benützen (Kihlstrom 1999; Kihlstrom et al. 2000).
Einige der stärksten Belege für das Vorhandensein von unbewußten
Emotionen stammen aus Untersuchungen zum subliminalen affektiven
priming, also der wiederholten Darbietung affektiven Materials unterhalb der
bewußten Wahrnehmungsschwelle. Zajonc, der zahlreiche dieser Studien
durchgeführt hat, spricht ebenfalls von „unconscious emotions“ (2000, 32),
betrachtet aber im Wesentlichen die Verursachung (causation) und Zuschreibung (assignment) des Affekts als unbewußt; der affektive Zustand
selbst scheint auch für Zajonc weiterhin eine bewußte Erfahrung vorauszusetzen (Berridge & Winkielman, im Druck).
Der Neurobiologe Joseph LeDoux dagegen definiert „Emotionen als
unbewußte Prozesse [...], denen manchmal bewußte Inhalte entspringen“
(1998, 290). Trotz dieser weitgehenden Unbewußtheit finden emotionale
Prozesse in nahezu jeder Alltagssituation statt und beeinflussen unser Denken und Handeln. Die regulierende und verhaltenssteuernde Bedeutung
dieser unbewußten Emotionen wird erst dann sichtbar, wenn sie ausfallen.
Die dramatischen Auswirkungen auf das Verhalten von Patienten mit Läsionen der entsprechenden Hirnregionen (z. B. des Stirnlappens und der
Amygdala) wurden u. a. von Damasio (1994; 2000) beschrieben. Die Patienten sind nicht nur gefühlskalt, sondern verhalten sich äußert unvernünftig;
z. B. vermeiden sie Gefahren nicht mehr, betragen sich rücksichtslos und
verlieren allgemein die Fähigkeit, aus den Konsequenzen ihres Verhaltens zu
lernen. Solche Patienten sind durchaus zu kognitiven Einsichten über ihr
Verhalten in der Lage, diese Einsichten können aber nicht in die Tat umgesetzt werden, weil ihnen die emotionale Relevanz fehlt. Umgekehrt läßt sich
bei Patienten, die unter einer läsionsbedingten anterograden Amnesie leiden,
nachweisen, daß sie durchaus in der Lage sind, neue Fertigkeiten zu erlernen
und im prozeduralen Gedächtnis zu speichern. Aber auch bei gesunden
Versuchspersonen kann durch Emotionen gesteuertes prozedurales Lernen
erfolgen, ohne daß ihnen etwas davon zu Bewußtsein gelangt (Bechara et al.
1997, zitiert nach Roth 2001).
Im Alltagsleben beinhalten Emotionen in erster Linie die subjektive Bewertung einer sozialen Situation. Gleichzeitig hat jede Emotion eine motiva-
Unbewußte Emotionen
151
tionale Komponente (sie gibt die Richtung der Handlung vor). Über das
Ausdrucksverhalten (z. B. Mimik) werden diese inneren Bewertungen und
Handlungsabsichten dem Sozialpartner wahrnehmbar, der nun wiederum
darauf emotional reagiert und seine Intentionen und sein Handeln entsprechend darauf abstimmen kann. Von diesen Regulierungsprozessen wird
allenfalls nur ein kleiner Teil bewußt, das meiste bleibt unbewußt. Solche
interaktiven Abstimmungsprozesse wurden von Bänninger-Huber (1996),
Merten (1996) und Steimer-Krause (1996) untersucht. Dabei konnte gezeigt
werden, daß auch sehr kurze mimisch-affektive Ereignisse (mit einer Dauer
von weniger als 0,3 sec) zu spezifischen Reaktionen beim Interaktionspartner führen. Weder diese mimischen Verhaltensweisen noch der
systematische Zusammenhang mit den Reaktionen sind den Interaktanden
bewußt; sie werden auch von ungeschulten Beobachtern nicht wahrgenommen (im Überblick: Merten & Benecke 2001).
Über die Existenz und Wirkung unbewußt ablaufender emotionaler Prozesse bestehen also heute wenig Zweifel. Noch offen ist allerdings, ob diese
Prozesse lediglich deskriptiv unbewußt sind und damit dem Bewußtsein prinzipiell zugänglich wären. Unseres Erachtens reicht aber zum Verständnis
menschlichen Verhaltens die Annahme von deskriptiv unbewußten, impliziten oder prozeduralen emotionalen Prozessen nicht aus. Dieses Konzept
sollte um eine psychodynamische Komponente erweitert werden. „Psychodynamisch“ heißt, daß die unbewußt ablaufenden Prozesse der Regulierung
von inneren Konflikten dienen, und die Unbewußtheit dieser Regulierungen
inklusive der darin wirkenden Emotionen ein Ziel dieser Regulierungen
darstellt.
DYNAMISCH UNBEWUSSTE EMOTIONEN
Ein in der Psychoanalyse zentrales Konzept zum Verständnis (nicht nur
neurotischen) menschlichen Verhaltens, ist das der Abwehr bzw. der Abwehrmechanismen. Traditionell werden diese dem unbewußten Teil des
Ichs mit der Funktion zugeschrieben, dafür zu sorgen, daß (Trieb-) Konflikte unbewußt gemacht werden (Freud 1926). Die dann unbewußten Anteile
der abgewehrten Triebregung können nur noch in entstellter Form als Ersatzbildungen (z. B. als Symptome) an die Bewußtseinsoberfläche gelangen.
Freud nahm dabei an, daß Abwehrmechanismen immer durch Angst bzw.
Unlust ausgelöst werden: Ein verpönter Triebimpuls erzeugt ein Angstsignal
und die Angst mobilisiert die Abwehr. Bei einer stabilen Abwehr wird weder
der Impuls noch die Angst bewußt.
Die Palette Abwehr auslösender unbewußter Affektsignale wurde mit
der Zeit erweitert, z. B. um depressive Affekte (Brenner 1982), Kränkung
152
Cord Benecke und Gerhard Dammann
(Hoffmann 1987) und Scham (Wurmser 1990). König (1996) nimmt an, daß
alle Affekte und Stimmungen Abwehrmechanismen auslösen können: Eine
gegebene reale oder phantasierte Situation aktiviert eine spezifische Repräsentanz, dabei ausgelöste Affekte (wie z. B. Angst, Wut oder Kränkung)
mobilisieren dann innerpsychische Abwehrprozesse und/oder Handlungsoperationen. Diese prozedurale Abfolge kann durchaus mit dem impliziten
Gedächtnis in Verbindung gebracht werden. Im Unterschied zu anderen
Handlungsprozeduren wie beispielsweise dem Autofahren, die nur deskriptiv unbewußt sind und prinzipiell wieder bewußt werden können, ist die
Unbewußtheit des Geschehens bei Abwehrvorgängen gerade das Ziel der
Operation. Die an der Auslösung von Abwehr beteiligten oder selbst abgewehrten Affekte sind dann zwar unbewußt, aber deshalb nicht verschwunden – sie wirken weiterhin im dynamischen Unbewußten. Die abgewehrte
konflikthafte Repräsentanz wirkt weiterhin als eine Art Eingangsfilter, als
Folie für die unbewußte Interpretation einer je gegebenen Situation, wodurch die Notwendigkeit zur Abwehr bestehen bleibt – die unbewußten
Emotionen triggern die inneren Abwehroperationen.
Dabei ist zu bedenken, daß Abwehrmechanismen ubiquitäre Phänomene
sind und nicht nur bei psychisch Kranken vorkommen.12 Ebenso wie das
Wirken impliziter Gedächtnissysteme nicht direkt beobachtet werden kann,
sondern aus dem Verhalten (z. B. der Geschwindigkeit und Fehlerquote bei
der Absolvierung bestimmter Aufgaben) erschlossen werden muß, kann
auch das Wirken dynamisch unbewußter Emotionen nur erschlossen werden.
Im Grunde dienen alle in der klinischen Literatur beschriebenen Abwehroperationen dem Unbewußtmachen von Emotionen. Schon Freud
(1915a, 277) sah das „eigentliche Ziel“ der Abwehr in der „Unterdrückung
der Affektentwicklung“. Neuere psychoanalytische Ansätze (Zepf 1997a;
2000) gehen aber im Gegensatz zu Freud davon aus, daß die abgewehrten,
unbewußt gemachten Affekte ebenso wie die abgewehrten Vorstellungen im
dynamischen Unbewußten bestehen bleiben. Dabei spielen sich die Abwehroperationen rein innerpsychisch oder auch in Interaktionen ab, wenn
die Sozialpartner in die Abwehrprozesse mit einbezogen werden. Bedenkt
man die interaktionellen Folgen eines durch Abwehr veränderten Verhaltens, so sind immer beide Bereiche betroffen.13
Bei der Reaktionsbildung beispielsweise werden Gefühle und die damit
verbundenen Handlungsimpulse durch ihr Gegenteil abgewehrt, z. B. „in12 König (1996) nennt zu jedem der über dreißig beschriebenen Abwehrmechanismen ein
bewußtes oder vorbewußtes Pendant im „normalen“ Alltagsverhalten.
13 Bänninger-Huber (1996) beschreibt die interaktive Regulierung von Schuldgefühlen in
Psychotherapien, Merten (1996) interaktive Regulationsprozesse zwischen schizophrenen
Personen im Gespräch mit Gesunden.
Unbewußte Emotionen
153
dem der Person gegenüber, die einen aggressiv machen könnte, Gefühle
besonderer Sympathie oder starken Mitleids erzeugt werden“ (König 1996,
28). Die abgewehrte unbewußte Emotion findet meist dennoch ihren Ausdruck, z. B. indem das aus der Reaktionsbildung resultierende Verhalten von
den Interaktionspartnern als quälend überfürsorglich erlebt wird oder sogar
tatsächlich schädigende Auswirkungen hat (Krause 1998, 234).
Eng verwandt mit der Reaktionsbildung ist die sogenannte Affektersetzung. Moser (1978) zufolge kann z. B. Aggression der Angstabwehr und
Angst der Aggressionsabwehr dienen. Krause (1998, 245 f.) beschreibt die
Blockierung von Scham durch die Einnahme von damit unvereinbaren
Körperhaltungen (wie z. B. chronische Triumph- oder Stolzhaltungen), die
er als eine Form der Reaktionsbildung betrachtet. Durch die oben beschriebenen Wechselwirkungen zwischen Emotion und Kognition wird auch die
Möglichkeit der Abwehr eines Affektzustandes durch einen anderen Affekt
verständlicher. Dabei wird nicht einfach ein Affekt durch einen anderen
ersetzt, so daß man ersteren nicht mehr empfinden muß, vielmehr werden
mit der Mobilisierung eines Affektes eben auch bestimmte kognitive Repräsentanzen aktiviert. So ist aus der klinischen Erfahrung bekannt, daß Scham
durch Wut abgewehrt werden kann. Scham ist mit einer bestimmten, defizitären Selbsteinschätzung verbunden, Moser & v. Zeppelin (1995) zufolge
mit einem beeinträchtigten „Kern-Selbst“. Durch die Mobilisierung von
Wut wird gleichzeitig eine Selbstrepräsentanz aktiv, in der das Subjekt über
Handlungsmacht verfügt, jemand anderes kann nun als Urheber des Selbstwertdefizits erscheinen, und dieser andere kann jetzt, wenn auch vielleicht
nur in der Phantasie, bekämpft werden. Wut ist insofern mit einem intakten
Kern-Selbstempfinden verbunden.
Die Abwehr von Aggression durch Angst findet sich z. B. bei Patienten
mit einer Panikstörung. Zentral für diese Patienten wird übereinstimmend
die Problematik im Bereich von Abhängigkeit und Autonomie gesehen,
verbunden mit ängstlich-anklammerndem, allerdings von unbewußten Ambivalenzen begleiteten Beziehungsverhalten. Es bestehen ausgeprägte Wünsche nach Unabhängigkeit und Autonomie, die aber nicht realisiert werden, da
die Patienten dadurch die Bindung der Objekte an sie zu gefährden meinen.
Abgrenzung oder gar der Ausdruck von Ärger und Wut führen in der Phantasie
der Patienten unweigerlich zum Verlassenwerden durch die gekränkte Person.
Bewußtseinsfähig ist dann die Panik – die Patienten beschreiben sich in der Regel als extrem unaggressiv. Die aggressiven Anteile finden dann allenfalls Eingang in die „Katastrophengedanken“ wie z. B. ausgebaute Phantasien über tödliche Unfälle ihrer Partner oder dergleichen.14
14 In den Behandlungen zeigt sich der vormals unbewußte Zusammenhang von Aggression
und Panik in der Weise, daß mit dem Bewußtwerden und psychischen Integrieren der
Aggressionen auch die Panikattacken verschwinden (Milrod et al. 1997).
154
Cord Benecke und Gerhard Dammann
Bei der Rationalisierung werden die durch unbewußte Motive und Emotionen generierten Handlungen vermeintlich „vernünftig“ begründet. Ist
beispielsweise das Anstreben einer Vorgesetztenposition durch die unbewußte Angst vor mangelnder Bedeutung motiviert, wodurch jene Tätigkeit
zugleich der Abwehr von Unwertgefühlen dient, dann ist es wahrscheinlich,
daß dieser Mensch jegliches selbständige Handeln seiner Mitarbeiter unbewußt als Herausforderung oder Angriff deutet und entsprechend emotional
darauf reagieren wird. Er wird aber in der Regel nicht sagen können: „Ich
erlebe das als Angriff auf meine bröckelige Autorität und habe Angst davor,
mich unwert zu fühlen“ – statt dessen wird er rationale Begründungen für
seine aggressiv-restriktiven oder entwertenden, also der Abwehr dienenden,
Verhaltensweisen finden. Rationalisierungen können ebenfalls als ein ubiquitäres Phänomen betrachtet werden. So vergleicht Roth allgemein das bewußte Ich mit einem „Regierungssprecher, der Dinge interpretieren und
legitimieren muß, deren Gründe und Hintergründe er gar nicht kennt“
(2001, 370).
Zepf (1997a) legt eine allgemeine begriffstheoretische Konzeption der
Abwehr von Emotionen vor und erläutert eine mögliche Abfolge am Beispiel des „Kleinen Hans“, der bekanntlich unter einer Pferdephobie litt
(Freud 1909). Ausgangspunkt ist die bewußte Angst vor dem aufgrund ödipaler Wünsche an die Mutter als bedrohlich erlebten Vater. Mit der DeSymbolisierung der problematischen Interaktionsformen,15 d. h. der Entfernung der Vorstellung des bedrohlichen Vaters aus dem Umfang des Begriffs
„Vater“ und der sexuellen Wunschvorstellung aus dem Begriff „Mutter“
sind diese dem Bewußtsein entzogen, bleiben aber als Extension (Umfang)
des Angstbegriffs erhalten. Werden die unbewußt gewordenen Interaktionsformen durch einen szenischen Auslöser aktiviert, dann wird die damit verbundene Angst erlebt und kann auch als Angst erkannt werden. Aufgrund
der subjektiv nicht verfügbaren Verknüpfung zu den aktivierten unbewußten Interaktionsformen wird sie allerdings als freiflottierende Angst erlebt.
Diese freiflottierende Angst kann dem Umfang anderer Begriffe eingefügt
werden (z. B. dem Begriff „Pferd“), was einer falschen Re-Symbolisierung
der abgewehrten Interaktionsformen gleichkommt. Subjektiv ist nun das
„beißende Pferd“ die Angstbedingung, objektiv gründet sie in der Befürchtung, daß die Interaktionsform des bedrohlichen Vaters wieder ins Bewußtsein gelangt. Hier wird Angst bewußt erlebt, die Unbewußtheit besteht in
der Verknüpfung mit einer „falschen“ Vorstellung. Wird nun in einem weiteren Schritt der Angstaffekt de-symbolisiert, also der Angstbegriff um die
Extension „beißendes Pferd“ und die darin enthaltenen Interaktionsformen
verkürzt, so bleiben nur die „autonomen Imageries“ (die Angstäquivalente)
15 Interaktionsformen „sind seelische Repräsentanzen der verschiedenen Interaktionen,
sind Vorstellungen von Handlungsvollzügen mit einem Objekt“ (Zepf 1997a, 67).
Unbewußte Emotionen
155
wahrnehmbar, wodurch sich der Angstbegriff in den Begriff „körperliche
Sensationen“ wandelt. Diese können wiederum falsch re-symbolisiert werden, z. B. als „lustvolle Erregung“ oder „Streß“. Damit ist die Angst gänzlich unbewußt gemacht.
Die Affektsymbole können verschoben und unter einem anderen Namen gelesen werden, so daß statt Wut, Angst und Haß „Streß“, „Erschöpfung“ oder
„Spannung“ etc. erlebt wird, sie lassen sich sublimieren, indem sie unter Gefühlsbegriffe gefaßt werden, welche die Sprache unserer Gesellschaft für bestimmte Situationen für angemessen hält [...]. Affekte können ohne eine
sprachliche Verfügung über sie und ihre Bedingungen erfahren werden. Ohne
einen sprachlichen Prädikator, der sie bezeichnet, können sie aber nicht als ein
„bestimmter Affekt“ Bewußtsein gewinnen (Zepf 1997a, 154-155).
Wurden die Emotionen oben als biologisch vorgeprägte Werkzeuge der
Motive bezeichnet, so könnte man die Abwehrmechanismen als einen zweiten Werkzeugkoffer verstehen, deren Instrumente eingesetzt werden, wenn
eine einfache Motivrealisierung aus psychodynamischen Gründen nicht
möglich ist. Im „gesunden“ Fall kommt es zu stabilen innerpsychischen und
interpersonellen Kompromißbildungen, die sowohl dem Subjekt als auch
seinen Sozialpartnern eine, wenn auch oft entstellte, Realisierung bedeutsamer Motive ermöglicht. Auch die oben erwähnten repetitiven Beziehungsmuster sind als Kompromißbildungen, die sowohl die Abwehr als auch das
Abgewehrte enthalten, zu verstehen. Letztlich wird die individuelle Persönlichkeit eines Menschen durch stabile Konfigurationen von Repräsentanzen
inklusive Abwehroperationen bestimmt (Hoffmann 1979; König 1992; Zepf
2000). Psychische Symptome, aber auch Persönlichkeitskonfigurationen
können allgemein als Mittel/Lösungen betrachtet werden, bestimmte Vorstellungen und Emotionen unbewußt zu machen bzw. zu halten – gleichzeitig bewirken die unbewußten Vorstellungen und Emotionen die Aufrechterhaltung eben dieser Phänomene.
ZUGÄNGE ZU UNBEWUSSTEN EMOTIONEN
Während deskriptiv unbewußte emotionale Prozesse dem Bewußtsein im
Prinzip zugänglich sind (z. B. durch eine entsprechende Aufmerksamkeitsfokussierung), ist dies bei dynamisch unbewußten Emotionen nicht der Fall.
Wie können wir dennoch Kenntnis über diese abgewehrten, unbewußten
Emotionen erlangen? Mittlerweile existieren einige experimentelle Ansätze
zur Untersuchung von unbewußten Konflikten bzw. Abwehrprozessen, von
denen hier eine kleine Auswahl vorgestellt werden soll.
156
Cord Benecke und Gerhard Dammann
Ausgehend von der Überlegung, daß eine ausgesprochene Aversion gegen homosexuelle Personen des eigenen Geschlechts mit einer unbewußten
eigenen homosexuellen konflikthaften Thematik zusammenhängen könnte,
untersuchten Adams et al. (1996) 35 homophobische Männer und eine heterosexuelle Kontrollgruppe. Allen Männern wurde explizit sexuelles Videomaterial (mit heterosexuellen, lesbischen und schwulen Szenen) vorgespielt
und die physiologische Reaktion der Männer mit Hilfe der Penisplethysmographie erfaßt. Im Unterschied zu den nicht homophobischen Männern
zeigten sich die homophobischen heterosexuellen Männer, entsprechend der
psychoanalytischen Hypothese, gerade von den homosexuellen Videos hoch
signifikant erregt (gemessen durch die erektile Zirkumferenz). Subjektiv
„leugneten“ (oder verdrängten) die homophobischen Männer die stattgefundene Erregung.
Neben der experimentellen psychoanalytischen Traumforschung, die ihre
Anfänge bereits bei Plötzl (1917) hatte, sind es insbesondere Studien mit
Subliminalisierungsverfahren, bei denen „Reize in das vorbewußte Processing eingeschleust werden“ (Leuschner et al. 1998, 824) die für die experimentelle Erforschung unbewußter Prozesse wichtig sind.
Versuche, die subliminale Darbietung individuell konflikthafter Wörter
zu untersuchen, wurden u. a. von Shevrin et al. (1997) vorgenommen. Dabei
wurden aufgrund von Interviews für neurotische Patienten zwei Wortlisten
zusammengestellt. Die eine Liste bestand aus (bewußten) Konfliktwörtern,
d. h. aus Ausdrücken, die die Patienten während des Interviews explizit
verwendet hatten. Die unbewußte Konfliktliste wurde von psychoanalytischen Experten aus dem jeweiligen Interviewmaterial komplementär dazu
zusammengestellt. Beide Listen wurden den Patienten optisch im Labor,
zunächst subliminal und später supraliminal vorgespielt. Nur bei der subliminalen Darbietung der unbewußten Konfliktwörter kam es zu Verarbeitungsverzögerungen, was von den Autoren als Ausdruck des Wirkens aktivierter Abwehrmechanismen interpretiert wurde. Ein weiterer Befund demonstrierte, daß auf der Basis der (physiologischen) Gehirnreaktionen die
unbewußten Konfliktwörter subliminal besser als zusammengehörig kategorisiert wurden als supraliminal, wo offensichtlich Hemmungsprozesse eine
Rolle spielten. Dieser Unterschied war bei Probanden besonders groß, die
zur Verdrängung neigten. „Durch dieses Ergebnis wird das Konzept eines
interaktiven Unbewußten über die vorbewußte Aktivierung und das Gegenwartsunbewußte hinaus auf das dynamische, konflikthafte ältere, infantile Unbewußte erweitert“ (Shevrin 2002, 106).
Solche Untersuchungen liefern Hinweise auf das Wirken unbewußter
Dynamiken. Für den Zugang zum Unbewußten in der Psychotherapie (und
auch im Alltag) sind wir nach wie vor auf „herkömmliche“ Verstehensprozesse angewiesen.
Unbewußte Emotionen
157
Für Freud (1900) war die via regia zum dynamischen Unbewußten der
Traum bzw. die Traumdeutung. In den letzten Jahren hat die interpersonelle
Perspektive auf die Behandlungsprozesse ein immer stärkeres Gewicht bekommen, wodurch sich auch ein anderer Schwerpunkt im Hinblick auf das
Verstehen unbewußter Inhalte entwickelte. Die in diesem Zusammenhang
wesentlichen Verstehensprozesse wurden unter die Begriffe „Szenisches
Verstehen“ (Argelander 1970), „Empathie“ und „Gegenübertragung“ gefaßt.16 Auch wenn die Konzepte von Empathie und Gegenübertragung im
therapeutischen Kontext ausformuliert wurden, können sie doch als ubiquitäre Prozesse angesehen werden, die in jeder interaktiven Alltagssituation
mitspielen. „Empathie“ bezeichnet die „Erfahrung, unmittelbar der Gefühlslage eines anderen teilhaftig zu werden und sie dadurch zu verstehen.
Trotz dieser Teilhabe bleibt das Gefühl aber anschaulich dem anderen zugehörig“ (Bischof-Köhler 1989, 26). Bischof-Köhler unterscheidet zwei
Wege der Emotionsübertragung, die ausdrucksvermittelte und die situationsvermittelte. In beiden Fällen kommt es zu einer Emotionsinduktion
beim Gegenüber, wobei die Verortung der induzierten Emotion beim anderen die Voraussetzung ist, um von Empathie sprechen zu können. Die Autorin verwendet den Begriff „Induktion“, um deutlich zu machen, daß die
empathische Wahrnehmung unmittelbar, sehr schnell und ohne „höhere“
kognitive Operationen erfolgt und daher auch nicht bewußt werden muß.17
Gleichwohl bildet dieses „Verstehen“ die Grundlage aller interaktiver Antworten (Benecke 2002). „Gegenübertragung“ bezeichnet die reaktiv im
Gegenüber (Therapeuten) entstehenden Emotionen, Phantasien und Handlungsimpulse. Beispielsweise: Ein Patient gebärdet sich stark und selbstständig – im Therapeuten entstehen Gefühle von Schwäche und Hilflosigkeit
(Argelander 1970, 65), wodurch dem Therapeuten etwas von den abgewehrten Emotionen des Patienten gewahr wird. Allerdings fließt in diese Gegenübertragungsreaktionen immer auch die Subjektivität des Therapeuten mit
ein, so daß sie nicht unbedingt deckungsgleich mit den abgewehrten Anteilen des Patienten betrachtet werden können, was eine „Zuschreibung“ u. U.
schwierig macht.18 Während in Alltagssituationen die Interaktionspartner
16 Eine Übersicht inklusive Klärungsversuch der notwendigen psychologischen Mechanismen findet sich bei Benecke (2002).
17 Nach den Untersuchungen von Bischof-Köhler (1989) entwickelt sich Empathiefähigkeit
ca. im Alter von eineinhalb Jahren.
18 Manchmal ist diese Zuschreibung recht eindeutig möglich: Streeck (1998) berichtet von
einem Patienten auf einer Station, der binnen kurzem sowohl das Klinikpersonal als auch
sämtliche Mitpatienten zur Weißglut trieb, indem er sich bspw. bei seinen Mitpatienten in
kurzen Abständen versicherte, ob es sie auch nicht störe, wenn er Zeitung lese (solange
bis die Fragerei störte) oder indem er sich bei jedem Formular, das er ausfüllen sollte,
mehrfach beim Personal rückversicherte, ob er auch alles richtig gemacht habe.
158
Cord Benecke und Gerhard Dammann
gewöhnlich gemäß ihren eigenen (unbewußten) Schemata und im Interesse
ihrer eigenen Selbstregulation handelnd reagieren, werden die empathischen
und Gegenübertragungsreaktionen in der analytischen Behandlung idealiter
einer sorgfältigen Reflexion unterzogen und als Bausteine des Verstehens
der unbewußten emotionalen Innenwelt des Patienten genutzt. Ohne diese
„reflektierende Funktion“ (Kernberg 1999), ohne das Einnehmen der „exzentrischen Position“ (Thomä 1999) des Therapeuten wirken die Emotionen als wesentliche Teile der interaktiven Verstrickung an der Aufrechterhaltung und ständigen Neuinszenierung der unbewußten Muster mit und
bleiben therapeutisch unwirksam. Die reflektierende Funktion ermöglicht
dem Therapeuten einen „Ausstieg“ aus den emotionalen Verstrickungen
und die therapeutische Nutzung der eigenen emotionalen Reaktionen, mit
dem Ziel, dem Patienten eine (oft zunächst belastende) bewußte Verbindung zwischen Emotion und Vorstellung zu ermöglichen und die vormals
unbewußten Emotionen und Phantasien psychisch integrierbar werden zu
lassen. Dadurch, daß sie subjektiv verfügbar werden und nicht mehr nur
unbewußt dynamisch-prozedural wirken, kann ihnen ihre das ganze Sein
bestimmende Macht genommen werden.
Benecke (2002) konnte zeigen, daß Therapeuten in Behandlungen mit
unbefriedigendem Ergebnis eine deutlich höhere direkte, mimisch-interaktive Zurückspeisung ihrer negativen Affekte aufweisen (was als Mißlingen
des Ausstiegs aus der affektiven Dynamik, mithin als Agieren der Gegenübertragung interpretiert wurde) als Therapeuten in Behandlungen mit gutem Ergebnis. In einer Einzelfallstudie wurde zudem das emotionale Erleben, das mimisch-affektive Verhalten und die Sprache eines Patienten und
seines Therapeuten im Verlauf einer als erfolgreich eingestuften psychoanalytischen Fokaltherapie untersucht (Benecke & Krause 2001; Benecke 2002).
Dabei konnte gezeigt werden, wie sich die anfangs vom subjektiven Erleben
dissoziierten und an keine bestimmten Sprachinhalte geknüpften negativen
mimischen Affektausdrücke des Patienten im Verlauf der Behandlung mit
spezifischen, sprachlich vermittelten Objektrepräsentanzen verkoppelten
und die anfangs unbewußte Affektivität sich nun bewußt mit bestimmten
und dazu passenden Vorstellungen seiner historischen und aktuellen Bezugspersonen verband.
In jüngster Zeit legte die Londoner psychoanalytische Forschergruppe
um Peter Fonagy unter den Stichworten „mentalization“ und „reflective
function“ verschiedene Studien vor, die die protektive Wirkung der Bewußtheit über die eigene Geschichte, der darin enthaltenen Motive und
Emotionen, sowohl von den eigenen als auch denen signifikanter Bezugspersonen, in bezug auf Gewaltverhalten, Borderline-Störungen etc. bei Vorliegen psychischer Kindheitstraumata eindrucksvoll demonstrieren (Fonagy
et al. 2002; Daudert 2002). Grande et al. (2002) konnten zeigen, daß Einsicht in die maladaptiven emotionalen Beziehungsmuster und die darauf
Unbewußte Emotionen
159
folgende Übernahme von Eigenverantwortung für deren Veränderung zu
besseren Behandlungsergebnissen führte.
Diese Befunde verdeutlichen, daß die Gewinnung von selbstreflexiver
Bewußtheit über die eigene emotionale Innenwelt, die „einzige Leuchte im
Dunkel der Tiefenpsychologie“ (Freud 1923, 245), mehr ist, als der „Zukkerguß“ der Evolution (LeDoux 1998, 285). Diese Leuchte ermöglicht es
dem Menschen, sich aus seinen dynamisch-prozeduralen Determinismen
zumindest ansatzweise zu lösen und sein Leben freier und selbstbestimmter
zu gestalten.
LITERATUR
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Michael Hölzer und Horst Kächele
EMOTION UND PSYCHISCHE STRUKTUR
1. WAS IST PSYCHISCHE STRUKTUR?
W
as läßt sich unter psychischer Struktur verstehen? Ein Blick in die
philosophische Literatur belehrt, daß die Idee, Schemata als strukturelle Bausteine der psychischen Organisation, als Träger wichtiger mentaler Funktionen anzunehmen, als solche nicht neu ist; sie findet
sich bereits bei Kant; in der Psychologie spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts (z. B. bei Selz 1913; 1922). Bartlett (1932) gab die erste Definition
eines Schemas. Ihm zufolge handelt es sich dabei um:
... an active organization of past reaction, or of past experiences, which must
always be supposed to be operating in any well-adapted organic response.
That is, whenever there is any order or regularity of behavior, a particular
response is possible only because it is related to other similar responses
which have been serially organized, yet which operate, not simply as individual members coming one after another, but as unitary mass (1932, 43).
Zwei Punkte dieser Definition sind herauszuheben:
(1)
(2)
Ein Schema ist eine aktive mentale Organisation, die
bei jedem geordneten Verhalten wirksam wird.
Schemata als das Verhalten und Erleben eines Individuums regulierende
Größen beziehen sich damit auf die Organisation von prozeduralen und
deklarativen Gedächtnisinhalten, Phantasien, Affekten, Überzeugungen und
Handlungsbereitschaften, die die jeweils typischen, normalen wie pathologischen Reaktionsweisen eines Individuums ausmachen.
Der Begriff der psychischen Struktur, in dem diese Schemata aufgehen,
ist vor allem im Bereich der psychoanalytischen Konzeptbildung theoretisch
nicht unvorbelastet. Freud zufolge bezieht er sich auf das Funktionieren des
psychischen Apparates und bezeichnet die bekannten, darin enthaltenen
Instanzen bzw. deren jeweils charakteristisches Zusammenwirken. Dem
Begriff der psychischen Struktur liegt die Überzeugung zugrunde, daß prototypische Erfahrungen, die mit der äußeren Welt und äußeren Objekten
gewonnen werden, in einen irgendwie gearteten strukturbildenden Prozeß
Emotion und psychische Struktur
165
einmünden. Freud (1923) spricht in diesem Zusammenhang vom Ich als
sich gründend auf die „Niederschläge früherer Identifizierungen“. Kernberg
(1968) redet von der „Metabolisierung elterlicher Imagines“, Kohut (1971)
von einer „transmutierenden Internalisation“. Internalisierungen wie Introjektion und Identifizierung sind die gemäß der psychoanalytischen Theorie
klassischen strukturbildenden Prozesse (Schafer 1968). Immer handelt es
sich um einen Prozeß der Hereinnahme und der Integration. Konkretisiert
werden können diese Internalisierungsprozesse durch Bezugnahme auf die
Konzepte der Assimilation und der Akkomodation (zwei fundamentale
Entwicklungsprinzipien), wie sie von Piaget (1976) im Zusammenhang mit
kognitiven Schemata beschrieben worden sind.
Der Begriff der Assimilation bezieht sich dabei auf die Wahrnehmung,
die Aneignung von Erfahrungen und das Erleben der Umwelt auf der
Grundlage präexistenter Wissensstrukturen. Die Akkomodation geht dagegen von der prinzipiellen Änderbarkeit solcher Strukturen aus. „Läßt sich
eine Erfahrung nicht in das bestehende kognitive Schema einfügen, so führt
dies unter Umständen – von der Mißachtung bzw. Abwehr dieser ‚unpassenden’ neuen Erfahrung abgesehen – zu einer Veränderung des Schemas“
(Thomä und Kächele 1985).
Kognitiv-emotionale Schemata im Sinne Piagets lassen sich somit durch
den Rückgriff auf die Begriffe der Assimilation und Akkomodation zu einer
entwicklungs-psychologischen Perspektive in Beziehung setzen und damit
auch zu allgemein-psychologischem Wissen.
Inwieweit die Anwendung solcher Konzepte auch auf das klinische Denken von Nutzen sein könnte, kann hier nur angedeutet werden. Slap (1986;
vgl. auch Slap & Saykin (1983)), der Schemata auf dem Abstraktionsniveau
der klinischen Theorie der Psychoanalyse ansiedelt, spekuliert über Abspaltungs- und Sequestrationsvorgänge, durch die „pathologische“, von der
Akkomodation ausgeschlossene Schemata entstehen könnten, die für eine
Einengung der Sichtweise und Selektivität der Wahrnehmung sorgen. Dieses
Denken führt zwangsläufig zu einer interessanten Neu-Formulierung neurotischen Geschehens. Die Wahrnehmung der Umwelt, ihre Interpretation,
passiert in Kongruenz mit einem solchen pathologischen sequestrierten
Schema; die aus der Umwelt wahrgenommenen Daten werden als störend,
ängstigend, schmerzhaft usw. assimiliert, sie führen jedoch nicht zur Akkomodation, zur Modifikation der Struktur. Psychotherapie würde damit zur
Möglichkeit, Akkomodationsvorgänge nachholen und neurotische Schemata
korrigieren zu können. Das Erkennen solcher pathologischer Schemata und
die Herstellung einer geeigneten Situation zur Veränderung solcher Schemata wäre demnach die entscheidende Aufgabe eines Therapeuten. „Struktureller Wandel“, eine bei Psychotherapeuten psychoanalytischer Provenienz
beliebte Formulierung würde in der Sprache der Schemata beschreibbar
werden.
166
Michael Hölzer und Horst Kächele
Vor allem auf den Prozeß des Erkennens soll im folgenden näher eingegangen werden. Slap spricht in diesem Zusammenhang (u. E. etwas unreflektiert optimistisch) von „clinically inferable structures“, also von: klinisch
erschließbaren Strukturen, offensichtlich ohne daß sich für ihn dabei irgendwelche Probleme systematischer Art ergeben. Zwar darf vermutet werden, daß Verstehens- und Erkenntnisprozesse im Therapeuten diesen prinzipiell dazu befähigen, relevante Verhaltensmuster wahrzunehmen und diese
intern abzubilden. Über die dabei im Kopf des Therapeuten ablaufenden
kognitiven und emotionalen Vorgänge ist allerdings wenig systematisches
Wissen verfügbar (Kächele 1985; Meyer 1988). Verlangt wird von ihm jedenfalls neben theoretischen Kenntnissen ein Gespür für Passendes, für
Ähnlichkeitsbeziehungen, für Wiederholungen. Seine Aufgabe ist es, aus der
durch falsche Anfänge und Unterbrechungen bzw. syntaktische und semantische Unregelmäßigkeiten gekennzeichneten Sprache des Patienten Ordnung, sinnvolle Konfigurationen und Regelmäßigkeiten herauszuhören,
quasi zu destillieren, um daraus Rückschlüsse auf leitende Wünsche, inadäquate Überzeugungen und deren individuell-charakteristische Verkettung
zu ziehen. Möglich wird die Lösung dieser Aufgabe allerdings nur, wenn
sich hinter der scheinbaren Unordnung und Unregelmäßigkeit in der spontanen Rede des Patienten Ordnung und Regelmäßigkeit, eben Struktur, verbirgt.
2. FRAME-ANALYSIS – EIN OPERATIONALER ZUGANG
ZUR PSYCHISCHEN STRUKTUR
Der Ausdruck „frame“ oder „frames of mind“ wurde von dem MITProfessor Marvin Minsky (1975) geprägt, der als einer der Mitbegründer der
Künstlichen Intelligenzforschung betrachtet werden muß. Er hat versucht,
den Vorgang der visuellen Wahrnehmung mit Hilfe prä-formierter, stereotyper Wissensstrukturen zu erklären. Für die Psychotherapieforschung wurde dieser Ansatz von Dahl (1988) fruchtbar gemacht. Seine an dieses Konzept angelehnte „frame-analysis“ gehört einer allgemeinen Forschungsrichtung an, die sich seit Mitte der 70er Jahre als sinnvolle und notwendige Ergänzung der zumindest in den USA das Feld beherrschenden OutcomeForschung etablieren konnte.
Den historischen Ausgangspunkt der „frames of mind“-Methode markiert eine gemeinsame Studie von Dahl und Rubinstein (Dahl et al. 1978), in
der Arbeits- und Denkweise des klinisch tätigen Analytikers empirisch modelliert wurden. Ergebnis dieser Studie waren die sogenannten „microstructures“ (Teller und Dahl 1981a), die später dann als FRAMES – Fundamental
Repetitive And Maladaptive Structures – apostrophiert wurden. Von diesen
Emotion und psychische Struktur
167
Mikrostrukturen, die sich aus der freien Assoziation einer Patientin isolieren
ließen, nahm Dahl an, daß sie die Strukturen sind, die das therapeutische
Denken eines Psychoanalytikers überhaupt erst möglich machen.
Als FRAMES gelten nach Dahl sogenannte „event-sequence-structures“;
wir übersetzen diesen Ausdruck als „strukturierte Ereignis-Sequenzen“, wobei die Ereignisse (events) Variablen sind, die alle möglichen verschiedenen
Aspekte des Erlebens und Verhaltens bezeichnen können: Handlungen,
Wahrnehmungen, Überzeugungen, Annahmen, Wissen, Phantasie, Gefühle,
Erinnerungen, usw. Als „Ereignis“ können nach Dahl alle mentalen wie
realen Tätigkeiten eines Individuums fungieren.
E1
E2
E3
Abb. 1: Die Beziehung der einzelnen Ereignisse untereinander wird durch
ihre Reihenfolge, durch die Pfeile festgelegt. Der Wert („value“) eines Ereignisses ist dann durch die jeweils in dem Kästchen erscheinende konkrete,
mentale oder reale Tätigkeit definiert.
Die Werte der einzelnen Ereignisse werden auch als summarische Prädikate („summary predicates“) bezeichnet, da sie, wenn es sich nicht um wörtliche Zitate handelt, einfache Paraphrasierungen oder geringgradig abstrahierte Zusammenfassungen der jeweiligen, manifesten Patientenäußerung
der primären Prädikate („primary predicates“) darstellen.
168
Michael Hölzer und Horst Kächele
Zu jedem FRAME gehören ein sogenannter Prototyp und – meist mehrere –
Instantiierungen. Der Prototyp ist die vollständige Fassung eines FRAMES,
d. h. jedes im FRAME erscheinende Ereignis hat einen eindeutig spezifizierten Wert. Die wesentliche Bedingung für die Erstellung bzw. Konstruktion
eines Prototypen ist, daß sich jedes, ein Ereignis kennzeichnendes summarisches Prädikat eindeutig durch entsprechende Textstellen im manifesten
Textinhalt des Patienten rechtfertigen läßt.
Instantiierungen sind Wiederholungen, also neu auftretende Beispiele eines Prototypen in mehr oder weniger vollständiger Form. Bleibt eine Instantiierung unvollständig, d. h. weist sie auch leere, nicht nur durch summarische Prädikate eindeutig spezifizierte Ereignisse auf, so werden die entsprechenden Werte des Prototypen als Voreinstellungen („default values“), d. h.
als zu erwartende Prädikate eingesetzt. Die Ableitung solcher Erwartungen,
d. h. Hypothesen über das weitere Verhalten eines Individuums wird von
Dahl als „reasoning by default“ bezeichnet.
Die vielleicht etwas unübersichtliche Terminologie soll an dieser Stelle an
einem einfachen FRAME-Beispiel veranschaulicht werden. Die Textpassage,
die der Konstruktion dieses FRAMES (von Dahl (1988) als „critical-friendly
frame“ bezeichnet) zugrunde liegt, erscheint in der fünften Stunde der Psychoanalyse von der Patientin Mrs. C (eines in der US-psychoanalytischen
Prozeßforschung vielfältig untersuchten Musterfalls); sie stellt eine Selbstbeobachtung dieser Patientin dar:
„Und das macht mich nachdenklich, hm, über Freundschaften, die ich mit
anderen Leuten hatte und, etwas, das ich nicht gerne zugebe, weil ich es
nicht leiden kann (nervöses Lachen), also ich kann mir auch nicht vorstellen,
daß ein anderer das tut, aber es sieht so aus, daß ich eigentlich an fast jedem
herumnörgeln muß, mit dem ich befreundet bin, zum gewissen Grad jedenfalls, mal mehr, mal weniger. Und, selbst wenn ich mich diesen Leuten irgendwie unterlegen fühle, und ich glaube, ich fühle mich einer Menge Leute
unterlegen, trotzdem muß ich an denen herumnörgeln und sie gegenüber
David (Ehemann) kritisieren, ich weiß nicht. Ich muß sie immer offen kritisieren, und das muß ich auf alle Fälle so machen, und dann kann ich erst anfangen, mh, eine Art freundliche Beziehung mit denen. Und wenn ich das
nicht getan habe, kann ich jemanden nicht richtig akzeptieren als jemanden,
mit dem ich irgendwie was zu tun haben will. Und, wenn ich nicht, wenn ich
sie in keiner Hinsicht kritisieren kann, kann ich mich denen scheinbar einfach nicht nähern. Ich, ich, ich weiß nicht, es ist mehr, daß, hm, es ist keine
Scheu. Ich fühl mich bloß sehr ungemütlich, denk ich, in deren Beisein.“
Der aus diesem Textabschnitt konstruierte Prototyp weist drei Ereignisse
auf.
Emotion und psychische Struktur
169
„Critical-Friendly-FRAME“
E1
Nachdenken über
Freundschaft
E2
Kritisches Verhalten
gegenüber X
E3
Freundliches Verhalten
gegenüber X
Abb. 2
In diesem Prototyp sagt die Patientin explizit, daß sie, wenn sie an die Möglichkeit einer freundschaftlichen Beziehung zu jemandem denkt, Kritik üben
muß, bevor sie sich freundschaftlich verhalten kann. Die Reihenfolge der
Ereignisse ist eindeutig vorgegeben, die Hypothese folgt, daß sich dieses
Verhalten nach eben diesem vorgegebenen Muster wiederholen wird. Die im
Prototyp erscheinenden summarischen Prädikate repräsentieren nicht nur
den manifesten Inhalt der Selbstbeobachtung der Patientin, sie sind gleichzeitig auch die inhaltliche Vorgabe, nach der sich nun die Suche nach Instantiierungen des Prototypen auszurichten hat. Tatsächlich, ohne daß wir an
dieser Stelle detailliert auf die einzelnen Instantiierungen eingehen können,
finden sich in der gleichen Stunde vier Wiederholungen desselben FRAMES.
Die therapeutisch relevanteste sei hier wiedergegeben:
Unmittelbar nach der Selbstbeobachtung der Patientin folgt die Äußerung des Therapeuten:
„So, vorher haben Sie darüber nachgedacht, ob ich das wohl billige oder
nicht, die Dinge, über die Sie gerade geredet haben. Gibt’s da irgendeine
Verbindung? Folgt möglicherweise daraus, daß Sie irgendeine Kritik gegen mich
haben, die Ihnen eingefallen ist?“
170
Michael Hölzer und Horst Kächele
Die Patientin entgegnet:
„Ich denke, wenn ich sie hätte, würde ich sie viel zu sehr (nervöses Lachen)
unterdrückt haben, um sie zuzugeben. (Pause) Hm, vielleicht eine – ich fang
mal mit etwas an, das weniger (nervöses Lachen) persönlich ist, etwas, da
bin ich sicher, das mir von Zeit zu Zeit einfällt, obwohl ich nicht denke, daß
es mich immer noch so stark beeinflußt, wie es mal hat – das ist, hm,
manchmal frage ich mich, ob das hier wirklich zu irgend etwas führt, und,
ich weiß nicht, ob das hier nicht nur ein schlechter Witz ist. Aber das ist
wirklich, teilweise, weil meine Erziehung hat dazu geführt, daß ich so denke,
daß ich denke, daß das niemandem etwas bringt und daß es einfach nur einen Haufen Geld kostet. Ich glaube nicht, daß mich das jetzt noch so beeinflußt.“
Wenig später folgt eine freundlich klingende Äußerung der Patientin:
„Weil das (nervöses Lachen), hm gut, selbst das fällt mir schwer zu sagen,
und es ist, es ist dumm, aber wenn ich über Kleidung und das Tragen von
Sachen nachdenke, wie man’s nimmt, hm, einfach beim, beim Wahrnehmen
was Sie so tragen, seit ich herkomme und, die Möglichkeit und die Freiheit,
die Sie anscheinend haben und, ich glaube, ich bin irgendwie darauf neidisch. Das ist mir sehr peinlich (nervöses Lachen), das zu sagen.“
Dann später über ihre Arbeitskollegin sprechend, fährt sie fort:
„... und das ist wirklich eine Art Geste der Freundschaft, ich glaube, jemandem das zuzugestehen, daß man das mag, was der anhat.“
Die Äußerung des Analytikers ist klar als eine auf die therapeutische Beziehung abzielende Intervention zu verstehen; er vermutet, daß das, was die
Patientin als ihr charakteristisches Beziehungsverhalten (erst kritisch und
dann freundlich) schildert, auch in bezug auf ihn zum Tragen kommen wird.
Die so hergestellte Vermutung bzw. Voraussage bewahrheitet sich, indem
die Patientin erst ihre Kritik an der Psychoanalyse (und damit dem Therapeuten gegenüber) äußert, um dann im Anschluß daran dem Analytiker „als
Geste der Freundschaft“ ein Kompliment über seine Kleidung zu machen.
Wie erwähnt, basiert der „critical-friendly frame“ auf einer generalisierten
Selbstbeobachtung der Patientin, die bei der FRAME-Konstruktion eigentlich nur auf ihre wesentlichen Elemente hin reduziert worden ist. Bei der
Verwendung von Generalisierungen dieser Art handelt es sich somit um
eine vergleichsweise durchsichtige Suchstrategie für FRAMES; sie setzt allerdings voraus, daß der manifeste Textinhalt, daß das, was jemand explizit über
sich selbst sagt, auch tatsächlich ernstgenommen wird. Dieses Vorgehen,
Emotion und psychische Struktur
171
d. h. die Analyse der FRAMES auf der Ebene des manifesten Textinhalts
unter Verzicht auf die Exploration latenter Bedeutungen ist überhaupt ein
wesentliches Charakteristikum der Suche nach FRAMES. Sie stellt sich allerdings nicht immer ganz so „problemlos“ dar wie im Fall des „criticalfriendly frame“. Um diese Suche zu systematisieren und Schlußfolgerungsprozesse, die damit verbunden sind, nachvollziehbar zu machen, wurde von
Dahl’s Kollegin Teller eine sogenannte Kategorien-Kartierung („categorymap“) entwickelt, ein Verfahren zur inhaltlichen Kategorisierung von Texten und der Veranschaulichung ihrer syntaktischen Struktur.
Thema 1
1-26
Thema 2
Thema 3
27-87
88-112
113-146
Abb. 3
In der Kartierung (als einer Art „Landkarte der freien Assoziation“) erfolgt
eine Repräsentation der thematischen Abfolge der Inhalte, wie sie in jeder
freien Assoziation erscheinen. Für jedes vorkommende Thema gibt es dabei
eine eigene Kategorie; führt der Sprecher ein inhaltlich neues Thema ein,
wird an der rechten Seite der Kartierung eine neue Kategorie eröffnet.
Kommt er auf ein vorher erwähntes Thema zurück, wird die Äußerung in
der ihr entsprechenden bereits vorhandenen Kategorie auf der linken Seite
der Kartierung eingetragen. Durch diese Repräsentation erfolgt also eine
inhaltliche Gliederung der freien Assoziation unter Beibehaltung der Abfolge
der Themen, der sequentiellen Textstruktur. So werden auch Aussagen über
die Art und Weise, wie über ein bestimmtes Thema geredet wird, möglich.
Wir fassen zusammen:
•
•
•
FRAMES sind „sequenzierte Ereignis-Strukturen, die aus dem Text
der spontanen Rede eines Individuums isoliert werden.
Das summarisches Prädikat, d. h. die inhaltliche Füllung eines Ereignisses, ist ein Zitat, eine Paraphrasierung oder geringfügige Abstraktion einer Patientenäußerung.
Die Ereignisse eines vollständigen FRAMES sind durch eindeutige
summarische Prädikate spezifiziert; eine vollständige Sequenz wird als
Prototyp bezeichnet, mehr oder weniger vollständige Wiederholungen
gelten als Instantiierungen dieses Prototypen.
172
•
Michael Hölzer und Horst Kächele
FRAMES erlauben Vorhersagen, Hypothesen über das Verhalten
einer Person, indem die Ereignisse des Prototypen als voreingestellte
Werte in die unvollständig bleibenden Instantiierungen eingesetzt
werden.
3. DAS PROBLEM DER IDENTIFIKATION DER FRAMES
Eine entscheidende Frage ist nun: Wie gelangt man zu der Kenntnis vom
Prototypen bzw. deren jeweils charakteristischer Konfiguration. Probleme,
die sich dann bei der Suche nach Instantiierungen bzw. bei der Aufstellung
von Hypothesen in bezug auf zukünftiges Verhalten stellen, scheinen demgegenüber zweitrangig zu sein. Und um es gleich vorwegzunehmen, es ist
keine einzelne, einfache Antwort auf diese Frage möglich. Der Sachverhalt
wird noch verkompliziert durch das Eingehen einer bislang nicht diskutierten, unbekannten Variablen: der ungeklärten Beziehung zwischen den
FRAMES als mentalen Funktionen im Kopf des Sprechers und ihrer sprachlichen Repräsentation im Text, dort also wo wir sie empirisch suchen. In
bezug auf diese Suche fällt auf, daß im vorangegangenen zwei eigentlich
verschiedene Prozesse erwähnt worden sind:
Bei der Beschreibung der klinischen Tätigkeit des Analytikers war vom
„Heraushören“, vom „Destillieren“ der Schemata die Rede, während bei der
Ableitung der summarischen Prädikate der Ereignisse aus den primären
Prädikaten (den wörtlichen Patientenäußerungen) und den darauffolgenden
Bildung der FRAMES von „Erstellung“ und „Konstruktion“ gesprochen
wurde. Auch wenn beiden Prozessen das Verfahren der Datenreduktion als
gemeinsames Prinzip zugrunde liegt, so enthalten sie auf den ersten Blick
doch einen Widerspruch: Das „Destillieren“ ist ein Verfahren zur Trennung
von Wesentlichem und Unwesentlichem; es setzt jedenfalls voraus, daß das
Wesentliche bereits vorhanden und isolierbar ist. Der Begriff der Konstruktion setzt zwar ebenfalls Wesentliches voraus, Bausteine, aus denen konstruiert wird, aber es ist offensichtlich mehr als eine bloße Reindarstellung,
als eine Isolierung von bereits Vorhandenem. Angedeutet ist damit, daß die
Suche nach den FRAMES auch die delikate Frage nach dem Selbstverständnis des Suchers beinhaltet: „Wollen wir mit den FRAMES im Text etwas
finden, was bereits vorhanden ist? Oder finden wir lediglich Bausteine, mit
denen wir im nachhinein Strukturen konstruieren, von denen wir annehmen,
daß sie FRAMES in der Psyche des Sprechers re-repräsentieren?
Zur Klärung dieses Abbildungs- und Repräsentationsproblems ist es hilfreich, drei voneinander getrennte Abbildungsebenen zu unterscheiden:
Emotion und psychische Struktur
(1)
(2)
(3)
173
die der mentalen Repräsentation der FRAMES im Sprecher
das, was davon wie im Text zu erwarten ist (Daten, Material)
die Frage nach der Re-Repräsentation beim Betrachter (Kategoriensystem)
Die Frage „Wie finden wir die FRAMES?“ hat mit allen drei Abbildungsebenen, allen drei Arten der Repräsentation zu tun. Vorläufige Antworten sind
das einzige, was im folgenden als Methode angeboten werden kann. Sie
stellen noch keine Methode im Sinne einer detaillierten Beobachtungsvorschrift dar, es handelt sich eher um eine Heuristik, um eine Suchstrategie,
die sich im Forschungsalltag erst noch bewähren muß.
Beginnen wir mit dem letztgenannten Punkt. Im Vorangegangenen haben wir zwar eine allgemeine Definition von FRAMES bzw. ihrer Bestandteile gegeben, die Frage nach einer operationalen Definition dessen, was notwendigerweise als Bestandteil zu einem FRAME dazugehört, ist unbeantwortet
geblieben. Bisher gilt noch, daß alle mentalen und realen Tätigkeiten einer
Person als „event” auftreten können, d. h. alles kann und nichts muß dazugehören. Das ist herzlich ungenau und hilft auf der Suche nach FRAMES noch
nicht wesentlich weiter. Die Frage nach einer operationalen Definition impliziert zweierlei:
(1)
(2)
Können die Ereignisse genauer gefaßt werden als „alle mentalen und
realen Tätigkeiten eines Individuums“?
Welche Komplexität sollen oder dürfen die FRAMES haben? – Wie
viele Ereignisse dürfen z. B. auftreten, darf ein Ereignis nur mit einem oder auch mit mehreren anderen verknüpft sein, usw.?
Bei dem bisher gezeigten Beispiel-FRAME – dem critical-friendly frame –
z. B. kann man natürlich die Frage stellen, ob das dadurch erfaßte Verhalten
der Patientin tatsächlich immer, d. h. in 100 % der Fälle, dem vorgegebenen
Schema folgt, oder ob es Ausnahmen davon gibt. Eine genaue Verhaltensanalyse würde diese Ausnahmen sicherlich zutage fördern, Variationen dieses Verhaltensmusters, die dann wahrscheinlich aufgrund von veränderten
Rand- oder Umgebungsbedingungen zustande kämen. Diese mitzuerfassen,
d. h. die verschiedenen, auch unwahrscheinlicheren Möglichkeiten der Realisierung eines Schemas in Abhängigkeit von sich verändernden Randbedingungen mit abzubilden, würde aus den FRAMES recht schnell recht komplexe und eher unübersichtliche Strukturen machen. Der wesentliche Unterschied der FRAMES im Vergleich zu solch komplexeren Konfigurationen,
wie sie z. B. Horowitz (1991) in seiner Konfigurationsanalyse herausgearbeitet hat, ist, daß bei den FRAMES die Anzahl der Übergangsmöglichkeiten
von Ereignis zu Ereignis beschränkt ist. Ein FRAME berücksichtigt im Unterschied zu einer Konfigurationsanalyse also nur die Übergänge, die die
174
Michael Hölzer und Horst Kächele
höchstwahrscheinliche Abfolge von Ereignissen beschreiben; es ist keine Kollektion und kein Kaleidoskop aller mögliche Abfolgen.
Die Konfigurationsanalyse nach Horowitz zeigt also Mängel vor allem in
Hinblick auf die Forderung nach Datenreduktion, nach sinnvoller Vereinfachung. Daß umgekehrt Vereinfachung auch problematisch werden kann,
zeigt die CCRT-Methode Luborskys („the Core Conflictual Relationship
Theme Method“; vgl. Luborsky & Kächele 1988), in der mentale Strukturen
a priori auf die Kombination von drei Bausteinen beschränkt werden: Ein
quantitativ zentraler Wunsch, die eigene Reaktion auf den Wunsch und die
Reaktion des Objektes auf den Wunsch stellen das Gerüst für mentale
Strukturen bei der CCRT-(zu deutsch: ZBKT)-Methode dar (Luborsky &
Crits-Christoph 1998).
Unter anderem ist hier vor allem die Kategorienbildung zu diskutieren.
Natürlich haben wir alle vielfältige Wünsche in bezug auf andere Personen,
reagieren darauf und nehmen auch wahr, wie unsere Umwelt reagiert. Aber
eine uniforme Struktur vorzugeben, die nur aus diesen drei Komponenten
besteht, erscheint als Raster zu restriktiv, die reale Komplexität wird dadurch nicht mehr adäquat abgebildet.
FRAMES stellen in bezug auf ihre Komplexität einen Kompromiß zwischen den CCRT und der Konfigurationsanalyse dar. Sie können durchaus
Wünsche und Reaktionen (des selbst und der anderen) in relativ einfacher
Anordnung enthalten. Durch die Möglichkeit der Interaktion können allerdings auch wesentlich komplexere Strukturen gebildet werden.
Eine genauere Beantwortung der Frage nach der Komplexität der
FRAMES ist ohne nähere Kenntnis ihrer Bausteine, einer inhaltlichen Definition der Ereignisse nicht zu leisten. Hartvig Dahl, und das war ein Punkt,
der an seiner Art der Analyse kritisiert werden konnte, hielt sich diesbezüglich sehr zurück. Ein explizites Kategoriensystem zur Abbildung oder Repräsentation der FRAMES wurde von ihm nicht vorgelegt, Ereignisse wurden von ihm durch „klinische Intuition“ identifiziert.
Allerdings wies Dahl wiederholt darauf hin, daß es sich vor allem um
„wish and belief structures“ handelt, Strukturen also, in denen Wünsche und
Überzeugungen bzw. daraus abgeleitete Erwartungen eine wesentliche Rolle
spielen. Wenn es also eine reliable Methode gäbe, mit der Wünsche und
Überzeugungen als wesentliche FRAME-Bestandteile im Text identifiziert
werden könnten, ohne daß Fehlerquellen zu großen Einfluß gewinnen, die
dem klinischen Denken typischerweise anhaften, wäre ein wichtiger Schritt
in Richtung auf eine objektivierbare Methode gemacht. Nicht nachvollziehbare Schlußfolgerungen im psychoanalytischen Denken könnten nachgezeichnet bzw. modelliert werden, was der „Wissenschaftlichkeit“ der Methode nur von Nutzen sein könnte.
Emotion und psychische Struktur
175
4. EMOTIONEN ALS „WÜNSCHE UND ÜBERZEUGUNGEN“
Einen methodischen Ausweg könnte hier ein Rating-System darstellen, das
auf eine von Dahl begründete Emotionstheorie zurückgreift und von Dahl
& Hölzer (1992; 1996) weiterentwickelt wurde. Dieser Theorie zufolge sind
Emotionen nämlich nichts anderes als die gesuchten „wishes and beliefs“.
Dimension 1
Dimension 2
Dimension 3
Aktiv/
Passiv
Prototypische
Emotionen
(1) Zuneigung
(2) Überraschung
Positiv/
Negativ
(5) Zorn
Aktiv/
Passiv
(6) Furcht
Objekt/
Selbst
Aktiv/
Passiv
(4) Freude
(3) Zufriedenheit
Positiv/
Negativ
(8) Angst
Aktiv/
Passiv
(7) Depression
Abb. 4: Entscheidungsbaum nach Dahl & Stengel (1978), in dem 3 Dimensionen (1 = Orientierung, 2 = Valenz, 3 = Aktivität) insgesamt 8 Emotionskategorien erzeugen. Die Kategorien sind mit Kennzahlen (1-8) sowie jeweils
einem prototypischen Vertreter angegeben.
Dieser Theorie liegt ein dreidimensionales, von DeRivera abgeleitetes und
empirisch überprüftes Kategorisierungsschema zugrunde, durch das zwei
Hauptgruppen von Emotionen unterschieden werden, hier Objektemotionen und Selbstgefühle („it“- & „me-emotions“) genannt. Das Besondere der
176
Michael Hölzer und Horst Kächele
Objektemotionen („it-emotions“), von Dahl auch als „appetites“ bezeichnet,
ist einmal, daß es sich um nach außen gerichtete Emotionen handelt, d. h.
daß es sich um objektbezogene Wünsche handelt, zum anderen, daß sie eine
integrierte Einheit von Wahrnehmung, implizitem Wunsch und einer Handlungskomponente, der „vollziehenden Handlung“ („consummatory act“)
darstellen, wobei letztere auf die Verwirklichung dieses Wunsches abzielt.
Man kann nicht hassen, ohne den Wunsch zu haben, dem gehaßten Objekt
etwas zuzufügen. Man kann sich nicht fürchten, ohne zu versuchen, der
Gefahrenquelle zu entkommen. Bei den Objektemotionen handelt es sich
also um basale, motivationale Größen, die für alle menschlichen Wesen
gleichartig konfiguriert sind.
Die Selbstgefühle („meemotions“) stellen dagegen
„Critical-Friendly-FRAME“
eine Art Feedback-System
dar, über das Rückmeldungen über den jeweiligen
Kategorie 1
E1
Stand der Wunscherfüllung
(Wunsch)
im Bereich der Objektemotionen verarbeitet werden. Je nachdem, ob die
Wunscherfüllung, z. B. die
Flucht vor einer Gefahrenquelle, bereits gescheitert ist
Kategorie 5
E2
oder noch zu scheitern
(vollziehende Handlung)
droht, fühlen wir Niedergeschlagenheit oder Angst.
Diese Feedback-Botschaften fungieren als „beliefs“ –
als Überzeugungen. Niedergeschlagenheit oder Depressivität heißt, daß ich
Kategorie 1
E3
(vollziehende Handlung)
davon überzeugt bin, daß
einer meiner Wünsche sich
nicht mehr erfüllen läßt.
Angst bedeutet, daß der
Ausgang in bezug auf die
Abb. 5
Wunscherfüllung noch ungewiß ist.
Der oben demonstrierte FRAME ist ohne weiteres übersetzbar in dieses
neue „wish-belief“-Kategorisierungsschema (vgl. Abb. 5): Prinzipiell ist
daher die erste Form der FRAME-Repräsentation (mit am Text spezifizierten Prädikaten) in eine überführbar, die auf dem oben explizierten Kategoriensystem von Emotionen basiert. Ob das eine Einbahnstraße ist, oder ob
Emotion und psychische Struktur
177
auch der umgekehrte Weg gangbar ist, d. h. ob durch ein systematisches
Rating von Wünschen und Überzeugungen anhand des Kategorisierungsschemas FRAMES gefunden werden können, ist noch nicht abschließend
beantwortbar.
In bezug auf Vollständigkeit und Komplexität von FRAMES läßt sich
allerdings ein Gedanke weiterspinnen. Am Beispiel des „critical-friendly
frame“ fällt auf, daß das kritische Verhalten nur als „consummatory act“
erscheint, also ohne dazugehörigen Wunsch. Die Forderung nach Vollständigkeit der integrierten Einheit einer Objektemotion ist somit, zumindest in
der Repräsentation dieses FRAMES, nicht erfüllt. Ein Wunsch muß aber
eine Rolle spielen, unmotiviert kann die immer wieder auftretende Kritik
nicht sein. Hier könnte sich ein Hinweis auf ein Vollständigkeitskriterium
von FRAMES ergeben, auf möglicherweise noch fehlende Ereignisse. Der
(im zunächst möglicherweise unvollständigen „critical-friendly frame“)
fehlende Wunsch müßte also noch identifiziert werden. Eine genauere
Auswertung der Daten des Textabschnittes, in dem der „critical-friendly
frame“ gefunden wurde, mit Hilfe des Emotions-Ratings ergibt die folgende
Auswertung (fett = Emotionskodierungen in Klammern)
„Und das macht mich nachdenklich, hm, über Freundschaften, die ich mit
anderen Leuten hatte (Zuneigung, 1) und, etwas, das ich nicht gerne zugebe (Depression, 7), weil ich es nicht leiden kann (Zorn, 5) (nervöses Lachen), also ich kann mir auch nicht vorstellen, daß ein anderer das tut (Depression, 7), aber es sieht so aus, daß ich eigentlich an fast jedem herumnörgeln muß (Zorn, 5), mit dem ich befreundet bin (Zuneigung, 1), zum
gewissen Grad jedenfalls, mal mehr, mal weniger (Zuneigung, 1). Und,
selbst wenn ich mich diesen Leuten irgendwie unterlegen fühle (Depression, 7), und ich glaube, ich fühle mich einer Menge Leute unterlegen (Depression, 7), trotzdem muß ich an denen herumnörgeln (Zorn, 5) und sie
gegenüber David (Ehemann) kritisieren (Zorn, 5), ich weiß nicht. Ich muß
sie immer offen kritisieren (Zorn, 5), und das muß ich auf alle Fälle so machen (Zorn, 5), und dann kann ich erst anfangen, mh, eine Art freundliche
Beziehung mit denen (Zuneigung,1 ). Und wenn ich das nicht getan habe
(Zorn, 5), kann ich jemanden nicht richtig akzeptieren (Zuneigung, 1) als
jemanden, mit dem ich irgendwie was zu tun haben will (Zuneigung, 1).
Und, wenn ich nicht, wenn ich sie in keiner Hinsicht kritisieren kann (Zorn,
5), kann ich mich denen scheinbar einfach nicht nähern (Zuneigung, 1).
Ich, ich, ich weiß nicht, es ist mehr, daß, hm, es ist keine Scheu (Furcht, 6).
Ich fühl mich bloß sehr ungemütlich (Angst, 8), denk ich, in deren Beisein.“
Die mit Hilfe des Kategorienschemas identifizierten Emotionen – und hier
insbesondere das mit Kategorie 7 jetzt zusätzlich erfaßte Gefühl der Unterlegenheit (das im ursprünglichen „critical-friendly-frame“ nicht auftaucht)
Michael Hölzer und Horst Kächele
178
lassen sofort erkennen, daß nicht der gesamte Gehalt in der ursprünglichen
FRAME-Formulierung (oder Konstruktion) verwandt worden war. Die Kritik der Patientin scheint ja in erster Linie dem Gefühl der eigenen Unterlegenheit und dem Wunsch diese durch Kritik auszugleichen zu entspringen.
Ein – nun vollständiger – weil den ganzen „emotionalen Gehalt“ des Textes
abbildender FRAME müßte also folgendermaßen konfiguriert sein:
„Critical-Friendly-FRAME“
nach systematischer Emotionsanalyse
Nachdenken über
Freundschaft (Kat. 1)
Gefühle der Unterlegenheit (Kat. 7)
„... wenn ich das
nicht getan habe“
(Neg. Kat. 5)
Herumnörgeln
(Kat. 5)
„... nicht nähern“
(Neg. Kat. 1)
Freundliche
Beziehung (Kat. 1)
„sehr ungemütlich“
(Kat. 8)
Abb. 6
Emotion und psychische Struktur
179
Eine vorläufige Antwort zur Komplexität von FRAMES wäre mit dieser
anderen, emotionalen Repräsentationsform möglicherweise ebenfalls gefunden. Der simpelste FRAME wäre dann z. B. eine vollständige „it-emotion“:
Perzeption, Wunsch + vollziehende Handlung. Komplexer würden
FRAMES dann, wenn regelmäßig etwas zwischen diese definierten Anteile
der Emotion tritt: seien es eigene, subjektive Überzeugungen und Erwartungen oder äußere Ereignisse in der Umwelt, die der einfachen Wunscherfüllung entgegenstehen.
Ein weiteres grundlegendes Problem – die Frage nach der Art und Weise
des Zustandekommens eines Textes, nach den „Produktionsbedingungen“
des zu untersuchenden Materials – wird durch die Verwendung eines Kategorienschemas der Emotionen allerdings nicht geklärt. Vergleicht man z. B.
eine psychodynamisch orientierte Kurztherapie mit einer langfristigen Psychoanalyse – zwei Therapieformen, von denen angenommen werden kann,
daß in beiden Fällen prinzipiell ähnliches Wissen durch den Therapeuten in
die Therapie eingebracht wird –, ergeben sich beträchtliche Unterschiede
hinsichtlich der Interaktion der beteiligten Sprecher. Nicht nur, daß im Fall
der Psychoanalyse, d. h. der freien Assoziation, der Patient anteilsmäßig
erheblich mehr Text produzieren dürfte; wesentlicher Bestandteil der freien
Assoziation ist auch die explizite Ausnutzung der Regression auf Seiten des
Patienten, während eine Kurztherapie immer auf deren Vermeidung abzielt.
Schon die subjektive Erfahrung zeigt, daß das Denken in Zuständen partieller Regression, z. B. beim Dösen in der Sonne, kurz vor dem Einschlafen
usw. verändert ist, daß andere kognitive und emotionale Muster aktiviert
werden. Regressive Aspekte werden in der Psychoanalyse nicht nur durch
die „Couch“ und den Wegfall des Blickkontakts gefördert, auch die Art der
Intervention des Therapeuten ist verändert. Entsprechend liegt der zeitliche
Fokus einer Kurztherapie deutlich auf dem Hier und Jetzt, während in einer
Psychoanalyse vermehrt auch besondere Vergangenheitsbezüge hergestellt
werden, also auch qualitativ andere Gedächtnisleistungen erbracht werden
sollen. Von Texten, die unter so unterschiedlichen Bedingungen produziert
werden, ist nicht zu erwarten, daß sie sich notwendigerweise gleich gut für
die Suche nach FRAMES eignen. Frei assoziierte Texte scheinen allerdings
Vorteile aufzuweisen: Den hier vorgestellten FRAMES lag entweder eine
generalisierende Selbstbeobachtung der Patientin oder sog. Narrative
zugrunde, episodenhaft-abgegrenzte, kurze Berichte über Vorfälle aus dem
Alltagsleben der Patientin. Auch Luborsky auf seiner Suche nach den
CCRT’s bedient sich derartiger Narrative, bei ihm „Beziehungsepisoden“
genannt, abgegrenzter Schilderungen, aus denen er dann die zentralen Beziehungskonflikte eines Patienten ableitet. Die Redundanz in der Psychologie eines Individuums mit Hilfe von FRAMES oder CCRT’s festhalten zu
wollen, setzt also (als Untersuchungsmaterial) idealerweise eine Sammlung
solcher Selbstbeobachtungen, Narrative oder Beziehungsepisoden voraus.
180
Michael Hölzer und Horst Kächele
Gerade das aber stellt die freie Assoziation dar. Als eine Art qualitatives
Experiment gewährleistet sie eine repräsentative Stichprobe von Situationen
aus der Vergangenheit und Gegenwart eines Individuums, einen Querschnitt
seiner alltäglichen Erfahrungen und Verhaltensweisen. Die Frage, in welchem Umfang Kurz- oder Fokaltherapieprotokolle ähnliches leisten können,
ist noch offen, ebenso wie die Frage danach, welche Generalisierungen und
welche Narrative, d. h. welche Anteile eines Textes für die FRAME-Analyse
besonders geeignet sind.
5. DUAL-CODING UND REFERENTIAL ACTIVITY
Abhilfe kann hier, d. h. bei der Entscheidung darüber, welche Anteile der
freien Assoziation besonders viel- (oder FRAME-)versprechend sind, möglicherweise durch den Rückgriff auf eine andere Methode, die Messung der
„referential activity“ geschaffen werden. Die „referential activity“ von Wilma Bucci (1997) bezieht sich auf ein durch A. Paivio (1986) entwickeltes
kognitionspsychologisches Modell der Informationsverarbeitung, die DualCode-Theorie: Dual-Coding besagt, daß bei der mentalen Verarbeitung und
Speicherung von Informationen zwei miteinander kooperierende Systeme zu
unterscheiden sind: ein verbales und ein nonverbales System, wobei jedem
dieser Systeme spezifische Inhalte und Organisationsprinzipien zugeordnet
werden können. Das verbale System arbeitet mit logisch-assoziativen Kategorien, das nonverbale funktioniert sensorisch-bildhaft-assoziativ. Beide
Systeme stehen miteinander durch sog. referentielle Aktivitäten in Verbindung; sie müssen Verbindungen dieser Art aufweisen, denn „wir können
benennen, was wir sehen, und zeigen, was uns gesagt wird“.
Den im nonverbalen, prozeduralen System vorhandenen Strukturen
kann nun zumindest hypothetisch aufgrund der perzeptiv-sensorischen
Qualität von Emotionen der emotionale Anteil eines kognitiv-emotionalen
Schemas oder FRAMES zugeordnet werden. FRAMES würden in einer DualCode-Repräsentation zumindest partiell im nonverbalen System eines Sprechers repräsentiert.
Bucci zufolge wirken nonverbale Strukturen via „referential activity“ so
auf das verbale System ein, daß ihr Einfluß durch charakteristische Veränderungen in der Sprache manifest wird. Überall dort, wo dieser Einfluß groß
ist, wird die Sprache konkreter, detaillierter beschreibend und „evokativer“,
d. h. stärker korrespondierende Bilder oder andere sensorische Sinneseindrücke beim Zuhörer/Leser hervorrufend. Hohe „referential activity“ läßt
sich, diesen Effekt ausnutzend, mittels Untersuchungen von Texten auf
Klarheit, Detailliertheit der Beschreibung und evozierendes Potential
(„evocativeness“) nachweisen (Mergenthaler & Bucci 1999).
Emotion und psychische Struktur
181
Wenn FRAMES, als emotional-kognitive Schemata, partiell nonverbal repräsentiert sind, dann ist es naheliegend, daß im Falle ihrer Aktivierung von
ihnen auch entsprechende Auswirkungen auf die Sprache eines Sprechers
erwartet werden müssen. Das Rating für „referential activity“ müßte mit
dem Auftreten von FRAMES im Text korrelieren.
Besondere Bedeutung könnte der „referential activity“ als Suchstrategie
für FRAMES deswegen erwachsen, da die sie kennzeichnenden Sprachmerkmale prinzipiell auch durch computergestützte Verfahren erfaßbar
scheinen. Skalen, die in der Arbeitsgruppe von Bucci entwickelt auf die Erfassung der Konkretheit der Sprache abzielen, sind ein erster Schritt in dieser Richtung.
6. ZUSAMMENFASSUNG
Der Begriff der psychischen Struktur, soweit er für psychotherapeutische
Prozesse relevant sein soll, läßt sich, wie wir hoffen, durch die FRAMEAnalyse gezeigt zu haben, nicht ohne den der Emotion sinnvoll definieren.
Weil „alle psychischen Störungen irgendwie Affektstörungen“ (Krause 1997)
sind, lassen sich diese Störungen in Formen strukturierter Schemata, eben
den FRAMES, für deren Identifikation und Repräsentation Emotionen unabdingbare Bausteine darstellen, beschreiben. Es sind am Ende auch diese
FRAMES – als Fundamental Repetitive And Maladaptive Emotion Structures –, die es durch psychotherapeutische Prozesse zu beeinflussen gilt.
Maladaptiv heißt in diesem Zusammenhang, daß diese Erlebens- und Verhaltensmuster in der Vergangenheit eines Individuums durchaus eine adaptive Ich-Leistung an die besonderen Verhältnisse seiner Umwelt gewesen
sein mögen. Ihre Wiederholung in einer völlig anders strukturierten, gegenwärtigen Umwelt stellt dabei den Kern neurotischen Verhaltens dar. Die
Übertragung der FRAMES auf das „neue Objekt“ des Analytikers und ihre
Veränderung durch Arbeit in und an der Übertragung entspricht dem
Grundprinzip der psychoanalytischen Therapie (Thomä & Kächele 1985).
Daß dabei die Orientierung an den vom Patienten gefühlten und verbalisierten Emotionen die vermutlich effektivste therapeutische Heuristik ist, sowohl in klinischer als auch in empirischer Sicht, hoffen wir durch unsere
Form der FRAME-Analyse plausibel gemacht zu machen. Da allerdings
schon Freud auf den heuristischen Wert der Emotionen aufmerksam gemacht hat – „der Affekt hat immer Recht“, heißt es prägnant im 7. Kapitel
der Traumdeutung (Freud 1900) – stellt auch dies im Prinzip nur eine Übertragung längst bekannter Sachverhalte auf einen neuen Forschungskontext
dar. Psychische Struktur jedenfalls ist aus unserer Sicht ohne Emotion nicht
denkbar.
182
Michael Hölzer und Horst Kächele
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EMOTIONALE HEMMUNG ALS RISIKOFAKTOR
FÜR DIE GESUNDHEIT
D
er Philosoph und mit Wilhelm Wundt in einem Atemzug zu nennende Begründer der empirischen Psychologie William James
(1890) formulierte wohl als erster die Auffassung, daß unterdrückte
Gefühle körperliche Krankheiten, Grübeleien und innere Unruhe bewirken
können. Aber James, der auch über religiöse Themen schrieb, kannte sicher
Psalm 32 der Bibel, in dem es heißt: Denn da ich’s wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine durch mein tägliches Heulen, und war sich insofern
bewußt, daß es sich um eine Hypothese von historischer Validität handelte.
Wenige Jahre später argumentierte auch Sigmund Freud (1905) in den
Bruchstücken einer Hysterie-Analyse über unterdrückte Emotionen ganz
ähnlich: Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, überzeugt sich, daß die
Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen Lippen schweigen, der
schwätzt mit den Fingerspitzen; aus allen Poren dringt ihm der Verrat.
Helen Flanders Dunbar publizierte 1935 in ihrem einflußreichen Werk
zahlreiche Fallstudien, in denen sie emotionale Faktoren beschrieb, die ihrer
Meinung nach in spezifischen Zusammenhängen zu körperlichen Erkrankungen standen. Genauer versuchte Franz Alexander (1950) in seinem
Standardwerk der Psychosomatik die Folgen der Blockierung von Emotionen psychophysiologisch als zentralen Faktor bei der Entstehung von psychosomatischen Erkrankungen zu beschreiben. Aus den oben genannten
historischen Wurzeln hat sich zwischenzeitlich ein großes Forschungsfeld
mit vielfältigen Methoden und empirischen Beiträgen entwickelt (Traue
1998; Pennebaker 1995; Vingerhoets et al. 1997; Traue & Pennebaker 1993).
Es ist in diesem Forschungsfeld nicht die Frage, ob die Hemmung von Gefühlen sich auf den menschlichen Organismus ungünstig auswirkt, sondern
die Frage ist von Belang, warum und auf welche Weise strukturelle, physiologische, endokrine, immunologische oder subjektive Krankheitsprozesse
mit der Verarbeitung von Emotionen und insbesondere ihrer Hemmung
zusammenhängen.
Die massenhafte Verschreibung von Psychopharmaka kann als Indiz für
die These dienen, daß viele Erkrankungen auch aus der Sicht behandelnder
Ärzte eine wichtige Ursache im emotionalen Verhalten hat. Wie Grawe und
Mitarbeiter (1994) bemerkten, richtet sich eine solche Behandlung in der
Emotionale Hemmung
185
Regel jedoch nur auf den emotionalen Zustand des Patienten, aber nicht auf
die komplexen innerpsychischen und zwischenmenschlichen Regulationsstörungen oder äußeren Belastungen, die zu den emotionalen Zuständen
geführt haben und die dementsprechend das eigentliche Ziel der Behandlung und Änderung sein sollten. Bevor auf die emotionale Hemmung ausführlich eingegangen werden kann, soll emotionales Verhalten selber thematisiert werden. Aus den Annahmen über Emotionen leitet sich die Bedeutung emotionaler Hemmung ab.
THEORETISCHE ASPEKTE EMOTIONALEN VERHALTENS
Vor etwa zwanzig Jahren begann man sich in der Psychologie des Defizits
an Forschung zum emotionalen Verhalten bewußt zu werden. Bruce W.
Heller (1983, 190) beklagte zu dieser Zeit ironisch und auf die behaviorale
und kognitive Themendominanz zielend, daß Descartes leider nicht gesagt
habe „Ich fühle, also bin ich“, sondern dem Denken den Vorzug gab und
damit eine Tradition einleitete, nach der Emotionen weniger wichtig als Kognitionen seien, daß sie kaum zu objektivieren und damit der empirischen
und experimentellen Forschung nur schwer zugänglich und deshalb besser
zu meiden seien. Das Kind der Emotionalität war damit erst einmal für
Jahrhunderte im Brunnen verschwunden. Es wurde ignoriert, daß Emotionen von Gedanken und Gedanken von Emotionen stark beeinflußt werden,
ja daß beide psychischen Prozesse untrennbar miteinander verbunden sind.
Es ist Konsens, daß Emotionen eine komplexe Struktur aus verschiedenen Elementen darstellen:
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
Ausdrucksverhalten der Mimik, Gestik und des gesamten Körpers
Kognitive Bewertung von inneren und äußeren Stimuli
Physiologische und endokrine Aktivierung
Kognitiver Entwurf von Handlungen und Handlungsbereitschaften
Subjektives Erleben
sprachliche Repräsentanz
Die Phänomenologie von Emotionen läßt sich auf eine statische Struktur so
wenig abbilden, wie ein Fluß durch die Form des Flußbettes und das Wasservolumen beschrieben werden könnte, sondern muß den zeitlichen Ablauf
von Zuständen berücksichtigen: Emotionen haben einen prozeßhaften Charakter. Emotionen „entkoppeln“ die Verhaltensreaktion von der Reizaufnahme, indem sie starre, reflexartige Reiz-Reaktionsmuster oder instinktmäßige, angeborene Auslösemechanismen mit fest programmierten Verhaltensabläufen ersetzen. Dabei werden starre Auslösemechanismen durch
kognitive Bewertungsprozesse von Reizen und Situationen abgelöst. Insbe-
186
Harald Traue und Russell Deighton
sondere die motorisch-expressive Komponente des emotionalen Verhaltens
ist in dieser Interpretation zentral, weil mit ihr mögliche Handlungsbereitschaften und Intentionen des Individuums in seine soziale Umwelt hinein
kommuniziert werden. Erst dadurch gewinnt das emotionale Verhalten
seine regulierende Funktion über das Individuum hinaus.
Ausgehend von der beschriebenen Komplexität der emotionalen Struktur und deren prozeßhaftem Ablauf lassen sich Funktionen und Funktionsweisen von Emotionen ableiten, die eine Einordnung der Rolle von emotionaler Hemmung ermöglichen (siehe auch Traue 1998 und 1999):
EMOTIONEN VERLEIHEN SUBJEKTIVE BEDEUTUNG: Emotionen sind eine
Reaktion auf Situationen und verleihen diesen Situationen persönlich relevante Bedeutung. Situationen sind hierbei ganz allgemein zu verstehen und
umfassen äußere (physikalische, soziale und informative) und innere (interozeptive und mentale) Reizmuster. Für manche Reizmuster sind die emotionalen Bedeutungen standardisierter, d. h. stammesgeschichtlich festgelegter
als für andere Reizmuster. Manche komplexe oder vieldeutige Situationen
können allerdings erst durch eine kognitive Analyse auch emotional bewertet werden. Besonders intensive Stimulationen, wie sie beispielsweise während traumatischer Erlebnisse auftreten, können die Möglichkeit kognitiver
Bewertung stark einschränken.
Emotionale Reaktionen, die als Bewertung erlebt werden, können aber
auch von nachfolgenden oder simultanen gedanklichen Vorgängen beeinflußt werden. Durch die zeitliche Struktur kann die Verschränkung mit Kognitionen in prozeßhaftem Ablauf einer Emotion oft subjektiv nicht empfunden werden. Der emotionale von höheren Kognitionen zunächst unabhängige Anteil der Situationsbewertung wird meistens authentischer und
unmittelbarer erlebt als kognitive Bewertungen.
EMOTIONEN DIENEN DER KOMMUNIKATION: Emotionen dienen der Individuum-Umwelt-Anpassung. Die emotionalen Strukturen und Funktionen
haben sich in einem evolutionären Prozeß entwickelt, in den sowohl die
Evolution des Nervensystems als auch die Evolution der sozialen Lebensform des Menschen eingingen. Die evolutionsgeschichtlich neueren Strukturen überlagerten ältere Hirnstrukturen, heben deren Funktion jedoch nicht
vollständig auf. Das emotionale Verhalten basiert deshalb auf vital bedeutsamen Reaktionen, die in einer unmittelbaren Weise erlebt werden und denen ein starker Handlungsdrang innewohnt. Dieser mit Emotionen verbundene Handlungsdrang kann nur in Grenzen kontrolliert werden. Da die
emotionale Verarbeitung sich stammesgeschichtlich in enger Wechselwirkung mit der sozialen Lebensform des Menschen entwickelt hat, ist auch die
Existenz des Menschen von der emotionalen Expressivität seiner Mitmenschen abhängig. Dies gilt in der lebenslangen Entwicklung für die Aufrechterhaltung von Bindungen ebenso wie für die Lösung von Konflikten.
Emotionale Hemmung
187
EMOTIONALES VERHALTEN BASIERT AUF NEUROBIOLOGISCHEN STRUKTUREN: An emotionalen Prozessen ist das gesamte zentrale und periphere
Nervensystem beteiligt, da psychische Funktionen über Wahrnehmung,
Aufmerksamkeit, Aktivation, Bewußtsein und Sprache am emotionalen
Erleben beteiligt sind. Die diesen Funktionen unterliegenden neurobiologischen Strukturen tragen jedoch teilweise sehr spezifische Bedeutungen für
das emotionale Erleben bei. Die zentralnervöse Struktur des limbischen
Systems ist für die Verarbeitung diskreter Emotionen am wichtigsten. Das
limbische System integriert sensorischen Input und Informationen aus dem
Kortex zu emotionalen Einheiten. Neuere Studien sprechen dafür, daß sensorische Information via Thalamus im Mandelkern schneller verarbeitet
wird als im Kortex. D.h. bestimmte Stimuli können ohne eine bewußte Verarbeitung zu emotionalen Reaktionen führen. Läsionen im limbischen System oder der neuronalen Verbindungen zum Kortex können zu einem
völligen Verlust jeglicher emotionaler Reaktionen führen. Die Abhängigkeit
der Qualität der emotionalen Reaktion von neurobiologischen Strukturen
spiegelt sich auch im Überwiegen negativer Emotionen wider, die für das
Überleben offenbar notwendiger sind als positive Emotionen wie Neugierde, Freude und Zuneigung.
EMOTIONEN KÖNNEN PROZESS UND ZUSTAND SEIN: Emotionen entstehen meistens in einem Prozeß der Informationsverarbeitung. Dieser Prozeß
ist bei der Verarbeitung externer Reizmuster hierarchisch strukturiert vom
sensorischen Apparat bis zur kognitiven Verarbeitung. Auf jeder Ebene gibt
es jedoch automatische und selbstregulierende Mechanismen, die eine vollständige Kontrolle durch ein übergeordnetes System vereiteln. Emotionen
können auch durch interne Reize (z. B. Phantasien, Vorstellungen oder
Erinnerungen) ausgelöst werden. Da interne Reize immer auch emotionale
Informationen enthalten, entstehen Emotionen auf diese Weise unmittelbar.
So kann eine Emotion aus dem Gedächtnis über die gesamte Lebensspanne
unabhängig vom zeitlichen Abstand der Entstehung immer neu produziert
werden.
EMOTIONEN SIND KÖRPERLICH UND MENTAL: Emotionale Prozesse korrelieren spezifisch mit zentralnervöser, motorischer und vegetativer Aktivität.
Dabei sind die zentralen Regulationen wichtiger als das periphere Feedback.
Theoretisch leitet sich dieses aus der Kommunikationsfunktion der emotionalen Prozesse ab. Empirische Evidenz dieser Annahme folgt aus der Stabilität und interindividuellen Übereinstimmung emotionalen Ausdrucksverhaltens und vegetativer Korrelate. Endokrine und immunologische Reaktionsmuster differenzieren zwischen positiven und negativen Emotionen, aber
weniger innerhalb dieser beiden emotionalen Klassen.
188
Harald Traue und Russell Deighton
EMOTIONALES VERHALTEN UNTERLIEGT DER SELBSTREGULATION: Nach
Ablauf eines emotionalen Prozesses, ausgelöst durch externe oder interne
Stimuli, wirken Mechanismen der Bewertung sowie der Stimulus-, Ausdrucks- und Verhaltenskontrolle auf die emotionale Reaktion und modulieren sie qualitativ und quantitativ. Diese Kontrollmechanismen sind entweder konditioniert oder folgen einem stark rationalen Moment. Die Kontrolle
von emotionalen Reaktionen durch Unterdrückung oder Hemmung wirkt
stärker auf motorisches, vor allem expressives emotionales Verhalten als auf
die anderen Emotionskomponenten. Auf dieser Verarbeitungsebene wird
auch die sozial-kognitive Dimension des emotionalen Prozesses voll wirksam. Sekundäre Emotionen wie beispielsweise Scham und Schuld werden
erst möglich, wenn ein Individuum die Konsequenzen eines Verhaltens oder
einer emotionalen Reaktion bedenkt. Dabei ist nicht ausgeschlossen, daß
sekundäre Emotionen auch konditioniert sein können. Sie haben eine zeitliche Ausdehnung, die über die außerordentlich kurzen Reiz-Reaktionssequenzen durch einfache interne oder externe Stimulation hinausgehen.
DIE HEMMUNG VON EMOTIONEN
Die Kontrolle von Emotionen ist eine oft erhobene Forderung an Menschen, wie uns jede politische Diskussion lehrt. „Jetzt wollen wir aber nicht
emotional werden!“ ist dort ein oft zu hörender Kommentar, wenn jemand
vermeintlich unsachliche Argumente vorbringt, die Zorn, Angst oder auch
leidenschaftliche Begeisterung erkennen lassen. Entscheidungen sollten rational, also durch Vernunft begründet sein und nicht durch so etwas flüchtiges und schwer faßbares wie Gefühle, ist eine weit verbreitete Meinung.
Dabei wird übersehen, daß Emotionen wichtige Informationen enthalten
und auch wenn sie hinter Argumenten verborgen bleiben, einen starken
Einfluß ausüben. Mehr noch: Neuere Untersuchungen zeigen, daß Entscheidungen zumeist auf emotionalen Informationen basieren (Damasio
1994; Erk & Walter 2000).
Da Gefühle als Grundlage für Handeln in unserer Lebensweise keinen
guten Ruf haben, erwarten einen Menschen schon bald nach seiner Geburt
die rastlosen Bemühungen der Mitmenschen, ihm den kulturgerechten Umgang mit seinen Gefühlen anzuerziehen. Elternratgeber sind voll von Hinweisen, wie man kleinen Kinder ihre Unmutsäußerungen abgewöhnt, wobei
mehr oder weniger offen ausgedrückt als erstrebenswertes Ideal gilt, wenn
die quengeligen Kleinen schließlich ihre Gefühle nur auf die Weise zeigen,
wie es die Erwachsenen für angemessen halten. Daß der Säugling schreit,
wenn er hungrig ist, wird in diesem Sinne eher akzeptiert, als die Äußerung
von Unlust ohne Hunger, die insbesondere des Nachts als störend empfun-
Emotionale Hemmung
189
den wird, weil die meisten Eltern natürlich ihrerseits ein Interesse an erholsamen Nächten haben. Spätestens im Kindergartenalter erwarten Eltern von
ihren Kindern, daß sie den Aufenthalt im Kindergarten nicht verweigern,
weil sie lieber mit den Eltern zusammen sind. Später lernen Kinder, daß
man nicht das Spielzeug der Kumpels kaputt macht, keine Autos zerkratzt,
in Auseinandersetzungen keine körperliche Gewalt anwendet; kurzum: Sie
lernen, ihre Gefühle selbst zu regulieren.
Wenn ein junger Mensch auf diese Weise heranwächst, befindet er sich
mit seinen emotionalen Bedürfnissen und Äußerungen immer wieder im
Konflikt mit seiner sozialen Bezugsgruppe und lernt durch positive und
negative Konsequenzen, die auf seine Emotionalität folgen, seine Gefühlswelt zu kontrollieren. Diese emotionale Selbstkontrolle – also das InEinklang-Bringen der eigenen Motive und des persönlichen und kulturellen
Wertesystems – gelingt Menschen unterschiedlich gut. Die emotionale
Selbstkontrolle, die in der Gruppe dem Zusammenleben dienlich ist, kann
für den Einzelnen ungünstige Folgen haben, denn die Unterdrückung und
Hemmung von Gefühlen hat ihren Preis. In diesem Kapitel soll untersucht
werden, auf welche Weise eine gehemmte Emotionalität sich ungünstig auf
die Gesundheit des Einzelnen auswirkt.
Da es keinen goldenen Standard der emotionalen Selbstkontrolle für das
menschliche Zusammenleben gibt, ist auch die Frage erlaubt, woher denn
die Regeln über das emotionale Verhalten in einer gegebenen Sozialgemeinschaft kommen und wer darüber entscheidet, ob emotionale Äußerungen
adäquat sind oder nicht, und welche Wandlungen sich im Laufe der Geschichte ergeben haben könnten. Mit einem kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Gepflogenheiten gegenüber emotionalen Lebensäußerungen
einzelner Personen, schreibt Stephan L. Chorover in seinem Buch Die Zurichtung des Menschen, „daß nur ganz bestimmte Menschen stets und immer
in der Position sind, die fraglichen Manipulationen vorzunehmen, daß diese
Manipulationen stets in einem sozialen Kontext erfolgen und daß das Ziel
dieser Manipulationen häufig darin besteht, das Verhalten anderer Menschen zu reglementieren“ (1982, 16). In dem Sinne kann sich emotionale
Hemmung in einer allgemeinen Verhaltensstrategie manifestieren. Es gibt
sehr wahrscheinlich erhebliche gesellschaftliche Ungleichheiten im Hinblick
auf emotionale Hemmungen.
DIE HISTORISCHEN WURZELN DES BEGRIFFS „HEMMUNG“
Bevor wir uns der Hemmung von Emotionen zuwenden, soll ein kurzer
Abriß zum Begriff der Hemmung in der neueren Wissenschaftsgeschichte
gegeben werden. Vor einigen Jahren hat der Wissenschaftshistoriker Roger
190
Harald Traue und Russell Deighton
Smith, Professor am Institut für Wissenschaftsgeschichte der Lancaster
University, in seinem beeindruckenden Buch Inhibition (1992) die wissenschaftliche Begriffsbildung von Hemmung diskutiert. Smith vertritt dabei
die These, daß Hemmung ein zentrales Thema für die gegenseitige Durchdringung geistes-, sozial- und naturwissenschaftlicher Theorien ist und für
eine systemtheoretische Konzeption der Selbstregulation des Menschen von
elementarer Bedeutung ist. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich die
biologischen Vorstellungen über Leib und Seele langsam zu systemtheoretischen Ideen und Begriffen der Regulation des Menschen hin entwickelt.
Davor wurde der Begriff Hemmung im Sinne von Unterdrückung als ein
wesentliches Element zur Herstellung von hierarchischen Ordnungen benutzt: Hierarchien in Gesellschaftsstrukturen ebenso wie die Herrschaft der
Seele über den Leib. In den Mitte des neunzehnten Jahrhundert sich gründenden Wissenschaftsbereichen der Neurophysiologie von C. S. Sherrington
(geb. 1857), der Theorie des höheren Nervensystems von I. P. Pawlow (geb.
1849) und der Psychoanalyse von S. Freud (geb. 1856) hatte der Begriff
Hemmung eine zentrale Rolle. Diese drei Gelehrten waren nicht nur Zeitgenossen, sondern sie hatten alle eine Ausbildung in experimenteller Forschung und begannen ihre Forschungsarbeit in einer Zeit großer Entdekkungen der Neurophysiologie.
Sherrington hat in zahllosen Experimenten die Funktion von rückenmarkgesteuerten Reflexen erforscht. Am Anfang seines Wirkens gelangte er
zu der Erkenntnis, daß Kontrolle über die Motorik nur durch das Zusammenwirken von erregenden und hemmenden (oder agonistischen und antagonistischen) Aktivierungen möglich ist. Seine Befunde über Reflexe ließen
das Prinzip der Hemmung neben dem Prinzip der Erregung zu einem
Schlüsselkonzept der Neurophysiologie werden: „In der Funktionsweise der
Maschinerie des zentralen Nervensystems ist Hemmung so allgegenwärtig
und häufig wie die Erregung selbst. Die gesamte quantitative Abstimmung
der Operationen des Rückenmarks und des Gehirns basiert auf gegenseitiger
Interaktion zwischen den zentralen Prozessen der ‚Erregung’ und ‚Hemmung’, eins nicht weniger bedeutsam wie das andere“ (1932, 288). Die bedeutende Neuerung zu früheren Arbeiten war die Erkenntnis, daß Erregung
und Hemmung neuronale Phänomene sind, die letztlich auf ein gemeinsames Neuron wirken, das dann den Muskel in feiner Abstimmung steuert.
Sherrington betrachtete Hemmung als ein fundamentales Prinzip der Integration neuronaler Aktivität. In seinen späteren Arbeiten übertrug Sherrington seine physiologische Konzeption der Hemmung auch auf psychische
Funktionen und auf den Organismus als Ganzem, wenngleich er hierzu
keine experimentellen Untersuchungen mehr durchführte. „In jeder Hinsicht ist Hemmung das integrative Element, das einen Organismus zu einem
Ganzen formt. Gemeinsam bilden Hemmung und Erregung einen Akkord
in der Harmonie der gesunden Funktionsweise des Organismus“ (1913, 308).
Emotionale Hemmung
191
Pawlows Theorie von der „Aktivität des höheren Nervensystems“ genoß
über viele Jahre stürmischer Veränderungen in der zunächst russischen und
dann sowjetischen Wissenschaft das zweifelhafte Privileg mit der marxistisch-leninistischen Staatsideologie des Materialismus kompatibel zu sein,
da diese Theorie menschliches (und natürlich auch tierisches) Verhalten in
objektiven physiologischen Begriffen zu erklären versuchte. Betrachtet man
den politischen Hintergrund der Unterdrückung des Individuums zugunsten
des gesamten Staates in der Sowjetunion nach der Revolution bis in die 80er
Jahre, so ist „es von mehr als vorübergehendem historischen Interesse, daß
Pawlow starken Gebrauch vom Begriff der Hemmung“ macht (Smith 1992,
191). Vor allem aber machte die marxistische Lehre des Dialektischen Materialismus die Theorie des höheren Nervensystem für Psychiatrie und Psychologie auch aus ideologischen Gründen zum Standardmodell. Für die Psychologie war bekanntermaßen Pawlows Erforschung der Konditionierung
des Nervensystems als Ganzes in Abhängigkeit von sensorischer Stimulation von großem Einfluß.
Insofern Pawlow Erregung und Hemmung weniger als neuronale Phänomene an Synapsen verstand, sondern als Funktionen viel größerer Einheiten des zentralen Nervensystems, hatte Erregung und Hemmung bei ihm
eine andere Bedeutung als in der Neurophysiologie. Er wurde von neurophysiologischen Kollegen für diese „metaphorische“ Verwendung der Begriffe von Erregung und Hemmung auch heftig angegriffen. Was waren die
Details? Pawlow unterschied drei Formen der Hemmung: Externale Hemmung, internale Hemmung und Hemmung durch Schlaf. Für externale
Hemmung stehen Experimente, in denen die angeborenen Reflexe auf Futterreize durch Kombination mit elektrischer Reizung unterdrückt wurde. Als
internale Hemmung wurde die Löschung von konditionierten Verhaltensweisen verstanden, wenn beispielsweise auf einen konditionierten Stimulus
(das Klingeln) kein Futter mehr folgte und das Versuchstier die physiologische Reaktion (z. B. Speichelfluß) nach und nach hemmte. Erregende und
hemmende Aktivität sah Pawlow als balanciertes, wellengleiches Schwingen,
das durch externe Stimulation gestört wurde und wieder einem Zustand des
Gleichgewichts zustrebte. In dieser Vorstellung kann man schon das Grundmuster späterer Streßtheorien erkennen. Schlaf betrachtete er als die dritte
Form der Hemmung, die fundamentale regulatorische Funktionen erfüllte:
„Schlafhemmung reguliert den periodischen chemischen Metabolismus des
gesamten Organismus und insbesondere des Nervensystems“ (1928, 245).
Pawlows Experimente zur sogenannten „experimentellen Neurose“ führten
zu weitgehenden Schlußfolgerungen für die Entstehungsbedingungen – die
Ätiologie – von psychischen und psychosomatischen Störungen beim Menschen. In diesen Experimenten mit Hunden wurde die Speichelproduktion
zunächst auf Kreise und Ellipsen konditioniert, die dann so angeglichen
wurden, daß sie von den Versuchstieren nicht mehr diskriminiert werden
192
Harald Traue und Russell Deighton
konnten. Die teilweise beträchtlichen physiologischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten unter solchen Bedingungen wurden von Pawlow als
Neurosen interpretiert, deren Ursache er in Konflikten zwischen Erregung
und Hemmung sah: „Beim Menschen werden nervöse und psychische Störungen durch exakt die gleichen Bedingungen verursacht. Stimuli, die eine
starke Erregung verursachen, wie intensiver Verlust oder bittere Kränkung,
führen zu einer massiven und verlängerten Imbalance der nervösen und
psychischen Aktivität, wenn natürliche Reaktionen gehemmt werden“ (1927,
397). Pawlow betrachtete also die externale Hemmung von natürlichen,
sprich unkonditionierten Reaktionen als ursächlich für mentale Störungen.
Im Kontext der Behandlung psychischer Erkrankungen war er aber offenbar der Auffassung, daß die internale Hemmung mit Schlaf oder medikamentös im Interesse einer Balance stabilisiert werden müsse. Pawlow hat
zwar nicht die Verhaltenstherapie begründet, aber sein Konzept der Konditionierung von Hemmung war die wissenschaftliche Grundlage, auf der
Verhaltenskontrolle von emotionaler Aktivität – welchen Vorstellungen
erwünschtes und unerwünschtes Verhalten auch immer entsprang – ein
wissenschaftliches Instrumentarium erhielt.
Sherrington und Pawlow erhielten für ihre wissenschaftlichen Arbeiten
den Nobelpreis, Freud blieb diese Ehre versagt. Nicht nur das, auch die
akademische Psychologie distanzierte sich nahezu vollständig von psychoanalytischen Konzepten und betrachtet sie heute unbekümmert als Teil
einer historischen Wissenschaftsepoche; ihre Spuren werden gesehen, aber
die psychoanalytische Theorie als Ganzes gilt als überholt. Ganz im Gegensatz zur experimentellen wissenschaftlichen Welt genießt die Psychoanalyse
große Aufmerksamkeit in den Sozial- und Geisteswissenschaften und in der
deutschen Psychosomatik und Psychotherapie. In mancher Hinsicht Pawlow nicht unähnlich, benutzte Freud den Begriff der Hemmung als wissenschaftlichen Terminus, den er aus der Neurophysiologie entlieh, und gleichzeitig in seiner umgangssprachlichen Bedeutung. Beide Begriffsbedeutungen
waren in seinen Annahmen über psychische Abwehr und Repression wesentlich. Die Hemmung von Ideen, Phantasien und Handlungsimpulsen war
nach Freuds Auffassung mit psychischer Anstrengung verbunden – ein
Gedanke, der auch in den gegenwärtigen Überlegungen zur Hemmung von
emotionalen Reaktionen weiter verfolgt wird. Körperliche und psychische
Symptome sah Freud, stark simplifiziert, durch mangelnde Hemmung von
Impulsen verursacht oder durch starke Impulse, die durch Hemmung nicht
vollständig kontrolliert werden können. Nicht die Hemmung unerwünschter
Impulse selbst war für Freud die Ursache von gesundheitlichen Störungen,
sondern die Entwicklungsbedingungen, unter denen die Hemmung von
triebhaften Impulsen nicht erfolgreich ausgebildet wurde. Freuds Versuch
einer allgemeinen Psychologie, begonnen schon 1885 und erst später publi-
Emotionale Hemmung
193
ziert (Freud 1895), ist ein Beleg für die kreative Transformation von streng
neurophysiologischen Konzepten in eine abstrakte Theorie des Gehirns.
In Freuds Psychoanalyse hatte die Sexualität einen zentralen Stellenwert.
Die Unterdrückung der sexuellen Impulse durch die gesellschaftlichen Verhaltensnormen im 19. Jahrhunderts hielt Freud für eine wesentliche Ursache
der damals häufigen hysterischen Störungen. Da Moralvorstellungen zur
Sexualität auf Frauen strenger angewendet würden, mutmaßte Freud, ginge
ihnen viel innere psychische Energie durch den mentalen Aufwand der
Hemmung verloren. Freud sah darin auch die Ursache für einen angeblichen
Mangel an intellektuellen Leistungen der Frauen. Ob dies eine zutreffende
Erklärung ist, soll hier nicht weiter erörtert werden, aber vermutlich haben
auch solche Aussagen die Popularität der Psychoanalyse in deren Gründerjahren gefördert. Freud hielt Hemmung für ein kollektives und individuelles
Unternehmen gegen die triebhaften und potentiell destruktiven Kräfte der
menschlichen Natur. Obwohl er bürgerliche und religiöse Moralvorstellungen verwarf, hielt er doch die Hemmung und Umwandlung triebhafter Impulse für wünschenswerte, aber ständig bedrohte Schritte zur Zivilisation
des Menschen. In dem Ausmaß in dem diese Zivilisation in Frage gestellt
wird, tritt auch der zweifelhafte Wert der Hemmung von Emotionalität zutage.
Die drei Wissenschaftstraditionen von Sherrington, Pawlow und Freud
haben das Konzept der Hemmung in verschiedenen wissenschaftlichen
Kontexten entwickelt. Diesen Kontexten ist gemeinsam, daß sie einer erregenden Kraft die Hemmung gegenüberstellen und daß sie Regulationsmechanismen des Gleichgewichts oder der Homöostase postulieren. Der Gedanke der Anpassung des Individuums an unterschiedliche Umweltbedingungen und der Kommunikation zwischen Teil- oder Gesamtsystemen ist
Teil dieser Kontexte. Ein Überwiegen der hemmenden Einflüsse auf neuronaler, auf zentralnervöser bzw. mentaler Ebene wird als dysfunktional angesehen. Diese zunächst theoretischen (und empirisch begründeten) Annahmen, transformiert durch Popularisierung am Beispiel von neurotischen,
psychotischen und körperlich kranken Menschen sowie die Übertragung der
physiologischen Vorstellungen über Hemmung in allgemeine psychologische und gesellschaftliche Thesen, machen verständlich, warum der Typus
des gehemmten Menschen auch in der Theorie von Laien und damit in der
Umgangssprache als sozial defizitär, in seiner Gedankenwelt phantasielos,
im Verhalten auffällig und für psychosomatische Störungen anfällig gilt.
194
Harald Traue und Russell Deighton
ZIVILISATION UND KOMMERZIALISIERUNG DER GEFÜHLE
Die Kontrolle von Emotionen sollte nicht auf die psychologische und biologische Perspektive reduziert werden, da sie immer in einem sozialen Kontext stattfindet, der sich aus historischen, politischen und gesellschaftlichen
Verhältnissen zusammensetzt. Aus soziologischer Sicht hat insbesondere
Elias (1936) die gesellschaftlichen Veränderungen des Umgangs mit Emotionen aus der historischen Epoche zwischen Mittelalter und Moderne analysiert. Einer der Grundgedanken seiner Theorie bezieht sich auf die Wunden, die eine Verlagerung von zwischenmenschlicher emotionaler Expressivität in den individuellen Menschen hinein mit sich bringen kann: „Ein Teil
der Spannungen und Leidenschaften, die ehemals unmittelbar im Kampf
zwischen Mensch und Mensch zum Austrag kamen, muß nun der Mensch
in sich selbst bewältigen. ... Aber die Triebe, die leidenschaftlichen Affekte,
die jetzt nicht mehr unmittelbar in den Beziehungen zwischen den Menschen zum Vorschein kommen dürfen, kämpfen nun oft genug nicht weniger heftig in dem Einzelnen gegen diesen überwachenden Teil seines Selbst.
Und nicht immer findet dieses halb automatische Ringen des Menschen mit
sich selbst eine glückliche Lösung; nicht immer führt die Selbstumformung,
die das Leben in dieser Gesellschaft erfordert, zu einem neuen Gleichgewicht des Triebhaushalts. Oft genug kommt es in ihrem Verlauf zu großen
und kleinen Störungen, zu Revolten des einen Teils im Menschen gegen den
anderen oder zu dauernden Verkümmerungen“ (Elias 1936, 330-331).
Für die emotionale Selbstkontrolle formuliert Norbert Elias drei zentrale
Thesen:
(1)
(2)
(3)
Der Ausdruck emotionalen Verhaltens wird mit zunehmender Zentralisierung von politischer und wirtschaftlicher Macht eingeschränkt.
Die Kontrolle emotionalen Verhaltens in Formen der Höflichkeit
diffundierte aus dem Adel in die allgemeine Bevölkerung als Ausdruck der gesellschaftlichen und politischen Unterdrückung. Tischund Wohnsitten änderten sich der Affektkontrolle von Aggressivität
nachfolgend durch ein erhebliches Absinken der Schamschwellen.
Grölen, Schlagen, Schreien und natürliche Zeichen der Verdauung
wie Furzen, Rülpsen und Spucken galten zunehmend als unanständig.
Durch die Internalisierung dieser neuen Verhaltensregeln verlagerte
sich die Kontrolle und Unterdrückung von außen in die Menschen
selbst.
Der Prozeß einer zunehmenden Affektkontrolle verschärfte die
Trennung von privaten und öffentlichen Welten, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft erreicht haben mag. Schlafräume, Toiletten, ja manchmal sogar Küchen, sind dermaßen privatisiert, daß viele Emotionen nur noch in
Emotionale Hemmung
195
diesem ganz eingeschränkten Rahmen erlebt und ausgelebt werden
können. Waren beispielsweise im Mittelalter gemeinsame Bäder und
Schlafräume eher die Regel, und damit auch die Teilhabe am öffentlichen Ausleben verschiedenster Gefühle über die Generations- und
Geschlechtergrenzen hinweg, sind sie heute die Ausnahme.
Nun könnte man den Eindruck haben, daß die gesellschaftlichen Veränderungen hin zu mehr Liberalität die Einschränkungen des emotionalen Lebens wieder normalisiert haben. Es gibt jedoch auch Gründe, die gegen eine
solche Annahme sprechen, ja es ist denkbar, daß sich die Situation für den
individuellen Menschen verschärft hat, denn die äußerlich liberalisierten
Regeln und Vorschriften müssen durch eine verstärkte Internalisierung der
Regeln ausgeglichen werden. Wouters (1986) behauptet, daß weniger gesellschaftliche Schranken zwischen Personen und Personengruppen verstärkte
Selbstkontrolle im Zusammenleben notwendig werden lassen und daß Kinder zwar seltener eine autoritäre Erziehung mit Grenzsetzungen erfahren,
aber später dennoch von ihnen ein hohes Maß an Selbstbeherrschung von
sich heraus erwartet wird.
Je nachdem wie viel Emotionskontrolle eine bestimmte Gesellschaft von
ihren Angehörigen allgemein verlangt, so viel Kontrolle wird auch gegenüber Reaktionen unter Streß notwendig sein. Insofern kann die Bereitstellung von klinisch-psychologischen Interventionen in Form von Meditation,
Entspannung, kognitiver Ablenkung und Autosuggestion ebenso als Indiz
für die Notwendigkeit emotionaler Hemmung interpretiert werden, wie die
Verschreibung von etwa einer Packung Psychopharmaka durch Allgemeinärzte in Deutschland pro Kopf der Bevölkerung, mit denen emotionale
Reaktionen gedämpft oder abgemildert werden.
Es ist ein fester Bestandteil der Krankheitstheorien von Laien, daß unterdrückte Gefühle gesundheitliche Gefahren in sich bergen. „Weil ich alles
hinunterschlucke, habe ich dauernd Magenschmerzen“, lautet beispielsweise
eine solche Selbstdiagnose. Konsequenzen aus solch einer Annahme sind
jedoch selber konfliktträchtig. Wer seine Gefühle über belastende Arbeitsbedingungen nicht unterdrücken kann, aber Stellung und Arbeitsplatz nicht
riskieren will, wird eher in ein Streßbewältigungstraining gehen und dort
seinen Ärger und seine Wut austoben als in der Situation, in der sie entstanden sind.
Der Sozialwissenschaftler C. Wright Mills stellte in den fünfziger Jahren
eine zunehmende Vereinnahmung der ganzen Person durch die Arbeitswelt
fest: „Der Teil des beruflichen Lebens, mit dem sie ‚frei’ handeln könnten,
mit ihrer eigenen Persönlichkeit, wird heute auch organisiert, zum lebendigen und zugleich unterwürfigen Instrument zur Verteilung der Güter gemacht“ (1956, 45). In diesen Jahren der industriellen Entwicklung war die
196
Harald Traue und Russell Deighton
Arbeitswelt stärker von der Produktion von Waren dominiert als heute, wo
ein starker Wandel hin zu Dienstleistungen stattfindet. Um so stärker ist
aber die Arbeitswelt an der Unterordnung oder Ausnutzung vormals privater Aspekte der Persönlichkeit von arbeitenden Menschen interessiert, die
sich zunehmend unter Bedingungen wiederfinden, in denen mit Recht von
einer Kommerzialisierung individueller und privater Gefühle die Rede sein
kann. Diese Kommerzialisierung betrifft sowohl die Nutzung von Gefühlen,
um Gewinn zu machen oder um seinen Lebensunterhalt zu sichern, wie
auch die Kontrolle über Gefühle. Ein Beispiel für die Kontrolle sind beispielsweise zeitliche Grenzen, die bei der persönlichen und emotionalen
Zuwendung zu Patienten durch das Pflegepersonal eingehalten werden müssen.
Viele Arbeits- und manchmal auch Lebensverhältnisse sind mehr oder
weniger hierarchisch gegliedert und funktionieren nach statuszentrierten
Kontrollsystemen, in denen Regeln herrschen, die von ranghöheren Personen oder Institutionen aufgestellt werden und nach denen sich rangniedrigere Personen zu richten haben. Die meisten Institutionen folgen diesem
Schema, wenn auch immer wieder Versuche unternommen werden, sie in
sogenannte personenzentrierte Systeme umzuwandeln. Besonders in Zeiten
ökonomischer Krisen besteht eine Tendenz, die sich in Bürokratismus und
in Führungsebenen verfestigten Regeln aufzulösen, weil nicht zu Unrecht
der Verdacht aufkommt, daß mit zunehmender Kontrolle über Emotionen
und Kommunikation der abhängig Beschäftigten auch deren Kreativität in
Mitleidenschaft gezogen wird und dadurch der Institution verloren geht.
Auch wenn die Konsequenzen für die Freisetzung dynamischer Arbeitskraft
im Bereich der Arbeit oft drastisch sind, wenn etwa ganze Führungsebenen
aufgelöst werden, bleiben die realen Machtverhältnisse und Hierarchien beispielsweise zwischen Unternehmern und abhängig Beschäftigten oder Vorgesetzten und Untergebenen unangetastet. Solche Veränderungen verschleiern oft nur die Interessenkonflikte und Machtverhältnisse. Dadurch wird
der Umgang mit den eigenen und Gefühlen anderer Personen dann nicht
einfacher.
Die wichtigsten Regeln in statuszentrierten Kontrollsystemen und hierarchischen Gruppen lauten:
(1)
(2)
Gefühle von Besitzenden, Vorgesetzten, im Status höheren Personen
sind wichtiger als die eigenen Gefühle. Die Gefühle dieses Personenkreises müssen sorgfältig beobachtet, analysiert und erkannt werden.
Auf diese Gefühle muß Rücksicht genommen werden.
Die eigenen Gefühle sind weniger wichtig und müssen kontrolliert
werden. Ihr ungebremster Ausdruck ist schädlich und mit Risiken für
Sicherheit der eigenen Situation verbunden.
Emotionale Hemmung
197
Übrigens gelten solche Regeln auch in Universitäten und Kliniken, die sich
im Hinblick auf Freiheit des Denkens und Handelns einiges zugute halten.
Man denke nur an das Beispiel beruflicher Besprechungen. Es grenzt oft an
Selbstmißbrauch, in welchem Ausmaß sich manchmal hierzulande Mitarbeiter in ihrer Persönlichkeit deformieren, um das emotionale Verhalten von
ranghöheren Personen zu ertragen und ihre eigenen Gefühle der Frustration
und des Ärgers zu unterdrücken. Ohne dafür mit Zahlen aufwarten zu können, halte ich diese Gefühlsarbeit für einen beträchtlichen Teil der Belastungen des Arbeitslebens.
Ein anderer Aspekt der Kontrolle von Gefühlen soll hier erwähnt werden. Arlie Hochschild untersuchte Gefühlsarbeit in verschiedenen privaten
und beruflichen Lebenssphären, insbesondere bei den Berufsgruppen der
Flugbegleiterinnen und Angestellten von Inkassobüros. Die Arbeit in beiden
Berufsgruppen ist in auffälliger Weise von einem gezielten Einsatz von Gefühlen und Gefühlsarbeit geprägt. In den Ausbildungsgängen dieser Berufe
werden die Auszubildenden systematisch im Einsatz ihrer Gefühle geschult.
Als soziologischen Terminus definiert Hochschild Gefühlsarbeit (emotional
labor) im Sinne von Management der Gefühle, das darauf zielt, einen öffentlich sichtbaren Körper- und Gesichtsausdruck herzustellen und unerwünschten Gesichtsausdruck zu unterdrücken.
Gefühlsarbeit „verlangt das Zeigen oder Unterdrücken von Gefühlen,
damit die äußere Haltung gewahrt bleibt, die bei anderen die erwünschte
Wirkung hat“ – hier geht es um erwünschte positive Wirkungen bei Fluggästen bzw. um Angst bei Inkassoklienten, damit diese ihre Schulden zahlen
(Hochschild 1990, 30-31). Arlie Hochschild stellt als Ergebnis ihrer Studie
fest, daß Gefühlsarbeit in fast allen Berufen der sozialen, verwaltenden und
gewerblichen Dienstleistungen zunimmt und damit eine neue Dimension
der Entfremdung des Menschen von den Produkten und Ergebnissen seiner
Arbeit entsteht. Aufgrund der Selbstdarstellungen in ausführlichen Interviews bildete Hochschild vier Gruppen mit unterschiedlichen Strategien der
Gefühlsarbeit: Die Gruppe der instrumentell Orientierten halten sich für aktiv
gestaltende Personen, die Gefühle im Beruf nutzen, aber sie glauben, selbst
durch diese instrumentelle Nutzung ihrer Gefühle wenig verändert zu werden. Die zweite Gruppe erlebt sich als angepaßte Mitarbeiter mit eigener Emotionalität. Sie zeigen situativ notwendige Gefühle, behalten privat aber ihre
wahren Gefühle bei. Eine dritte Gruppe von Personen beobachtet an sich
verändertes emotionales Verhalten. Dies ist die emotional deformierte Gruppe
mit Personen, die sich unter wechselnden Bedingungen emotional verändern. Schleichend adaptieren sie an die beruflichen Anforderungen mit ihrer
ganzen Person. Die vierte Gruppe nimmt schließlich gegenüber den beruflichen Anforderungen eine aktiv angepaßte Haltung ein. Sie versuchen ihre
Gefühle situativ zu verändern, zu unterdrücken oder notwendige Gefühle
„wirklich“ zu erzeugen. Auf die dritte und vierte Gruppe trifft der Begriff
198
Harald Traue und Russell Deighton
der Gefühlsarbeit in besonderer Weise zu. Hier sind auch die persönlichen
Deformierungen und die Belastung durch das Gefühlsmanagement am
größten. Der Mensch wird als Gefühlsarbeiter nicht nur von den unmittelbaren Ergebnissen seiner Arbeit entfremdet, sondern auch von sich selbst,
denn nichts im Seelenleben ist so unmittelbar an die eigene Person gebunden wie persönliche Gefühle. Gefühlsarbeit in Dienstleistungen des Handels, der Pflege und sozialen Fürsorge ist potentiell gut, da niemand gerne
mit mürrischen Personen zu tun hat. Was aber ist der Preis für diese Gefühlsarbeit, wenn die Spannungen im Einzelnen zunehmen, um den beruflichen Anforderungen an emotionale Selbstkontrolle gerecht zu werden?
Ein anderes Indiz der zunehmenden Kommerzialisierung der menschlichen Gefühle ist deren Wertschätzung, wenn sie spontan, natürlich oder
unmanipuliert erlebt und mitgeteilt werden. Echte Gefühle werden zu einem
knappen zwischenmenschlichen Gut. Zu keiner Zeit gab es so viele Angebote von psychologischen Experten anderen Menschen wieder Kontakt zu
sich selbst und zu ihren eigenen authentischen Gefühlen zu verschaffen.
Diese Angebote beziehen sich auf den beruflichen Bereich ebenso wie auf
das Privatleben. Hinter diesen Angeboten und natürlich auch ihrer Inanspruchnahme steht die Erfahrung, daß für die Manipulation der Gefühlswelt
ein hoher gesellschaftlicher Preis der zunehmenden Distanzierung vom
emotionalen Selbst gezahlt wird. Zwar ist Gefühlsarbeit für das menschliche
Zusammenleben notwendig, aber Emotionen sollten keiner beliebigen
Kommerzialisierung ausgeliefert werden. In dem Ausmaß, in dem diese
Kommerzialisierung um sich greift, wird das Erleben und Teilen von authentischen Gefühlen zurückgedrängt werden und schließlich aus dem zwischenmenschlichen Alltag zunehmend verschwinden.
INDIVIDUELLE UNTERSCHIEDE IN DER HEMMUNG VON GEFÜHLEN
Personen unterscheiden sich erheblich im Ausmaß ihres expressiven emotionalen Verhaltens. Dieses expressive Verhalten erfüllt verschiedene Funktionen: Das Ausdrucksverhalten dient als zwischenmenschliches Signalsystem, mit dem emotionale Situationsbewertungen in die soziale Umwelt
übertragen werden und das an der Regulation von Sozialverhalten erheblich
beteiligt ist. Nach innen wird expressives Verhalten wahrgenommen und ist
wesentlich für die Situationsbewertung. Wird das expressive Verhalten gehemmt, dann ist die Regulation des Sozialverhaltens gestört und das Individuum verzichtet auf eine wesentliche Quelle für die Situationsbewertung.
Untersuchungen aus unterschiedlichen Perspektiven zeigen, daß die Inhibition von emotionalem Verhalten als Risikofaktor für die Entstehung und
Aufrechterhaltung psychosomatischer Störungen angesehen werden muß.
Emotionale Hemmung
199
Der Risikofaktor „Emotionale Hemmung“ kann als Krankheitsmodell skizziert werden, das die biopsychosozialen Wechselwirkungen zwischen emotionaler Hemmung und gesundheitlichen Störungen als Pfade beschreibt
(siehe auch Traue 1998). Die Hemmung des emotionalen Verhaltens wird
dabei in verschiedene Typen klassifiziert, die in Abhängigkeit von der Intensität der emotionalen Störung das Krankheitsgeschehen beeinflussen.
TYPOLOGIE EMOTIONALER HEMMUNG
Die Hemmung emotionalen Verhaltens ist ein komplexes Geschehen, das
nicht auf einen Prozeß reduziert werden kann, weil das emotionale Verhalten selbst komplex und vielschichtig ist. Wie Kagan und Mitarbeiter (1988)
zeigen konnten, bildet emotionale Hemmung sich zwar auf einer genetischen Veranlagung aus, aber die Sozialisation moduliert die Entwicklung der
Emotionalität erheblich, vor allem im Hinblick auf das expressive Verhalten.
Schließlich muß der kognitive Umgang mit belastenden Situationen in die
Theorie einer Verbindung zwischen Hemmung und Krankheit integriert
werden, schon deshalb, weil das emotionale Geschehen nicht von kognitiven Prozessen abhängig ist und die zentralnervöse Repräsentation von
Selbstkonzepten und Situationen kognitiv vermittelt ist. Für die Beschreibung von Zusammenhängen zwischen gehemmter Emotionalität und
Krankheitsprozessen wird diese Komplexität durch ein Krankheitsmodell
berücksichtigt, das neurobiologische, sozial-behaviorale und kognitive Pfade
zwischen emotionaler Hemmung und Krankheit beschreibt. Vier Typen
emotionaler Hemmung können unterschieden werden (Traue 1998, Traue &
Deighton 2000):1
(1)
(2)
(3)
(4)
genetische Hemmung
repressive Hemmung
suppressive Hemmung und
dezeptive Hemmung.
Die GENETISCHE HEMMUNG emotionaler Expressivität bezeichnet Vermeidungsverhalten, sozialen Rückzug und Furcht vor unbekannten Menschen. Die Annahme einer genetisch bedingten Hemmung basiert auf Beobachtungen an Kindern in unterschiedlichen Entwicklungsstufen, die erhebliche individuelle Unterschiede im emotional expressiven Verhalten belegen, die mit vegetativer Hyperreagibilität korrelieren (Field et al. 1982).
1
Auf die besondere Form der Implosion soll hier aus Platzgründen nicht eingegangen
werden, da sie nur unter der Bedingung von Traumatisierung entstehen kann (siehe
dazu ausführlich Traue 1998).
200
Harald Traue und Russell Deighton
Kleine Kinder zeigen deutliche Verhaltensunterschiede gegenüber neuen
Situationen und Umgebungsreizen. Etwa 15-20% gesunder Kinder zwischen
1 und 2 Jahren fürchten sich in neuen Situationen und vermeiden neue Stimuli, sie werden als verhaltensgehemmt bezeichnet, etwa 25-30% zeigen das
entgegengesetzte Muster und man bezeichnet sie als ungehemmt. Die neurobiologische Basis dieser Verhaltenstendenzen werden im nächsten Abschnitt näher analysiert. Eine 1992 publizierte Untersuchung von Kagan et
al. (1988) mit dem Konzept gehemmten vs. ungehemmten Verhaltens analysierte ein- und zweieiige Zwillinge in unterschiedlichen Altersstufen. Den
Erblichkeitsindizes zufolge geht die Hälfte der gemeinsamen Varianz zu
Lasten der Erblichkeit. Je älter die Kinder werden, um so geringer wird der
genetische Einfluß auf die emotionale Expressivität. Als weiterer Befund
zeigte sich, daß in der Gruppe der extrem gehemmten Kinder der Erblichkeitsfaktor höher lag. Je extremer die Hemmung, desto größer also die biologische Basis des Verhaltens.
Gehemmte Personen werden auch als schüchtern oder scheu bezeichnet.
Von genetischer Hemmung ist dann die Rede, wenn das Bedürfnis nach Annäherung vorhanden ist, aber gehemmt wird und nicht etwa, wenn jemand
müde, desinteressiert oder faul ist, und deshalb keinen Kontakt sucht oder
kein Interesse an sozialem Kontakt hat. Es handelt sich auch nicht um eine
aktive Vermeidung von Kontakt, denn diese Aktivität würde alternatives
Verhalten auslösen, sondern um passives Vermeiden: Eine soziale Situation
mag in mancher Hinsicht für jemanden mit genetisch bedingter Hemmung
anziehend sein, eine Annäherung kann aber nicht stattfinden, weil sie Angst
macht und die Person sich vor Bestrafung fürchtet oder Frustration antizipiert.
Die genetische Hemmung ist bei etwa 10-15% aller kleinen Kinder innerhalb der ersten zwei Jahre zu beobachten und gilt als mit dem Alter zunehmend stabiles Merkmal. Gehemmte Kinder und Jugendliche weisen
besondere neurobiologische Merkmale auf. Ursprünglich genetisch bedingtes gehemmtes Verhalten geht mit der Lerngeschichte und den streßhaften
Belastungen eine Wechselwirkung ein und kann deshalb durch Konditionierungen verschärft oder abgeschwächt werden. Wenn Kinder in den ersten
Lebensmonaten expressiv gehemmt sind, wird sich das auch auf die Bindung zu den frühen Bezugspersonen auswirken. Es ist sehr wahrscheinlich,
daß schon dadurch das Kind einen gewissen Verlust an sozialer Zuwendung
erfahren muß und weniger positive Resonanz auf sein Verhalten erlebt.
REPRESSIVE HEMMUNG emotionalen Verhaltens findet statt, wenn eine
Person emotionale Episoden nicht vollständig mit allen physiologischen,
sozialen und kognitiven Facetten erleben oder ertragen kann. Die Terminologie der Abwehrmechanismen spricht auch von Abspaltung, Verleugnung,
Dissoziation und Verdrängung, deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß
Emotionale Hemmung
201
eine komplexe emotionale Episode vom Individuum zerlegt wird, weil Teile
dieses emotionalen Erlebnisses Konflikte, Angst oder komplexere Emotionen wie Verachtung hervorrufen. Im zumeist unbewußten Prozeß dieser
Zerlegung werden bestimmte Aspekte der emotionalen Episode nicht mehr
wahrgenommen, andere können isoliert interpretiert werden. Meistens werden bei der repressiven Hemmung die physiologischen und subjektiven
Komponenten des emotionalen Verhaltens verdrängt und kognitive Aspekte
betont. Da die physiologischen Komponenten nicht mehr in das Verhalten
integriert werden, nimmt auch die Motivation zu expressiv-emotionalem
Verhalten ab. Eine ungünstige Folge ist eine verlängerte Aktivierung physiologischer, endokriner und immunologischer Prozesse und ein Mangel an
Bewältigung. Unter Belastung führt dies zu verlängerten Streßreaktionen
und ineffektivem Coping (Schwarz & Kline 1995).
Die SUPPRESSIVE HEMMUNG bezieht sich darauf, daß eine Person emotionale Episoden zwar integriert und bewußt erlebt, aber aus bestimmten
Gründen intentional vollständig oder teilweise unterdrückt. Diese Unterdrückung kann willkürlich sein oder in der lerngeschichtlichen Erfahrung
konditioniert. Als Folge der Unterdrückung können ähnlich den repressiven
Hemmungen körperliche Aktivierungen auftreten, soziale Regulationen
durch mangelnde Expressivität gestört und die kognitive Verarbeitung unvollständig sein. Die Unterdrückung des emotionalen Erlebens kann sich
auf verschiedene Aspekte des emotionalen Verhaltens beziehen. Der Versuch, die kognitiven Komponenten des emotionalen Erlebens zu unterdrükken, führt zu verstärkter Aufmerksamkeit gegenüber diesen dann abgespalteten Elementen des emotionalen Verhaltens, in deren Folge paradoxerweise eine vermehrte kognitive Beschäftigung mit den unterdrückten Inhalten
auftritt. Die Verarbeitung negativer Emotionen wird durch die suppressive
Hemmung beeinträchtigt, auch wenn sich eine Person der Unterdrückung
bewußt ist, da potentiell ein die Belastung bewältigendes Verhalten unterbleibt. Gross & Levenson (1993) haben Versuchspersonen mit verschiedenen Stummfilmszenen (neutrale Filmszene mit einem Park und zwei medizinische Szenen mit Verbrennungsopfern und einer Amputation) emotionalisiert und die Auswirkungen suppressiver Hemmung untersucht. Aus Vorversuchen war dem Forschungsteam bekannt, daß die beiden aversiven
Filmszenen im wesentlichen als ekelerregend eingeschätzt werden und auch
dementsprechendes nonverbales Verhalten provozieren. Die Hälfte der Probanden wurde aufgefordert, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen.
Wie zu erwarten war, konnten die Probanden mit der Instruktion „Hemmung“ ihren Gesichtsausdruck gut kontrollieren. Mehr noch, die somatische
Aktivität in Form von Berührungen des eigenen Gesichts und von Körperbewegungen war signifikant reduziert. Die willkürliche Unterdrückung der
emotionalen Expressivität führte zu verstärkter sympathischer Erregung. In
202
Harald Traue und Russell Deighton
den subjektiven Bewertungen waren zwar die Angaben zum Ekel leicht
reduziert, dafür aber die Angaben von Ärger, Schmerz, Trauer, Peinlichkeit
und Spannung tendenziell erhöht. Verachtung, also ein Gefühl, das expressiv dem Ekel sehr ähnelt, war sogar signifikant erhöht.
Täuschung als Manöver der emotionalen Hemmung bezieht sich immer auf
andere Personen, die über subjektives emotionales Erleben im Unklaren
bleiben sollen. Diese als DEZEPTIVE HEMMUNG bezeichnete Strategie im
Umgang mit Emotionen wird sich meistens auf die Mitteilung von emotionalen Inhalten oder auf das nonverbale Verhalten beziehen. Die dezeptive
Hemmung ist meistens unvollständig und erfordert dennoch ein beträchtliches Ausmaß an psychischer Kraft, die sich in Täuschungsversuchen durch
vegetative Erregung nachweisen läßt. Problematischer sind jedoch unvollständige Verarbeitungen negativer Ereignisse und eine Beeinträchtigung der
sozialen Unterstützung durch andere. Buck (1984) differenziert drei Typen
der Täuschung: nicht-emotionale, streßhafte und emotionale Täuschung. Da
Täuschungen ohne emotionalen Hintergrund weder am Verhalten erkannt
werden können, noch physiologische Reaktionen bewirken, interessiert hier
also nicht Täuschung per se, sondern nur streßhafte und emotionale Täuschung. Geht Täuschung mit Konflikten, Streß und Emotionen einher, ist
dies am kommunikativen Verhalten erkennbar: Man blinzelt mehr mit den
Augen, verzögert eine fällige Antwort, räuspert sich mehr, spricht langsamer
und das Sprechen enthält mehr Sprachfehler.
Der Guilty Knowledge Test (GKT) ist ein Labormodell für streßhafte
Hemmung durch Täuschung. Mit dieser Methode konnten Anstiege der
Herzrate, der Atemfrequenz und des Blutdrucks für die Momente der Täuschung nachgewiesen werden – alles physiologische Reaktionen, die auch als
Streßresponse bekannt sind. Videoaufzeichnungen bei Täuschung zeigten,
daß die Hemmung nicht nur zu einer physiologischen Erregungssteigerung
führte, sondern auch zu einer generellen Hemmung der mimischen Aktivität. Das Gesicht war für die Dauer der vegetativen Erregung wie erstarrt
(freezing).
PFADE ZWISCHEN STRESS, EMOTIONALER HEMMUNG UND
GESUNDHEITLICHEN STÖRUNGEN
Die Hemmung von Emotionen führt über neurobiologische, sozial-behaviorale und kognitive Pfade zu gesundheitlichen Störungen und Krankheitsverhalten. Es sind mehrere Formen der gesundheitlichen Störung denkbar.
Auch wenn die Hemmung emotionalen Verhaltens an der Ätiologie einer
Krankheit nicht beteiligt ist, kann sie Krankheiten aufrechterhalten, chronifizieren oder die Heilung verzögern. Daran können physiologische Überer-
Emotionale Hemmung
203
regungen ebenso beteiligt sein, wie eine Überstimulierung des endokrinen
Systems oder eine Fehlregulation des Immunsystems. Für eine verzögerte
Heilung kann ein Einfluß des Immunsystems angenommen werden, aber
auch soziale Faktoren, die eine Heilung begünstigen, man denke nur an
Schonung, die durch soziale Unterstützung ermöglicht wird. Die gehemmte
emotionale Verarbeitung muß aber nicht notwendigerweise selbst Krankheiten bewirken, sondern kann Erkrankungen mit anderer Entstehungsgeschichte beeinflussen. In dem vorliegenden Modell wird deshalb zwischen
gesundheitlichen Störungen und Krankheitsverhalten unterschieden. Beides
führt aber zur Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems.
Eine detaillierte (auch grafische) Darstellung des Pfadmodells findet sich in
Traue (1998).
NEUROBIOLOGISCHE PFADE
Es besteht kein Zweifel, daß die Verhaltenshemmung kleiner Kinder gegenüber neuen sozialen Stimuli, die sie offensichtlich als emotional gehemmt,
ängstlich und scheu wirken läßt, eine neurobiologische Basis hat. Die Besonderheiten dieses Verhaltensmusters zeigen sich in niedrigen Schwellen
für neuartige Reize, in einer Hyperaktivität bestimmter physiologischer Systeme, die sich in verstärkter Schreckreaktion, erhöhter Muskelspannung
und gegenüber ungehemmten Kindern überaktiven und schneller erregbaren
Neurotransmittersystemen äußert.
Ein Konzept, das in diesem Zusammenhang immer wieder diskutiert
wird, nimmt an, daß die Balance zwischen Verhalten aktivierenden und
hemmenden Zentren im Gehirn zugunsten der Hemmung wirksam ist.
Jeffrey Gray (1972, 1976) und Henri Laborit (1986, 1993) postulieren im
zentralen Nervensystem ein System der Verhaltenshemmung. Gray modifizierte damit die Annahme zur Introversion (Eysenck, 1967) nämlich der
generellen besseren Konditionierbarkeit, durch die Annahme einer besseren
Konditionierbarkeit durch Strafreize. Das Verhaltenshemmungssystem
(BIS) reagiert Gray zufolge auf unbekannte Reize, auf Schmerzreize und auf
frustrierendes Nichtbelohntwerden (absence of expected response contingent reward). Neuroanatomisch ist das BIS in der Region SeptalkerneHippocampus-Frontalcortex (SHF) lokalisiert. Pharmakologische Substanzen wie Barbiturate, Alkohol und Tranquilizer haben in der SHF-Region
eine enthemmende Wirkung. Läsionen der SHF-Region wirken ebenfalls
enthemmend. Das Grundschema der Gray’schen Untersuchungen folgt
einem tierexperimentellen Annäherungs-/Vermeidungskonflikt. Die Versuchstiere lernen eine Reaktion, um eine Belohnung zu erhalten. Ist die
Reaktion gelernt, wird ein Strafreiz gesetzt, der das BIS aktiviert und zur
204
Harald Traue und Russell Deighton
Reduktion des gelernten Verhaltens führt. Es kommt zum Verhaltensstop
durch passive Vermeidung mit gleichzeitiger Steigerung der neurophysiologischen Erregung und der Aufmerksamkeit. Das Verhaltenshemmungssystem reagiert auf konditionierte Strafreize, auf Reize, die eine Beendigung
von Belohnung signalisieren und auf unbekannte Stimuli. Wird dann eine
angstmindernde Substanz gegeben, die das BIS blockiert, wird die Wirkung
dieser Stimuli aufgehoben und ein Verhalten der Annäherung kann erfolgen.
Aus seinen eigenen Studien und den Untersuchungen anderer Forscher
zu unausweichlicher aversiver Reizung entwickelte Henri Laborit (1986,
1993) ein Hirnmodell der Verhaltenshemmung, das sich ähnlich Gray wesentlich auf Strukturen bezieht, die Konditionierungen von Angstreizen
ermöglichen. Die Verhaltenshemmung selber betrachtet er als gelerntes
Verhalten. Folgt man Laborit, so wird die Hemmung durch den ventralmedianen Hypothalamus unter Ausschüttung von Noradrenalin und ACTH
vermittelt. Dort erfolgt ein Einfluß durch die dorsale Septumregion, den
dorsalen Hippocampus und die laterale Amygdala. An der Erregungssteigerung der Verhaltenshemmung ist der Neurotransmitter Serotonin (5HT)
beteiligt. Der Einfluß durch den präfrontalen Cortex erfolgt wesentlich über
das dopaminerge System und Acetylcholin (ACh). Die serotonergen Projektionen von den Raphe-Kernen in das neuronale System von Septum, Hippocampus und den präfrontalen Cortex sowie die cholinergen Projektionen
zum frontalen Neocortex von der Formatio Reticularis und dem basalen
Kern der Amygdala sind Teil des Systems der Verhaltenshemmung. Die
aufsteigenden cholinergen Bahnen zum Cortex aktivieren ACTH und die
Cortisolsezernierung. Lassen wir Henri Laborit die Beteiligung der konditionierten Verhaltenshemmung an der Entstehung und Chronifizierung von
Krankheiten beschreiben:
(1) Glucocorticoide behindern das Immunsystem. Es kann dann zu mikrobiellen Infektionen oder Zellveränderungen kommen, die normalerweise durch
das Immunsystem kontrolliert werden. Eine Episode mit Infektion oder Zellveränderung kann die Folge sein. Dies erklärt die Beziehung zwischen infektiösen und neoplastischen Krankheiten unter Lernbedingungen mit gehemmten Verhalten. Das zeigt auch, daß es nicht nur auf Mikroben oder veränderte
Zellen ankommt, sondern auch auf behaviorale Faktoren. (2) Die periphere
Ausschüttung von Noradrenalin an den Nervenendigungen des sympathischen
Nervensystems erzeugt eine generelle Vasokonstriktion und damit eine Verminderung des Volumens. Zusätzlich bewirken die Glucocorticoide eine Retention von Salz und Wasser mit der Folge einer Massenzunahme. Die Kombination beider Faktoren hat Bluthochdruck zur Folge. Dies konnten Tierexperimente zeigen, in denen eine Verhaltenshemmung konditioniert wurde. [...]
Die experimentellen Beobachtungen legen aber auch andere körperliche Störungen als Folge des gleichen Prozeß nahe: Arteriosklerose, Infektionen des
Emotionale Hemmung
205
Intestinaltraktes und Nierenstörungen zum Beispiel. (3) Auch psychische Beeinträchtigungen können mit Verhaltenshemmung einhergehen. Angst und
andere neurotische Störungen können die Folge des Konfliktes zwischen
Handlungsimpuls und Verhaltenshemmung sein, wenn die Erfahrung gemacht
wird, daß eine Handlung von Strafe gefolgt wird. Eine psychotische Reaktion
könnte als Flucht in die Imagination verstanden werden, wenn die Hemmung
unerträglich wird. (4) Bemerkenswert sind auch experimentelle Hinweise, daß
freie Radikale [...] beteiligt sein können, die zelluläre Strukturen insbesondere
Lyosome und damit neuronale Strukturen zerstören können. Dieser Prozeß
könnte an der Progression bestimmter neurologischer Krankheiten beteiligt
sein (Parkinson, Alzheimer) (1993, 74).
Am Beispiel einer klinischen Untersuchung kann die Relevanz der von Gray
und Laborit postulierten Zusammenhänge zwischen Verhaltenshemmung
und physiologischen und endokrinen Aktivierungen für die Krankheitsentstehung erläutert werden: In einer Studie von Cole et al. (1996) an 222 HIVseronegativen, homosexuellen Männern konnten die negativen Auswirkungen der existentiell bedeutsamen Unterdrückung der emotionell höchst besetzten sexuellen Präferenz gezeigt werden. An Hand einer Geheimnisskala
wurden die Probanden in vier Gruppen nach dem Grad ihres Outings eingeteilt: completely out of the closet, mostly out of the closet, half in and half out of the
closet und mostly or completely in the closet – eine Beschreibung, die nicht ohne
Sinnverlust ins Deutsche übersetzt werden kann. Gemeint ist das Ausmaß
an Geheimhaltung oder Verschleierung, mit dem Homosexuelle ihre sexuellen Neigungen außerhalb ihres ganz intimen Lebensbereiches umgeben. Die
statistischen Auswertungen mit einer Regressionsanalyse ergaben einen
dramatischen Anstieg der Krankheitshäufigkeit mit zunehmender Geheimhaltung für fast alle infektiösen Erkrankungen und auch für Hautkrebs.
Über alle Krankheiten gerechnet, verdoppelt sich die Krankheitswahrscheinlichkeit mit jeder Geheimnisstufe. Dieser Effekt muß um so ernster genommen werden, als Alter, ethnische Zugehörigkeit, Bildung, Sozialstatus,
Gesundheitsverhalten (z. B. Drogengebrauch, Schlafgewohnheiten und
körperliche Fitness) und psychologische Einflüsse wie Depressivität, Angst
und negative Affektivität – ja selbst repressiver Copingstil – aus den Daten
herausgerechnet wurden. Da das Ausmaß an Geheimhaltung der sexuellen
Neigung in dieser quasiexperimentellen Studie der Entstehung der Erkrankungen voraus ging, kann sie als auslösender Faktor angenommen werden.
Neben dem Postulat von zentralnervöser Aktivität, die emotionales Verhalten hemmen kann, wird seit Beginn der Split-Brain-Forschung die Hypothese bewußter und unbewußter Verarbeitungen emotionaler Information verfolgt. Die älteren Untersuchungen von Sperry (1966, 1974) lassen sich in
dieser Weise lesen: Von der rechten Hemisphäre werden bildhafte Informa-
206
Harald Traue und Russell Deighton
tionen (z. B. eine nackte Frau im Experiment) zu einer adäquaten emotionalen Reaktion verarbeitet (Erröten, Kichern), ohne daß dem Patienten
sprachlich bewußt wird, welche Informationen zu der emotionalen Reaktion
geführt haben. Würde man nicht wissen, daß der Informationstransfer von
der rechten in die linke Hemisphäre wegen des getrennten Corpus callosum
bei diesen Patienten unterbrochen ist, läge es nahe, an den Abwehrmechanismus der Verdrängung zu denken. Wir wissen sicher, daß die Probandin in
diesem Experiment nicht absichtlich den emotionalen Inhalt unterdrücken,
sondern wegen des neuropsychologischen Defizits nicht beschreiben kann.
Auch wenn die Befunde von Menschen mit durchtrennten Kommissuren
nicht einfach auf gesunde Personen übertragen werden können, begünstigten u. a. diese Beobachtungen verschiedene Vorstellungen über eine differenzierte Beteiligung der beiden Hemisphären an der dysfunktionellen Verarbeitung von emotionalen Stimuli, die sich als gehemmte Expressivität oder
Alexithymie äußert, denn auch bei gesunden Menschen gibt es Unterschiede zwischen der linken und rechten Hemisphäre bei der Verarbeitung emotionaler Informationen, die für die Frage gehemmter emotionaler Expressivität von Belang ist: Die rechte Hemisphäre verarbeitet bei manueller Reaktion Gesichter als Träger emotionaler Informationen schneller als die linke
Hirnhälfte. Müssen die Reaktionen jedoch sprachlich erfolgen, verschwindet
dieser rechtshemisphärische Vorteil. Der rechtshemisphärische Vorteil bei
Gesichtsverarbeitungen ist am größten bei der Erkennung von physiognomischen Invarianten (d. h. Erkennung eines Gesichtes aus verschiedenen
Blickwinkeln). Auch bei der Verarbeitung akustischer Reize erweist sich die
rechte Hirnhälfte dominant für die Identifikation emotionaler Tönung der
Sprache. Aus der Unterschiedlichkeit emotionaler Verarbeitung in der linken
und rechten Hemisphäre kann sich ein neuropsychologischer Mechanismus
ableiten lassen, der Dissoziationen zwischen emotionalem Erleben, emotionalem expressiven Verhalten und physiologischen Reaktionen erklärt, wie
sie für die unterschiedlichen Phänomene gehemmter Emotionalität und
Persönlichkeit typisch sind (siehe auch Traue, 1988, 1998; Lane et al. 1995,
1996). In einer noch unpublizierten MRI-Studie von Gündel et al. wurde die
Hypothese bestätigt, daß das Volumen der rechte Hemisphäre mit dem
Merkmal der Alexithymie korreliert – allerdings spezifisch nur der vordere
Gyrus Cinguli und wiederum nur bei männlichen Probanden.
SOZIAL-BEHAVIORALE PFADE
Die gehemmte Emotionsverarbeitung wirkt sich aber nicht nur in einem
Individuum als physiologische Hyperaktivität und einem existentiellen Mangel aus, sondern beeinflußt die Interaktion zwischen Menschen. Wer seine
Emotionale Hemmung
207
Gefühle nicht adäquat oder gar nicht in zwischenmenschlichen Situationen
zeigen kann, dem fehlen wesentliche Mittel der Kommunikation, des emotionalen Austauschs und der Bindung. Schon am Beginn der menschlichen
Entwicklung wirkt die angeborene Emotionalität auf das kommunikative
Verhalten der Eltern. Je expressiver ein Baby, desto mehr wenden sich die
Eltern ihm mit emotionaler Mimik zu. Für beide Seiten wirken emotional
expressive Reaktionen verstärkend. Das Bedürfnis nach emotionalem Austausch bleibt lebenslang erhalten (Rimé 1995).
Kinder mit geringer Expressivität und erhöhter vegetativer Erregbarkeit,
sind leichter konditionierbar, da sie stärker auf Strafreize regieren. Unter
ungünstigen Sozialisationsbedingungen in Familie, Schule oder religiösen
Gruppen kann die aufkeimende emotionale Expressivität weiter unterdrückt
und die vegetative Erregbarkeit gesteigert werden. Hinzu kommen andere
Effekte: Expressive Kinder (und Erwachsene) sind beliebter, wirken attraktiver und können besser ihre Interessen durchsetzen. Salovey und Mayer
(1990) haben für diese Fähigkeit den Begriff der „emotionalen Intelligenz“
geprägt. Auf diese Weise gelingt es expressiven Menschen eher, ein soziales
Unterstützungssystem aufzubauen, das unter belastenden Lebensbedingungen als Puffer gegen Streß wirkt und die Gesundheit störende Effekte abmildert.
Bei der emotionalen Implosion (Traue et al. 1997; Traue 1998) unter
extremer Traumatisierung spielen solche lebenslangen Prozesse dann eine
Rolle, wenn betroffene Menschen in ihrem sozialen Umfeld bleiben und sie
nach und nach ihre noch vorhandenen emotionalen Ressourcen zum Wiederaufbau der sozialen Beziehungen nutzen können. Lernprozesse unter
extremer Traumatisierung können hyperaktive vegetative Erregungsmuster
der Angst an äußere Erstarrung und innere Stumpfheit konditionieren.
Nach solchen Konditionierungen leiden diese Menschen unter starken
Schwankungen zwischen höchster emotionaler Erregung und emotionaler
Empfindungslosigkeit, zwischen Fluchtbereitschaft und Erstarrung.
KOGNITIVE PFADE
Erinnerungen und Gedanken zu emotionalen Erlebnissen sind oft unangenehm, besonders wenn sie sich auf problematische Lebensepisoden beziehen. Viele Menschen versuchen deshalb Gedanken an solche Ereignisse zu
unterdrücken. Da Gedanken an solche Ereignisse ein wesentlicher Teil der
emotionalen Reaktion ausmachen, sind Versuche der Gedankenunterdrükkung auch gleichzeitig Hemmungen des emotionalen Verhaltens. Die in gedankliche Unterdrückung fließende Energie hält diesen Prozeß aufrecht.
208
Harald Traue und Russell Deighton
Auch die Ambivalenz gegenüber emotionaler Expressivität läßt sich im
Sinne einer kognitiven Hemmung interpretieren. King et al. (1992) haben
eine Theorie der Emotionsambivalenz formuliert, nach der das Bedürfnis
nach emotionaler Expressivität Konflikte auslösen kann, die sich als Ambivalenz gegenüber der eigenen Expressivität ausdrücken. Der Ambivalenzfragebogen wurde ins Deutsche übersetzt und an einer Stichprobe gesunder
Versuchspersonen wurde der Zusammenhang zwischen körperlicher und
psychischer Gesundheit und Emotionsambivalenz untersucht. Da die Kontrolle von emotionaler Expressivität bei allen Fragen des Bogens zum Ausdruck kommt, haben wir das Instrument „Fragebogen zur Emotionskontrolle“ (FEMKO) genannt (Traue 1998).
Eine Faktorenanalyse des FEMKO ergab zwei inhaltlich unterschiedliche Aspekte der Ambivalenz. Ein Faktor gruppierte Fragen, die sich auf die
Folgen von emotionaler Expressivität bezogen, wenn beispielsweise befürchtet wird, daß der Ausdruck von Ärger von jemand anderem übel genommen wird. Dieser Faktor wurde deshalb von uns Effektambivalenz genannt. Der zweite Faktor schloß Fragen ein, die sich auf die Fähigkeit zum
Gefühlsausdruck bezogen, wenn jemand zwar seine Gefühle zeigen möchte,
es ihm aber nicht gelingt. Wir nennen diesen Faktor daher Kompetenzambivalenz. Die Effektambivalenz bezieht sich mehr auf negative Emotionen, während die Kompetenzambivalenz eher mit positiven Gefühlen zusammenhängt. Diese beiden Faktoren stehen auch in einem differenzierten Verhältnis zu den Gesundheitsdaten. Während die Effektambivalenz mit körperlichen Beschwerden und mit depressiver Symptomatik korreliert, gehen hohe
Werte der Kompetenzambivalenz mit mangelnder sozialer Unterstützung
einher.
Ein anderer kognitiver Pfad der Unterdrückung kommt durch einen
emotionsarmen kognitiven Stil der Verarbeitung emotionaler Ereignisse
zustande. Damit ein emotionales Ereignis vollständig verarbeitet werden
kann, müssen viele Aspekte sprachlich kodiert werden. Innere Dialoge und
natürlich die Mitteilung von emotionalen Erlebnissen setzen solche sprachlichen Umsetzungen voraus. In der Psychosomatik wurde für emotionsarme
Sprache schon vor langer Zeit der Begriff Alexithymie geprägt, als eine Unfähigkeit mit emotionalen Erlebnissen in der Vorstellung oder der Sprache
umzugehen. Die vollständige kognitive Repräsentation emotionaler Ereignisse ist auch wichtig, damit ein solches Erlebnis nicht in einem Netzwerk
der Furcht im Gedächtnis bleibt, sondern wieder an wenig furchterregende
Ereignisse gebunden werden kann. Da in gedanklichen Furchtnetzwerken
isolierte emotionale Inhalte auch mit entsprechenden vegetativen Erregungen assoziiert sind, könnten physiologische Erregungen als körperliche
Symptome von Krankheiten gedeutet werden.
Emotionale Hemmung
209
EMOTIONEN IN DER PSYCHOTHERAPIE
Das innere Erleben und der Ausdruck von Emotionen stehen oft im Mittelpunkt der psychotherapeutischen Arbeit mit Patienten. Dabei kann emotionales Verhalten nicht von kognitiven Prozessen und Handlungen getrennt
betrachtet werden, da diese psychischen Grundfunktionen selber an Emotionen beteiligt sind, aber ihrerseits auch von Emotionen beeinflußt werden.
In der Psychotherapie, die sich immer mit dem ganzen Menschen befaßt,
kann emotionales Verhalten aber nicht isoliert, sondern nur im Zusammenhang mit anderen psychischen Grundfunktionen betrachtet werden.
Fast alle psychotherapeutischen Theorien sehen im Erleben und dem
Ausdruck von Emotionen einen wichtigen Fokus für das Verstehen eines
Patienten mit seiner Störung. Gleichzeitig wird im emotionalen Verhalten
während des Therapieprozesses oft der Schlüssel zur Veränderung gesehen:
An einem Patientenbeispiel machen Greenberg und Safran dies deutlich:
Ich ging dann einige Monate lang zu einem Therapeuten und sprach mit ihm
über meine Gefühle der Isolierung und über meine Frustration. Die Sache
kristallisierte sich irgendwie besser heraus, aber irgendwie änderte sich gefühlsmäßig nichts richtig. Ich ging dann zu einem anderen Therapeuten. Irgendwie hatte dieser Therapeut einen besseren Draht zu dem, was ich in mir
fühlte. Ich erinnere mich, wie ich ganz zu meiner eigenen Überraschung
schon in der zweiten Sitzung zusammenklappte und weinen mußte. Es fing
damit an, daß ich nur zaghaft seufzte, aber innerhalb weniger Minuten losheulte wie selten. Langsam, nach einigen Minuten, ließ das Weinen nach. Ich
begann, über meinen Schmerz zu sprechen, über meine Verzweiflung, die
ich nun so deutlich in mir spürte; die ich vielleicht nie zuvor so deutlich gespürt hatte. Dann sprach ich über meine Sehnsucht nach menschlichen Begegnungen und wie sehr ich mich in meinen Ängsten und Furcht vor Zurückweisung gefangen fühlte und über meine Schuldgefühle wegen einer sexuellen Beziehung. In den folgenden Wochen wurde ich zunehmend motiviert, mein Leben zu ändern. Das war noch einige Monate, bevor sich wirklich etwas änderte in meinem Leben, aber diese Episode in der Therapie war
der Anfang der Änderung meines Lebens (Greenberg & Safran 1987, 4).
Diese therapeutische Facette ist in mancher Hinsicht aufschlußreich. Der
Patient reagiert an einer bestimmten Stelle im therapeutischen Prozeß sehr
emotional. Dieser emotionale Moment unterscheidet sich von früheren
Empfindungen durch seine Intensität und seine expressive Komponente. Er
gibt ihm das Gefühl, sich tatsächlich selbst zu spüren und dadurch Klarheit
über sich zu gewinnen. Durch das intensive Gefühl kann er auch über seine
Bedürfnisse klarer sprechen und Motive entwickeln. Die entscheidenden
Prozesse sind das subjektive Gefühlserleben, die körperliche Beteiligung, der
210
Harald Traue und Russell Deighton
Gefühlsausdruck und die daraus folgenden motivationalen und kognitiven
Änderungen. Viele Psychotherapeuten würden sich rasch darüber einig werden, daß psychologische Probleme häufig die Folge von Blockierung oder
Vermeidung potentiell adaptiven emotionalen Verhaltens sind und daß psychotherapeutische Interventionen auf die Überwindung dieses Widerstandes
gegenüber Emotionen und auf die Freilegung des emotionalen Erlebens zielen, und daß weiterhin das vollständige Durchleben einer spezifischen emotionalen Episode zu einer Veränderung des emotionalen Erlebens führt und
dadurch neue adaptive Reaktionen in problematischen Situationen erlaubt.
Wenn man analysieren will, wie nun die Psychotherapie damit umgeht,
kann man eigentlich nicht von der „Psychotherapie“ sprechen, da sich die
zahlreichen psychotherapeutischen Traditionen im Hinblick auf die ihnen
zugrunde liegenden Theorien und ihre therapeutischen Interventionen erheblich unterscheiden. Diese Unterschiede sind allerdings in der Theorie
größer als in der therapeutischen Praxis, in der man vermutlich mehr Gemeinsamkeiten feststellt.
VIER ASPEKTE EINER EMOTIONSTHERAPIE
Unter den verschiedenen psychotherapeutischen Perspektiven, mit denen
emotionales Verhalten in den jeweiligen therapeutischen Konzepten und
Behandlungstechniken betrachtet wird, fassen Greenberg & Safran (1987)
vier wesentliche Punkte zusammen:
(1)
(2)
(3)
(4)
emotionale Entladung
emotionale Einsicht
emotional adaptives Verhalten
Exposition
Die verschiedenen psychotherapeutischen Auffassungen gewichten diese
vier Punkte unterschiedlich. Wenn aber ein Aspekt (oder mehrere) in einer
psychotherapeutischen Intervention zur Anwendung kommt, ist das wesentliche Ziel ein möglichst vollständiges Durchleben einer emotionalen Episode, das subjektives Erleben, emotionale Expressivität, physiologische Erregung und interaktive Funktionen einschließt.
EMOTIONALE ENTLADUNG: Viele psychotherapeutische Vorgehensweisen
enthalten mehr oder minder explizit Elemente der Katharsis. Meist wird sie
als Mittel zum Zweck betrachtet, etwa um verdrängte Erinnerungen zu aktivieren oder um Patienten einen geschützten Raum und eine behütende Atmosphäre zu bieten, so daß sie unterdrückten oder vermiedenen emotionalen Reaktionen nicht ausweichen müssen. Nur wenige Therapeuten glauben
Emotionale Hemmung
211
wie die Anhänger der Primärtherapie an die heilsamen Effekte eines unmittelbaren Auslebens von Emotionen an sich. Selbst Thomas (1983) als Verfechter kathartischer Therapie hält Katharsis besonders dann für wirkungsvoll, wenn der Ausdruck zuvor verdrängter oder unterdrückter Emotionen
vom Patienten selber mit gewisser Distanz beobachtet werden kann und er
durch diese Selbsterfahrung und -beobachtung die Hemmung seiner Emotionen zunehmend lösen kann. Das Ausleben unterdrückter Emotionalität
sollte in therapeutische Strategien eingebettet sein, die Veränderungen des
Selbstkonzeptes eines Patienten nach einer kathartischen Erfahrung anstreben, damit aus der kathartischen Erfahrung eine überdauernde Veränderung
entstehen kann. Wenn in einer Therapie Annahmen zu Streß und Bewältigung im Vordergrund stehen, dann dürfte ein Ziel emotionaler Entladung
darin bestehen, den psychischen Aufwand der Unterdrückung von Emotionen umzulenken auf die Bewältigung von Belastungen. Dieses Ziel kann nur
erreicht werden, wenn Patienten vorher die Kraft und die Möglichkeit emotionaler Entladung kennengelernt haben.
EMOTIONALE EINSICHT: Obwohl in vorwiegend kognitiv orientierten Psychotherapien die Katharsis emotionaler Erregung kritisch gesehen wird, als
wirkungslos oder nur kurz wirksam, wird die Bedeutung emotionalen Erlebens nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil: Einem rein intellektuellen Verstehen des eigenen Verhaltens – auch des gestörten Verhaltens – wird die Einsicht gegenübergestellt. Einsicht stellt sich in der Therapie aber erst durch
die Durcharbeitung emotionaler Aspekte des Erlebens und der Erinnerung
ein. Einsicht gelingt dann, wenn der Patient seine emotionalen Impulse im
Gesamtzusammenhang mit seinem persönlichen und kulturellen Wertesystem versteht und die Episode in ein persönliches Narrativ integriert. In der
Psychoanalyse wird beispielsweise der Übertragungsprozeß genutzt, um ein
psychisch zunächst oberflächliches Erleben durch die Aktualität der Übertragungsbeziehung emotional anzureichern. Je enger das aktuelle emotionale
Erleben und die gedankliche Verarbeitung aufeinander bezogen sind, desto
wahrscheinlicher sind Änderungen des Patienten. In der Gesprächspsychotherapie achten Therapeuten besonders aufmerksam auf emotionale Nuancen in den Äußerungen ihrer Patienten. Es geht dabei weniger um verdrängte emotionale Impulse als um den emotionalen Gehalt des Selbstkonzeptes
eines Patienten und um seine emotional vermittelte Bindung an soziale Objekte seiner zwischenmenschlichen Umwelt. Emotionen werden dabei als
bedeutungshaltige Prozesse gesehen, mit denen ein Individuum seine innere
und äußere Welt bewertet. Insofern kann Einsicht ohne emotionale Beteiligung nicht stattfinden. Unter anderen Therapieformen richtet die Gesprächspsychotherapie explizit ihre Aufmerksamkeit ebenso auf den umgekehrten Vorgang, auf die konstruktivistische Bedeutung erlebter Emotionalität. Das Selbstkonzept eines Menschen, das immer ein Ergebnis einer men-
212
Harald Traue und Russell Deighton
talen Konstruktion ist, kann nur dann vollständig sein, wenn es emotionales
Erleben einschließt. Insofern ist für die Veränderung von Selbstkonzepten
in der Therapie auch subjektives und konkretes emotionales Erleben notwendig.
EMOTIONAL ADAPTIVES VERHALTEN: Der Aspekt emotional adaptiven
Verhaltens verläßt die Perspektive eines auf sich selbst begrenzten Individuums. Für ein Individuum im sozialen Kontext haben Emotionen steuernde
Funktionen seines Verhaltens und Erlebens im zwischenmenschlichen Kontakt. Sympathie, Attraktion, aber auch Ablehnung anderer Personen wird
durch emotionales Erleben reguliert, um nur einige Beispiele zu nennen.
Dieser Aspekt emotionalen Verhaltens hebt die Rolle von Emotionen als
eines Systems der Informationsverarbeitung mit einer intra- und einer interindividuellen Dimension hervor, er öffnet den Blick über das Individuum
hinaus. Alle therapeutischen Verfahren, die sich auf die Reduktion unerwünschter Gefühle beschränken, vernachlässigen den adaptiven Wert emotionaler Reaktionen.
Völlig im Mittelpunkt steht das emotional expressive Verhalten in seiner
kommunikativen Bedeutung in den humanistischen Therapiekonzepten.
Emotional expressives Verhalten wird in dieser Therapieform mit dem Ziel
gefördert, das Individuum zu befähigen, sein subjektives Gefühlsspektrum
in interpersonale Kommunikation umsetzen zu können. Dieses Ziel wird
auch beim Selbstsicherheitstraining der Verhaltenstherapie angestrebt, wenn
emotional expressives Verhalten zum Durchsetzen von Bedürfnissen oder
zur Problemlösung geübt oder gefördert wird.
Die gegenwärtigen Entwicklungen verschiedener therapeutischer Konzepte ist durch die Auseinandersetzung mit neuen Erkenntnissen aus der
Psychobiologie geprägt. Dies gilt für kognitiv-behaviorale Therapien bei
traumatisierten Menschen, die sich mit den neurobiologischen Auswirkungen extremer Streßsituationen auf emotionales Verhalten auseinandersetzen
ebenso wie für die Psychoanalyse, die neuerdings versucht, Erkenntnisse der
Entwicklungsbiologie in ihre Konzepte zu integrieren. Da emotional expressives Verhalten sich vermutlich stammesgeschichtlich durch die soziale Lebensform des Menschen aus der Begleiterscheinung anderer Verhaltensweisen (wie Ausspucken widerlicher Speisen) zur Kommunikation von Bewertungen (z. B. Ekel) entwickelt hat, muß die adaptive Bedeutung des expressiven Verhaltens für das Leben in Gruppen hoch sein.
EXPOSITION: Die Methoden der Katharsis, der Reizüberflutung (flooding)
oder der Implosion basieren auf unterschiedlichen theoretischen Überlegungen; auch haben sie ihre Wurzeln in unterschiedlichen therapeutischen
Entwicklungen (frühe Psychoanalyse und Verhaltenstherapie). Dennoch
haben beide Verfahren große Ähnlichkeiten. Gemeinsam ist den theoretischen Überlegungen die Annahme, daß emotionales Verhalten potentiell
Emotionale Hemmung
213
vorhanden ist, das – unter bestimmten Bedingungen ausgelöst – den Patienten in seinem Wohlbefinden beeinträchtigen kann, weil es unerwünscht ist.
Die frühe Psychoanalyse behandelte diese unerwünschten Reaktionen, auch
seine qualitativ umgewandelten Varianten, durch Abreaktion in der Katharsis, indem sozusagen ein Ventil für die Abfuhr der damit gebundenen psychischen Energie geschaffen wurde. In der Verhaltenstherapie hielt man
Löschung und Gegenkonditionierung für das geeignete Mittel der Therapie,
indem an zunächst das unerwünschte Gefühl auslösende Situationen eine
alternative Reaktion konditioniert wurde oder das unerwünschte Gefühl
verstärkende Konsequenzen aufgehoben wurden. Damit solche therapeutischen Strategien greifen können, muß das emotionale Verhalten während
der Therapie auftreten, d. h. durch einen aktiven Vorgang eingeleitet werden. Das ist eine wesentliche Gemeinsamkeit. Die neuere verhaltenstherapeutische Diskussion gebraucht lieber den Begriff der emotionalen Verarbeitung (emotional processing). Emotionale Verarbeitung reflektiert den Übergang in den therapeutischen Zielen von Abschwächung einer unerwünschten Emotion zu Verhaltensalternativen. Dazu Stanley Rachman: „Emotionale Verarbeitung kann man als Prozeß betrachten, durch den emotionale
Störungen absorbiert und abgeschwächt werden können, damit anderes
Erleben und andere Verhaltensweisen ohne Störungen möglich werden“
(Rachman 1980, 51).
FAZIT
Das hier skizzierte Krankheitsmodell über den Zusammenhang zwischen
gehemmter Emotionalität und Störungen der Gesundheit folgt einem nichtdeterministischen Pfadmodell, in dem die neurobiologischen, sozial-behavioralen und kognitiven Pfade zwischen Streß und Emotionsaktivierung,
deren Verarbeitung durch Hemmung und die klinischen Folgen beschrieben
werden. Insbesondere für Kopf- und Rückenschmerzen, für Erkrankungen
des Herz-Kreislaufsystems und für Krebserkrankungen liegen zahlreiche
empirische und teilweise auch experimentelle Befunde vor, die über die
theoretischen Annahmen hinaus auch die klinische Relevanz einer gehemmten Emotionalität als Risikofaktor für Gesundheit belegen. Nicht erst die
Psychotherapie und Psychosomatik der Moderne hat die schädlichen Auswirkungen von emotionaler Gehemmtheit für die körperliche Gesundheit
entdeckt. Die individuellen Kosten der Hemmung von Emotionen aufgrund
gesellschaftlicher Zwänge – und guter Gründe – wurden und werden in
vielen Kulturen durch Rituale der emotionalen Öffnung zumindest teilweise
abgemildert. Die Rituale der emotionalen Öffnung in ethischen Gruppen
und früheren historischen Epochen werden heutzutage durch die moderne
214
Harald Traue und Russell Deighton
Psychotherapie aus ihrem meist religiösen Kontext herausgelöst und erfahren eine säkularisierte Form der Professionalisierung und mit der allgemeinen Psychologisierung des Alltags auch eine weite Verbreitung.
Die im Bereich der Psychosomatik und Verhaltensmedizin verbreiteten
psychologischen Therapieverfahren zielen nahezu ausnahmslos auch auf die
Veränderung emotionalen Verhaltens mit dem Ziel, körperliche Streßreaktionen zu mildern. Es soll abschließend angemerkt werden, daß sich emotionsregulierende Interventionen im Rahmen von Psychotherapie bei der
Behandlung emotionaler Probleme und Hemmungen auch im Hinblick auf
Störungen der körperlichen Gesundheit als sehr erfolgreich erwiesen haben
(Traue, 1998).
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Dirk Wedekind und Borwin Bandelow
KRANKHAFTE GEFÜHLE. ANGST UND
DEPRESSION AUS PSYCHIATRISCHER SICHT
M
enschen mit einer depressiven Störung oder einer Angststörung
stellen den größten Anteil an den stationären und ambulanten
Behandlungsfällen in der Psychiatrie dar. Auf der Ebene des emotionalen Erlebens, emotionalen Verhaltens bzw. Ausdrucks und den damit
verbundenen physiologischen Veränderungen zeigen diese Individuen eine
weitgehend gestörte intra- und interpsychische Emotionsregulation, die dem
Betroffenen selbst und seinem Umfeld zu verstehen geben will, daß ein
angemessenes Bewältigungsverhalten zur Anpassung an streßvolle, belastende Situationen und Episoden aktuell nicht aktiviert werden kann oder
zur Verfügung steht.
ANGST UND DEPRESSION IM VERGLEICH
Unter den psychiatrischen Störungsbildern zeigen gerade Angst- und depressive Störungen offensichtliche Überschneidungen. Angst ist zum einen
ein wesentliches Symptom der Depression, andererseits erkennt man häufig
eine Komorbidität beider Störungsbilder. Zudem treten depressive Störungen nicht selten im langfristigen Verlauf von Angsterkrankungen auf und
sind ein wichtiger Faktor für deren Chronifizierung. Im Gegensatz hierzu
werden aber Angststörungen in der Folge wiederholter oder lang andauernder depressiver Episoden selten beobachtet.
Eine kategoriale Trennung von Angst und Depression ist schwierig. Der
Schweizer Psychiater Jules Angst favorisiert ein Kontinuum-Modell mit
gleitenden Übergängen zwischen Angst und Depression, das sicherlich für
ein Verständnis der mit ihnen verbundenen Phänomene hilfreich sein kann.
Beide Gruppen von Störungen weisen durchaus ähnliche biologische Veränderungen auf, und die pharmakologischen und psychotherapeutischen
Behandlungsansätze sind in vielen Aspekten ähnlich. Auch zeigt die bisherige Suche nach genetischen Faktoren in der Entstehung von Angst- und
depressiven Störungen vergleichbare Ergebnisse. Beides sind typische Erkrankungen, deren erste Episode mit hoher Wahrscheinlichkeit im frühen
218
Dirk Wedekind und Borwin Bandelow
Erwachsenenalter auftritt. Besonders bei den Angststörungen vergehen
durchschnittlich viele Jahre vom Auftreten der ersten Symptome bis zur
korrekten Diagnose mit vorangegangenen, oft frustranen somatischen Untersuchungen und Diagnosen, da hier, wie oft auch bei depressiven Episoden, initial meistens körperliche Beschwerden angegeben werden. Ganz
abgesehen von den vergleichsweise geringen Behandlungskosten stellen
Angst- und depressive Störungen ein umfassendes sozioökonomisches Problem dar. In den Industrieländern kann davon ausgegangen werden, daß
unter der Bevölkerung Angst- und depressive Störungen bezüglich der
durch sie versäumten Arbeitstage nach den Herz- und Kreislauferkrankungen den zweiten Platz einnehmen.
Nachdem erste Fallbeschreibungen von Panikattacken bis in die Antike
zurückreichen, ist die klassifikatorische Einteilung der unterschiedlichen
Angststörungen noch sehr jung. Nach Westphals Beschreibung der Platzangst 1872 und Freuds Angstneurosen-Begriff (1894) dauerte es bis in die
60er Jahre des letzten Jahrhunderts, bis genauere symptomatische Beschreibungen z. B. von Panikattacken (Klein) und der Sozialen Phobie (Kagan) in
der wissenschaftlichen Literatur erschienen. Die Aufnahme in die internationalen Diagnosekriterien (DSM III) ergab sich letztlich erst 1980.
Sah man im letzten Jahrhundert Angst zumeist als „Neurose“ an, unter
der nur schlecht angepaßte Individuen leiden (und die für Freud als Aktualneurose, der kein psychischer Konflikt zugrunde liegt, nur schwer einer
Behandlung zugänglich ist), vollzieht sich in letzter Zeit ein Gesinnungswandel. Durch ein integratives, fach- und schulenübergreifendes Verständnis sollte man die Fähigkeit, Angst zu erleben, als nicht nur notwendig für
das Überleben, sondern vor allem für Lernen und die persönliche Entwicklung betrachten. Dieses Verständnis von Angst vertritt in seinen Grundzügen bereits um 1860 der Existentialphilosoph Kierkegaard, der ironischerweise eine erhebliche Zeit seines Lebens unter depressiven Episoden litt.
Epidemiologische Untersuchungen zeigen, daß die Lebenszeitprävalenz
einer Episode einer Angststörung bei 25% liegt, was das Risiko, mindestens
einmal im Leben eine depressive Episode zu erleben, nochmals um 8%
übersteigt. Im Vergleich hierzu liegt die Lebenszeitprävalenz des Diabetes
mellitus gerade einmal bei etwa 4%.
Genetische Faktoren sind anhand von Familien- Zwillings- und Adoptionsstudien als Entstehungsfaktor bei Angst- und depressiven Störungen
anzunehmen. Sicherlich handelt es sich hierbei aber nicht um einen unilokalen Vererbungsmodus, es ist vielmehr von einem multifaktoriellen Geschehen mit einer sehr hohen Gen-Umwelt-Interaktion auszugehen. Am wahrscheinlichsten ist anzunehmen, daß genetische Grundlagen eine gewisse
Prädisposition für die Entwicklung einer späteren Angst- oder depressiven
Störung unter bestimmten Umständen darstellen.
Krankhafte Gefühle. Angst und Depression
219
ANGST UND LERNEN
Die Fähigkeit, Angst emotional zu erleben und auszudrücken bzw. auf sie
zu reagieren, ist in evolutionärer Hinsicht noch ein verhältnismäßig junger
Mechanismus.
Niedere Tiere wie z. B. Reptilien besitzen nicht die Fähigkeit, postnatal
zu lernen. Ihr Verhalten ist genetisch determiniert und unflexibel-reflexhaft.
Angst erleben diese Tiere in ihrem Leben nicht. Das Verhalten von höheren
Tieren wie zum Beispiel Vögeln ist ebenfalls noch zu großen Anteilen genetisch fixiert. Jedoch zeigt sich bei ihnen in der Entwicklung eine frühe Phase, in der gewisse Umweltinteraktionen gelernt werden können, z. B. die
Prägung auf die Mutter. In dieser Phase besteht auch die Fähigkeit, Angst zu
erleben, eine Fähigkeit, die ebenso wie das Lernen recht früh im Lauf der
individuellen Entwicklung wieder verloren geht.
Höhere Vertebraten und der Mensch besitzen die bemerkenswerte Fähigkeit, ihr ganzes Leben lang zu lernen und Angst zu erleben. Dies schafft
die Möglichkeit, jederzeit auf spezifische Veränderungen der Umwelt emotional und auf der Verhaltens- und Handlungsebene zu reagieren und sich
möglichst optimal anzupassen. Die Fähigkeit, Angst zu erleben, ist gekoppelt an die Fähigkeit zu lernen und bildet die Grundlage für eine überdauernde Neuroplastizität der synaptischen Verschaltungen des Gehirns. Hieraus erfolgt nicht nur eine optimierte Fähigkeit zum Überleben und zur Reproduktion, sondern vor allem zum emotionalen Lernen und Bewußtsein
und damit die Grundvoraussetzung für eine soziale und kulturelle Entwicklung, aber auch für psychische Erkrankungen.
ENTSTEHUNGSBEDINGUNGEN DER ANGST
Die Phobien, die bei Individuen mit Angststörungen beobachtet werden
können, repräsentieren grundsätzlich übertriebene emotionale und physiologische Reaktionen auf Objekte und Situationen, die im Verlauf der Evolution eine reale Bedrohung dargestellt haben. Dies klingt bei dem Gedanken
an eine Fahrstuhl-Phobie zunächst etwas seltsam, doch sind es die archaischen Anteile an solchen modernen Situationen, die den eigentlichen Angstreiz darstellen. Bei einer Fahrstuhl-Phobie wäre dies die Angst zu ersticken,
erdrückt zu werden oder abzustürzen, bei einer U-Bahn-Phobie wäre es die
Angst vor Dunkelheit und den damit verbundenen Gefahren vor bedrohlichen Kreaturen, die man zu spät wahrnehmen könnte, die Angst, verschüttet zu werden oder nicht entkommen zu können. Phobien vor den wahren
Bedrohungen des modernen Lebens wie z. B. vor Zigaretten oder gesättigten Fettsäuren sind bisher nicht bekannt.
220
Dirk Wedekind und Borwin Bandelow
Während Walter B. Cannon (1929) die akute Streß-Reaktion zunächst als
unspezifische physiologische Reaktion darstellte, lassen sich auf bestimmte
phobische Stimuli nach Nesse auch spezifische Angst-Domänen und Reaktionen erkennen.
Z. B. zeigt sich bei der Akrophobie, der Höhenangst, ein spezifisches
physiologisches und emotionales Reaktionsmuster, das mit einem „Einfrieren“, einer Bewegungsstarre, einhergeht und im Gegensatz zu einem panikartigen Flüchten mit starkem emotionalen Ausdrucksverhalten die Wahrscheinlichkeit, der phobischen Situation unbeschadet zu entkommen, nicht
unwesentlich erhöht. Ähnlich zeigt sich bei der Haemophobie, der Angst
vor Blut und offenen Wunden, ein autonomes Reaktionsmuster aus Blutdruckabfall und Ohnmachttendenz, das die Wahrscheinlichkeit mindert,
einen großen, vermeintlich tödlichen Blutverlust zu erleiden. Diese zunächst
offensichtlich für Individuum und Art vorteilhafte Reaktion kann sich aber
nun beim Haemophobiker fatalerweise sogar dann einstellen, wenn er selbst
gar nicht von einer blutenden Verletzung betroffen ist, sondern vielleicht
sein eigenes Kind. Auch wenn Menschen mit spezifischen Phobien selten
eine psychiatrische Behandlung wünschen, erinnere ich mich an eine junge
haemophobe Mutter, die in die Angstambulanz kam, da sie befürchtete,
ohnmächtig zu werden, wenn sich die 3-jährige Tochter verletzen würde
und sie sie somit nicht versorgen oder sogar retten könnte.
Das Auftreten spezifischer Phobien ist eng an die kognitive Entwicklung
geknüpft, und bestimmte Phobien treten in bestimmten Entwicklungsphasen bei den meisten Menschen auf. Eine sehr frühe Phobie des Kleinkinds
ist die Xenophobie, die Angst vor Fremden. Sie tritt charakteristischerweise
im Alter vom 6. Monat an auf, in der Zeit, in der das Kind erstmals durch
Fortkrabbeln von der Hauptbezugsperson als sicherer Basis die Umwelt
erkunden kann. Diese Angst vor fremden Personen ist zur Selbsterhaltung
essentiell. Wagt sich z. B. ein Löwenjunges zu weit von der Mutter weg,
läuft es eine hohe Gefahr, von einem fremden Männchen getötet zu werden,
ein Verhalten, was gerade bei Löwen oft beobachtet wird. Junge Pinguine
andererseits, die in riesigen Brutkolonien geboren werden, gehen verloren,
wenn sie sich zu weit vom Nest entfernen, und können auch durch Rufe
von der Mutter meist nicht wiedergefunden werden. Beim Menschen spielt
hier das Bindungsverhalten zur Mutter (oder der Hauptbezugsperson) eine
entscheidende Rolle für die Überwindung dieser Fremdenangst. Da das
Kind selbst Relevanz und Gefahr der meisten Objekte und Situationen, mit
denen es konfrontiert wird, noch nicht selbst einschätzen kann, reguliert das
Ausdrucksverhalten der Mutter das kindliche Angsterleben. Reagiert die
Mutter souverän und sicher, ist auch das Angsterleben des Kindes beendet
und der Umgang mit der ungewohnten Situation bzw. dem ungewohnten
Objekt als nicht bedrohlich oder unwichtig erlernt. Zeigt sich die Mutter in
einer dem Kind bislang nicht bekannten Situation ängstlich oder unsicher,
Krankhafte Gefühle. Angst und Depression
221
wird auch das Kind diese als bedrohlich und angsterregend erleben. Ähnlich
verhält es sich, wenn die Reaktion der Mutter unklar, wechselhaft oder nicht
vorhanden ist. Gelingt dem Kind somit keine adäquate Bewältigung solcher
Situationen, kommt es zum Fortbestehen des ängstlichen Verhaltens und
einer verminderten Erforschung der Umgebung (behavioral inhibition).
Dieses unterbindet neue, angstnehmende Erfahrungen (coping) und gilt als
eine wesentliche Grundvoraussetzung für eine spätere Angststörung.
Auch andere Phobien treten während der Entwicklung üblicherweise in
bestimmten Phasen auf. So haben die meisten Kinder mit 4-6 Jahren Tierphobien, später treten gehäuft Angst vor Blut und Verletzungen und z. B.
vor dem Zahnarzt auf. Typisch für das Alter von 10-13 Jahre sind soziale
Ängste. Jede dieser phobischen Phasen ist mit der Notwendigkeit zum Lernen verbunden. Jede Phase muß individuell (und eventuell mit Unterstützung durch Eltern und später durch Gleichaltrige) überwunden werden.
Wenn das nicht gelingt, besteht die Gefahr, daß die objekt- oder situationsbezogenen Ängste in ursprünglicher oder neurotisch abgewehrter Form bis
ins Erwachsenenalter oder für das ganze Leben persistieren. Es ist naheliegend anzunehmen, daß solche Individuen unter bestimmten, unkontrollierbaren Streßbedingungen oder in Krisen- und Entscheidungssituationen
Angststörungen ausbilden können.
DIE NEUROCHEMIE DER ANGST UND DEPRESSION
Diese entwicklungsgeschichtlich und durch kognitive Lernprozesse entstandenen Störungen gehen mit charakteristischen Veränderungen auf der strukturellen Ebene des Zentralen Nervensystems einer. Von besonderem Interesse sind hier, wie auch bei den depressiven Störungen, die Funktion der
hierbei vorrangig beteiligten Neurotransmittersysteme, des noradrenergen
und des serotonergen Systems.
Die Erkenntnis der Relevanz dieser beiden Transmittersysteme bei
Angststörungen leitete sich von den Erfahrungen in der pharmakologisch
neurochemischen Depressionsforschung ab. Die Behandlungen depressiver
Episoden waren über lange Zeit recht unspezifisch und von zweifelhaftem
Erfolg geblieben (Kokain- und Opiumbehandlungen fanden bis in die
1950er Jahre statt). Selbst die vor etwa 65 Jahren eingeführte Elektrokonvulsionsbehandlung und die Insulinschocktherapie konnte zwar bei vielen Betroffenen eine Besserung hervorrufen, ging aber früher noch mit nicht unerheblichen unerwünschten Begleiteffekten einher und hatte daher zu dieser
Zeit einen ethisch problematischen Ruf, geschweige denn, daß man sich den
Wirkungsmechanismus erklären und hierdurch Rückschlüsse auf die Entstehung der Störung ziehen konnte.
222
Dirk Wedekind und Borwin Bandelow
Selbst die ersten spezifischen (und noch heute verwendeten) Pharmaka
zur Behandlung der Depression waren Zufallserrungenschaften, die zu dieser Zeit keine empirische Grundlage durch ein Störungsmodell hatten. So
war die antidepressive Wirkung der trizyklischen Antidepressiva in den 50er
Jahren des letzten Jahrhunderts für die Untersucher sicherlich überraschend,
da sie eigentlich besser wirksame Phenothiazine (Antipsychotika) suchten,
genauso wie die Monoaminooxidasehemmer (MAO-Hemmer) eigentlich bei
der Erprobung neuer Tuberkulostatika durch ihren stimmungsaufhellenden
Effekt auffielen. Erst Ende der 1960er Jahre entstanden Depressionsmodelle, die von einer Dysfunktion monoaminerger Systeme im zentralen Nervensystem ausgingen, was letztendlich dazu führte, daß in den letzten 20
Jahren Antidepressiva in immer spezifischerer Weise konzipiert werden
konnten.
Die Theorie eines Defizits noradrenerger oder serotonerger Neurotransmission auf limbischen oder mesolimbischen Verschaltungswegen und
einer Rezeptor-Dysfunktion bzw. Rezeptorimbalance entstand auf der
Grundlage, daß man in der Zerebrospinalflüssigkeit von depressiv Erkrankten vermindert Metabolite dieser Substanzen fand. Auch hatte man die Beobachtung machen können, daß bestimmte Pharmaka Depressionen auslösen können, z. B. das zur Behandlung von Bluthochdruck verwendete Reserpin, das zu einer Hemmung der Speicherung von Noradrenalin in den
synaptischen Vesikeln sowie zu einem verminderten axonalen Transport
und damit einem Noradrenalinmangel an der Synapse führt.
Noradrenalin ist der wichtigste Transmitter des sympathischen Nervensystems. Er wird in den noradrenergen Präsynapsen aus der über die BlutHirn-Schranke aufgenommenen essentiellen Aminosäure Tyrosin über
DOPA und Dopamin zu Noradrenalin synthethisiert und in Vesikeln abgespeichert. Wichtigstes Kerngebiet des noradrenergen Systems im Gehirn ist
der Locus coeruleus im Mittelhirn, dessen Neurone über die Formatio reticularis umfangreich mit dem Rückenmark und dem Vegetativum in Verbindung stehen, der andererseits aber auch vielfältige Verbindungen in höhere
Hirnregionen hat. Somit hat der Locus coeruleus eine wesentliche Steuerungsfunktion für Wachheit, Aufmerksamkeit, Antrieb und die akute Streßreaktion.
Nach der Ausschüttung in den synaptischen Spalt wird Noradrenalin zu
einem Teil wieder in die Synapse aufgenommen oder aber über katabole
Enzyme wie Monoaminooxidase (MAO-A, MAO-B) und Catechol-OMethyl-Transferase (COMT) zu verschiedenen Metaboliten wie Vanilinmandelsäure oder MHPG abgebaut.
Vier adrenerge Rezeptorsubtypen (alpha1, alpha2, beta1, beta2) sind bekannt, die bis auf den Calcium-Kanal modulierenden alpha1-Rezeptor GProtein gebunden sind. Über eine Steigerung der Noradrenalinkonzentration im synaptischen Spalt durch Wiederaufnahmehemmung der enzymati-
Krankhafte Gefühle. Angst und Depression
223
schen Abbauhemmung kommt es nach der chronischen Verabreichung von
noradrenerg wirksamen Antidepressiva zu einer Herabregulierung postsynaptischer beta-Rezeptoren, vor allem aber mittelfristig zu einer Desensibilisierung von alpha2-Autorezeptoren, was nach einer Latenz letztendlich die
Noradrenalinsynthese und den axonalen Transport in die synaptischen Vesikel steigert. Ein wesentlicher Wirkmechanismus des modernen Antidepressivums Mirtazapin ist eine noradrenerge alpha2-Rezeptor-Blockade.
Das serotonerge System ist phylogenetisch sehr alt. Serotonin wird bereits
von Einzellern gebildet und ist als Toxinbestandteil bei Insekten bekannt.
Die weitreichendste Ausbreitung hat das serotonerge System des Menschen
im Magen-Darm-Trakt (enterochromaffine Zellen) und in den Blutplättchen
(Thrombozyten). Das zentralnervöse serotonerge System umfaßt lediglich
500.000 Neurone, die im Hirnstamm und im Mittelhirn lokalisiert sind. Die
serotonergen Kerne des Hirnstamms projizieren vorrangig in die Medulla
oblongata und das Rückenmark. Die für die Innervation höher liegender
Hirnareale relevanten Raphé-Kerngebiete (Nuclei raphé) bestehen aus etwa
150.000 Neuronen, die sich durch tonische Entladungen ihrer Projektionen
in das gesamte Gehirn, von besonderer Wichtigkeit in das limbische System,
auszeichnen. Die Entladungsrate dieser Neurone ist abhängig von ihren
Afferenzen und steht z. B. im REM-Schlaf still. Die Neurone der RaphéKerne haben Verbindung zum noradrenergen Locus coeruleus und einen
inhibierenden Effekt auf die durch diesen ausgelöste akute Streß-Reaktion
(Alarmreaktion).
Serotonin wird in serotonergen Neuronen und Präsynapsen über die
Vorstufen 5-Hydroxytryptophan und 5-Hydroxytryptamin aus der essentiellen Aminosäure Tryptophan synthetisiert, welche kontrolliert über die BlutHirn-Schranke aufgenommen wird. Ebenso wie Noradrenalin wird das gebildete Serotonin in synaptischen Vesikeln gespeichert und nach Freisetzung
in den synaptischen Spalt durch Wiederaufnahme oder katabole Enzyme
wieder hieraus eliminiert.
Bisher sind sieben Serotonin (5HT)-Rezeptorfamilien 5HT 1-7 bekannt,
wobei man über die Funktion der Subtypen 5-7 noch nicht viel weiß. Bis auf
den Ionenkanal modulierenden 5HT3-Rezeptor sind 5HT1, 2, 4 G-Protein
gebundene Rezeptoren. Während der 5HT1a-Rezeptor einen somatodendritischen Autorezeptor am Raphé-Neuron ist, handelt es sich beim Subtypen
5HT1d um einen axonterminalen Autorezeptor am präsynaptischen Spalt.
Serotonerg wirksame Pharmaka erhöhen durch Wiederaufnahmehemmung
oder Hemmung des enzymatischen Abbaus initial die 5HT-Konzentration
im synaptischen Spalt und verursachen somit einen verstärkten Rückkopplungseffekt über die Autorezeptoren. Mittelfristig werden die Autorezeptoren aber hierdurch desensibilisiert, so daß es langfristig zu einer verstärkten
serotonergen Neurotransmission kommt. Dies erklärt sowohl die (meist nur
224
Dirk Wedekind und Borwin Bandelow
initial auftretenden) unerwünschten Begleiteffekte serotonerg wirksamer
Pharmaka, deren Wirkungslatenz wie auch die Tatsache, daß nach ausreichend langer Behandlungsdauer auch nach Ausschleichen der Medikation
ein fortdauernder antidepressiver oder angstlösender Effekt besteht.
Das Gamma-Aminobuttersäure (GABA)-System ist im Zentralen Nervensystem ubiquitär ausgebildet und repräsentiert hier das wichtigste inhibitorische Transmittersystem. GABA wird aus der Aminosäure Glutamin
synthethisiert. Man kennt zwei Rezeptor-Subtypen, den Chloridkanal modulierenden GABA-A Rezeptor und den Kalzium- und Kaliumkanal modulierenden GABA-B Rezeptor. GABA-Rezeptor Agonisten wie Benzodiazepine, Alkohol und einige Antikonvulsiva haben somit einen inhibierenden,
sedierenden, anxiolytischen Effekt. Interessanterweise sind GABA-Antagonisten in ihrer Wirkung am Rezeptor neutral (Anexate bei Intoxikation mit
GABA-Agonisten) während inverse Agonisten sogar einen ausgeprägten
anxiogenen Effekt haben.
Unter den Angststörungen ist die Menge an Information, die über zentralnervöse Veränderungen bestehen, bei der Panikstörung sicherlich am umfangreichsten. Insgesamt konnte gezeigt werden, daß Dysfunktionen des
serotonergen und des noradrenergen Systems bzw. eine Imbalance zwischen
beiden bestehen.
Bei Menschen mit einer Panikstörung ist die Entladungsfrequenz des
noradrenergen Locus coeruleus gesteigert, vor allem während akuter Panikattacken. Vieles läßt darauf schließen, daß bei diesen Individuen eine verminderte Aktivität und Reagibilität des serotonergen Systems vorliegt, manche Autoren bezeichnen dies sogar als „Serotonin-Defekt“. Da die serotonergen Afferenzen des Locus coeruleus einen inhibierenden Effekt auf dessen Aktivität haben, ist dieses wesentliche Regulationssystem nicht mehr
ausreichend effektiv. Verschiedene Provokationstests zeigen signifikant
häufiger bei Menschen mit einer vorbestehenden Panikstörung eine Auslösbarkeit von Panikattacken durch verschiedene Substanzen und damit Hinweise für eine erhöhte direkte oder indirekte Sensibilität des „AlarmSystems“ Locus coeruleus. Zwar zeigen sich durch die Provokationstests
auch bei gesunden Testpersonen charakteristische physiologische Veränderungen, allerdings keine oder deutlich geringere Angsterlebnisse bzw. Panikattacken als bei Patienten mit einer Panikstörung. Zu den untersuchten Provokationsmitteln (die in höheren Dosierungen aber auch bei Gesunden
anxiogen wirksam sind) zählen Natrium-Laktat-Infusionen (Erniedrigung
des systemischen pH), 5-35-prozentige Kohlendioxid-Inhalationen (falscher
Erstickungsalarm), Neurokinin (CCK4/CCK8)-Infusion, Koffein (Adenylatzyklase-Hemmung), m-CPP, Fenfluramin und Yohimbin.
Krankhafte Gefühle. Angst und Depression
225
DIE NEUROANATOMIE DER ANGST
Auf diesen Grundlagen wird von Gorman und Mitarbeitern (1989) ein neuroanatomisches Modell der Panikstörung beschrieben, das davon ausgeht,
daß an den verschiedenen Aspekten der Panikstörung auch unterschiedlich
zentralnervöse Strukturen beteiligt sind.
Bei Panikattacken selbst kommt es zur Entladung verschiedener (und
nicht bei jeder Panikattacke unbedingt gleicher) Kerngebiete des Hirnstamms, die für die unterschiedlichen Symptome einer Panikattacke charakteristisch sind. So wird die eigentliche Alarmreaktion und Vigilanzsteigerung
durch gesteigerte Aktivität des Locus coeruleus bestimmt, die Hyperventilation und Dyspnoe über den Nucleus parabrachialis, die viszerosensorischen
Symptome wie Übelkeit über den Nucleus solitarius und Nucleus paragigantocellularis und Tachykardie und Blutdruck-Veränderungen über den Nucleus solitarius von den Vaguskerngebieten. Psychische Symptome wie die
bei Panikattacken aufkommende Todesangst gehen von limbischen Strukturen, in diesem Fall dem periaquäduktalen Grau, aus.
Andere, vor allem limbische Strukturen sind an der Prozessierung von
Erwartungsangst vor einer erneuten Panikattacke beteiligt. Bei diesem kognitiv ausgelösten Phänomen spielen Sensibilisierungsvorgänge in Amygdala, Hippokampus, periaquäduktalem Grau, Thalamus und Hypothalamus
eine entscheidende Rolle. Vermeidungsverhalten vollzieht sich nach Gormans Modell durch präfrontale kortikale Aktivierungsvorgänge über den
Hippokampus, also über eine Abgleichung mit Vorerfahrungen.
DIE STRESS-ACHSE BEI ANGST
Gormans Modell erfährt noch einige entscheidende Ergänzungen durch die
gut untersuchten Auffälligkeiten der Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinden (HPA)-Achse und ihres Endproduktes, Kortisol, bei der Panikstörung. Mehrere Untersuchungen haben gezeigt, daß Individuen mit einer
deutlich ausgeprägten Panikstörung eine auffällig gesteigerte HPA-Achsenfunktion im Vergleich zu Gesunden aufweisen. Bei akuten Panikattacken ist
zusätzlich eine signifikante Steigerung der Kortisolsekretion zu verzeichnen.
Interessanterweise ist die Schwere der HPA-Achsenstörung offensichtlich
auch prognostisch für den weiteren Störungsverlauf oder das Rezidivrisiko
relevant.
Zunächst einmal ist die Aktivierung der HPA-Achse in einer Streßsituation und die Ausschüttung von Kortisol bei jedem Menschen eine normale
physiologische Reaktion. Nicht nur das Endprodukt Kortisol sondern auch
die Peptide, die im früheren Verlauf der HPA-Achse sezerniert werden,
226
Dirk Wedekind und Borwin Bandelow
ACTH aus der Hypophyse und CRF aus dem Nucleus paraventricularis des
Hypothalamus, haben einen modulierenden Effekt auf den Locus coeruleus,
der initial im Rahmen der akuten Alarmreaktion die HPA-Achse stimuliert.
Das bedeutet, daß durch eine entsprechende Aktivierung der HPA-Achse
die akute zentralnervöse Streßreaktion nach einer gewissen Latenzzeit wieder beendet werden kann. Dieser Mechanismus charakterisiert eine kontrollierbare Streßreaktion, wenn eine ungewohnte oder bedrohliche Situation
oder ein Objekt eine kurzzeitige Aktivierung zur Konzentration aller verfügbaren Ressourcen heranzieht und nach Anwendung einer bestimmten,
aus Vorerfahrung oder durch Abstraktion einer Vorerfahrung stammenden
Bewältigungsstrategie wieder auf ein normales Ausgangsniveau zurückkehren kann.
Findet sich aus der Vorerfahrung jedoch keine geeignete Strategie, oder
ist die Situation oder das Objekt zu überwältigend oder langandauernd, kann
es zu einer unkontrollierbaren Streßreaktion kommen. Diese zeichnet sich
durch eine übermäßige, langanhaltende Aktivierung der HPA-Achse aus.
Solche langanhaltenden hohen Konzentrationen von Kortisol sind für bestimmte Neurone toxisch, so daß unter solchen Umständen deutlich degenerative Prozesse im Hippokampus auftreten können. Dieses Phänomen ist
nicht für die Panikstörung spezifisch, sondern kann ebenso bei schweren
depressiven Störungen beobachtet werden, deren Rezidiven häufig bereits
Erhöhungen der HPA-Aktivität vorausgehen.
Gerade für die kognitive Dysfunktion bei Angststörungen, aber auch bei
depressiven Störungen, ist diese hippokampale Dysfunktion im mesolimbischen Netzwerk (nach LeDoux) entscheidend. Nimmt das Individuum ein
Objekt oder eine Situation wahr, die einen archaisch bzw. evolutionär relevanten Stimulus repräsentiert (z. B. ein plötzliches lautes Geräusch in der
Nähe) kommt es zu einer unmittelbaren Aktivierung der Amygdala, einer
ontogenetisch alten limbischen Struktur, die über Efferenzen zu verschiedenen vegetativen Kerngebieten eine akute Schreckreaktion auslösen kann.
Die durch die Amygdala vermittelten Reaktionen stellen explizite, angeborene, nicht veränderbare Gedächtnisinhalte dar. Diese schnelle Reaktion
deckt sich zum Teil mit den oben beschriebenen Angstdomänen und kann
lebenserhaltend sein, indem sie zu einem unwillkürlichen Abwehrverhalten
führt. Erst nach dieser Amygdala-mediierten Reaktion wird die Information
im Hippokampus mit konkreten oder abstrahierten Vorerfahrungen, die
kortikal abgespeichert sind, verglichen, um eine geeignete Handlungs- und
Bewältigungsstrategie zu aktivieren oder aber den Stimulus als nicht weiter
relevant zu ignorieren. Hierbei inhibieren hippokampale Efferenzen dann
schnell die Exitation der Amygdala. Stehen dem Individuum aber keine
lösungsrelevanten Vorerfahrungen abrufbereit zur Verfügung oder wird mit
dem Stimulus eine in der individuellen Entwicklung nicht überwundene
oder neurotisch abgewehrte phobische Situation assoziiert, führt dies zu
Krankhafte Gefühle. Angst und Depression
227
einer unkontrollierbaren Streßreaktion. Solche Reaktionen können letztlich
auch rein kognitiv in Gang gesetzt werden.
Kommt es für das Individuum auf diesem Weg zu einer solchen unkontrollierbaren Streßreaktion mit einer langanhaltenden HPA-Aktivierung und
einem Hyperkortisolismus, der die Hippokampusfunktion durch fortlaufende Degenerationsvorgänge weiter beeinträchtigt, wird eine Beendigung dieser Reaktion durch geeignete Bewältigungsmuster immer unwahrscheinlicher. Anhaltende vegetative Symptome, Erwartungsangst, Vermeidungsverhalten und eine mögliche Manifestation einer Angststörung oder einer depressiven Episode sind die Folge.
Allerdings führt eine langanhaltende HPA-Hyperaktivität nicht nur zu
hippokampaler Neurodegeneration sondern auch zu neuroplastischen Umbauvorgängen auf mesolimbischen und mesokortikalen Bahnen, die den
neurodegenerativen Vorgängen zum Teil schon vorausgehen. Durch plastische Veränderung existierender synaptischer Verschaltungen und Zustandekommen neuer Verbindungen werden Verbindungen von bisher erfolglosen
Bewältigungsmechanismen destabilisiert und neue, vielleicht vielversprechendere Kontakte zwischen Nervenzellen ermöglicht. Dies führt insgesamt
auch zu einer Harmonisierung assoziativer Prozesse wenn keine impliziten
Gedächtnisinhalte zur Beseitigung des unkontrollierbaren Stressors herangezogen werden können.
ANGST UND DEPRESSION IN DER BILDGEBUNG
Gerade für die Angst- und depressiven Störungen liegen eine Reihe von
Ergebnissen bildgebender Untersuchungen vor, die sich mit diesen Veränderungen im mesokortikalen und mesolimbischen System decken. Obwohl
Studien zu Angst- und depressiven Störungen zum Teil unter ganz unterschiedlichen Fragestellungen durchgeführt wurden, weisen sie darauf hin,
daß die Veränderungen bei diesen Erkrankungen sehr ähnlich sind. Sowohl
Depressive als auch Angstpatienten zeigen Veränderungen im zerebralen
Blutfluß. In beiden Fällen besteht ein reduzierter kortikaler und eine relative
Zunahme des subkortikalen Blutflusses besonders in der Amygdala und im
Thalamus. Insbesondere bei Panikpatienten fiel auf, daß der hippokampale
Blutfluß beidseitig, links deutlicher als rechts, reduziert ist. Die Amygdala ist
stärker aktiviert und von einigen Autoren konnte ein vermindertes Hippokampus-Volumen im Vergleich zu gesunden Kontrollen gemessen werden.
Im Bereich des frontalen Kortex ergab sich eine verstärkte Asymmetrie
zugunsten der Anteile der nichtdominanten Hemisphäre. Eine Untersuchung von Individuen mit einer Zwangsstörung erbrachte hingegen eine
Erhöhung der Durchblutung im frontalen Kortex und in den Basalganglien.
228
Dirk Wedekind und Borwin Bandelow
Es ist wenig erstaunlich, daß bei depressiven Patienten eine verminderte
kortikale Bindung von Serotonin-Rezeptorliganden beobachtet werden
konnte, was wiederum auf die Dysfunktion der serotonergen Neurotransmission hinweist.
PHARMAKOLOGIE DER ANGST UND DEPRESSION
Bei den vielen Gemeinsamkeiten der beiden Gruppen von Störungen zeigt
sich allerdings ein wichtiger Unterschied in deren Ansprechbarkeit auf eine
psychopharmakologische Behandlung. Depressive Patienten sprechen mit
einer sehr viel höheren Wahrscheinlichkeit auf solche Pharmaka an, die
vorrangig die noradrenerge Neurotransmission verstärken. Im Grunde genommen gibt es keine kontrolliere Studie, die die Effektivität noradrenerger
Substanzen bei Angststörungen belegt, abgesehen von Hinweisen auf eine
Wirksamkeit des selektiven Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmers Reboxetin bei der Panikstörung. Auch scheint der kombinierte, selektive Noradrenalin- und Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Venlafaxin bei bestimmten Angststörungen eine Beschwerdebesserung zu bringen (obwohl Venlafaxin in niedrigeren Dosierungen vor allem serotonerg wirkt). Allerdings
sind vor allem die klassischen Antidepressiva, die von ihrem Rezeptorbindungsspektrum weitaus weniger selektiv sind als die neueren Substanzen bei
Angststörungen, die nicht ein prominentes komorbides depressives Syndrom aufweisen, ineffektiv.
Wie bereits erwähnt, ist die pharmakologische Behandlung depressiver
Störungen in ihrer Entwicklung von einer ganzen Reihe von Zufällen begleitet gewesen. Erst mit dem beginnenden Verständnis der zentralnervösen
biologischen Veränderungen in depressiven Episoden und bei rezidivierenden Erkrankungen konnten auch spezifischere Behandlungskonzepte geplant und umgesetzt werden. Ohne Zweifel spielen wie bei den Angststörungen eine abweichende Funktion serotonerger und noradrenerger Neurotransmission eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zu den Angststörungen
hängt aber gerade in der Behandlung von Depressionen die Wahl des Pharmakons im wesentlichen von den vorrangigen Symptomen der aktuellen
Episode ab. Insbesondere unter diesem Aspekt sind die verschiedenen,
möglichen Symptome einer depressiven Episode ja auch auf Dysfunktionen
der Neurotransmittersysteme zurückgeführt worden. So ist es die Regel, ein
ausgeprägtes Antriebsmangelsyndrom eher mit einer selektiv serotonergen
Substanz zu behandeln, ein agitiertes Syndrom sicherlich zögerlicher; ebensowenig eine Depression, die mit ausgeprägten Schlafstörungen einhergeht,
insofern man eine Monotherapie durchführen möchte und keine zusätzlichen Hypnotika einsetzen will. Jedoch sollte man davon ausgehen, das solch
Krankhafte Gefühle. Angst und Depression
229
ein unikausales Syndromkonzept die Realität dramatisch vereinfacht. Die
serotonergen und noradrenergen Efferenzen haben in verschiedenen Bereichen des Gehirns und vor allem auch im limbischen System ganz unterschiedliche Funktionen, die weit über die Annahme hinausgehen, daß es
lediglich einer Beeinflussung des Locus coeruleus oder der Nuclei raphé
bedarf, um eine depressive Episode oder eine Angststörung zu kurieren.
Viele der Effekte von Antidepressiva sind direkt auch gar nicht auf Serotonin- oder Noradrenalin-mediierte Effekte zurückzuführen wie die Sedierung
durch antihistaminerge Rezeptorbelegung. Das z. B. noch oft verwendete
trizyklische Antidepressivum Trimipramin ist vor allem ein Histamin- und
Dopamin-Rezeptorantagonist, aber gerade bei schwer agitierten oder wahnhaften depressiven Episoden effektiv. Das nicht in Deutschland als Antidepressivum zugelassene Bupropion blockiert nicht nur die Noradrenalinsondern auch die Dopamin-Wiederaufnahme. Favorisiert man aufgrund
ihrer ungünstigeren Nebenwirkungsprofile trizyklische Antidepressiva nicht
und bevorzugt bei agitiert, wahnhaften depressiven Syndromen selektive
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer in vorübergehender Kombination mit
einem Benzodiazepin, so beeinflußt man über die Verstärkung GABAerger
Mechanismen eigentlich alle relevanten Transmittersysteme.
EIN INTEGRATIVES MODELL VON ANGST UND DEPRESSION
Dies soll keinesfalls heißen, daß die moderne pharmakologische Depressionsbehandlung irrational und zu unspezifisch ist, allerdings ist eine Ableitung der zentralnervösen neurobiologischen Veränderungen bei depressiven
Erkrankungen allein aus dem (mehr oder weniger selektiven) Wirkmechanismus des eingesetzten Pharmakons sicherlich zu einfach. Es empfiehlt
sich nach wie vor dringend, die medikamentöse Therapie nach den vorrangigen Symptomen und gegebenen Kontraindikationen für bestimmte Substanzen zu wählen. Insbesondere sollte aber die Spezifität der zur Verfügung
stehenden pharmakologischen Einflußnahmen kritisch überdacht werden,
gerade angesichts der Tatsache, daß sehr unspezifische Behandlungsmethoden wie Phytotherapie, Lichttherapie, Schlafentzugsbehandlung, Transkranielle Magnetstimulation und Elektro-Konvulsionsbehandlung ebenfalls antidepressive Wirksamkeit aufweisen. Auch die aktuellen Entwicklungen neuer
Klassen von Antidepressiva wie z. B. Corticotropin-Releasing-Faktor
(CRF)-Antagonisten, Substanz P-Antagonisten, GABA-Rezeptor-Liganden
oder Neurokinin-Antagonisten werden wahrscheinlich keine spezifischeren
Erkenntnisse für ein unikausales Depressionsmodell ergeben.
Auch aus pharmakologischer Sicht wird der Ursprung von depressiven
oder Angststörungen immer mehr auf Dysfunktionen komplexer funktio-
230
Dirk Wedekind und Borwin Bandelow
neller Netzwerke zurückzuführen sein, die individuell unterschiedlich effektiv entwickelte Zentren des Kortex, des limbischen Systems, des Mes- und
Dienzephalons sowie des Hirnstamms repräsentieren. Sowohl bei den diversen depressiven Syndromen wie auch besonders bei den verschiedenen
Angststörungen zeigen eine unterschiedliche Verteilung mehrerer Imbalancen zwischen verschiedenen, funktionell verbundenen Bereichen des Gehirns ein letztendlich syndrom- oder störungsspezifisches, aber auch individuell variables Beschwerdebild. Diese Prozesse spiegeln beim Menschen
eine lebenslange Plastizität dieser komplexen zentralnervösen Verschaltungsmuster wieder, die durch Lernen, Angst oder am massivsten: eine
Angst- oder affektive Störung, beeinflußt und moduliert werden können.
Diese Vorgänge sind noch spärlich untersucht. Zumindest für die depressiven Störungen und, wie zuvor angedeutet, die Panikstörung bestehen
Ansätze, diese zu verstehen und erklärbar zu machen. Die derzeit verfügbaren bildgebenden Verfahren sind nicht fein genug, um die spezifischen Prozesse, vor allem im limbischen System, zuverlässig zu erfassen, und die Arbeiten zur Rezeptorbindung unter pharmakologischen Provokationstests
oder während Erkrankungsepisoden fokussieren sich noch zu wenig auf die
Idee von Veränderungen in komplexen funktionellen Netzwerken. Tierexperimentelle Daten sind nur mit großen Einschränkung auf den Menschen
übertragbar und zunächst lediglich hypothesengenerierend. Gerade die
Möglichkeit, lebenslang lernfähig zu sein, der Spracherwerb und die soziokulturellen Verhältnisse mit ihren besonderen Bindungs- und Interaktionsstilen stellen ganz spezifisch menschliche Faktoren der, die im Rahmen der
Entwicklung überhaupt Angst, komplexere Emotionen und besonders Affekte und deren Störung ermöglichen und auch sinnvoll erscheinen lassen.
Erfahrungen werden bis zum komplexen Spracherwerb und abhängig
von der kognitiven Entwicklung in abnehmender Weise prozedural verarbeitet. Kurzzeitiges Erleben von Angst in ungewohnten Situationen ist für
das junge Kind essentielle Voraussetzung für Lernen, in dieser Phase aber
noch wesentlich von der Bindung und dem damit verbundenen emotionalen
Ausdrucksverhalten zwischen ihm und der primären Bezugsperson abhängig. Erfährt das Kind eine gleichbleibende Rückmeldung von Ermutigung
und Sicherheit, kann es die eigene Angst rasch regulieren und ist damit der
Konfrontation mit neuen, zunächst angstauslösenden Erfahrungen aufgeschlossener und besser gewachsen. Hierdurch kann ein anhaltendes Verhalten von Erkundungshemmung (behavioral inhibition) vereitelt werden, das
es dem Heranwachsenden in verschiedenen Phasen immer schwerer machen wird, sich mit potentiellen (archaischen) phobischen oder fremden
Stimuli auseinanderzusetzen, aus ihnen zu lernen und sie in Zukunft sicher
einzuschätzen. Mit zunehmender kognitiver Leistungsfähigkeit wird sich
jedes Individuum, das diese Bewältigung nicht erfolgreich meistern konnte,
auf der Grundlage seiner individuellen genetischen Voraussetzungen und
Krankhafte Gefühle. Angst und Depression
231
bisher gemachten Erfahrungen eigene Strategien suchen, die Angst zu regulieren. Abhängig vom Lebensalter und den individuellen Vorerfahrungen
kann es zur Manifestation spezifischer, persistierender Ängste wie Tier- und
Verletzungsphobien, später einer sozialen Phobie, Zwangsstörung, Panikstörung mit oder ohne Agoraphobie oder einer Generalisierten Angststörung kommen. Die angewandten Regulationsstrategien werden mit zunehmender geistiger Entwicklung immer komplexer und zeigen dann auf der
intra-individuellen Ebene eine unterschiedliche Ausprägung neurotischer
Bewältigung wie Verdrängung, Sublimierung, Regression, Projektion, was zu
einem Ich-syntonen Beschwerdebild bis zur Ausprägung einer ängstlichvermeidenden Persönlichkeitsstörung führen kann.
Insbesondere die frühkindlich erlernten Bindungs- und Interaktionsstile
bleiben natürlich nicht auf die Mutter beschränkt, sondern weiten sich mit
der Entwicklung auf den Vater, Geschwister, Gleichaltrige und später auf
Partner, religiöse, kulturelle oder ideologische Organisationen aus, die dem
Individuum ein Gefühl von Zugehörigkeit und Sicherheit zur Emotionsregulation geben können. Geht jedoch dieses Gefühl von Zugehörigkeit, die
Gewißheit, in einer gesellschaftlichen Struktur eine stabile Position oder
Eigenschaft zu haben, verloren, kann dies bei mangelnden Kompensationsmöglichkeiten bei entsprechend vulnerablen Menschen zu einer depressiven Episode führen. Obwohl aus epidemiologischen Untersuchungen
hervorgeht, daß die Erstmanifestation einer Depression später (um das 35.
Lebensjahr) erfolgt als bei der sozialen Phobie (13.-15. Lebensjahr) oder der
Panikstörung (18.-23. Lebensjahr), muß man inzwischen davon ausgehen,
daß kindliche depressive Episoden weitaus häufiger auftreten als früher
angenommen wurde. Abhängig von der kognitiven Entwicklung können
allerdings ganz andere Symptome auftreten als die, die uns aus den Klassifikationssystemen für Erwachsene bekannt sind. Die steigende Prävalenz von
Angst- und depressiven Störungen bei Kindern und Jugendlichen ist sicherlich bedingt durch die verbesserte Diagnostik, weist aber auch auf die Gefahr hin, daß die Umwelt an Heranwachsende immer komplexere Anforderungen zur Angst- und Emotionsregulation stellt, die durch die bestehenden
Bindungen und Interaktionen bzw. die durch deren Hilfe erworbenen Vorerfahrungen nicht mehr ausreichend kompensiert werden können.
Unter solchen Voraussetzungen zeigen sich unter belastenden, unkontrollierbaren Streßsituationen Syndrome, die auf einen Anpassungsversuch
des individuellen, zentralnervösen Netzwerks der Emotionsregulation hinweisen. Dieser zielt darauf ab, neuroplastische Prozesse in Gang zu setzen,
die, wenn bewußte Bewältigungsstrategien nicht zur Verfügung stehen, alternative neuronale Verschaltungen induzieren, um die Existenz des Individuums als gesicherten Bestandteil eines gesellschaftlichen Beziehungsgefüges wieder zu etablieren. Diese Imbalance im Netzwerk spielt sich vor allem
zwischen Amygdala, Hippokampus, dem frontalen Kortex, Thalamus und
232
Dirk Wedekind und Borwin Bandelow
Hypothalamus ab. Kann über das Gedächtnisrelais Hippokampus keine
passende Bewältigungsstrategie aus dem frontalen Kortex abgerufen oder
abstrahiert werden, kommt es zu einer verlängerten Aktivierung der neuronalen Assoziationen der Amygdala und der damit verbundenen Kerngebiete,
die archaische Angst- und vegetative Symptome begünstigen. Je nach individueller Vorerfahrung und Entwicklung der Bestandteile des Netzwerks zu
denen auch der Locus coeruleus zählt, umfaßt das Syndrom dann ein spezifisches Konglomerat der bekannten Symptome: z. B. ängstlich-agitiert, im
Verlauf (oder schon initial) gehemmt, bis hin zu stuporösen Zuständen oder
mit Zwangshandlungen (unter Einbeziehung der Basalganglien) verbunden.
Zusätzlich wird durch eine langanhaltende Stimulation der HPA-Achse
(Nucleus paravertebralis im Hypothalamus) und einer übermäßigen Kortisolsekretion das in diesem Fall zur Bewältigung wenig hilfreiche Relais Hippokampus „aufgeweicht“, um Verschaltungen zu ermöglichen, die die Aktivität der Amygdala und ihrer assoziierten archaischen Projektionen drosseln
und die Fehlinterpretationen und -kognitionen bis hin zum wahnhaften
Erleben auf eine realitätsnahe, problemorientierte Ebene rücken, wie es
auch die Absicht einer geeigneten psychotherapeutischen Intervention wäre.
Auf vergleichbare Weise wird eine geeignete psychopharmakologische Behandlung diese Prozesse unterdrücken oder beschleunigen, harmonisieren
oder zu einem Teil symptomorientiert beeinflussen.
Gerade weil unser Krankheitsverständnis meist einem kategorialen Ansatz folgt und die Kriterien für eine Besserung oft recht oberflächlich scheinen, sollten Behandelnde von Angst- oder depressiven Patienten bezüglich
ihrer pharmakologischen und psychotherapeutischen Interventionen (wie
auch diejenigen, die sich ein tiefgreifenderes Verständnis für die zentralnervösen Phänomene bei diesen Störungen erarbeiten) die individuelle Komplexität der Entstehungsbedingungen und die Idee einer Funktion und
Sinnhaftigkeit solcher krankhaften Gefühle immer in ihre Überlegungen
einbeziehen.
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Routledge.
Westphal, Carl (1872) Die Agoraphobie. Archiv für Psychiatrie 3, 2.
TEIL III
PHILOSOPHISCHE UND KULTURELLE
ASPEKTE DER EMOTIONEN
EINFÜHRUNG
E
in kulturvergleichender Beitrag und drei philosophische Aufsätze
bilden den Inhalt des dritten und abschließenden Teils dieses Buches über Emotionen. Während der erste Text die kulturelle Abhängigkeit unseres emotionalen Erlebens thematisiert, stehen im zweiten Beitrag über „Vernunft und Leidenschaft“ vor allem empfindungstheoretische
und kognitive Theorien der Emotion auf dem philosophischen Prüfstand.
Der dritte Text plädiert für eine an Kant orientierte „Züchtigung“ der Emotionen durch die Vernunft und weist neuere, sich eher auf Hume beziehende Ansätze in ihre Schranken. Schließlich wird eine philosophische Analyse
unterschiedlicher künstlicher Gefühle geboten, die uns auf ein notorisches
Problem der Philosophie des Geistes – das Qualia-Problem – verweist.
Deighton und Traue: Emotion und Kultur im Spiegel emotionalen Wissens. Ist
unser emotionales Erleben abhängig von der Kultur, in der wir aufwachsen
und leben? Deighton und Traue gehen davon aus, daß bestimmte, im Laufe
der persönlichen Entwicklung erworbene Emotionsschemata (und Wissensstrukturen) wesentlich daran beteiligt sind, wenn wir komplexe biopsychosoziale Konstellationen als spezifische Emotionen erleben. Insofern ist die
Frage nach kulturellen Unterschieden im emotionalen Erleben auch eine
Frage nach kulturabhängigen Unterschieden in den Emotionsschemata.
Am Beispiel von Hindu-Texten und emotionalen Lexika der Aborigines
wird deutlich, daß es in deren Sprachen Emotionswörter gibt, die sich nicht
ohne Bedeutungsverlust in eine europäische Sprache wie das Englische oder
Deutsche übersetzen lassen. Auch Vergleiche mit dem Japanischen zeigen,
daß es Kulturen gibt, die bestimmte Emotionstypen wesentlich feinkörniger
unterscheiden als wir; im Hinblick auf andere Emotionstypen können die
Unterscheidungen hingegen grobkörniger als bei uns ausfallen.
Hinsichtlich der Quelle kollektiven Wissens über Emotionen konkurrieren derzeit vor allem zwei Hypothesen: Während die Prototypen-These
besagt, daß wir unser emotionales Wissen über die physiologischen Aktivitäten unseres eigenen Körpers erhalten und dann verallgemeinern, behauptet
die zweite Hypothese, daß Emotionsschemata sozial-konstruierte Skripte
sind, die u. a. durch das Weitererzählen emotionalisierender Geschichten
entstehen. Gemeinsam scheinen beide Modelle in der Lage zu sein, die Ähnlichkeiten und die Unterschiede im emotionalen Erleben von Angehörigen
verschiedener Kulturen zu erklären.
238
Einführung
Betzler: Vernunft und Leidenschaft. Emotionen stellen für die Philosophie in
mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung dar: Lassen sich unsere Handlungen und Entscheidungen durch Rekurs auf emotionale Einstellungen
erklären oder rechtfertigen? Welche Rolle spielen Emotionen im Rahmen
ethischer Fragen? Können Einsichten in die Natur der Emotionen dazu
beitragen, ganz allgemein das Verhältnis von „Geist“ und „Körper“ besser
zu verstehen? Antworten auf diese und verwandte Fragen hängen wesentlich davon ab, was überhaupt unter emotionalen Einstellungen verstanden
wird. Die Philosophiegeschichte kennt dazu unterschiedliche Positionen, die
bis in die heutige Zeit hinein die Diskussion bestimmen.
Betzler konzentriert sich vor allem auf eine Kontroverse, die zwischen
der Empfindungstheorie und der kognitiven Theorie der Emotion besteht.
Der ersten Theorie zufolge sind Emotionen körperlich wahrnehmbare
Empfindungen, denen eine spezifische Erlebnisqualität zukommt; die zweite
Theorie betrachtet Emotionen als kognitive Einstellungen, die durch neue
Einsichten modifizierbar und rationalen Bewertungen zugänglich sind. Die
Empfindungstheorie kann jedoch die Kritisierbarkeit emotionaler Einstellungen nicht gebührend berücksichtigen, die kognitive Theorie vernachlässigt deren phänomenalen Charakter; darüber hinaus scheint keine der beiden
Theorien in der Lage zu sein, emotionale Einstellungen adäquat zu individuieren. Als „Väter“ der beiden Positionen werden häufig Descartes bzw.
Aristoteles genannt; doch Betzlers näherer Blick offenbart, daß die beiden
Klassiker der Debatte durchaus subtilere Ansichten vertraten.
Slaby: Sklaven der Leidenschaft. Berühmt ist David Humes Diktum: Die Vernunft ist bloß ein Sklave der Leidenschaften! Ohne die motivierende Kraft
der Emotionen und Gefühle sei jene fundamental impotent, ohne Einfluß
auf das Entscheiden und die Handlungssteuerung. Damit steht Hume vielen
aktuellen Emotionstheorien nahe –, scheinen doch auch die Befunde Damasios ähnliches zu belegen und die generelle Aufwertung der Emotionalität
gegenüber dem traditionell für „erhabener“ gehaltenen Vernunftvermögen
zu rechtfertigen.
Slaby plädiert indes für eine differenziertere Betrachtungsweise und
bringt Humes großen Antipoden Immanuel Kant ins Spiel: Für diesen sind
die Leidenschaften „Krankheiten des Gemüts“; ja geradezu „Krebsschäden
für die reine praktische Vernunft“ und es gelte, die Vernunft für den Kampf
mit den überstarken sinnlichen Begierden gut zu rüsten, da sonst ein Verlust
der inneren Freiheit drohe. Slaby hält Kants Konzeptualisierung von affektiven Phänomenen als „Vernunftverhinderer“ für empirisch gehaltvoll und
zeigt, daß eine minimal-normative Vernunftauffassung, die auf dem hypothetischen Imperativ eines klugen Neigungsmanagements basiert, eine präzisere Identifikation relevanter emotionaler Phänomene erlaubt und damit
den instrumentalistischen Ansichten Humes und Damasios überlegen ist.
Einführung
239
Stephan: Zur Natur künstlicher Gefühle. Gefühle können auf verschiedene
Weise „künstlich“ sein: Sie können Zustände eines artifiziellen Systems wie
z. B. eines Roboters sein, sie können aber auch einfach nur künstlich hervorgerufene mentale Zustände sein. Anhand mehrerer, auch fiktiver Szenarien diskutiert Stephan, was es jeweils bedeutet, ein künstliches Gefühl zu
sein. Seine Analyse, die an Aristoteles’ naturwissenschaftlich-dialektischer
Auffassung der Emotionen anknüpft, stützt sich auf drei Parameter – funktionale Rolle, phänomenale Qualität und somatische Realisierung; sie erlaubt
einen detaillierten Blick auf die jeweiligen Unterschiede in den verschiedenen Szenarien.
Eine besondere Schwierigkeit bietet die Frage, auf welcher Basis wir berechtigt sein könnten, künstlichen Systemen „echte Gefühle“, also Zustände
mit einer spezifischen Innenperspektive auf die eigene emotionale Befindlichkeit, zuzuschreiben. Diese Frage steht in verblüffendem Kontrast zu der
Frage, auf welcher Basis wir berechtigt sein können, anderen Menschen
unbewußte Affekte, d. h. nicht bewußt wahrgenommene, häufig auch nicht
mit einer adäquaten emotionalen Reaktion versehene emotionale Zustände,
zuzuschreiben. Die beiden Fragen verweisen unmittelbar auf das für die
Philosophie des Geistes notorische Problem der Erklärungslücke phänomenaler Qualitäten.
Russell M. Deighton und Harald C. Traue
EMOTION UND KULTUR IM SPIEGEL
EMOTIONALEN WISSENS
EINLEITUNG
I
n der Begegnung mit anderen Kulturen entsteht nicht selten der Eindruck, daß sich die beobachteten Emotionen Fremder von den eigenen
Emotionen unterscheiden. Werden wir angelächelt, scheint uns das aus
der eigenen Kultur vertraut, während uns z. B. die expressive Emotionalität
von Straßenhändlern seltsam fremd vorkommen mag. Es ist außerdem
denkbar, daß emotionales Verhalten, das uns bekannt vorkommt, in den
Menschen einer anderen Kultur ganz andere subjektive Gefühle bewirkt als
wir glauben. Die empfundenen Unterschiede zwischen fremden und eigenen
Gefühlen könnten auf verschiedene Weise erklärt werden:
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
Es existieren verschiedene Darbietungsregeln für den Emotionsausdruck
verschiedene Antezedenten lösen subjektiv identisch erlebte Emotionen aus
die emotionale Hemmung ist anders oder unterschiedlich intensiv
die emotionale Intensität wird unterschiedlich erlebt oder gezeigt
es gibt andere, nur scheinbar emotionale Verhaltensweisen (wie z. B.
Grußrituale mit Lächeln, die nicht wirkliche Freude ausdrücken, die
aber sozial vorgeschrieben sind)
die Fremdbeobachtung beeinflußt den Beobachteten (Hawthorne
Effekt)
das emotionale Erleben selbst ist anders
Die zentrale Frage lautet also, ob das subjektive emotionale Erleben von
Kultur zu Kultur verschieden oder ob das Erleben selbst interkulturell äquivalent ist, während lediglich die Randbedingungen wie beispielsweise das
antezedente Ereignis oder die sozialen Folgen variieren. Diese Frage gehört
zu den am meisten debattierten Themen in der Literatur über interkulturelle
Unterschiede des emotionalen Erlebens. Zweifelsohne beeinflussen physiologische und biochemische Vorgänge im Organismus das menschliche emo-
Emotion und Kultur
241
tionale Erleben; sie führen zu universellen psychophysischen Zuständen, die
subjektiv zumindest ähnlich erlebt werden. Aber diese Zustände allein können nicht mit der Komplexität des emotionalen Erlebens gleich gesetzt
werden.
WAS IST EMOTIONALES ERLEBEN?
Woher wissen wir, daß wir Emotionen haben? Weil wir sie erleben. Aber was
ist emotionales Erleben? Emotionales Erleben könnte umschrieben werden
als die Wahrnehmung eines besonderen internen Zustandes und eines (meist externen) Umstandes. Zum Beispiel: Wenn ich mich vor etwas fürchte, nehme ich
zum einen eine bestimmte Beziehung zwischen mir und meiner Umwelt
wahr, die Gefahr signalisiert (den Umstand), und zum anderen ein für Angst
charakteristisches körperliches und mentales Befinden (den Zustand). Der
(externe) Umstand hat Folgen für die Ziele und Motive des Individuums,
der interne Zustand ist körperlich und mental und kann mit einem linguistischen Etikett bezeichnet werden.1 Er umfaßt Körperempfindungen und
Handlungsimpulse. Wir erkennen diesen Zustand auch aufgrund von früherer Erfahrung als emotional. Das emotionale Erleben hängt dann von existierenden Wissensstrukturen ab. Diese Wissensstrukturen, oder Schemata,
beinhalten Informationen über die Art von Umständen, die bestimmte
Emotionen auslösen, welche Körperempfindungen und Impulse während
dieser Emotionen gespürt werden, welche Gesichtsausdrücke sie begleiten
und welche äußerlichen Verhaltensweisen zumeist daraus folgen. Dieses
Wissen ist notwendig bei sozialer Interaktion, wie auch im Verstehen und
für die Antizipation von emotionalem Verhalten bei anderen Personen, und
ist eine Voraussetzung für Mitgefühl in Theater und Film (Shaver, Schwartz,
Kirson & O’Connor 1987). So wie Menschen ein Bild vom Gesicht eines
Freundes im Kopf brauchen, um dessen Gesicht erkennen zu können, so
brauchen sie ein Emotionsschema, um eine Emotion erkennen zu können.
In diesem Sinne determinieren Emotionsschemata die Gestalt des emotionalen Erlebens. Wenn man interkulturellen Unterschieden (oder Ähnlichkeiten) im emotionalen Erleben nachgehen will, sucht man am besten nach
kulturellen Emotionsschemata.
Das Erleben einer Emotion ist also eine komplexe Wahrnehmung und
mentale Integration von internalen und externalen Phänomenen: einschließlich eines (sozialen) Umstandes, Körperempfindungen, und Verhaltensim1
Dies ist der Fall, obwohl sich in manchen Kulturen das linguistische Etikett möglicherweise auf den externen (z. B. sozialen) Umstand bezieht, d. h. die Emotion beschreibt einen kollektiven sozialen Umstand statt ein individuelles Erlebnis (siehe White 1994).
242
Russell Deighton und Harald Traue
pulsen. Emotionsschemata haben eine Schlüsselstellung für die Integration
dieser Erfahrungen in subjektives Erleben. Sie dienen der Kategorisierung
und Vereinfachung unserer komplexen biologischen Reaktionen auf verschiedene Umstände in unserem (sozialen) Umfeld. Sie ermöglichen es erst,
komplexe biopsychosoziale Konstellationen als distinkte Emotionen zu
erleben. Betrachten wir dazu ein weiteres Beispiel: Wenn ich in Deutschland
jemanden beschreiben höre, wie er eine starke Abneigung gegenüber bestimmten Lebensmitteln empfindet, werde ich wahrscheinlich aufgrund von
Wissen, das ich über Ekel erworben habe, das Phänomen entsprechend
interpretieren, und nachempfinden können, was dieses Ekelgefühl ausmacht. Jemand aus Tahiti hingegen würde vielleicht diese Einzelheiten als
ri’ari’a (Angst) interpretieren, da dieses Konzept den Antezedenten „Abneigung gegen bestimmte Lebensmittel“ (neben „momentanen Bedrohungen“)
einschließt (Levy 1984). Vielleicht würde dieses Wissen sogar zu einem ganz
anderen Erleben (nicht nur einer anderen Benennung) dieser Phänomene
führen, wenn eine Person aus Tahiti eine entsprechende Situation selbst
erleben würde. Möglicherweise wären sogar die in dieser Situation gespürten
Körperempfindungen ebenfalls anders als die von einem Deutschen gespürten Empfindungen.
WAS EMOTIONSLEXIKA ÜBER SCHEMATA VERRATEN
Das Wissen, das wir über Emotionen erworben haben, enthält individuelle
und kollektive Anteile. Unser kollektives Wissen wird unter anderem im
Emotionslexikon widergespiegelt, das ein Kategorisierungssystem für Emotionen ist. Vielerlei Belege aus ethnographischen Materialien zeigen, daß die
Emotionsterminologie von Kultur zu Kultur beträchtlich variiert, obwohl es
weitgehende Überschneidungen zu geben scheint, die einen gemeinsamen
Kern begründen (für eine Übersicht siehe Russell 1991). Dieses Verhältnis
von individuellen und kollektiven Anteilen ist sowohl als Argument für
universalistische als auch relativistische Sichten von Emotion herangezogen
worden: Die Universalisten behaupten, vereinfacht gesagt, daß das Vorhandensein von Emotionswörtern wie Freude, Ärger und Furcht in vielen verschiedenen Sprachen das universelle Erleben dieser Emotionen widerspiegelt, während die Relativisten sich durch die Existenz von diversen Emotionsvokabularen bestätigt sehen.
Ein Abwägen beider Argumentationen wird durch das nicht triviale Problem der Übersetzung oder genauer der Interpretation erschwert: Welche
emotionalen Zustände und subjektiven Empfindungen werden durch Emotionswörter anderer Kulturen gekennzeichnet? Die Benutzung von Wörterbüchern, die herangezogen werden, um ins Englische, Deutsche oder eine
Emotion und Kultur
243
andere Sprache zu übersetzen, führt unter Umständen zu sehr oberflächlichen Übereinstimmungen. Dieses Problem kann an Shweders (1993; 2000)
Untersuchung der sthayi-bhava illustriert werden, d. h. einer Liste von neun
Basisemotionen (oder mentalen Grundzuständen), die im Rasadhyaya vom
Natyasastra beschrieben werden, dem sechsten Kapitel eines Werks auf
Sanskrit, das von Hindu-Philosophen wahrscheinlich zwischen dem 3. und
dem 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung geschrieben wurde. Shweder
kommt nach vielfältigen Überlegungen zu dem Schluß, daß nur drei dieser
Emotionswörter äquivalent zu englischen Emotionsbezeichnungen sogenannter Basisemotionen sind, während die anderen, trotz scheinbarer Ähnlichkeit, nicht lexikalisch gleichgesetzt werden sollten. Die mentalen Basiszustände, oder wenn man will, Basisemotionen des Rasadhyaya, für die es
keine einheitliche Übersetzung gibt, sind: 1. rati: sexuelle Leidenschaft, Liebe oder Entzücktheit; 2. hasa: Amüsiertheit, Frohsinn, Humor; 3. soka:
Kummer; 4. krodha: Ärger; 5. bhaya: Furcht oder Terror; 6. utsaha: Beharrlichkeit, dynamische Energie; 7. jugupsa: Ekel, Ernüchterung; 8. vismaya:
Amüsiertheit, Verwunderung, Erstaunen, Verblüfftheit; und 9. sama: heitere
Gemütsruhe.
Shweder schreibt, daß die englischen Begriffe anger, fear und sorrow im
Rasadhyaya bedeutungsgleich benutzt werden, weil sie im Hindutext weitgehend ähnlich beschrieben werden. So wird Ärger als eine Folge von provokativen Handlungen, Beleidigungen, Lügen, Gewalttätigkeit, harten Wörtern, Unterdrückung und Neid beschrieben. Er führt zu Handlungen wie
Verwunden, Schlagen, Aufspalten und Zerdrücken,. Er wird mit Gesten
verbunden wie Furchen der Stirn, Lippen beißen, Zähne knirschen, Backen
aufblähen, sich die Hände drücken, sowie mit körperlichen Symptomen des
Schwitzens und Zitterns. Andererseits verschwinden scheinbare Ähnlichkeiten mit anderen Emotionen bei näherer Betrachtung ihrer Beschreibungen.
Als Beispiel nennt Shweder, daß das mittelalterliche hinduistische Wort
Verwunderung nicht gleichbedeutend mit dem anglo-amerikanischen surprise
ist, sondern ein mentaler Zustand ähnlich der Bewunderung beschrieben
wird. Hindu habe weniger mit einer plötzlichen Verletzung der Erwartungen
als mit der Möglichkeit gerechnet, göttliche himmlische, oder erhobene
Handlungen, Ereignisse, oder Wesen (einschließlich der Handlungen eines
Jongleurs) zu bezeugen. Es sei sogar möglich, dieses Verwundern mit geschlossenem Mund auszuführen, „so lange, die Augen weit offen sind“
(Shweder 1993, 422, eigene Übersetzung). Shweder meint weiterhin, daß der
hinduistische Ekel, der Elemente von Horror, Terror, und Weltmüdigkeit
hat, nicht mit dem englischen disgust verglichen werden kann. Ebenfalls
scheint es unpassend, die hinduistische Amüsiertheit (hasa), die verachtungsvolles oder spöttisches Lachen über die Fehler von anderen einschließt, dem englischen happiness gleichzusetzen.
244
Russell Deighton und Harald Traue
Die Schwierigkeiten, die Shweder mit der Übersetzung des Hindu in eine
europäische Sprache beschreibt, finden sich auch in Sprachen anderer Kulturen. Beispielsweise fand Hiatt (1978), daß in Gidjingali, der Sprache australischer Aborigines, keine lexikalische Unterscheidung zwischen den (deutschen) Begriffen Scham und Angst gemacht wird. In Gidjingali dient das gleiche Wort (gurakadj), um beide Bedeutungen zu transportieren. Orley hat
eine ähnliche Beobachtung in der Sprache Luganda der Buganda in Uganda
gefunden: Hier wird keine im deutschen unverzichtbare klare lexikalische
Unterscheidung zwischen den Wörtern Trauer und Ärger getroffen:
Der Unterschied zwischen Ärger [anger] und Trauer [sadness] wird nicht im
gleichen Ausmaß wie im Englischen betont, und es ist nicht ungewöhnlich,
einen Dolmetscher zu hören, der okusunguwala (verärgert werden) als eine
Übersetzung von traurig werden verwendet, er würde auch nicht das Gefühl
haben, einen Fehler gemacht zu haben, wenn ihn jemand „korrigieren“ würde. Wenn man spezifisch über das Trauern oder den Abschied von Freunden redet, wird das Verb okusunguwala verwendet, aber ich habe Männer bei
einer Beerdigung trauern hören, von denen gesagt wurde, daß sie basungsuwadde (verärgert) waren“ (Orley 1979, 3; zitiert in Russell 1991, 430, eigene
Übersetzung).
Diese Beispiele von einzelnen Worten aus der Sprache einer anderen Kultur,
die jeweils den Bedeutungshorizont von zwei deutschen oder englischen
Wörtern umfassen, könnten emotionale Zustände widerspiegeln, die anders
als die beiden emotionalen Zustände sind, die in den europäischen Sprachen
getrennt werden, oder es existieren unterschiedliche emotionale Zustände,
beispielsweise Trauer und Ärger, die aber in der Terminologie nur durch den
Kontext unterschieden werden können. Es könnte sein, daß die Buganda
einen Unterschied zwischen Ärger und Trauer konzipieren können, ihre
lexikalische Austauschbarkeit aber als Indiz dafür gewertet werden kann,
daß die dazu gehörenden Emotionsschemata andere sind als in den entsprechenden europäischen Sprachen. Die Antezedenten in den Schemata für
den deutschen Ärger (Unrecht angetan, die Verhinderung der Erreichung
eines Ziels) und die deutsche Trauer (Verlust, Machtlosigkeit) scheinen sich
in den Schemata der Buganda zu überschneiden. Andere Elemente überschneiden sich eventuell auch, wenn beispielsweise Körperempfindungen
oder typische Handlungskonsequenzen beschrieben werden. Es sind auch
Emotionswörter aus anderen Kulturen bekannt, die Zustände differenzieren, die auf deutsch oder englisch mit demselben Begriff bezeichnet werden.
So differenzieren die Tahitianer zwischen ri’ari’a, Angst vor einem momentanen Umstand, z. B. „Angst haben, weil der Hund mich gerade beißt“ und
mata’u, antizipierte Angst vor einem Umstand, z. B. „Angst haben, daß der
Hund mich beißen könnte“ (Levy 1984).
Emotion und Kultur
245
Das japanische Wort oime bezieht sich auf einen emotionalen Zustand,
wenn man einem anderen Menschen etwas schuldig ist, sich ihm verpflichtet
fühlt. Obwohl es im Deutschen kein Emotionswort gibt, das dieser Emotion entspricht, können Deutschsprachige wahrscheinlich etwas Ähnliches
wie diese Emotion fühlen, auch wenn sie es vermutlich nicht so oft tun wie
Japaner. Daß es im Japanischen ein elaborierteres Schema oder Modell für
diese Emotion gibt, spiegelt die Notwendigkeit dieses Gefühls in der japanischen Kultur des Zusammenlebens wider. Das japanische Wort oime würde
von Levy vermutlich als hyperkognitisiert beschrieben.2 Levy bezeichnete
nämlich das Wort für Ärger in Tahitisch (riri) als hyperkognitisiert, da 46
verschiedene Wörter für Ärger in Tahitisch bestehen, ähnlich wie im Deutschen Ärger mit verschieden Wörtern wie Wut, Rage, genervt sein, böse sein
und sauer sein umschrieben werden kann. Er klassifizierte hingegen Trauer in
Tahitisch als hypokognitisiert, da er kein Konzept für Trauer in dieser Sprache
fand. Er berichtete, daß Menschen, die er als traurig beschrieben hätte, auf
tahitisch in Begriffen mit der Bedeutung von sich krank, besorgt, oder ermüdet
fühlen beschrieben wurden. Wierzbicka (1992), eine anthropologische Linguistin, die sich auf die Sprache der Emotionen spezialisiert hat, behauptet,
daß Trauer, wie sie in europäischer und angloamerikanischer Kultur konzeptualisiert ist, in den meisten Sprachen der Welt weder lexikalisiert noch salient vorkommt. Auch wenn dies nicht bedeutet, daß Menschen dieser Sprachen das Gefühl der Trauer nicht empfinden können, so unterscheidet sich
das Schema, das Europäer bei Trauer aktivieren, erheblich vom entsprechenden Schema in den anderen Kulturen. Es ist denkbar, daß sich die europäische Tradition des individuellen Privatbesitzes an Sachen und Personen, das ständig von Verlust bedroht ist (und immer auch verloren wird), in
der Ausweitung des Emotionsschemas für Trauer auswirkt. Es ist paradox:
Die individuelle Aneignung steht womöglich im Interesse der Vermeidung
von Verlust und damit von Trauer, schafft aber gleichzeitig Bedingungen,
die Verlusterleben wahrscheinlich machen.
Wenn eine Emotion von einem elaborierten Schema repräsentiert ist,
lohnt es sich, das System der gesellschaftlichen Normen und Werte dieser
Kultur unter die Lupe zu nehmen. Die japanische Sprache umfaßt neben
dem beschriebenen oime viele Emotionswörter, die sensibel die komplexe
soziale Umwelt abbilden: beispielsweise amae, die hoffnungsvolle Erwartung
der Gunst eines anderen; tanomi, das Gefühl, sich auf jemanden verlassen zu
wollen; sugari, das Gefühl, sich an jemanden anlehnen zu wollen. Wahrscheinlich sind diese Arten von Emotionen im Japanischen hyperkogniti2
Wir nehmen hier möglicherweise einen ethnozentrischen Standpunkt ein, wenn wir die
japanische Version als hyperkognitisiert betrachten, statt die westliche Denkweise als hypokognitisiert zu bezeichnen. Tatsächlich ist aber hyper- und hypokognitisiert hier als relativer Unterschied gemeint und nicht als Wertung.
246
Russell Deighton und Harald Traue
siert, weil die sensible Aufmerksamkeit der sozialen Umwelt gegenüber ein
wichtiger Aspekt der japanischen Kultur ist. Die Schemata für diese Emotionen enthalten Elemente (z. B. typische Antezedenten), die diese Empfindsamkeit reflektieren. Demzufolge würde die Aktivierung von entsprechenden Überzeugungen (möglicherweise etwas wie „ich brauche ihre/seine
Gunst sehr“ für amae), die kulturellen Merkmale der sozialen Systems widerspiegeln.
Sozialkonstruktivisten sehen Überzeugungen über antezedente Ereignisse von Emotionen und das emotionale Erleben als unentwirrbar miteinander verstrickt an. Zum Beispiel wird Ärger oft mit der sozialen Beurteilung
verbunden, daß einem Unrecht getan worden ist. Also ist ein integraler Teil
des Ärger-Erlebens die Wahrnehmung, daß man jemandem etwas angetan
hat. In anderen Kulturen (z. B. im Mittleren Osten) spielt wahrscheinlich die
Idee von verletzter Ehre eine wichtigere Rolle in der Emotion, die dem
Ärger entspricht. Wie eine Überzeugung von den in einem Emotionsschema
enthaltenen Antezedenten abgeleitet wird, illustriert ein anderes Beispiel:
Die Situation „Jemand anders genießt die Nähe eines Menschen, auf dessen
Nähe ich Anspruch habe“ ist ein Antezedent für Eifersucht. Ob ich eifersüchtig bin oder nicht, hängt von der Überzeugung ab, ob diese von einem
anderen in Anspruch genommene Nähe eigentlich mir zusteht oder nicht.
Sobald ich aufhöre, dies zu glauben, verschwindet die Eifersucht.
Oft kommen solche Überzeugungen aus dem Bereich der Moral, sind also Teil des gesellschaftlichen (oder persönlichen) Systems von Normen und
Maßstäben, die als solche nicht nur gedacht, sondern auch gefühlt werden.
Das erklärt das Gefühl, daß uns jemand Unrecht getan hat, wenn wir verärgert sind – meist geht es mit dem Wunsch einher, daß dies die andere Person erkennt. White (1994) zieht aus seinen Analysen der semantischen Dimensionen von Emotionen die Schlußfolgerung:
[D]ie Existenz einer starken bewertenden Dimension in Emotionslexika
reflektiert die Tatsache, daß Emotionswörter moralisches Gewicht tragen.
Sie sind nicht einfach neutrale Beschreibungen von Umständen, sondern sie
sagen etwas über die Wahrnehmung des Subjekts im Hinblick auf Bewertungen aus, was gut oder schlecht, recht oder unrecht, wünschenswert oder
unerwünscht ist. [...] Emotionskonzepte besetzen eine strategische, vermittelnde Position in logischen Ketten, die soziale Ereignisse mit Zielen, Wünschen, und Handlungen verknüpfen. [...] Sich so oder so zu fühlen, bedeutet,
sich zu einer spezifischen Art der Bewertung von früheren Ereignissen und
einer bestimmten Art kulturell definierter Reaktion zu bekennen. Emotionen
stellen in anderen Worten eine moralische Rhetorik dar, die Beschreibungen
der Welt und Empfehlungen, wie man darin handelt, umfaßt (1994, 224-225,
228; eigene Übersetzung).
Emotion und Kultur
247
Shweder (1994) sieht den Bereich des Moralischen als eine der drei kausalen
Sphären an, mit denen das individuell körperliche Erleben an Kulturelles
anbindet, mit diesem in Wechselwirkung tritt oder aus dessen Perspektive
interpretiert wird. Die drei kausalen Sphären sind: (1) Theorien der Krankheit (eine biochemische Theorie), (2) Theorien der Verhexung (eine zwischenmenschliche Theorie) und (3) Theorien des Leidens (eine moralische
Theorie), wobei die offizielle zeitgenössische abendländische Kultur die
zwei letzteren Sphären zu einer allgemeinen Theorie von psychologischen
Ursachen zusammengeschlossen hat. Dazu gehören auch Theorien über
Emotionen.
Folgt man dieser Argumentation, so kann es kein universelles Konzept
der Emotion geben, so wenig wie es ein universelles Konzept der Kultur
geben kann; allenfalls wäre dies nur in einer so abstrakten Form möglich,
daß Aussagen über kulturelle Unterschiede kaum zu treffen sind (Russell
1991). Da in einigen Kulturen kein einzelnes Wort für Emotion verwendet
wird, sind in deren Sprachen die Grenzen zwischen dem, was im Deutschen
als Emotion, Körperempfindung und Gedanke streng unterschieden wird,
verschwommen. Zum Beispiel haben die Samoaner ein Wort, das Gefühle
und Empfindungen beschreibt (Gerber 1975, zitiert in Russell 1991), und
die Chewong von Malaysia machen keinen konzeptuellen Unterschied zwischen Gedanken und Gefühlen; die beide aus der Leber stammten (Howell
1981).
Shweder (1994) erwähnt, daß in den meisten Sprachen ein reicher Wortschatz für die Beschreibung des Somatischen in emotionalen und nichtemotionalen Begriffen existiert. Er führt als Beispiel „Übelkeit“ an,3 ein
Wort, das in nicht-emotionaler Weise ein somatisches Erleben beschreibt
und bezüglich der Ursache neutral ist. Ekel ist dagegen die emotionalisierte
Form von Übelkeit, da sie eine Wahrnehmung (das, was es verursacht) und
einen Plan (Distanzierung, Vermeidung) impliziert. Emotionen als eine
Sphäre des somatischen Erlebens anzusehen, legt die Frage nahe, inwiefern
die Schemata für Körperempfindungen von Kultur zu Kultur variieren.
Ferner ist zu fragen, ob es möglich ist, daß diese einen Einfluß auf das emotionale Erleben und vielleicht sogar auf die biologischen Prozesse haben, auf
denen sie basieren. Diesen Fragen werden wir im folgenden Abschnitt
nachgehen.
3
Shweder illustriert seine These an dem englischen Wortpaar „nausea“ (Übelkeit) und
„disgust“ (Ekel), die beide gut ins Deutsche übersetzt werden können.
248
Russell Deighton und Harald Traue
SCHEMATA FÜR EMOTIONSBEZOGENE KÖRPEREMPFINDUNGEN
Emotionsschemata und Emotionen stehen in rekursiver Beziehung zueinander und beeinflussen sich somit gegenseitig. Das ist nachvollziehbar,
wenn wir uns vorstellen, was während des subjektiven Erlebens einer Emotion an wahrnehmbaren körperlichen Reaktionen stattfindet, und daß diese
Reaktionen in das emotionale Wissen integriert werden. Umgekehrt kann
man sich auch vorstellen, daß während des subjektiven Erlebens einer Emotion diejenigen Verhaltensweisen, Empfindungen und Kognitionen aktiviert
werden, die im relevanten Emotionsschema beschrieben oder enthalten
sind.
Ein wichtiger Teil des emotionalen Verhaltens ist die physiologische Aktivität, die wir als Körperempfindungen wahrnehmen und in unsere Emotionsschemata integrieren. So wie die Emotion und das Emotionsschema
gegenseitiger Beeinflussung unterliegen, finden auch Wechselwirkungsprozesse zwischen physiologischer Aktivität und den Schemata für Körperempfindungen statt. Die Körperempfindungen, die zu einem Emotionsschema
gehören, entstehen unmittelbar durch die physiologischen Prozesse des
emotionalen Verhaltens: Menschen machen bestimmte emotionale Erfahrungen und integrieren die erlebten Körpervorgänge in ihr emotionales
Wissen. Interessanter ist der umgekehrte Vorgang, demzufolge Emotionsschemata auch biologische Prozesse beeinflussen können. Für diese Einflußrichtung ist der Placeboeffekt ein einleuchtendes Beispiel: Erwartungen
beeinflussen biologische Prozesse. Indem Emotionsschemata eine Schablone für die Körperempfindungen während einer Emotion liefern, induzieren
sie zwangsläufig auch Erwartungen über psychophysiologische Reaktionen
und Veränderungen.
Unabhängig vom Placebophänomen hat Pennebaker (1982) in einer Reihe von Experimenten über kognitive Einflüsse auf Körperempfindungen
gezeigt, daß Erwartungen im Hinblick auf körperliche Reaktionen die Art
und Weise verändern können, mit der physiologische Veränderungen wahrgenommen werden. Ein experimentelles Beispiel soll das erläutern: Die
subjektiv empfundene Fingertemperatur wurde durch eine induzierte Erwartung über die Effekte eines (fiktiven) Ultraschallgeräusches variiert: Obwohl
die Fingertemperatur als Funktion der experimentellen Bedingung (erwartete Zu- oder Abnahme der Fingertemperatur) nicht variierte und auch nicht
mit der subjektiven Fingertemperatur korrelierte, war die Korrelation zwischen der empfundenen Fingertemperatur und der Anzahl der Schwankungen der Fingertemperatur in der Zunahme-Gruppe positiv und in der Abnahme-Gruppe negativ. Das kann am elegantesten dadurch erklärt werden,
daß die empfundenen Temperaturveränderungen als Zu- oder Abnahme
interpretiert wurden, je nachdem, welche Erwartung bei den Versuchspersonen induziert wurde.
Emotion und Kultur
249
In einer anderen Studie von Pennebaker (1982) mit Studenten, die mehrere Tage lang Strichlisten über Emotionen und ihre begleitenden Körperempfindungen schreiben mußten, zeigte sich eine starke intra-individuelle
Stabilität über die Zeit in den Körperempfindungen, die mit bestimmten
Emotionen verbunden sind. Dies interpretierte Pennebaker als einen Beleg
dafür, daß Körperempfindungen in Emotionsschemata organisiert sind, die
mehr sind als die Summe ihrer Teile. Das bedeutet, daß wir dazu neigen,
physiologische Aktivitäten nicht als einzelne unabhängige Empfindungen
wahrzunehmen, sondern als Konstellationen von Empfindungen, die wir
schon kennen, und die in Konzepte wie Müdigkeit, Erkältung oder Emotion
integriert sind. In einer anderen Studie, in der Studenten aufgefordert wurden, Emotions-Empfindungs-Strichlisten zu schreiben, wurde ein gewisses
Maß an inter-individueller Stabilität in den emotionsspezifischen Körperempfindungen entdeckt. Das lieferte Belege dafür, daß die Körperempfindungselemente von Emotionsschemata, zumindest bis zu einem gewissen
Grad, kollektiv sind. Auch in anderen Studien, die mit subjektiven Schilderungen über Emotionen gearbeitet haben, wurden differenzierte und kollektive Muster von Körperempfindungen für distinkte Emotionen gefunden
(Shields 1984; Nieuwenhuyse, Offenberg & Frijda 1987; Rimé, Philippot &
Cisamolo 1990; Deighton, Paez, Fernandez & Traue, in Vorbereitung).
Was bedeutet die Existenz dieser Schemata? Zum einen bedeutet es, daß
Erwartungen eine Rolle in der Wahrnehmung von Körperempfindungen im
Kontext von Emotion spielen. Erwartungen können Schemata auslösen und
Schemata lösen Erwartungen aus. Also würde es ausreichen, lediglich ein
paar Empfindungen zu spüren, um ein ganzes Syndrom (oder Schema)
wahrzunehmen. Das ist wahrscheinlich ähnlich dem Betrachten einer Karikatur eines Politikergesichtes: Wir müssen lediglich ein paar Linien sehen,
die die wichtigsten Gesichtszüge des Politikers betonen, um ihn zu erkennen, das heißt, um sein Schema zu aktivieren. Auf die gleiche Art müssen
wir lediglich die physiologische Veränderung registrieren, die grob zum
Schema einer bestimmten Emotion paßt, um (körperlich) die ganze Emotion zu spüren. So gesehen kann das Spüren von emotionsbezogenen Körperempfindungen als ein unscharfer (fuzzy) Mustererkennungsprozeß gesehen werden, der eine erste Näherung an die vollständige emotionale komplexe Gestalt erlaubt. Das Vermögen von Emotionsschemata, die somatische Wahrnehmung zu steuern oder unter Umständen zu verzerren, wurde
in einer Studie von Rimé et al. (1990) untersucht. Die Autoren fanden ähnliche Profile von Körperempfindungen für verschiedene Emotionen, wenn
Versuchspersonen auf die eigene Person bezogene (Selbstberichte) und
vergleichend dazu stereotypische Berichte emotionalen Erlebens lieferten
(bezogen auf einen Vergleich der Gruppenprofile). Das war der Fall, obwohl den Versuchspersonen in der Selbstbericht-Bedingung extra mehr Zeit
zugeteilt wurde, um ihr episodisches Gedächtnis in einem offenen Interview
250
Russell Deighton und Harald Traue
vor dem Ausfüllen der Empfindungs-Strichliste zu aktivieren (im Gegensatz
zu Versuchspersonen in der stereotypischen Bedingung, die ihr semantisches Gedächtnis hätten aktivieren müssen). Die stereotypischen Berichte
waren Beschreibungen dessen, was die Probanden als typisch für eine bestimmte Emotion ansehen. Wenn Versuchspersonen über Körperempfindungen einer tatsächlichen emotionalen Episode berichten, berichten sie
also in Wirklichkeit kollektive Stereotypen der Emotion, auch wenn sie
überzeugt sind, daß sie von einem konkreten emotionalen Ereignis berichten. Alternativ könnte man noch annehmen, daß Emotionsberichte eng mit
der wirklichen physiologischen Aktivität während der Emotion verwandt
sind. Diese Möglichkeit soll als nächstes betrachtet werden.
WIE WERDEN KÖRPEREMPFINDUNGEN IN EMOTIONSSCHEMATA INTEGRIERT ?
Es wurden im wesentlichen Hypothesen bezüglich der Quelle des kollektiven Wissens über Emotionen formuliert:
(1)
(2)
Emotionswissen wird aus verallgemeinerten persönlichen Erfahrungen abgeleitet, die in einer näher zu beschreibenden Weise die objektive Realität von subjektiven emotionalen Ereignissen reflektieren.
Emotionswissen ist sozial konstruiert und wird im Laufe der Zeit
durch wiederholte soziale Interaktionen gebildet. Diese Hypothese
impliziert, daß kollektive Stereotypen emotionalen Erlebens existieren.
Die erste Hypothese ist dem Positivismus, die zweite einem sozial konstruktivistischen Denkmodell zuzuordnen. Beide Hypothesen könnten auf Emotionsschemata im allgemeinen angewandt werden, aber hier werden wir sie
auf Schemata für Körperempfindungen beziehen. Bernard Rimé und seine
Mitarbeiter haben als erste diese beiden Hypothesen herausgearbeitet, indem
sie im Hinblick auf Emotionen die Idee von Skripten mit der Idee von Prototypen kontrastiert haben (Rimé et al. 1990).
Für die Überprüfung der ersten Hypothese ist das Konzept des PROTOTYPS nützlich. Im wesentlichen ist ein Prototyp ein generalisiertes kognitives
Schema, das verwendet wird, um konkret Erfahrbares (die Dinge der Welt)
zu kategorisieren. Nach Rosch (1976) spiegelt prototypisches Wissen die
tatsächliche (wahre) Struktur der Welt wider. Ein Emotionsprototyp für
Körperempfindungen würde folglich die wahre komplexe biologische Aktivität widerspiegeln, die ein Individuum während einer Emotion in seinem
Organismus durchlebt.
Emotion und Kultur
251
Da kein einzelner emotionaler Zustand jemals genau dem anderen
gleicht, ist ein emotionaler Prototyp die Repräsentation einer Emotion, die
das Gemeinsame einer Gruppe von verwandten Emotionen darstellt. Der
Prototyp Ärger könnte zum Beispiel durch Nachdenken über eine Situation
aktiviert werden, deren Inhalt ein Unrecht ist, das jemandem angetan wird
und während dessen ein bestimmtes autonomes Aktivationsmuster entsteht
(z. B. Zunahme der Herzrate, hoher Muskeltonus usw.). Ein anderes Beispiel wäre ein im falschen Moment abgestürztes Computerprogramm, das
möglicherweise eine schwächere Reaktion bewirkt. In diesem Fall kann
kaum die Rede davon sein, daß der Computer Urheber eines Unrechts sei,
sondern eher davon, daß die eigenen Pläne verhindert worden sind. Trotzdem wird aufgrund der Ähnlichkeit des Antezedenten und der Reaktion
wahrscheinlich der gleiche Prototyp, nämlich Ärger, aktiviert. Der Prototyp
bestimmt die Grenzen seiner Klasse (z. B. wenn die Bedingung nicht mehr
als Ärger klassifiziert werden kann, sondern in eine andere Gruppe gehört,
beispielsweise Verzweiflung). Die Grenzen zwischen den Prototypen sind
nicht eindeutig definiert, sondern folgen einer Fuzzy-Logik der Zugehörigkeit. Die Prototypentheorie, angewandt auf Emotionen, hat also zwei
Aspekte: Sie beschreibt, wie wir verschiedene emotionale Zustände kategorisieren und wie wir einer Emotion bestimmte Eigenschaften zuordnen.
Um die zweite Hypothese zu verfolgen, muß man auf das Konzept des
SKRIPTS zurückgreifen. Die Essenz dieses Konzepts ist eine Wissensstruktur, die ein Handlungssequenz repräsentiert. In der Emotionstheorie ist das
Konzept des Skripts unterschiedlich definiert worden.4 In diesem Kapitel
wenden wir eine Definition an, wie sie Averill (1980) und Shweder (1994)
verwenden. Definiert man ein Skript als eine narrative Struktur (Shweder
1994), dann benutzt man eine lineare Konzeption aus Emotionsantezedenten am Anfang, einem Mittelteil (z. B. Körperempfindungen, Handlungsimpulse) und einer Endstrecke (soziales Verhalten und seine Konsequenzen).
Dieser Ablauf kennzeichnet den Modus des Erwerbs von Emotionsskripten: sie werden durch das gesprochene Wort in der Form von emotionalisierenden Geschichten übertragen.
Rimé und Mitarbeiter haben in einer Reihe von beeindruckenden Untersuchungen gezeigt, daß Personen, die eine emotionale Erfahrung machen,
das Bedürfnis haben, anderen Personen davon zu erzählen. 90% der westeuropäischen Probanden einer solchen Studie berichteten von sich, zumindest
einer anderen Person ihr emotionales Erlebnis erzählt zu haben, meistens
noch am selben Tag. 20% der Versuchspersonen erzählten ihre emotionalisierenden Geschichten mehreren Personen mehrere Male. Es ist nicht ungewöhnlich, daß die Person, der die Geschichte erzählt wird, dadurch selbst
4
Zum Beispiel von Fehr & Russell (1984), Lakoff (1987), Sabini & Silver (1982), Shaver et
al. (1987), Markus & Kitayama (1994) und Russell (1991).
252
Russell Deighton und Harald Traue
so emotionalisiert wird, daß sie sich einer dritten Person anvertraut. Dieses
Weitererzählen emotionaler Erfahrungen könnte der Mechanismus sein,
über den ein Emotionsskript entwickelt und kollektiv beibehalten wird: Man
lernt, welche Empfindungen, Impulse, und Ausdrucksweisen zu erwarten
sind, was normativ ist, und mit welchen typischen sozialen Konsequenzen
eine Person rechnen muß (Christophe & Rimé 1996; Rimé, Mesquita, Philippot & Boca 1991).
Kulturell konstruierte Informationen über Emotionen können auch in
Form von Metaphern gespeichert und übertragen werden. Kövecses (2000)
hat englische Ausdrücke mit emotionalen Metaphern hinsichtlich des darin
enthaltenen kulturellen Wissens semantisch analysiert. Einige Beispiele solcher Ausdrücke, für die es auch äquivalente deutsche Ausdrücke gibt, sollen
hier erörtert werden: Im Ausdruck he exploded with anger wird Ärger mit einer
gewaltigen chemischen Reaktion verglichen und nebenbei Information über
Handlungstendenzen bei Ärger geliefert. Ein anderes Beispiel wäre der Ausdruck he’s crazy about you (er ist verrückt nach Dir), in dem Verliebtheit mit geistiger Krankheit oder Kontrollverlust gleichgesetzt wird. Interessanterweise
beinhalten viele dieser emotionsbezogenen Ausdrücke Informationen über
Körperempfindungen wie diese englischen Metaphern für Verliebtheit: she
took my breath away, he’s a heart throb, und she makes me weak at the knees. Zwei
deutsche Beispiel für Ärger sind: ich habe einen dicken Hals bekommen,5 was auf
Druckempfindungen im Hals Bezug nimmt, und ich habe vor Wut gekocht, was
sich auf Temperaturempfindungen bezieht. Solche Metaphern werden häufig in Geschichten über emotionale Episoden weitergegeben.
Obwohl ein Skript eine lineare Struktur hat und deshalb Prozesse beschreibt, die im Gegensatz zu einem Prototypen mit eher statischen Merkmalen ausgestattet sind, bietet es (genauso wie der Prototyp) eine Möglichkeit für Personen, die einzelnen Komponenten emotionalen Erlebens (einschließlich der Körperempfindungen) zu lernen. Im Gegensatz zum Prototypen ist die Information, die man durch das Skript lernt, nicht verallgemeinertes Wissen über die physiologische Aktivität des eigenen Körpers, sondern eine kollektiv gespeicherte Geschichte, d. h. es ist sozial konstruiert.
Rimé et al. (1990) haben gezeigt, daß keine der beiden Hypothesen ohne
innere Widersprüche ist. Die Prototypenhypothese hat zwei Probleme: Erstens bestehen nur schwache Belege für emotionsspezifische und meßbare
physiologische Reaktionsspezifitäten (vgl. Levenson 1994 und Traue 1998),
und zweitens gibt es viele Belege dafür, daß Menschen ihre peripherphysiologische Aktivität meist nicht sehr akkurat interozeptiv wahrnehmen (siehe
Rimé et al. 1990 für eine Zusammenfassung). Andererseits könnte man
argumentieren, daß die Entwicklung eines Prototypen eher bei intensiven
5
Das ist sogar eine Metapher für eine Art von Ärger, die unterdrückt wird und nicht
ausgedrückt werden kann.
Emotion und Kultur
253
Emotionen stattfindet, die besser interozeptiv wahrgenommen werden können, und die im Labor empirisch experimentell nicht getestet wurden.
Die zweite Hypothese, nach der Emotionsschemata sozial konstruierte
Skripte sind, ist ebenfalls mit Problemen behaftet: Wenn über Skripts emotionalisierende Geschichten zwischen Personen übertragen werden, würde
man erwarten, daß in interkulturellen Studien unterschiedliche Muster von
subjektiv berichteten Körperempfindungen festgestellt würden. Das ist aber
nicht der Fall. In manchen interkulturellen Studien sind sogar bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen physiologischen Mustern für bestimmte
Emotionen festgestellt worden (in anderen Studien aber auch Unterschiede).
Diese Studien sind in den nächsten Absätzen zusammengefaßt. Die Studien,
die subjektive Berichte von emotionsspezifischen Körperempfindungen
interkulturell untersucht haben, fanden interkulturelle Ähnlichkeiten und
Unterschiede. Rimé & Giovanni (1986), die diese Frage in mehreren nordund südeuropäischen Ländern und Israel gestellt haben, fanden viele interkulturelle Ähnlichkeiten in den Mustern von Körperempfindungen für Ärger, Freude und Angst. Trauer unterschied sich zwischen nord- und südeuropäischen Ländern nur wenig.
In einer Studie von Scherer et al. (1988) wurde ein Fragebogen mit offenem Antwortschema mit amerikanischen, europäischen und japanischen
Studenten durchgeführt. Die amerikanischen und europäischen Studenten
hatten sehr ähnliche Muster von Körperempfindungen, während die japanische Stichprobe im Vergleich mit den anderen zwei Gruppen unterschiedliche Muster zeigte. Generell machten die Japaner jedoch weniger Angaben
über das Auftreten von Körperempfindungen.
In einer weiteren Studie wurden Studenten aus 27 Ländern aufgefordert,
über diejenigen Körperempfindungen zu berichten, die Ärger, Angst, Freude, Trauer, Ekel, Scham, und Schuld begleiten (Scherer & Wallbott 1988).
Die Varianz in den Antworten aufgrund von Emotionsqualitäten war größer
als die Varianz aufgrund von Landeszugehörigkeit. Zwei Empfindungen
(Wärme und entspannte Muskeln) zeigten sehr wenig interkulturelle Varianz. Für die anderen acht Körperempfindungen war die Varianz aufgrund
von Kultur ungefähr halb so groß wie die Emotionsvarianz.
Deighton, Fernandez, Paez & Traue (in Vorbereitung) verglichen an Personen aus 30 Ländern subjektive Muster von Körperempfindungen für
Ärger, Trauer, und Freude. Die Autoren kamen zu dem Schluss, daß es
einen mainstream von ähnlichen Empfindungsprofilen in vielen Ländern gibt
(oft von Ländern, die kulturell oder geographisch verwandt sind). Gleichzeitig aber zeigten die Profile bestimmter Länder wenig Ähnlichkeit mit jenen
der restlichen Länder. Im besonderen gilt dies für die Trauer (siehe Abb. 1).
Wenn sich die Probanden an Stelle einer tatsächlich erlebten emotionalen
Episode eine für ihr Land typische emotionale Reaktion vorstellten, ergaben
Russell Deighton und Harald Traue
254
die Daten ein ganz ähnliches Bild. Dies kann als Hinweis auf Profile kollektiven emotionalen Wissens interpretiert werden.
Ähnliche Profile
110
105
100
95
90
85
80
Mexiko
Argentina
Portugal
Errötern
Kloß i.H.
Kälte
Hitze
Atmung
Entps.
Spannung
Magen
Herz
Spanien
Unterschiedliche Profile
110
105
100
95
90
85
80
Frankreich
China
Libanon
Errötern
Kloß i.H.
Kälte
Hitze
Atmung
Entps.
Spannung
Magen
Herz
Ghana
ABBILDUNG 1. Profile der Körperempfindungen bei Trauer in jeweils vier
ausgewählten Ländern, aus Deighton et al. (in Vorbereitung). Die Skalierung
der y-Achse entspricht dem Landesdurchschnitt der ipsativen Scores. Der
ipsative Score ist ein normierter Wert, der nicht für die Gesamtstichprobe,
sondern für jede Versuchsperson über alle Antworten mit einem Mittelwert
von 100 und einer Standardabweichung von 10 berechnet wird. Entsp. =
Entspannung; Kloß i. H. = Kloß im Hals.
Emotion und Kultur
255
Ähnlichkeiten im Muster subjektiver Körperempfindungen für Emotion zu
finden, ist insofern bemerkenswert, als es sich im Labor als sehr schwierig
erweist, emotionale Reaktionsspezifitäten objektiv nachzuweisen (siehe
Levenson 1994). Die allgemeinen Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen
Kulturen unterstützen beide Hypothesen auf verschiedene Weise. Die
Ähnlichkeiten passen eher zur Prototypenhypothese, während die Unterschiede besser dem Konzept des Skripts zuzuordnen sind. Rimé et al. (1990)
haben vorgeschlagen, daß beide Modelle gemeinsam geeignet sind, sowohl
den sozial konstruierten Anteil als auch den Anteil zu beschreiben, der die
objektive biologische Realität abbildet.
Wenn die subjektiven Muster von Körperempfindungen interkulturell
unterschiedlich sind, stellt sich die Frage, ob diese interkulturelle Variation
willkürlich ist oder auf spezifische kulturelle Phänomene zurückgeführt
werden kann. Solche interkulturellen Unterschiede in den Schemata der
Körperempfindungen wurden von Scherer et al. (1988) im Vergleich von
japanischen und amerikanischen Studenten festgestellt. Wenn es kulturelle
Phänomene gibt, die für solche Unterschiede verantwortlich sind, ist
außerdem fraglich, ob diese Phänomene auch adäquat gemessen werden
können. Als Phänomene solcher Art kommen die kulturellen Syndrome
Individualismus und Kollektivismus in Frage.
INDIVIDUALISMUS-KOLLEKTIVISMUS, SUBJEKTIVE KÖRPEREMPFINDUNGEN UND SOMATISIERUNG
Individualismus beschreibt ein kulturelles Syndrom, in dem das kognitive,
emotionale, und behaviorale Leben innerhalb einer Kultur durch die
Grundmotive Getrenntheit, Einzigartigkeit und individuelle Divergenz gekennzeichnet ist. Im Kollektivismus ist das Leben durch die Grundmotive
Harmonie, Konformität und Zusammenhalt charakterisiert. Individualismus
wird eher mit den meisten westeuropäischen Ländern, Nordamerika und
Australien assoziiert, während viele asiatische, afrikanische und südamerikanische Länder als kollektivistisch klassifiziert werden können. Individualismus gilt auch als Kennzeichen der industrialisierten Länder.
In einer aktuellen Studie mit über 5000 Probanden aus 30 Ländern haben wir die Beziehungen zwischen Individualismus-Kollektivismus und
verschiedenen Parametern des subjektiven körperlichen Erlebens von Emotion untersucht (Deighton, Fernandez, Paez, & Traue, in Vorbereitung). Bei
Beschreibungen persönlicher emotionaler Phänomene korrelierten Körperempfindungen mit bestimmten kulturellen Merkmalen. Temperaturempfin-
256
Russell Deighton und Harald Traue
dungen und allgemeine Erregtheit bei niedriger Expressivität waren in Ländern mit hoher individualistischer Zielorientierung intensiver.6
Daß emotionale Körperempfindungsschemata von Kulturvariablen beeinflußt werden, ist soweit gesichert. Das wirft aber auch einige Fragen auf:
Wie kommt dieser Einfluß zustande? Ist es möglich, daß bestimmte kulturspezifische soziale Stressoren bestimmte physiologische Veränderungen
verursachen, die zu einem unterschiedlichem Muster von Empfindungen
führen? Kollektivistischer Streß könnte aus dem Druck heraus entstehen,
sich konform verhalten zu müssen, während individualistischer Streß aus
einem Mangel an sozialer Unterstützung und großer Konkurrenz herrühren
könnte.
Interessanterweise zeigten Länder mit starker Temperaturempfindung
bei niedriger Expressivität (für Trauer und Ärger), die mit individualistischer
Zielorientierung assoziiert werden können, im allgemeinen mehr emotionale
Hemmung. Die empirische Literatur über emotionale Hemmung belegt
eindrucksvoll, wie emotionale Hemmung oder niedrige Expressivität zu
physiologischer Erregung und nachfolgend zu Krankheiten führen kann
(siehe Traue, 1998). Körperempfindungen, die mit niedriger Expressivität
und hoher Hemmung und auch mit bestimmten Kulturvariablen korrelieren, könnten also auf physiologische Veränderungen wegen kulturell induzierter Hemmung zurückzuführen sein. Temperaturempfindungen korrelierten außerdem mit niedrigem subjektiven Streßniveau. Das ist ebenfalls ein
Effekt, der in der Literatur über emotionale Hemmung bei Individuen bekannt ist: Emotional gehemmte Menschen neigen dazu, den subjektiv erlebten Streß zu unterschätzen.
Insgesamt fanden wir charakteristische Muster in den Berichten subjektiv
erlebter Emotionen, in denen Selbstbeschreibungen von gehemmter emotionaler Expressivität mit dem kulturellen Merkmal des Kollektivismus
korrelieren. Dieser Zusammenhang bestand auch, wenn die Probanden über
stereotypische emotionale Episoden sprachen. Man kann demnach annehmen, daß emotionale expressive Hemmung im kollektiven Emotionsschema
repräsentiert ist und Personen, bei denen dieses Emotionsschema dominiert,
ihre Emotionen eher körperlich zum Ausdruck bringen. Unser Befund, daß
bekannte Muster gehemmter emotionaler Verarbeitung in Schemata abgebildet werden, stützt die Prototypenhypothese, da wahrscheinlich biologi6
Paradoxerweise werden die Länder mit individualistischer Zielorientierung in dieser
Studentenstichprobe im allgemeinen als kollektivistische Länder betrachtet. Es wurde sogar eine negative Korrelation zwischen unseren Maßen des Individualismus und dem von
Hofstede (1981), der meistens als Standard betrachtet wird, gefunden. Wir interpretieren
dies als Hinweis dafür, daß der Studentenstatus in kollektivistischen Ländern, die oft weniger industrialisiert sind, dazu führen kann, daß man extrem individualistische Einstellungen annimmt.
Emotion und Kultur
257
sche Prozesse zugrunde liegen. Man kann sich weiter in der Auffassung
bestätigt sehen, daß emotionale Hemmung aus kulturellen Regeln abgeleitet
wird. Das hat weit reichende Konsequenzen, weil das Körpererleben selbst
davon beeinflußt sein kann: Starke negative Emotionen führen dann weniger zu einem direkten Ausdruck, sondern zum Erleben körperlichen Leidens, ein Phänomen, das in der klinischen Literatur als Somatisierung bezeichnet wird.
Der Zusammenhang zwischen Kollektivismus und Somatisierung wird
auch in früheren Untersuchungen bei spanischsprachigen Menschen (Angel
& Guarnaccia, 1986) und Chinesen (Kleinman, 1986) behauptet, die beide
zu den kollektivistischen Kulturen gezählt werden. Kleinman (1986) nimmt
an, daß die Somatisierung emotionalen Leidens (starke negative Emotionen)
ein Produkt der traditionelleren Kulturen der Welt ist, die überwiegend in
agrarischen und ärmeren Ländern beheimatet ist, während in den industrialisierten Ländern eine Tendenz zur Psychologisierung des Leidens stattfindet.
Abschließend soll dies am Beispiel der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) erläutert werden, weil die Verarbeitung extremer Emotionen,
überwiegend der Angst, als Extremfall angenommen werden kann, der kulturelle Muster verstärkt hervortreten läßt. Eine Gruppe geflüchteter Frauen
mit der Diagnose PTBS aus El Salvador berichten folgendes:
El calor (die Hitze) ist das Erleben einer intensiven Hitze, die sich rasch über
den ganzen Körper ausbreiten kann. Sie kommt aus dem Kopf, dem Gesicht, den Ohren, der Nase und dem Mund sowie aus dem Geschmack oder
der Atmung und strahlt in den Nacken, den Rücken, die Beine, den Bauch,
die Brust und die Hände aus. Solche Körperstellen werden oft als Zentren
von el calor beschrieben. Obwohl el calor im Körper stattfindet, dringt sie von
außen ein. Sie kann kurz (für einen Moment) oder lang (kontinuierlich für
Tage) präsent sein (Jenkins 1994, 318; eigene Übersetzung).
Hier wird die Überflutung des Körpers unter starker emotionaler Belastung
durch ein Hitzegefühl beschrieben, das sich vom Kopf ausgehend ausbreitet. In diesem prozeßhaften somatischen Syndrom findet sich das Körperliche ebenso wieder, wie die Überwältigung durch eine von außen kommende
Noxe. Emotionale Selbstbeschreibungen dieser Art greifen auf kulturelle
Schemata der Somatisierung für ein bestimmtes emotionales Ereignis zurück, die in anderen Kulturen psychologisierende Schemata aktivieren würden. Man könnte der Hypothese nachgehen, daß diese traumatisierten Frauen aus El Salvador auf das somatische Schema zurückgreifen, um sich vom
unerträglichen emotionalen Gehalt der traumatischen Erfahrung zu distanzieren. Die Somatisierung wäre dann nicht lediglich die Zuschreibung eines
somatischen Erlebens auf eine kulturell akzeptierte körperliche Theorie,
sondern die unbewußte Vermeidung der Erinnerung an die Ereignisse, die
258
Russell Deighton und Harald Traue
es verursacht haben. Somatisches Erleben als emotional anzusehen, bedeutet nämlich auch, das Erleben mit einem Emotionsantezedenten zu verbinden, der im Falle traumatischer Erfahrung unerträglich gewesen ist. Diese
Reaktion auf eine extreme Belastung findet sich als Folge traumatischer
Erfahrung bei Menschen unterschiedlichster kultureller Zugehörigkeit. Sie
stellt ein Extrem der emotionalen Hemmung dar, das Traue (1998) als emotionale Implosion bezeichnet hat. Diejenigen somatischen Beschwerden, die
PTBS in westlichen Ländern begleiten, reflektieren wahrscheinlich ebenfalls
kulturell definierte und akzeptierte somatische Zustände (wie z. B. Kopfschmerzen, Muskelschmerzen). Das steht im Gegensatz zu el calor, die eine
körperliche Empfindung bezeichnet, die für einen bestimmten Kulturkreis
typisch ist, und die vermutlich im Kontext eines westlich orientierten medizinischen Modells fehlinterpretiert würde.
ZUSAMMENFASSUNG
Wenn man interkulturelle Unterschiede des emotionalen Verhaltens verstehen will, macht es keinen Sinn, auf den biologischen Gemeinsamkeiten der
menschlichen Körperlichkeit zu beharren, sondern man muß nach interkulturell unterschiedlichen Emotionsschemata suchen. Dafür sprechen verschiedene Gründe:
(1)
(2)
(3)
(4)
Emotionsschemata beeinflussen das emotionale Erleben. Unterschiede in Emotionsschemata reflektieren auch Unterschiede in emotionalem Erleben.
In den Emotionsschemata bildet sich der objektiv beschreibbare
biologische Prozess als Prototyp ab. Emotionale Prototypen sind für
die Untersuchung der universellen Anteile von Emotion nützlich.
Emotionsschemata reflektieren gleichzeitig sozial konstruierte Aspekte von Emotion (Emotionsschemata als Narrative oder Skripte). Sie
liefern Informationen über die kulturbezogene Regulation emotionaler Verhaltensweisen.
Das in Emotionsschemata gespeicherte emotionale Wissen wirkt auf
verschiedene Komponenten von Emotion zurück. Das gilt auch für
die nur scheinbar kulturfreien biologischen Prozesse, da die durch bestimmte kognitive Muster erzeugten Erwartungen über autosuggestive Effekte physiologische und biochemische Vorgänge erheblich
modulieren können. Auf diese Weise sind Emotionsschemata für das
Verständnis der Somatisierung emotionalen Erlebens essentiell.
Emotion und Kultur
(5)
259
Es gibt zwei Möglichkeiten der Somatisierung: Erstens: Somatisierung verweist auf die Existenz vieler Schemata in einer Kultur, in denen körperliches Erleben ohne die uns gewohnte Trennung von
emotionalen und nicht emotionalen Phänomenen betont wird. Zweitens: Somatisierung kann als emotionale Hemmung interpretiert werden, mit der schwer erträgliche Kognitionen über die Emotionsantezedenten und das emotionale Geschehen in ein somatisches Symptom transformiert werden.
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Monika Betzler
VERNUNFT UND LEIDENSCHAFT.
ZUR ERKLÄRUNG UND RATIONALITÄT
EMOTIONALER EINSTELLUNGEN
1. DIE PHILOSOPHISCHE RELEVANZ EMOTIONALER EINSTELLUNGEN
E
motionen, Affekte oder Leidenschaften sind bereits seit der Antike
Gegenstand philosophischer Auseinandersetzung. Während z. B.
Platon die Herrschaft der Vernunft über die affektiven Seelenteile
fordert,1 plädiert Aristoteles für die Ausbildung angemessener, d. h. vernunftgemäßer Emotionen.2 Angesichts ihrer Vielzahl und phänomenologischen Komplexität hat es sich nicht nur als schwierig erwiesen, emotionale
Einstellungen als eigenständige Klasse zu bestimmen.3 Von einer solchen
Bestimmung hängt auch ab, ob und inwiefern Emotionen als rational gelten
können. Da sich die Philosophie traditionell als Disziplin der Vernunft begreift, ist der systematische Stellenwert emotionaler Einstellungen eng mit
dieser Thematik verknüpft.
Emotionale Einstellungen bieten sich allerdings nur dann als Gegenstand
einer philosophischen Analyse an, wenn sie einen Beitrag zur Beantwortung
allgemeinerer Fragen zu geben versprechen. Diese stellen sich im wesentli1
Vgl. Platon, Der Staat (439e, 441e-442c, 577e, 606d).
2
Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik (1104b, 10-27). Zahlreiche weitere Klassiker der
Philosophiegeschichte von den Philosophen der Stoa bis hin zu Descartes, Spinoza,
Hobbes, Locke, Hume und Kant haben in der Folge Emotionstheorien formuliert und
auch gegenwärtig floriert die philosophische Beschäftigung mit Emotionen.
3
Manche versuchen, diese Vielzahl zu reduzieren, indem sie zwischen basalen und nonbasalen Emotionen unterscheiden, die sich aus basalen Emotionen zusammensetzen
oder Spezifizierungen darstellen. Während basale Emotionen als universell gelten, werden non-basale Emotionen auch als sozial bedingt und kulturell variabel erachtet.
Bereits Descartes unterscheidet in Les Passions de l’Ame (§ 69) sechs basale Affekte:
Bewunderung, Liebe, Haß, Begehren, Freude und Traurigkeit. Empirischen Arbeiten von
P. Ekman (1992) zufolge sind die folgenden sechs Emotionen basal, da sie kulturell invariabel sind und von Angehörigen verschiedenster Kulturen gleichermaßen ausgedrückt
und identifiziert werden können: Freude, Traurigkeit, Zorn, Furcht, Überraschung, Ekel.
Hiervon lassen sich stärker kognitive Emotionen wie Liebe, Schuld, Scham, Peinlichkeit,
Stolz, Neid und Eifersucht unterscheiden. Vgl. auch D. Evans (2001, 1-30).
Vernunft und Leidenschaft
263
chen in der praktischen Philosophie sowie in der Philosophie des Geistes.
Die beiden Bereiche konturieren die Perspektive, aus der Emotionen wiederum selbst untersucht werden. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich zunächst skizzieren, welche kontroverse Rolle emotionale Einstellungen hierbei spielen können.
Im Rahmen der praktischen Philosophie, vor allem der Handlungs- und
Rationalitätstheorie, wird u. a. diskutiert, inwiefern sich Handlungen und
Entscheidungen mit Rekurs auf Motive wie emotionale Einstellungen erklären und rechtfertigen lassen. Da uns Emotionen schnell und fokussiert reagieren lassen, könnten sie gegenüber langwierigen Abwägungsprozessen zu
besseren Entscheidungen führen. Ihre Passivität und Irrtumsanfälligkeit hingegen läßt sie als ungeeignet erscheinen, um unser Handeln und Entscheiden zu lenken. Innerhalb der Ethik sind Emotionen relevant, sofern sie das
Problem moralischer Begründung erhellen oder einen Bezug zu den Möglichkeiten, ein gelungenes Leben zu führen, erkennen lassen. Die Auffassungen gehen hierbei auseinander, ob gerade Emotionen geeignete moralische
Motive sind, oder ob sie aufgrund ihrer Partikularität der Moralität vielmehr
im Wege stehen.
Im Rahmen der Philosophie des Geistes wird ganz unabhängig von den
genannten Fragen der praktischen Philosophie untersucht, inwiefern Emotionen als mentale Zustände, die mit körperlich wahrnehmbaren Eigenschaften einhergehen, den Zusammenhang von Geist (bzw. Seele) und Körper
klären können.
Die jeweilige Antwort auf diese Fragen hängt wesentlich davon ab, wie
emotionale Einstellungen erklärt werden. Insofern ist es ein zentrales Anliegen, die Bedingungen emotionaler Einstellungen ausfindig zu machen. Was
macht sie zu dem, was sie sind?
Es läßt sich hierbei die Untersuchung ihres ontologischen Status von einer begrifflichen Analyse unterscheiden. Ob sie körperliche und/oder mentale Zustände sind, wie diese ggf. zusammenhängen und wie sie sich von
anderen körperlichen und mentalen Zuständen abgrenzen lassen, sind Fragen, die ihren ontologischen Status betreffen und vornehmlich in der Philosophie des Geistes verhandelt werden. In diesem Zusammenhang wird auch
diskutiert, ob Emotionen überhaupt eine „natürliche Art“ darstellen oder ob
sie lediglich alltagspsychologische Kategorisierungen sind.4
4
Es werden verschiedene Auffassungen darüber vertreten, was „natürliche Arten“ sind.
Grundsätzlich stellen Emotionen dann eine „natürliche Art“ dar, wenn ihnen mikrophysikalische Merkmale gemeinsam sind und sie durch diese erklärt werden können. Eine
„natürliche Art“ zeichnet sich folglich durch eine solche explanatorische Tiefenstruktur
aus. Ob Emotionen tatsächlich als „natürliche Art“ gelten können, ist freilich umstritten:
Während z. B. P. Griffiths (1997) Emotionen nicht für eine natürliche Art hält, argumentiert etwa K. Petrus (2000) für einen eigenständigen Status emotionaler Einstellungen.
Vgl. auch A. Rorty (1978), G. Rey (1980) und A. Sloman (2001).
264
Monika Betzler
Eine begriffliche Untersuchung macht hingegen die Bedingungen des
Gebrauchs von Emotionswörtern ausfindig, die notwendig und gemeinsam
hinreichend sind, um Emotionen zu individuieren und sie somit in ihrer Bedeutung von anderen Einstellungen zu unterscheiden.
Von der Art der Analyse sowie der spezifischen philosophischen Fragestellung hängt ab, ob und wenn ja, inwiefern Emotionen als rational gelten
können. Es gibt jedoch auch hier unterschiedliche Auffassungen darüber,
was Rationalität bedeutet.
So können Emotionen aufgrund ihrer adaptiven Funktion evolutionär
erklärt werden.5 Die Frage der Rationalität richtet sich dann darauf, inwiefern es überhaupt klug sein könnte, emotionale Einstellungen einzunehmen.
Sie gelten als zweckrationale Mechanismen, da sie uns automatisiert und
damit schnell auf physische oder soziale Bedrohungen reagieren lassen.
Furcht, Angst oder Scham können z. B. ein geeignetes Mittel sein, Gefahren
für Leib, Leben und sozialen Status zu begegnen und entsprechende Handlungen wie Flucht oder Unterwerfung zu motivieren. Ebenso zweckrational
ist die Funktion von Liebe, Eifersucht, Neid u. ä., um soziale Kooperation
zur Sicherung des besseren Überlebens der Gruppe aufrecht zu erhalten.
Ohne emotionale Einstellungen wären wir demzufolge nicht in der Lage,
optimal auf Veränderungen in unserer Umwelt zu reagieren.
Von einer solchen „evolutionären Rationalität“ (Evans 2001, 182) läßt
sich sowohl eine epistemische Rationalität als auch eine Rationalität des Willens unterscheiden. Gelten emotionale Einstellungen als epistemisch rational, dann sind sie nicht oder nicht ausschließlich schon rational, weil sie eine
evolutionäre Funktion besitzen, sondern sie können auch selbst einer rationalen Kritik unterzogen und entsprechend kontrolliert werden. Voraussetzung dieser Auffassung ist, daß Emotionen als mentale Zustände betrachtet
werden und mit kognitiven Einstellungen wie Meinungen und Urteilen zusammenhängen, die wahr oder falsch sein können.6 Sie gelten dann aufgrund
der Wahrheit oder Falschheit der mit ihnen zusammenhängenden kognitiven
5
Vgl. R. de Sousa (1987, 77-106), P. Griffiths (1997, 228-247), J. Elster (1999, 239-321), A.
Ben-Ze’ev (2000, 161-175) sowie D. Evans (2001, 162 und 177-182). Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist Darwins The Expression of Emotions in Man and Animals von 1872.
Man vgl. auch A. Damasio (1994), der anhand von Patientenstudien zeigt, daß Emotionen unabdingbar sind, um langfristig nützliche Entscheidungen treffen zu können.
6
Eine derartige kognitivistische Auffassung vertreten bereits in der Antike: Aristoteles
(Rhetorik II 2-11) sowie die Philosophen der Stoa (vgl. A. A. Long und D. N. Sedley
(1987) The Hellenistic Philosophers, Bd. 1, 410-423). In der Tradition der älteren Stoa steht
Spinozas Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt (Teil III, 108-185) sowie Kants
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und Metaphysik der Sitten (2. Teil). Eine neo-stoische
Position vertritt auch M. Nussbaum (2001, Kap. 2).
Vernunft und Leidenschaft
265
Zustände oder aufgrund der mangelnden Kongruenz mit diesen – wenn
auch dann wahren Urteilen und Meinungen – als rational oder irrational.
Werden Emotionen jedoch als bloße Wünsche oder Empfindungen aufgefaßt, die unmittelbar gegeben, irrtumsfrei und non-kognitiv sind, kann
keine epistemische Kritik erfolgen. Ihre gefühlte, nach Intensität graduierbare Qualität legt hierbei nahe, daß sie ähnlich wie Schmerzen und andere Erregungszustände in den Bereich der Empfindungen, der sich jeglichem rationalen Zugriff entzieht, verortet werden. Mit dieser Auffassung kann sowohl eine positive als auch eine negative Deutung verbunden sein. Entweder
verbürgt gerade ihre phänomenale Qualität und ihr träges Andauern – ggf.
auch im Lichte gegenteiliger Meinungen und Urteile –, daß sie selbst eine
Instanz der Kritik sein können, oder sie gelten lediglich als arationaler Gegenpol, der keiner kognitiven Korrektur zugänglich ist und am besten unterdrückt wird. Vertreter der positiven Deutung schreiben ihnen eine eigene
Rationalität des Willens zu, derzufolge sie unsere wirklichen Wertungen ausdrücken und unsere Urteile und bewußten Meinungen zu korrigieren vermögen.7 Gerade weil uns Emotionen widerfahren und wir sie nicht willentlich oder überlegt wählen können, scheint für manche der Schluß nahezuliegen, daß wir sie auch nicht rational beeinflussen und kontrollieren können.8
Da sie als Empfindungen nur introspektiv zugänglich zu sein scheinen, entziehen sie sich auch jeder objektiven Überprüfbarkeit.
Ich kann in diesem Beitrag längst nicht alle, hier einführend vorgestellten
Themen näher behandeln. Im folgenden möchte ich eine für die Erklärung
emotionaler Einstellungen zentrale Kontroverse herausgreifen und genauer
untersuchen.
Einem von Descartes geprägten Modell zufolge sind Emotionen als körperlich wahrnehmbare Empfindungen aufzufassen. Einer bis auf Aristoteles
zurückgehenden Auffassung nach sind Emotionen kognitive Zustände. Ich
werde die Reichweite und Grenze dieser beiden Erklärungsversuche aufzeigen und ihre jeweiligen Konsequenzen für die Frage der Rationalität emotionaler Einstellungen diskutieren.9
7
Eine solche Auffassung verteidigt H. Frankfurt (1997); vgl. auch A. Baier (1980). In der
Moralphilosophie vertritt z. B. S. Blackburn (1998, 122 ff.) eine solche Position.
8
Dafür spricht auch, daß sie uns als automatisierte Reaktionsweisen, mit Hilfe derer wir
schnell veränderten Umständen, v. a. Bedrohungen oder Angeboten, begegnen können,
zur Überbewertung und Parteilichkeit neigen lassen und sich oft als unangemessen erweisen.
9
Fragen nach ihrem ontologischen Status sowie nach ihrer evolutionären Rationalität
berücksichtige ich hier aus Platzgründen allenfalls am Rande.
Monika Betzler
266
2. EMOTIONEN ALS EMPFINDUNGEN
Wenn wir genauer überlegen, wie Emotionen erklärt werden könnten, so
fällt auf, daß sie im Gegensatz zu anderen mentalen Phänomenen wie z. B.
Meinungen oder Intentionen mit verschiedenen körperlichen Reaktionen
verbunden sind, die wir in der Regel auch selbst wahrnehmen. Ähnlich wie
andere Erregungszustände – etwa Schmerzen oder Reflexe – scheinen wir
Emotionen als angenehme oder unangenehme Empfindungen zu erleiden.
Es verwundert daher nicht, daß sie als „passiv“ gelten. Wir können unsere
Emotionen nicht wählen. Vielmehr widerfahren sie uns, und zwar häufig
angesichts von Sachverhalten, die sich gerade unserer Kontrolle entziehen.
Ich möchte im folgenden genauer untersuchen, auf welche Weise wahrnehmbare Erregungszustände emotionale Einstellungen erklären können.
Das Ergebnis dieser Untersuchung wird schließlich auch den Zusammenhang von Emotionen und Rationalität klären helfen. Betrachten wir folgende
Äußerungen:
(1)
Gerda bebt vor Wut.
(2)
Rudi fürchtet sich derart, daß sein Herz rast und seine Hände zittern.
(3)
Max spürt seinen Magen flattern aus banger Vorfreude auf das bevorstehende Rendezvous mit Tina.
Ist Gerdas Beben in (1) eine notwendige Bedingung ihrer Wut? Ist Rudis
Herzrasen und das Zittern seiner Hände in (2) hinreichend, um seine Furcht
zu erklären? Konstituiert oder verursacht das Magenflattern in Satz (3) die
Vorfreude von Max?
Die körperliche Manifestation emotionaler Einstellungen legt es nahe, sie
analog zu Empfindungen oder Wahrnehmungen10 zu fassen. Demzufolge
werden Emotionen als Zustände betrachtet, denen zwei Eigenschaften zukommen:
•
•
Sie sind durch physiologische Veränderungen im Nervensystem verursacht. Emotionen sind dann entweder deren Folge oder ein
Epiphänomen.
Sie zeichnen sich durch ihre phänomenale, d. h. gefühlte Qualität aus,
die introspektiv zugänglich ist und auf diese Weise untrügliche und
unmittelbare Autorität besitzt.
10 Diese beiden Begriffe werden hier synonym verwendet. In der englischsprachigen Literatur ist auch von der Gefühlstheorie (feeling theory) die Rede. Vgl. W. Alston (1967).
Vernunft und Leidenschaft
267
Es lassen sich mehrere Vorteile dieser Betrachtungsweise erkennen: Zum
einen ist sie mit einem naturwissenschaftlichen, d. h. empirisch überprüfbaren Erklärungsanspruch kompatibel, indem sie Emotionen als körperliche
Reaktionsmechanismen untersucht. René Descartes, einer der bedeutendsten Ahnherren der Empfindungstheorie, analysiert Emotionen z. B. im
Rahmen der mechanistischen Physiologie des 17. Jahrhunderts.11 In seiner
Tradition verfolgen John Locke und David Hume ihr empiristisches Programm.12 William James unternimmt diesen Versuch schließlich als empirischer Psychologe, der Erkenntnisse der Neurologie und Studien über das
Verhalten von Tieren einbezieht.13
Zum andern berücksichtigt die Empfindungstheorie den spezifisch subjektiv fühlbaren Charakter emotionaler Einstellungen als sogenannte Qualia.
Die Wahrnehmung eines Reizes scheint ja im Fall von Emotionen tatsächlich eine Empfindung bzw. ein Gefühl hervorzurufen: Rudi kann seine
Furcht körperlich spüren und erkennen. Die Art und Weise, wie sie sich
anfühlt, macht sie zur Furcht. Er nimmt nicht nur einen gefährlichen Sachverhalt wahr, der ihn selbst, handelte es sich um ein bloßes Urteil, daß Gefahr in Verzug ist, unberührt ließe.
Zum dritten wird sie dem Phänomen gerecht, daß wir selbst auf solche
Reize emotional reagieren können, über die wir keine Meinung haben bzw.
die wir nicht einmal kennen. Sie kann damit gerade der Besonderheit von
Emotionen gegenüber anderen mentalen Einstellungen berücksichtigen.
Dies stellt einen Vorteil vor allem gegenüber solchen Theorien dar, die
Emotionen als kognitive Zustände betrachten. Die Vorfreude von Max wird
gerade durch die Vorstellung des Rendezvous hervorgerufen, ohne daß er
wüßte, was dort geschehen wird. Rudi mag sich einfach fürchten bzw. vor
etwas Furcht empfinden, das er gar nicht kennt und somit nicht einmal für
gefährlich hält.
Emotionen kann auf diese Weise auch die Eigenschaft zugeschrieben
werden, die tatsächlichen Wertungen einer Person auszudrücken. Diese besitzen sie dann nicht nur, wenn die betreffende Person keine Meinungen hat,
sondern auch, wenn die durch Emotionen ausgedrückten Wertungen ihren
bewußten Urteilen und Meinungen widersprechen.14 Selbst wenn Rudi von
sich glaubt, daß er ein mutiger Kerl ist, den keine Gefahr beeindrucken
11 Vgl. R. Descartes (1649) Les Passions de l’Ame.
12 Vgl. J. Locke (1689) An Essay Concerning Human Understanding (Buch II, Kap. XX) und
D. Hume (1739) Treatise of Human Nature (Buch II).
13 Vgl. W. James (1890) Principles of Psychology.
14 Vgl. H. Frankfurt (1997). Emotionen können demzufolge Aufschluß über Wertungen
geben und Urteile verursachen; vgl. auch M. Stocker mit E. Hegeman (1996, 56-87) und
G. Madell (1997, 147-156). L. A. Sroufe (1995, Kap. 7) untermauert diese These aus entwicklungspsychologischer Perspektive.
268
Monika Betzler
kann, oder wenn er der Meinung ist, daß nichts Schlimmes, schon gar nichts
Gefährliches auf ihn lauert, mögen ihn sein rasendes Herz und seine zitternden Hände eines Besseren belehren. Seine Urteile und Meinungen scheinen
in einem solchen Fall falsch zu sein, während die Emotion unmittelbaren
und untrüglichen Zugang zu den Wertungen Rudis verspricht. Allein ihre
empfundene Präsenz scheint ihnen die Autorität zu verleihen, ihnen widersprechende Urteile zu kritisieren.
Da Empfindungen körperliche Erregungszustände sind, muß geklärt
werden, wie sich Emotionen als körperliche Erregungszustände genauer
individuieren lassen. Es sind zwei Möglichkeiten denkbar: Entweder bedarf
es bestimmter körperlicher Ursachen, die Emotionen von anderen körperlichen Erregungszuständen wie z. B. Schmerzen unterscheiden. Sie sind dann
nichts anderes als die Empfindung distinkter körperlicher Veränderungen.
Oder sie verfügen über weitere Eigenschaften, die nicht auf Empfindungen
reduziert werden können. Sie lassen sich dann aufgrund dieser zusätzlichen
Eigenschaften von anderen Erregungszuständen unterscheiden. Von der
jeweiligen Konzeption hängt ab, welche Art der Kontrolle emotionaler Einstellungen möglich ist und inwiefern sie als rational gelten können.
2.1. EMPFINDUNG DISTINKTER KÖRPERLICHER ERREGUNGSZUSTÄNDE
William James zufolge sind Emotionen nichts anderes als die angenehme
oder unangenehme Empfindung körperlicher Veränderungen im peripheren
Nervensystem – etwa der Muskulatur, des Darms, der Atmung, des Herzrhythmus oder der Drüsen.15 Ihre Entstehung erklärt er sich folgendermaßen: Ein äußerer Reiz fällt auf die Sinnesorgane. Er wird im Cortex repräsentiert und löst schließlich verschiedene Veränderungen im peripheren
Nervensystem aus. Diese werden wiederum in ihrer Verbindung im Bewußtsein wahrgenommen, so daß der äußere Reiz zu einem emotional gefühlten
Objekt wird. Descartes stellt sich diese Genese in seinem Spätwerk Les Passions de l’Ame, in dem er sich angesichts des Phänomens emotionaler Einstellungen der Frage widmet, welche Einheit Körper und Geist bilden,16
ganz ähnlich vor, wenn auch im mechanistischen Rahmen des 17. Jahrhunderts.
15 Auch die Ausführungen Descartes’ lassen darauf schließen, daß er die körperlichen Ursachen emotionaler Einstellungen in das periphere Nervensystem verortet.
16 Da Descartes dem Dualismus verpflichtet ist, demzufolge geistige und körperliche Zustände real distinkt und geistige Zustände unmittelbar und irrtumsfrei bewußt sind, stellen Emotionen, die er als komplexe Phänomene einer körperlich-geistigen Einheit charakterisiert, eine besondere Herausforderung dar. Vgl. besonders A. Rorty (1986).
Vernunft und Leidenschaft
269
In der cartesischen Theorie wirken äußere Reize auf den Körper ein und
werden mittels der sogenannten Lebensgeister – Partikel, die in den Hirnkammern enthalten sind – weitergeleitet, die z. B. eine hohe Pulsfrequenz
und bestimmte Veränderungen des Nervensystems hervorrufen. Letzte und
unmittelbare Ursache einer Emotion ist die Erregung, in die die Bewegung
der Lebensgeister schließlich die Seele selbst versetzen, sie darin erhalten
und verstärken. Die bewußte Wahrnehmung (perception) des Erregungszustands durch die Seele stellt die eigentliche Emotion dar, die wiederum
über die Zirbeldrüse den Körper zu entsprechendem Verhalten – im Fall der
Furcht etwa zur Flucht – veranlaßt.17
William James bringt die Entstehungsgeschichte emotionaler Einstellungen auf die Formel, „daß wir traurig sind, weil wir weinen, wütend weil wir
schlagen, beängstigt, weil wir zittern, und nicht, daß wir weinen, schlagen
und zittern, weil wir traurig, wütend und beängstigt sind“ (1890, 743). Gerdas Beben, das sich in der Anspannung ihrer Muskulatur, erhöhter Pulsfrequenz u. a. manifestieren mag, konstituiert James zufolge ihre Wut. Diese ist
nichts anderes als die Wahrnehmung der Kombination dieser körperlichen
Veränderungen. James will damit die phänomenale Qualität emotionaler
Einstellungen erklären, die sie gegenüber anderen mentalen Einstellungen
besonders auszeichnet. Es verwundert daher nicht, daß er ihre mögliche
Kontrolle auch in das periphere Nervensystem verlegt. Auch Descartes verweist auf die korrektive Kraft entgegengesetzter Emotionen. Gerda müßte
demzufolge ihr Beben unterdrücken und z. B. beginnen zu lachen, um ihrer
Wut durch den Ausdruck einer freundlichen Gesinnung entgegenzuwirken.
Es wird sich jedoch herausstellen, daß sich Emotionen weder aufgrund
ihrer körperlichen Verursachung noch aufgrund ihrer phänomenalen Qualität individuieren lassen. Die periphere Empfindungstheorie ist zum einen
aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, denen zufolge Emotionen in
bestimmten Regionen des zentralen Nervensystems verursacht sind, unhaltbar und kann daher ihrem eigenen naturalistischen Erklärungsanspruch
nicht genügen. Selbst wenn wir Erregungen wie z. B. eine Gänsehaut im
peripheren Nervensystem wahrnehmen, so ist die neuronale Grundlage ihrer
Empfindung im limbischen System sowie im orbitofrontalen Cortex zu suchen.18
17 So notiert R. Descartes in Les Passions de l’Ame: „Après avoir considéré en quoi les passions de l’âme diffèrent de toutes ses autres pensées, il me semble qu’on peut généralement les définir des perceptions, ou des sentiments ou des émotions de l’âme, qu’on rapporte particulièrement à elle, et qui sont causées, entretenues et fortifiées par quelque
mouvement des esprits“ (Art. 27; vgl. auch Art. 40, 51 und 52).
18 Zum gegenwärtigen Stand neurophysiologischer Emotionsforschung vgl. J. E. LeDoux
(1996) und E. T. Rolls (1999).
270
Monika Betzler
Zum andern bleiben einzelne Emotionen unterbestimmt, wenn ihre phänomenale Qualität das einzige zusätzliche Unterscheidungskriterium ist.
Gerdas Beben könnte nämlich anstelle von Wut genausogut Furcht, Haß
oder Ekel konstituieren. Selbst wenn ihr Erregungszustand möglichst genau
durch ihren Adrenalinspiegel, ihre Pulsfrequenz, ihre Körpertemperatur u. a.
spezifiziert wird, läßt sich aus der Verbindung dieser physiologischen Veränderungen keine distinkte Emotion bestimmen.19 Auch wenn wir annehmen, daß sie wütend ist, mag ihre Wut bei einer Gelegenheit von einem hohen Puls, bei einer anderen Gelegenheit von einem normalen Puls, aber großer Muskelanspannung begleitet sein. Bei verschiedenen Personen können
ganz unterschiedliche Erregungszustände im Zusammenhang mit der Emotion „Wut“ stehen. Gerdas Herz rast, wenn sie wütend ist, während Rudi im
Zustand der Wut eine normale Pulsrate haben kann, aber zittert und
Schweißausbrüche bekommt.
Wenn Emotionen nicht durch die Kombination distinkter Erregungszustände individuierbar sind, ist die Empfindungstheorie mit einem weiteren
Problem konfrontiert. Emotionen können dann auch nicht mehr von Erregungszuständen unterschieden werden, die in unserem Alltagsverständnis
nicht als Emotionen erachtet werden. Sie kann nicht beantworten, warum
der stechende Schmerz in Gerdas Arm keine Wut konstituiert. Wäre die
Empfindungstheorie richtig, müßten sich Emotionen auch im peripheren
Nervensystem lokalisieren lassen. Doch Max würde auch Vorfreude fühlen,
wenn er sein Magenflattern mit Hilfe eines Beruhigungsmittels beseitigt.
Folglich können die tatsächlich mit vielen Emotionen auftretenden Erregungszustände zumindest nicht ihre alleinige Ursache sein.
Ein Verteidiger der Empfindungstheorie könnte hier einwenden, daß nicht
allein die objektiv meßbaren Erregungszustände eine Emotion auslösen. Es
bedarf auch der subjektiven Empfindung, die eine distinkte phänomenale
Qualität besitzt. Wut fühlt sich demzufolge auf eine bestimmte Weise an –
vielleicht sogar bei unterschiedlichen Erregungszuständen. Doch auch die
phänomenale Qualität scheint keine notwendige Bedingung emotionaler
Einstellungen zu sein. Schließlich gibt es phänomenal schwächer wahrnehmbare Emotionen – man denke etwa an Sehnsucht oder Hoffnung –, die
nicht durch ihre Empfindungsqualität allein voneinander unterschieden
werden können. Diese scheint zu schwach und undeutlich, um immer als
einziges Unterscheidungskriterium dienen zu können.
Die behauptete Untrüglichkeit der Qualia greift außerdem zu kurz. Sie
erlaubt nicht zu berücksichtigen, daß sich eine Person, die Emotionen hat,
auch irren kann. Schließlich sind emotionale Einstellungen kritisierbar, auch
wenn sich die betreffende Person über die mit ihnen einhergehende Emp19 Zumindest W. James ist jedoch der Meinung, daß jede Emotion durch einen genau bestimmbaren Erregungszustand konstituiert ist.
Vernunft und Leidenschaft
271
findung nicht täuscht.20 Emotionen scheinen daher noch andere Eigenschaften zu haben als Qualia. Im Gegensatz zu Empfindungen oder Gefühlen
können sie nicht nur unangemessen, übertrieben oder unklug sein. Es ist
z. B. denkbar, daß Rudi sich täuscht: das Wahrgenommene ist gar nicht so
furchterregend, wie er es empfindet.21 Dies kann zum einen an einer falschen Wahrnehmung der eigenen Erregungszustände liegen. Gerda mag
ihren Zustand fälschlicherweise für Wut halten. Tatsächlich ist sie aber
furchtsam oder ärgerlich und vermag sich dies nicht einzugestehen. Insofern
scheint auch der bewußte und unmittelbare Zugang zu den eigenen Emotionen über irgendeine gefühlte Qualität hinaus in vielen Fällen problematisch.
Zum andern mag die Täuschung über die eigene Empfindung an einer
falschen Beurteilung der äußeren Ursachen liegen, die Erregungszustände
hervorrufen. Gerdas Wut – z. B. über die Kündigung ihrer Stelle – kann sich
auch an Anna als der nächsten greifbaren Person, an der sie ihre Wut im
Gegensatz zu ihrem Chef gefahrlos zeigen kann, entladen. Dies stellt einen
klassischen Fall der Übertragung dar. Auch hier mag sie sich phänomenal
wirklich wütend über Anna fühlen, obwohl die Kündigung ihres Vorgesetzten die Ursache ihrer Wut ist.
Ihre Wut kann auch aus anderen Gründen unangemessen sein. Gerda
kann zwar wütend über Anna sein. Ihr Verhalten, das sie als unverschämt
und daher als Wut provozierend interpretiert, mag jedoch einfach nur witzig
gemeint sein. Gerdas eigene Überempfindlichkeit hat sie zu einer Interpretation von Annas Verhalten verführt, das selbst gar keine wütende Reaktion
rechtfertigt. Sie kann folglich auch wegen ihrer Wut kritisiert werden, auch
wenn sie sich über ihr Beben nicht täuscht und selbst meint, eine untrügliche
Empfindung zu haben.
Da eine epistemische Kritik für Empfindungstheoretiker undenkbar ist,
bleibt ihnen als einziges Kontrollmittel der Körper selbst. Die von James
erwähnte körperliche Kontrolle scheint jedoch nur bedingt praktikabel zu
sein. So mag Gerdas Wut anhalten, auch wenn sie sich noch so sehr um den
körperlichen Ausdruck einer gegenteiligen Emotion, wie z. B. Freude, bemüht und beispielsweise zu lachen beginnt. Auch dies legt nahe, daß die
Ursache ihrer Wut nicht allein ein körperlicher Erregungszustand sein kann.
Selbst wenn sie ihre Erregungszustände beherrschen könnte, würden wir ihr
auch nicht aufgrund ihres Lachens Freude zuschreiben. Wir würden vielmehr feststellen, daß sie so tut, „als ob“ sie fröhlich sei.
20 Bereits E. Bedford (1956-57, 91) sowie G. Pitcher (1965, 330) halten die Empfindungstheorie für unzulänglich, da sie diesen Schluß nahelegt.
21 Eine solche Analogie zur korrigierbaren Sinneswahrnehmung trifft R. Roberts (1995,
320).
272
Monika Betzler
Die genannten Einwände deuten darauf hin, daß phänomenale Qualitäten Emotionen nicht hinreichend erklären können. Zusammenfassend kann
festgehalten werden, daß die Empfindungstheorie die körperliche Verursachung emotionaler Einstellungen nicht korrekt lokalisiert und der Fokus auf
ihre phänomenale Qualität die Kritisierbarkeit emotionaler Einstellungen
nicht berücksichtigen kann. Emotionen lassen sich folglich auch nicht als
Empfindung distinkter körperlicher Erregungszustände individuieren. Es
liegt nun nahe zu untersuchen, ob sie über weitere Eigenschaften verfügen,
die nicht auf Empfindungen reduziert werden können.
2.2. EMPFINDUNG UND OBJEKTBEZUG
Emotionen besitzen tatsächlich noch andere Eigenschaften als die, daß sie
körperlich verursacht und subjektiv wahrnehmbar sind. Was Emotionen
nämlich untereinander ebenso wie von anderen phänomenal wahrnehmbaren körperlichen Zuständen unterscheidet, ist, daß sie auf Personen, Sachverhalte oder Objekte gerichtet sind und somit einen distinkten Gehalt haben. Wenn wir Gerdas Zustand genauer betrachten, so bebt sie nicht nur.
Sie ist wütend über eine andere Person oder einen Sachverhalt. Ihre Wut ist
daher durch das Objekt individuierbar, auf das sie sich intentional richtet.22
Es stellt sich nun die Frage, ob Emotionen aufgrund ihres Objektbezugs
von anderen Erregungszuständen unterschieden werden können.
Einen wichtigen Hinweis zur Beantwortung dieser Frage gibt Descartes.
Er ist nämlich nicht der Auffassung, daß ein Erregungszustand Emotionen
konstituiert. Vielmehr hält er die introspektiv wahrnehmbare Erregung für
eine notwendige, aber keine hinreichende Ursache. Wenden wir uns daher
seiner Theorie über die „Leidenschaften der Seele“ erneut zu.
Gäbe es keine weitere notwendige Eigenschaft, die Emotionen zu individuieren erlaubt, könnte die wütende Gerda aufgrund ihres Erregungszustands nur wissen, daß sie sich in irgendeinem emotionalen Zustand befindet. Emotionen sind Descartes zufolge aber nicht rein körperlich, sondern
Bestandteil der Gedanken, die dem Geist und nicht dem Körper zukommen. Er kennzeichnet sie jedoch als „Leiden“ des Geistes, da sie nicht vom
Geist selbst hervorgebracht werden. Dieser erhält sie vielmehr von anderen
Dingen, die er repräsentiert (vgl. Les Passions de l’Ame, Art. 4 und 17).
22 Der Begriff der Intentionalität wurde von F. Brentano in seiner Psychologie vom empirischen
Standpunkt (1874, Bd. 1, 124 f.) in die moderne Diskussion wieder eingeführt. Brentano
meint damit, daß jedes psychische Phänomen auf einen Inhalt oder einen Gegenstand
bezogen ist.
Vernunft und Leidenschaft
273
Descartes Unterscheidung zwischen sinnlichen und intellektuellen Emotionen verdeutlicht dies.23 Erstere stellen spontane Reaktionen dar, die er als
„konfuse Gedanken“ bezeichnet. Ihre äußere Ursache bleibt unbekannt. Sie
sind in der Seele lediglich durch ihre körperlichen Symptome feststellbar.
Eine Person mit sinnlichen Emotionen kann nur mehr oder weniger vage
beschreiben, wie sie ihren Zustand erlebt. Erst bei intellektuellen Emotionen
ist es möglich, ihre äußere Ursache zu erkennen, sie als gut oder schlecht zu
beurteilen und entsprechend zu reagieren. Eine Person hat eine intellektuelle
Emotion nicht dadurch, daß sie sich auf private Objekte wie die nur ihr zugänglichen sinnlichen Empfindungen richtet. Auch wenn sie sich ihres körperlichen Zustands bewußt ist, so erkennt sie zugleich ein Objekt, auf das
sich ihr Zustand richtet. So bezeichnet Descartes die Objekte, die unsere
Sinne erregen, aufgrund ihres Nutzens oder Schadens als erste und hauptsächliche Ursachen unserer Leidenschaften (vgl. Les Passions de l’Ame, Art.
51 und 52). Neben der körperlichen Ursache hält Descartes folglich Objekte, die wir bewerten, für die bedeutendere Ursache emotionaler Reaktion.
Diese Auffassung läßt ihn auch über die Empfindungstheorie, mit der er so
eng assoziiert wird, hinausgehen.
Descartes verweist in diesem Zusammenhang auf verschiedene mentale
Fähigkeiten.24 Die Objekte werden ebenso wie die körperlichen Erregungszustände in der Seele repräsentiert und mittels des Erinnerungsvermögens,
der Vorstellungskraft und Überlegung bewertet. Wenn das Abgebildete Eigenschaften besitzt, die unerwartet sind oder mit Hilfe des Gedächtnisses
mit Erfahrungen assoziiert werden, die emotionale Reaktionen rechtfertigen,
entsteht eine Emotion.
Da diese Konzeption berücksichtigt, daß Emotionen auf Objekte gerichtet sind, die sie bewerten, vermag sie nicht nur der Tatsache gerecht zu werden, daß wir Emotionen kritisieren. Sie liefert damit auch Kriterien, mit deren Hilfe wir Emotionen rational und nicht nur mit körperlichem Ausdruck
kontrollieren können. Sie erlaubt nämlich zu fragen, ob das jeweilige Objekt
die jeweilige emotionale Reaktion rechtfertigt. So kann überlegt werden, ob
es sich z. B. im Fall der Furcht überhaupt um eine gefährliche Situation handelt, die eine furchtsame Reaktion verlangt. Mit Hilfe der Vorstellung anderer Objekte – z. B. unter welchen Umständen man mutig ist – kann die
23 Vgl. Brief an Chanut (1647; AT IV, 601-603).
24 Gegen eine einseitige Deutung Descartes’ als Empfindungstheoretiker macht auch
D. Perler (2000, 86-98) aufmerksam. In Perler (1996) argumentiert er gegen die Kritik
A. Kennys, Emotionen seien nur introspektiv zugänglich (vgl. Kenny (1963, 1-28)).
S. James (1997) zeigt, daß bereits im 17. Jahrhundert die cartesische Theorie der Emotionen unterschiedlich, d. h. nicht nur als Empfindungstheorie, rezipiert wurde.
274
Monika Betzler
Furcht nach Meinung Descartes’ schließlich beherrscht werden. Es sei auch
möglich, sich vor Augen zu führen, daß die Gefahr nicht groß ist.25
Die beiden Eigenschaften der Empfindungstheorie, (i) Verursachung
durch Veränderungen im peripheren Nervensystem sowie (ii) phänomenale
Qualität, werden durch (iii) die Bewertung äußerer Objekte mit Hilfe mentaler Fähigkeiten, wie Gedächtnis und Vorstellungskraft, ergänzt. Damit immunisiert sich Descartes insofern gegen die genannten Schwächen der Empfindungstheorie, als er eine Unterscheidung und Kritik wahrnehmbarer Erregungszustände mit Hilfe der Bewertung ihrer äußeren Ursachen ermöglicht. Emotionen lassen sich dadurch von anderen Erregungszuständen wie
z. B. Schmerzen unterscheiden, die nicht durch die Bewertung von Objekten
verursacht sind.
Descartes erklärt jedoch nicht, wie es zur Bildung intellektueller Emotionen kommt. Er läßt zudem offen, wie die beiden Ursachen emotionaler Einstellungen, d.h. die introspektiv wahrnehmbare Erregung und die Bewertung
des äußeren Reizes genauer zusammenhängen. Gerade im Rahmen des
cartesischen Dualismus, demzufolge Körper und Geist distinkt sind, bleibt
es problematisch, wie körperliche Zustände – etwa das Beben und Zittern –
geistige Zustände wie z. B. Bewertungen hervorrufen können, so daß eine
Emotion entsteht. Descartes spricht außerdem ausschließlich von den Ursachen emotionaler Einstellungen und macht somit Emotionen zu einem bloßen Epiphänomen. Es bleibt nicht nur problematisch, ob introspektiv wahrnehmbare Erregungen zusammen mit Wertungen über Objekte notwendigerweise eine Emotion verursachen. Es ist klärungsbedürftig, wie der evaluative Objektbezug genauer zu fassen ist. Eine verbreitete Auffassung ist, daß
nur Meinungen und Urteile die Intentionalität emotionaler Einstellungen so
erklären können, daß eine rationale Kritik möglich ist.
Ich möchte mich daher der von Descartes offen gelassenen Frage zuwenden, ob die Annahme bestimmter kognitiver Zustände zur Erklärung
des evaluativen Objektbezugs emotionaler Einstellungen und somit zu ihrer
Bestimmung notwendig ist.
3. EMOTIONEN ALS KOGNITIVE EINSTELLUNGEN
Gegenwärtige Vertreter einer kognitiven Theorie emotionaler Einstellungen
gehen sogar davon aus, daß wir eine Emotion korrekt zuschreiben können,
25 Vgl. Les Passions de l’Ame (Art. 45). Um ein Übermaß der Emotionen zu therapieren,
schlägt Descartes vor zu erinnern, daß alles, was sich der Vorstellungskraft darstellt, die
Seele zu täuschen strebt und ihr die Gründe, die sie vom Ziel dieser Leidenschaft überzeugen sollen, viel stärker erscheinen läßt als sie sind (vgl. Art. 211).
Vernunft und Leidenschaft
275
ohne auf Erregungszustände Bezug zu nehmen, und ohne die Frage ihrer
körperlichen Verursachung zu berücksichtigen. Sie berufen sich hierbei auf
die sprachphilosophische These, daß der Gebrauch von Emotionswörtern
auch unabhängig von Empfindungen und somit lediglich introspektiv zugänglichen Zuständen funktioniert.26 Gegenüber der Empfindungstheorie
verweist die kognitive Theorie daher auf zwei wichtige Eigenschaften: Emotionen scheinen aufgrund des Sprachgebrauchs überprüfbar und dieser zeigt,
daß sie auch nicht durch Erregungszustände erklärt und beurteilt werden.
Somit richtet sie sich gegen die Erklärung emotionaler Eigenschaften durch
diejenigen Eigenschaften – phänomenale Qualität und körperliche Verursachung – die von der Empfindungstheorie für zentral gehalten werden. Die
Frage ist nun, wie Emotionen aufgrund des Sprachgebrauchs näher bestimmt werden. Betrachten wir folgende Äußerungen, um genauer herauszufinden, in welchem Zusammenhang Emotionen und kognitive Zustände
stehen können:
(1)
(2)
(3)
Heinz ist stolz auf seine Beförderung.
Katrin schämt sich für ihren Ausrutscher.
Erwin fürchtet sich vor dem Löwen.
Die kognitive Theorie geht grundsätzlich von zwei Annahmen aus. Zum
einen sind Emotionen auf Objekte, Sachverhalte oder Personen gerichtet.
Heinz ist nicht einfach stolz. Sein Stolz bezieht sich auf ein Ereignis. Katrin
schämt sich für ihr Verhalten und Erwin fürchtet sich vor einem Tier. Für
viele scheint es zum andern nahezuliegen, die Intentionalität emotionaler
Einstellungen durch kognitive Zustände wie Urteile und Meinungen über
die betreffenden Objekte, auf die sie gerichtet sind, zu erklären. Andernfalls
wäre nicht einsichtig, wie die emotionale Bewertung von Sachverhalten oder
Dingen, auf die wir uns richten, erfolgen könnte. Emotionen sind demzufolge propositionale Einstellungen, die wahr oder falsch sein können.
So führt bereits Aristoteles in der Rhetorik aus, daß die unterschiedlichen
Emotionen von bestimmten Meinungen oder Urteilen abhängig sind. Demzufolge ergibt sich Zorn aus der Meinung, es sei einem eine Herabsetzung
widerfahren. Furcht wird durch das Urteil ausgelöst, es stehe ein Übel bevor.27
26 Im Anschluß an L. Wittgenstein haben dies v. a. E. Bedford (1956-57) und G. Pitcher
(1965) vertreten. Vgl. auch G. Ryle (1949, Kap. 4).
27 Vgl. Aristoteles Rhetorik (II 2-11). Auch wenn Aristoteles vielfach als Kognitivist gilt, so
ist diese Etikettierung ebenso einseitig wie diejenige Descartes’ als Empfindungstheoretiker. Aristoteles führt in seiner Schrift Über die Seele (I 1, 403a 2 ff.) aus, daß der Geist
nicht ohne Körper affiziert und aktiv werden kann. Emotionen können daher auch nicht
ohne Hinweis auf ein körperliches Substrat erklärt werden. G. Patzig (2000, 17 ff.) zeigt,
276
Monika Betzler
Zum andern gelten Emotionen als kognitiv durchlässig. Daß emotionale
Einstellungen kritisiert und korrigiert werden können, wird aufgrund ihrer
Beziehung zu Meinungen und Urteilen einsichtig. Wenn sich die Meinungen
oder Urteile als falsch erweisen und wir somit einen epistemischen Fehler
begehen und entdecken, werden wir die entsprechende Emotion – wenn
vielleicht auch langsam – aufgeben.28 Wenn meine Meinung oder mein Urteil über einen bestimmten Sachverhalt falsch ist – ich kann mich schließlich
täuschen – gilt die entsprechende Emotion nämlich als ungerechtfertigt. Sie
kann somit mit Hilfe überprüfbarer Standards kritisiert werden. Damit sind
jedoch unterschiedliche Bewertungen emotionaler Einstellungen kompatibel,
je nach dem, ob ihr Zusammenhang mit richtigen Urteilen oder wahren
Meinungen für möglich erachtet wird.29
Heinzens Stolz wird aufhören, wenn sich z. B. herausstellt, daß er sich
verhört hat und anstatt ihm sein Kollege befördert wurde. Katrins Scham
wird ebenso nachlassen, wenn der von ihr geglaubte Ausrutscher von den
anderen als besonders charmante oder witzige Geste interpretiert wird.
Schließlich ist ihre Scham durch die Meinung verursacht, daß ihr Verhalten
als sozial unpassend betrachtet wird. Erweist sich diese Meinung als falsch,
muß sich, so die kognitive These, das Gefühl entsprechend verändern.
Wenn sich herausstellen sollte, daß es sich um ein lebensgroßes Plüschtier
handelt, das einen Löwen darstellt, ist Erwins Furcht irrational. Sie wird sich
auch angesichts des Artefakts, auf das sie sich gerichtet hat, verflüchtigen.
Die kognitive Theorie muß sich folglich an ihren beiden Grundannahmen prüfen lassen: Kann die Intentionalität von Emotionen adäquat durch
propositionale Einstellungen wie Meinungen und Urteile gefaßt werden?
Sind Emotionen tatsächlich kognitiv durchlässig und somit durch Meinungen und Urteile kontrollierbar? Um diese Fragen zu beantworten, ist es
wichtig zu eruieren, welcher genauere Zusammenhang zwischen Meinungen,
Urteilen und emotionalen Einstellungen bestehen kann. Es sind drei verschiedene Auffassungen über die Beziehung von Emotionen zu kognitiven
Zuständen wie Urteilen und Meinungen denkbar:
daß Aristoteles auch Qualia berücksichtigt. Die Stoiker haben in der Antike die entwikkeltste kognitive Theorie emotionaler Einstellungen vertreten, die jedoch nur in Fragmenten überliefert ist (vgl. A. A. Long und D. N. Sedley (1987) The Hellenistic Philosophers,
Bd. 1, 410-423).
28 Nach R. DeSousa (1987, 165f.) reagieren Emotionen sogar stärker auf veränderte Meinungen als Wünsche.
29 Während Aristoteles z. B. meint, Emotionen sollen in ihrer angemessenen Form kultiviert werden, vertreten die Stoiker die Meinung, sie seien falsche Urteile und daher irrational.
Vernunft und Leidenschaft
(1)
(2)
(3)
277
Emotionen werden mit Urteilen oder Meinungen über das Objekt,
auf das sie sich richten, gleichgesetzt:30 Das Urteil, daß ich falsch gehandelt habe, obwohl ich anders hätte handeln können, impliziert
dann z. B. das Gefühl der Reue.
Emotionen rufen Urteile und Meinungen über ihr Objekt hervor:31
Sie können demzufolge Meinungen „machen“. So kann ein Politiker,
der Angst vor Ausländern schürt, über diese Emotion bewirken, daß
die angesprochenen Personen zu dem Urteil gelangen, Ausländer seien gefährlich. Oder: Wenn ich Furcht im Flugzeug empfinde, kann
ich zu der Meinung gelangen, Fliegen sei gefährlich.
Emotionen basieren auf Urteilen und Meinungen über ihr Objekt:32
Die Meinung, daß ein Einbrecher im Haus ist, verursacht den Erregungszustand der Furcht.
Während es sich im ersten Fall um ein konstitutives Verhältnis handelt, stehen Emotionen und kognitive Zustände in (2) und (3) in einer kausalen Beziehung. Nur (1) und (3) stellen jedoch eine kognitive Auffassung im engeren Sinne dar, da Emotionen durch kognitive Zustände erklärt werden. (2)
setzt dagegen nicht voraus, daß Emotionen durch Meinungen und Urteile
bestimmt sind. Es wird Emotionen vielmehr selbst die kausale Kraft zugeschrieben, kognitive Zustände zu verursachen. Eine kognitive Theorie impliziert, daß Emotionen Urteile und/oder Meinungen sind oder durch diese
verursacht werden. Im ersten Fall sind kognitive Zustände notwendig und
zugleich hinreichend. Im dritten Fall stellen sie lediglich notwendige, aber
keine hinreichende Bedingungen dar. Die Erklärung emotionaler Einstellungen durch kognitive Zustände ist jedoch in beiden Fällen aus folgenden
Gründen unzureichend:
Propositionale Einstellungen wie Meinungen und Urteile sind zum einen
keine notwendigen Bedingungen, um Emotionen zu erklären.33 Abgesehen
davon, daß es selbst objektlose Emotionen wie z. B. die Gemütszustände
der Traurigkeit oder Ängstlichkeit gibt, die auf keiner Meinung basieren,
setzt auch die Gerichtetheit einer Emotion auf ein Objekt keine propositionalen Einstellungen voraus. Erwins Furcht bezieht sich zwar auf den Lö30 Diese Auffassung vertreten R. Solomon (1976, Kap. 7) und M. Nussbaum (1997).
31 So geht Aristoteles in der Rhetorik (II, 2) davon aus, daß Emotionen die Kraft besitzen,
Urteile hervorzurufen und zu verändern; vgl. auch M. Stocker mit E. Hegeman (1996,
56-87).
32 Vgl. dazu D. Davidson (1976), G. Taylor (1985, 1-16), W. Lyons (1980, 70-91), R. Gordon (1987, Kap. 2) und M. Stocker mit E. Hegeman (1996, 56-87).
33 Dies moniert z. B. J. Deigh (1994, 829-30); vgl. auch J. Pugmire (1998, 30) und D. Farrell
(1988).
278
Monika Betzler
wen. Er muß jedoch weder die Meinung haben, daß Raubkatzen Menschen
zerfleischen noch urteilen, daß sie gefährlich sind. Der bloße Anblick des
Tieres mag Furcht erzeugen, selbst wenn Erwin vorher noch nie Löwen gesehen hat und nichts über deren Aggressivität weiß.34 Zahlreiche Emotionen
wie Liebe, Haß oder Furcht können auf „non-propositionale Objekte“ wie
Lebewesen, Aktivitäten oder Ereignisse gerichtet sein.35 Emotionen müssen
daher nicht notwendigerweise durch propositionale Einstellungen wie Urteile und Meinungen verursacht werden.
Urteile und Meinungen sind auch nicht hinreichend, um emotionale Einstellungen zu individuieren. Sie lassen Emotionen daher unterbestimmt. Da
längst nicht alle Meinungen oder Urteile Emotionen verursachen, bleibt eine
Erklärungslücke bezüglich der Frage, welche kognitiven Zustände diese kausale Kraft besitzen und welche Eigenschaften sie von anderen Meinungen
oder Urteilen unterscheiden, die über diese Kraft nicht verfügen.
So mag Heinz meinen, daß er befördert wurde und urteilen, daß Beförderungen eine gute Sache sind, ohne jemals eine emotionale Einstellung zu
diesem Sachverhalt einzunehmen. Die mit dem Urteil verbundene Wertung
bleibt dann ganz emotionslos. Die Gründe hierfür mögen vielfältig sein. Er
mag einfach keine Person mit starken emotionalen Dispositionen oder einem hohen Selbstwertgefühl sein. Er mag die Beförderung auch mit anderen
Standards, z. B. aufgrund von Fairneßüberlegungen werten, daß die Beförderung seiner Meinung nach sein Kollege mehr verdient hätte. Seine Wertung kann auch einfach pragmatisch sein. Er mag z. B. seine Beförderung
lediglich gut finden, weil er seine Familie dadurch besser finanziell versorgt
weiß. Die positive Bewertung seiner Beförderung erfolgt aber nicht notwendigerweise aufgrund der Tatsache, daß er selbst eine lobenswerte Eigenschaft – nämlich befördert worden zu sein – besitzt. In diesem Fall bewertet
Heinz seine Beförderung nicht positiv, weil sie ihn selbst lobenswerter
macht, sondern weil er durch sie ein von ihm wertgeschätztes Ziel besser
verfolgen kann. Diesen Unterschied kann die kognitive Theorie jedoch nicht
berücksichtigen. Meinung und Wertung können die spezifisch affektive Natur des Stolzes daher gar nicht erklären, da sie nicht notwendigerweise Emotionen verursachen.36
34 Der Hinweis, daß sich im „Hintergrund“ solcher reflexhafter Emotionen doch Urteile
befinden, scheint mir ebenso ad hoc wie der Versuch, nicht urteilsbasierte Einstellungen
aus dem Emotionsbegriff zu verbannen (vgl. W. Lyons (1980, 86 ff.). G. Madell (1997,
153) rekurriert aus diesem Grunde auf intentionale Empfindungen, die er als „feeling towards“ charakterisiert „which are indissolubly both intentional and affective“.
35 Vgl. I. Thalberg (1964, 292 ff.). W. Lyons (1980, 75 f.) meint hingegen, daß das Objekt
von Emotionen in solchen Fällen vage ist.
36 Zur Kritik an der kognitiven Theorie vgl. M. Stocker mit E. Hegeman (1996, 17-55),
W. Lyons (1980, 53-69), R. A. Nash (1989, 482-493) und P. Griffiths (1997, 21-43).
Vernunft und Leidenschaft
279
Aus dem Urteil Erwins, daß ein Tier gefährlich ist, folgt ferner nicht, daß
er fliehen sollte. Manche Vertreter der kognitiven Theorie gestehen zu, daß
Urteile und Meinungen allein nicht zum Handeln motivieren können. Sie
nehmen den Meinungen entsprechende Wünsche an, um sowohl die phänomenale Qualität als auch den motivationalen Charakter vieler Emotionen
zu berücksichtigen.37
Vor allem die Wünschen eigene Stärke soll den Empfindungscharakter
emotionaler Einstellungen ausdrücken.38 Doch auch diese Reparatur kann
Emotionen nicht hinreichend erklären. Starke Wünsche sind zwar phänomenal deutlicher wahrnehmbar. Es handelt sich bei derartigen Wünschen
allerdings um rein hedonistische Wünsche der Lustbefriedigung bzw. Unlustvermeidung. Es gibt jedoch zahlreiche Emotionen, deren phänomenale
Qualität nicht dadurch erklärt werden kann. So sind beispielsweise Gefühle
der Freude, nachdem ein Wunsch befriedigt wurde, gerade nicht dadurch
charakterisierbar. Ebensowenig scheint die phänomenale Qualität reaktiver
Emotionen wie Schuld und Trauer mit derjenigen starker Wünsche vergleichbar, die auf Befriedigung drängen. Zwar sind auch Emotionen unterschiedlich intensiv. Ihr phänomenaler Charakter läßt sich jedoch nicht notwendigerweise durch die Stärke von befriedigungsorientierten Wünschen
beschreiben.39 Zudem gibt es starke Wünsche, die nicht emotional sind. Die
Annahme von Wünschen kann folglich die phänomenale Qualität emotionaler Einstellungen nicht adäquat erklären.
Eine weitere Beschränkung der kognitiven Theorie betrifft die von ihr
ermöglichte Form rationaler Kritik. Aufgrund der behaupteten Beziehung
emotionaler Einstellungen zu Meinungen bleibt ihre mögliche Kritik ausschließlich epistemisch. Wenn Katrins Scham beispielsweise ihrer Meinung
widerspricht, derzufolge soziale Anerkennung unbedeutend ist, beruht sie
auf einem epistemischen Fehler. Die Emotion ist nicht mit dem Urteil kongruent, das ihr zugrunde liegt.
Es scheint unmittelbar einleuchtend, daß sich Phobien und zwanghafte
Zustände aufgrund ihrer mangelnden kognitiven Durchlässigkeit kritisieren
lassen. Die panische Angst vor Spinnen, die wider besseres Wissen anhält
und somit nicht mit den Urteilen der betreffenden Person kongruent ist,
kann folglich als irrational kritisiert werden. Doch dies gilt nicht gleichermaßen für alle Emotionen.
So könnte das träge Andauern emotionaler Einstellungen im Lichte von
ihnen widersprechender Urteile in manchen Fällen auch als Ausdruck der
37 Vgl. W. Lyons (1980, 53-69 und 92-98) sowie D. Davidson (1976, 189 ff.).
38 Vgl. J. Marks (1982) und P. Greenspan (1988, 15-17).
39 Selbst Wünsche sind nicht unbedingt aufgrund ihrer Stärke differenzierbar. Der Wunsch,
moralisch zu sein, kann z. B. stärker wiegen als der intensiver spürbare Wunsch nach Befriedigung eines Triebs.
280
Monika Betzler
eigentlichen Wertungen einer Person gelten, die darauf hinweisen, daß ihre
bewußten Urteile falsch sind.40 Die kognitive Analyse gesteht emotionalen
Einstellungen jedoch keine korrektive Funktion gegenüber Urteilen zu. Daß
sie jedoch träge auf ihnen widersprechende Meinungen reagieren, kann sie
auch nicht erklären. Es wäre zumindest ebenso denkbar, daß die emotionale
Einstellung unsere Urteile und Meinungen erst offenbart, während ihr widersprechende Meinungen und Urteile sich dann als falsch erweisen. Es wäre dann zu klären, aufgrund welcher Kriterien emotionale Einstellungen unsere bewußten Meinungen und Urteile zu korrigieren vermögen und insofern eine „affektive Kritik“ äußern.41 Angenommen, Erwin fürchtet sich vor
dem Löwen, obwohl es sich um ein domptiertes Tier handelt, das obendrein
in einem Käfig sitzt, und er folglich weiß, daß weder das Tier noch die Situation insgesamt gefährlich sind. Seine Furcht wäre der kognitiven Theorie
zufolge irrational. Sie wäre allenfalls Ausdruck einer Phobie. Die Emotion
könnte jedoch ebenso eine Reaktion auf eine Situation darstellen, die nur auf
den ersten Blick sicher scheint. Da der Preis bei einem möglichen Irrtum
sehr hoch wäre – schließlich ist ja denkbar, daß die Tür des Käfigs nicht fest
verschlossen ist, und selbst gebändigte Löwen bleiben wilde Tiere mit unvorhersehbarer Aggressivität –, könnte es für die Sicherheit des eigenen Lebens nur klug sein, trotz gegenteiliger momentaner Meinungen furchtsam zu
sein.
Die kognitive Theorie scheint zwar gegenüber der Empfindungstheorie
den Vorteil zu haben, die Intentionalität und rationale Kritisierbarkeit erklären zu können. Auch wenn die Beziehung emotionaler Einstellungen zu kognitiven Zuständen in vielen Fällen nicht bestritten werden kann, lassen sie
sich aber nicht darauf reduzieren. Ihre Intentionalität setzt keine propositionalen Einstellungen voraus. Ebensowenig überzeugend ist, daß Emotionen
lediglich epistemisch kritisiert werden können. Diese Diagnose kann als
Ausgangspunkt für eine zukünftige Analyse emotionaler Einstellungen dienen.
4. SCHLUSSBETRACHTUNG
Die Analyse emotionaler Einstellungen ist von dem Bestreben gekennzeichnet, Bedingungen ausfindig zu machen, die notwendig und gemeinsam hinreichend sind, um eine Einstellung bzw. einen mentalen Zustand als Emoti40 Diese Auffassung vertritt z. B. H. Frankfurt (1997). Vgl. auch I. Thalberg (1977, 31-41),
der zu zeigen versucht, daß Emotionen nicht „falsch“ sein müssen, wenn sie auf falschen
Meinungen basieren.
41 Wie dies aussehen könnte, führe ich aus in M. Betzler (2001).
Vernunft und Leidenschaft
281
on zu bestimmen. Eine zentrale Kontroverse besteht hierbei darin, ob Emotionen kognitiv oder non-kognitiv, d. h. als evaluative Einstellungen mit
propositionalem Gehalt oder als reine Empfindungen körperlicher Erregungszustände angemessener aufgefaßt werden. Ich habe dafür argumentiert, daß beide Auffassungen zu kurz greifen. Als ein Vorteil der kognitiven
Theorie erweist sich jedoch, daß sie die rationale Kritisierbarkeit emotionaler
Einstellungen besser berücksichtigen kann.
Um der Tatsache gerecht zu werden, daß Emotionen auf Objekte gerichtet sind, sah sich die kognitive Theorie veranlaßt, propositionale Einstellungen, wie Meinungen, Urteile und Wünsche, als die geeigneten kognitiven
Zustände anzunehmen. Es hat sich jedoch ergeben, daß zahlreiche Emotionen auf keinen propositionalen Einstellungen basieren, obwohl sie auf Objekte gerichtet sind. Ein weiteres Problem besteht darin, daß Meinungen und
Urteile weder die phänomenale Qualität noch die Trägheit, die für viele
Emotionen typisch ist, berücksichtigen und erklären können. Die zusätzliche
Annahme von Wünschen scheint aufgrund der wunschspezifischen Erfüllungsbedingungen ungeeignet.
Die meisten Emotionen besitzen phänomenale Qualität und sind zugleich intentional auf Objekte, Sachverhalte oder Personen gerichtet. Eine
angemessene Erklärung emotionaler Einstellungen muß daher beide Eigenschaften berücksichtigen und zeigen, in welcher Beziehung sie miteinander
kompatibel sein könnten. Hierbei bedarf es vor allem weiterer Klärung, inwiefern Empfindungen intentional sein können,42 bzw. inwiefern Intentionalität nicht notwendigerweise propositionale Einstellungen voraussetzt.43
Die gegenwärtige philosophische Emotionstheorie zeugt teilweise von
dem Bestreben, einen Kompromiß zwischen diesen ursprünglich kontroversen Positionen zu erzielen. Es lassen sich ebenso Versuche beobachten, den
genaueren Zusammenhang, aber auch den Unterschied zwischen bestimmten Klassen von Emotionen und intentionalen Einstellungen wie Wünschen,
Dispositionen, Wertungen und Meinungen herauszuarbeiten.44
42 Vgl. G. Madell (1997), D. Pugmire (1998, 55-133) und P. Goldie (2000, 78 ff.).
43 R. Wollheim (1999, 1-68) versucht in diesem Sinne den Zusammenhang von Wünschen
und Emotionen genauer zu konturieren. Vgl. auch G. Soldati (2000, 125), der den Zusammenhang von Empfindungen bzw. Wahrnehmungen und Meinungen genauer untersucht.
44 P. Goldie (2000, Kap. 2) bemüht sich darum zu zeigen, inwiefern sich Emotionen von
Wünschen und Meinungen unterscheiden, und rekurriert hierbei auf ihre narrative Struktur. J. Neu (2000, 14-129) geht davon aus, daß Komplexe von Empfindungen, Wünschen, Verhalten und Meinungen unter bestimmten Umständen als Emotionen interpretiert werden.
282
Monika Betzler
Der Versuch, Emotionen analog zu Wünschen zu fassen, scheitert jedoch insofern, als ihre Erfüllungsbedingungen zumindest teilweise verschieden und gerade in ihrem Unterschied bis heute wenig ausgelotet sind.45 Da
dies einer umfassenden Analyse bedarf, kann ich hier nur auf zwei wichtige
Unterschiede verweisen. Wünsche werden generell danach beurteilt, ob sie
erfüllt oder befriedigt werden. Sie besitzen hierbei einen instrumentellen
Wert in der Herbeiführung eines gegenüber dem jetzigen Zustand als besser
erachteten Zustands in der Zukunft. Viele Emotionen sind dagegen reaktiv
auf vergangene Handlungen oder an Personen gerichtet, ohne einen derartigen motivationalen Charakter zu besitzen.46 Sie motivieren weder zur Erlangung eines bestimmten Zustands noch sind sie reine Mittel zur Erlangung
eines von ihnen unabhängigen Zwecks.47
Eine Emotion wie Trauer richtet sich z. B. auf den Verlust einer Person.
Sie zielt weder auf einen anderen Zustand noch kann sie durch Wünsche
erklärt werden. Liebe kann zwar von Wünschen begleitet sein, etwa dem
Wunsch, daß es der geliebten Person gut gehen möge. Sie kann jedoch nicht
durch Wünsche erschöpfend beschrieben werden. Schließlich können andere Personen geliebt, aber nicht gewünscht werden. Im Gegensatz zu Wünschen kann eine emotionale Einstellung wie Liebe zwischenmenschliche
Beziehungen konstituieren.
Da das gegenwärtige Standardmodell praktischer Rationalität Handlungen als rational ausweist, die durch die Meinungen und Wünsche der handelnden Person motiviert und verursacht sind,48 verspricht eine weiterführende Untersuchung, die die Eigenständigkeit emotionaler Einstellungen
gegenüber Wünschen und Meinungen aufzeigt, die Reichweite praktischer
Rationalität weiter aufzuklären und auf dieser Basis auch Fragen der Rechtfertigung moralischen Handelns zu beantworten.
Sofern Emotionen eine Rolle für unser (ggf. moralisches) Handeln und
Entscheiden spielen, ist zu klären, ob sie zur Rationalität unseres Handelns
und Entscheidens beitragen. Die Antwort auf diese Frage hängt selbst wesentlich davon ab, wie Emotionen auch im Unterschied zu Wünschen, Meinungen und Urteilen definiert werden.
45 Wünsche selbst können hierbei rational als Folge von Meinungen oder als eine Art unmittelbarer Empfindung aufgefaßt werden. In beiden Fällen unterscheiden sich viele
Emotionen von ihnen.
46 R. Gordon (1987, Kap. 3 u. 4) unterscheidet daher zwischen sogenannten „faktischen“
und „epistemischen“ Emotionen.
47 Wenn Emotionen daher aufgrund ihres instrumentellen Werts ausgezeichnet werden,
z. B. eine Entscheidungshilfe in ansonsten allzu langwierigen Abwägungsprozessen zu
sein, werden sie in ihrer Funktion deutlich verkürzt. Eine solche Auffassung vertritt z. B.
J. Elster (1999, 239-328). Außerdem wird in einem solchen Fall einfach ein nonkognitiver Begriff emotionaler Einstellungen vorausgesetzt.
48 Vgl. D. Davidson (1963).
Vernunft und Leidenschaft
283
Wie ich eingangs erwähnte, ist ein adäquater Begriff emotionaler Einstellungen nicht nur für zentrale Projekte der praktischen Philosophie, sondern
auch für zentrale Themen der Philosophie des Geistes relevant. Die Auswirkungen, die eine angemessene Konzeption emotionaler Einstellungen auf
den Zusammenhang von Körper und Geist sowie auf die Kompatibilität
von körperlicher Verursachung und alltagspsychologischer Erklärung besitzt, konnte ich hier nicht ausführlich thematisieren. Es gibt allerdings bisher wenige Versuche, diese Fragen mit Hilfe einer Konzeption emotionaler
Einstellungen zu beantworten.
Ein adäquater Begriff emotionaler Einstellungen, der ihre Eigenständigkeit im Gegensatz zu Meinungen und Wünschen einerseits und über bloße
Empfindungen hinaus andererseits berücksichtigt, stellt nach wie vor ein
Desiderat dar. Er könnte die Reichweite praktischer Rationalität sowie die
Funktion mentaler Einstellungen weiter aufklären helfen.49
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49 Für hilfreiche Kommentare zu früheren Versionen dieses Beitrags danke ich Barbara
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Jan Slaby
SKLAVEN DER LEIDENSCHAFT?
ÜBERLEGUNGEN ZU DEN AFFEKTLEHREN VON
KANT UND HUME
D
ie Annahme, wir seien heute bezüglich einer Bestimmung des
„Inventars des Mentalen“ in einer besseren Position als die Klassiker der Philosophiegeschichte, ist nur zum Teil korrekt. Was wir
auf unseren Landkarten des Geistes verzeichnen, welche mentalen Strukturen, Fähigkeiten und Eigenschaften wir annehmen und wie wir ihre Funktionsweisen sowie den Zusammenhang zwischen ihnen konzipieren, sind
nämlich noch weitgehend offene Fragen. Das gilt nicht nur trotz, sondern
auch gerade wegen der großen Fortschritte in der Hirnforschung und den
Kognitionswissenschaften: Die schiere Mannigfaltigkeit der Ansätze, die
Vielfalt neuer technischer Untersuchungsverfahren, die Pluralität der Disziplinen, die alle zum Verständnis des „Geist-Gehirn-Komplexes“ beitragen
wollen und die zahlreichen dort erzielten Resultate führen zu einem Zustand, den ein amerikanisches Sprichwort leicht überspitzt auf den Punkt
bringt: The more you know, the less you understand. Bahnbrechendes Wissen
über Gehirnprozesse und mentale Zusammenhänge aller Art liegt vor, doch
die Integration der zahlreichen Spezialkenntnisse in ein fundiertes, einheitliches Bild von Geist und Kognition läßt auf sich warten.1
Es kann demnach nicht irrelevant sein, den historischen Vorläufern unserer Disziplinen Gehör zu schenken. Im Folgenden werde ich die Affektbzw. Gefühlstheorien von Kant und Hume mit dem Ziel untersuchen, aus
den Positionen dieser Denker Antworten auf eine zentrale Frage der philosophischen Debatte über den Status von Emotion und Vernunft im
menschlichen Geist und in der Genese menschlichen Handelns zu gewinnen: Stehen die Emotionen der Vernunft, wie oft angenommen, als Widersacher gegenüber, oder führt diese Stilisierung in die Irre, da die Emotionen
1
„How the mind works“ wissen zur Zeit nur Popularisierer wie Steven Pinker (1997); Leute
mit etwas mehr Problembewußtsein müssen hingegen mit Jerry Fodor entgegnen: „The
Mind doesn’t work that way“ (2000) und zugeben, daß sie es jedenfalls noch nicht wissen.
288
Jan Slaby
eine entscheidende Rolle für das menschliche Entscheiden und Handeln
spielen und die Vernunft daher essentiell auf ihren Beitrag angewiesen ist?2
Wie sich im Folgenden zeigen wird, stehen sich zwei fundamental unterschiedliche Herangehensweisen gegenüber. Höhepunkt der Gegensätzlichkeit sind die konträren Ansichten bezüglich des klassischen Topos, demzufolge Vernunft und Leidenschaft ewige Widersacher im Kampf um Willensbildung und Handlungskontrolle seien. Kant macht die Annahme eines
solchen Seelenkonflikts zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen – die
gegensätzlichen Vermögen „Vernunft“ und „Neigung“ bilden die Achsen
eines Koordinatensystems, in dem er die für ihn interessanten Phänomene
lokalisiert (Abschnitt 1). Hume hingegen propagiert einen radikalen Bruch
mit der klassischen Konzeption; in seiner Handlungstheorie bilden die „Leidenschaften“ den entscheidenden Motivationsfaktor, während die Vernunft
auf den Status eines instrumentellen Hilfsvermögens relegiert, zum sprichwörtlichen „Sklaven der Leidenschaft“ erklärt wird (Abschnitt 2).
Neben einer Untersuchung der konträren inhaltlichen Positionen ist zudem die spezifische Weise von Interesse, in der die beiden Autoren ihr
Thema jeweils angehen. Anhand einiger kurzer Bemerkungen zur Emotionstheorie Antonio R. Damasios werde ich abschließend illustrieren, inwiefern der hier zutage tretende Unterschied für aktuelle Behandlungen des
Themas relevant ist (Abschnitt 3).
KANT: KABINETT DER ALLTAGSPATHOLOGIEN
Wie kaum anders zu erwarten, ist Kant kein Freund von Affekten und Leidenschaften. Ihnen unterworfen zu sein sei „Krankheit des Gemüts“ (§ 73,
251),3 sie seien wie „Verkrüppelung“ oder wie „Wahnsinn“ anzusehen (§ 74,
253), es handele sich bei ihnen geradezu um „Krebsschäden für die reine
praktische Vernunft“ (§ 81, 266) und überdies gebe es für den von ihnen
Befallenen wenig Aussicht auf Heilung, höchstens ließen sich ihre Symptome durch „Palliativmittel“ (§ 80, 266) notdürftig lindern. Insbesondere an
den Leidenschaften läßt Kant kein grünes Blatt – während Affekte sich
rasch verflüchtigten und eher „wie ein Rausch [sind], den man ausschläft,
obgleich Kopfweh darauf folgt“ (§ 74, 252), seien Leidenschaften Fälle für
2
Ich werde dabei die historische Chronologie mißachten und Kant vor Hume betrachten.
Diese Reihenfolge hat systematische Gründe und kann als Hinweis darauf gewertet werden, daß die folgenden Bemerkungen weniger philosophiehistorisch als vielmehr problemorientiert verstanden werden sollen.
3
Alle Kant-Zitate beziehen sich auf dessen Anthropologie in pragmatischer Hinsicht
(1798), zitiert nach der Akademie-Ausgabe, Band VII (Berlin 1907). In Klammern hinter
den Zitaten jeweils Paragraph- und Seitenangabe.
Sklaven der Leidenschaft?
289
den „Seelenarzt“, der aber zumeist machtlos bleibe (ibid.). Diese Bemerkungen mögen aus heutiger Sicht wie die überzogenen Vorstellungen eines professoralen Gemüts erscheinen, als Ausdruck einer „déformation professionelle“
des in die Jahre gekommenen Vernunftphilosophen – doch wie ich mit den
folgenden Ausführungen zeigen möchte, lohnt sich ein genaueres Hinsehen
durchaus.
Zunächst einmal ist es keineswegs die Hauptabsicht Kants, eine Theorie
der Gefühle oder der Emotionen aufzustellen. Was er zu den Affekten und
Leidenschaften zu sagen hat, steht im Kontext einer Untersuchung des „Begehrungsvermögens“ – man könnte sagen: im Kontext einer Theorie natürlicher Motivation. Der Grundbegriff in diesem Zusammenhang ist der der
sinnlichen Begierde mit der als „habitualisierte sinnliche Begierde“ (§ 73, 251)
eingeführten wichtigen Unterkategorie der Neigung. Die Begierde bestimmt
Kant als die „Selbstbestimmung der Kraft eines Subjekts durch die Vorstellung von etwas Künftigem als einer Wirkung derselben“ (§ 73, 251). Begierde ist also die Selbstbestimmung nicht des Subjekts, sondern der Kraft des
Subjekts, womit der Punkt betont ist, daß Begierden unwillkürliche Antriebe
sind, die ungefragt auftreten und das Subjekt auf ein Ziel hin drängen, das
dieses sich nicht selbst gesetzt hat (etwa durch rationale Überlegung).
An der Definition von Begierde ist eine zentrale begriffliche Weichenstellung abzulesen, die bei Kants Bestimmung der Kategorie „Leidenschaft“
noch deutlicher zum Vorschein kommt: „Die durch die Vernunft des Subjekts schwer oder gar nicht bezwingliche Neigung ist Leidenschaft“ ((§ 73,
251). Vernunft und Begierde (bzw. Neigung) liegen also von Hause aus im
Clinch, und Leidenschaften sind genau die Zustände, bei denen die Vernunft dauerhaft unterlegen ist, bei denen die Neigung sich also ungebremst
Bahn brechen und beständig handlungswirksam werden kann.
Auch die Affekte charakterisiert Kant durch die inhibitorische Wirkung,
die sie auf den „Vernunftgebrauch“ ausüben; allerdings ist in ihrem Fall
nicht „Begierde“ das genus proximum, sondern ein momentaner Gefühlszustand: „Dagegen ist das Gefühl einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen
Zustande, welches im Subjekt die Überlegung (die Vernunftvorstellung, ob
man sich ihm überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen läßt, der
Affekt“ (§ 73, 251).4 Aus der Analyse von Lust und Unlust, die Kant im
Buch II geliefert hat, geht jedoch hervor, daß auch für diese beiden basalen,
den Affekten zugrunde liegenden Zustände die Handlungstendenz ein ent4
Vgl. auch Kritik der Urteilskraft, § 29, Allgemeine. Anmerkung: „Affekten sind von Leidenschaften spezifisch unterschieden. Jene beziehen sich bloß auf das Gefühl; diese gehören dem Begehrungsvermögen an und sind Neigungen, welche alle Bestimmbarkeit
der Willkür durch Grundsätze erschweren oder unmöglich machen. Jene sind stürmisch
und unvorsätzlich, jene anhaltend und überlegt: so ist der Unwille, als Zorn, ein Affekt;
aber Haß (Rachgier) eine Leidenschaft“ (Fußnote S. 119 f.).
290
Jan Slaby
scheidendes Merkmal ist – insbesondere der mit Unlust identifizierte Schmerz
ist laut Kant der Motivationszustand par excellence:5 „Der Schmerz ist der
Stachel der Tätigkeit, und in dieser fühlen wir allererst unser Leben; ohne
diesen würde Leblosigkeit eintreten“ (§ 60, 231). Auch der komplementäre
Zustand der Lust wird durch die Handlungstendenz, sich nach Möglichkeit
in ihm zu halten, charakterisiert.6
Leidenschaften sind also grundlegende, die vernünftige Überlegung ausschaltende, zeitlich stabile Antriebe; Affekte kurzfristige, mit eindeutigen
Handlungstendenzen verbundene Gefühlszustände. Die Tatsache, daß es
sich bei beiden Zustandstypen um „Vernunftinhibitoren“ handelt, ist nun
offensichtlich dafür verantwortlich, daß Kant sie beide als „Krankheiten des
Gemüts“ brandmarkt – wobei er die Leidenschaften aufgrund ihrer Stabilität
und dem Umstand, daß „sie sich mit der ruhigsten Überlegung zusammenpaaren lassen“ und daß sie „selbst mit dem Vernünfteln zusammen bestehen können“ (§ 80, 265) für bedeutend gefährlicher hält.
Im Gegensatz zu den Affekten bahnen sich die Leidenschaften ihren
Weg nämlich in gewisser Weise durch den Verstand – sie verleiten das Subjekt dazu, auf völlig rationalem Wege ein irrationales Ziel zu verfolgen bzw.
ein Ziel auf Kosten aller anderen möglichen und sinnvollen Ziele zu privilegieren. In Kants Worten: „Leidenschaft setzt immer eine Maxime des Subjekts voraus, nach einem von der Neigung ihm vorgeschriebenen Zwecke zu
handeln. Sie ist also jederzeit mit der Vernunft desselben verbunden.“ (§ 80,
266) Und kurz darauf heißt es, daß sich der „Kranke“ – d. h. der von einer
Leidenschaft „Befallene“ – nicht heilen lassen will, weil er sich der Herrschaft des einzigen Grundsatzes entziehe, durch den dies geschehen könne.
Der Grundsatz lautet: „[N]icht einer Neigung zu Gefallen die übrigen alle in
den Schatten oder in den Winkel zu stellen, sondern darauf zu sehen, daß sie
mit der Summe aller Neigungen zusammen bestehen könne“ (§ 81, 266).7
5
„Schmerz ist die Unlust durch den Sinn, und was jenen hervorbringt, ist unangenehm“
(§ 60, 230).
6
„[W]as ebenso mich antreibt, [meinen Zustand] zu erhalten (in ihm zu bleiben): ist mir
angenehm, es vergnügt mich“ (§ 60, 231). – Unter der Kategorie des Affekts versammelt
Kant dann den größten Teil derjenigen Zustände, von denen eine Gefühls- bzw. Emotionstheorie handeln sollte: Freude, Zorn, Scham, Furchtsamkeit etc. (vgl. § 76-79).
7
Kant illustriert dies an einem Beispiel: „Die Ehrbegierde eines Menschen mag immer
eine durch die Vernunft gebilligte Richtung seiner Neigung sein; aber der Ehrbegierige
will doch auch von anderen geliebt sein, er bedarf gefälligen Umgang mit anderen, Erhaltung seines Vermögenszustandes u.d.g. mehr. Ist er nun aber leidenschaftlich-ehrbegierig, so
ist er blind für diese Zwecke, dazu ihn doch seine Neigungen gleichfalls einladen, und
daß er von anderen gehaßt, oder im Umgange geflohen zu werden, oder durch Aufwand
zu verarmen Gefahr läuft, – das übersieht er alles“ (§ 80, 267). Diese Torheit, „den Teil
seines Zwecks zum Ganzen zu machen“ (ibid.), ist laut Kant das Hauptcharakteristikum
der Leidenschaft.
Sklaven der Leidenschaft?
291
Daß der Vernunftgebrauch auf diese Weise eingeschränkt bzw. von irrational privilegierten Zielen kooptiert wird, ist für Kant gleichbedeutend
damit, daß die Freiheit des handelnden Subjekts verhindert wird. Von Affekten und Leidenschaften affiziert zu sein, bedeutet Unfreiheit. Die Leidenschaft gebe die Freiheit auf und finde „ihre Lust und Befriedigung am
Sklavensinn“ (§ 81, 267).8 Doch sei es keineswegs so, daß der im Bann einer
starken Leidenschaft Befangene nun gleichsam „dumm, aber glücklich“
dahinlebe, sondern er entwickele durchaus ein Bewußtsein seiner Situation,
was seinen Zustand um so bemitleidenswerter erscheinen lasse:
Weil indessen die Vernunft mit ihrem Aufruf zur inneren Freiheit nicht nachläßt, so seufzt der Unglückliche unter seinen Ketten, von denen er sich gleichwohl nicht losreißen kann: weil sie gleichsam schon mit seinen Gliedmaßen
verwachsen sind (§ 81, 267).
*
Betrachtet man all dies nun aus der Perspektive der zahlreichen aktuellen
Arbeiten zum Thema Emotionen, in denen gerade die Überwindung des
althergebrachten Gegensatzes von „Vernunft und Leidenschaft“ propagiert
wird,9 so erscheint Kant als der typische Vertreter der überholten, von philosophischen Vorurteilen durchsetzen Position der Tradition – einer Position, der – so mag es scheinen – aus heutiger Sicht leicht das Wasser abgegraben werden könnte.10 Es gibt aber auch Vorurteile, die einfach stimmen.
Bezüglich Kants Vorgehensweise in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht lassen sich jedenfalls zwei Positionen einnehmen:
Einerseits kann man die Wortverwendung Kants auf unsere heutige,
umgangssprachliche Verwendung von Ausdrücken wie „Affekt“ und „Leidenschaft“ übertragen und dann feststellen, daß er mit seiner ausnahmslosen Pathologisierung dieser Zustände weit über das Ziel hinausschießt. Man
würde Kant also unterstellen, er behaupte, alles, was wir im weitesten Sinne
als „Emotionen“ bezeichnen, sei ein Fall für den Therapeuten und schränke
die innere Freiheit des Subjekts auf eine Weise ein, die zu keinem Zeitpunkt
wünschenswert sein kann. Die Konsequenz dieser Lesart ist klar: Von solch
einer überzogenen Position kann man nichts lernen.
8
Vgl. auch § 82, 269.
9
Vgl. etwa Damasio 1994, de Sousa 1987, Solomon 1976.
10 Auf das Verhältnis der Kantischen zu einer prominenten gegenwärtigen Theorie, nämlich
der von Damasio, gehe ich im 3. Abschnitt näher ein.
292
Jan Slaby
Eine alternative Lesart der relevanten Passagen ließe unser gegenwärtiges
Alltagsverständnis der Emotionswörter außen vor und versuchte einzig,
Kants Wortverwendung soweit wie möglich zu rekonstruieren. Man konstatiert dann einfach, daß es laut Kant zwei Sorten von problematischen motivationalen Zuständen gibt, die beide eine vernünftige Abwägung der Folgen
einer Handlung nicht aufkommen lassen und somit oft zu einem Verhalten
führen, das vom handelnden Subjekt, hätte es die freie Wahl, nicht gewählt
würde. Alsdann kann man die Frage stellen, ob es die Phänomene, auf die
Kants Beschreibungen zutreffen, tatsächlich gibt und falls ja, ob sie hinreichend häufig vorkommen, daß sie eine solch ausführliche Behandlung
rechtfertigten. Der Umstand, daß Kant bei seinen Beschreibungen auf Ausdrücke zurückgreift, die wir inzwischen anders verwenden, sollte in einer
solchen Lesart zwar festgestellt, aber nicht zu einem pauschalen Argument
gegen die Kantische Auffassung gemacht werden.
Ich möchte hier für die zweite Lesart plädieren und feststellen, daß Kant
in der Tat eine interessante und empirisch gehaltvolle Klassifizierung vornimmt. Es gibt schlicht und einfach die Zustände, auf die seine phänomenologische Beschreibung zutrifft. Es sind motivationale Zustände, deren auffälligstes Merkmal eine Handlungswirksamkeit ist, die wider alle vernünftige
Überlegung bezüglich dessen, was langfristig oder in einer gegebenen Situation sinnvoll ist, fortbesteht. Sie als Vernunftverhinderer und Blockierer der
inneren Freiheit zu bezeichnen, trifft den Kern der Sache. Diese Zustände
wirken einer Minimalforderung praktischer Vernunft entgegen: daß nämlich
– wie Kant bemerkt – nicht einem beliebigen Wunsch alle anderen gegenwärtigen und künftig zu erwartenden Wünsche untergeordnet werden sollten. Sie sabotieren ein „rationales Neigungsmanagement“ und lassen eine
Orientierung an langfristig sinnvollen Zielen gar nicht erst aufkommen.
Kants Strategie der Pathologisierung von Emotionszuständen hat phänomenologische Berechtigung; sie trifft etwas, was in der gegenwärtigen Debatte m. E. stark unterbelichtet wird: daß nämlich auch zahlreiche Zustände
unterhalb der Schwelle zur manifesten psychischen Störung bei Lichte besehen krankhafte Züge annehmen.
Im Falle der Affekte wird diesem Sachverhalt allgemein Rechnung getragen. Innerhalb gewisser Grenzen akzeptieren wir es als Entschuldigung, die
uns von Sanktionen absehen läßt, wenn jemand eine verwerfliche Handlung
„im Affekt“ begangen hat. Wir sagen dann etwa: „Sie wußte in diesem Moment vor lauter Eifersucht nicht, was sie tat.“ Oder: „In seiner Wut ließ er
sich zu einer Tat hinreißen, die er unter normalen Umständen niemals begangen hätte.“
Doch auch zeitlich stabile Motivationsstrukturen mit stark irrationalem
Einschlag sind keine Seltenheit: Man stelle sich eine Studentin vor, die aus
übertriebenem Ehrgeiz nichts anderes tut, als ständig über den Büchern zu
sitzen und zu lernen und dabei die meisten anderen Lebensbereiche ver-
Sklaven der Leidenschaft?
293
nachlässigt. Nach und nach vereinsamt sie, weil sie jegliche Kontaktpflege
unterläßt; ihr Gesundheitszustand wird schlechter, weil sie sich nicht sportlich betätigt; sie läßt andere Interessen verkümmern und wird immer eindimensionaler. Wann immer sie den Vorsatz faßt, mal etwas anderes zu tun
und sie daraufhin ihre Studierstube verläßt, beschleicht sie bald ein dermaßen großes Unbehagen, daß sie rasch wieder zu den Büchern zurückkehrt.
So groß auch die akademischen Erfolge der Streberin sein werden, sie wird
ihres Lebens nicht wirklich froh und läuft Gefahr, ernsthaft Schaden zu
nehmen.11
Oder man nehme die von Kant selbst als Beispiel für eine Leidenschaft
erwähnte „Herrschsucht“: Ein vom Bedürfnis nach Dominanz und Kontrolle beherrschter Mann schafft mit der ihm eigenen Aggressivität und
Dynamik den beruflichen Aufstieg. In der Führungsposition angekommen,
wird er zum Schrecken seiner Untergebenen, da er sie kontrolliert und wegen Kleinigkeiten rüde zurechtweist. Er bringt es nicht übers Herz, wichtige
Aufgaben zu delegieren, macht folglich alles selbst und erstickt in Arbeit.
Ein Privatleben hat er nicht; Beziehungen scheitern, weil die Partnerinnen
sein Herumkommandieren und die ständigen Zurechtweisungen bald satt
haben; etc. Weitere Fälle dieser Art ließen sich beliebig anschließen: Spielsucht mitsamt ihren Vorformen, Neigung zu übermäßiger oder stark einseitiger Ernährung, verwurzelter Haß mit dem Hang zur „Vergeltung um jeden
Preis“ bis hin zu seinen gewalttätigen Auswüchsen in Extremismus und
Terrorismus.
Diese Beispiele bilden keineswegs eine klar umrissene psychologische
Kategorie, doch ihnen allen ist gemeinsam, daß es sich um gleichsam „subklinische“, aber sich dennoch äußerst negativ auf die Lebensführung auswirkende, nur schwer zu bezwingende Motivationsstrukturen handelt. Die
Grenze zwischen diesen Alltagspathologien und manifesten Neurosen oder
auch klar diagnostizierbarem Suchtverhalten mag fließend sein – der entscheidende Punkt ist, daß es die Phänomene tatsächlich gibt, die Kant „Leidenschaften“ nennt und daß es sich bei ihnen keineswegs um harmlose
„Charaktereigenschaften“ handelt.
Wo immer etwas als krankhaft bezeichnet wird, muß es einen Maßstab
der Gesundheit, ein Normalitätskriterium geben. Im Falle Kants ist dieses
Kriterium eindeutig bestimmt: Es ist Herrschaft des oben schon erwähnten
Grundsatzes der praktischen Vernunft, „nicht einer Neigung zu Gefallen die
übrigen alle in den Schatten oder in den Winkel zu stellen“ (§ 81, 266). Man
braucht sich also gar nicht im großen Stil auf Kants allgemeine Konzeption
praktischer Vernunft einzulassen, denn bereits dieser Grundsatz liefert ein
11 Dieses Beispiel zeigt, inwiefern Kants Sprachgebrauch von dem unsrigen abweicht:
Übertriebenen Ehrgeiz würden wir nicht zu den Leidenschaften zählen, Kant, so wie ich
ihn verstehe, schon.
294
Jan Slaby
gleichsam minimal normatives Kriterium, eine Art Imperativ des klugen
Neigungsmanagements: Folge einer Neigung nur in dem Maße, in dem sie
sich mit der Summe aller deiner (präsenten und künftigen) Neigungen in
Einklang bringen läßt. Dieser „hypothetische“ Imperativ dient in unserem
Zusammenhang lediglich als ein Negativkriterium zur Identifizierung pathologischer Fälle: Pathologisch sind solche Fälle, in denen das Subjekt diesem
Grundsatz nicht mehr folgen kann.
Was haben wir bis hierher gesehen? Nun, werten wir das, was Kant im
Rahmen seiner Bemerkungen zum Begehrungsvermögen über Affekte und
Leidenschaften sagt, als den Ansatz zu einer Emotionstheorie, dann hat
diese die klassische Gestalt: Affekte und Leidenschaften treten als unliebsame Vernunftverhinderer in Erscheinung, sie verhindern vernünftiges Entscheiden und sind somit in einem wichtigen Sinne irrational. Wir haben
überdies gesehen, daß Kants Phänomen-Klassifizierung eine empirisch gehaltvolle und alltagspsychologisch bedeutsame Interpretation gegeben werden kann.
Verortete man Kant im Spektrum der gegenwärtigen Diskussion um
Emotion und Leidenschaft, so käme er den Vertretern kognitivistischer
Theorien am nächsten. Denn die Zustände, die er betrachtet, bestehen in
erster Linie aus hartnäckig handlungswirksamen Maximen eines Subjekts.
D. h. sie lassen sich in propositionale Form bringen und haben den Charakter von Wünschen oder Zielvorstellungen.12 „Ich muß mehr arbeiten!“ –
„Meine Leistungen müssen besser werden“ – „Ich darf mich nicht ablenken“ – solche und ähnliche Sätze bringen den Gehalt der „Leidenschaft“
der von übersteigertem Ehrgeiz geplagten Studentin auf den Punkt. Zur
Identifikation solcher Zustände ist also eine Perspektive erforderlich, die
einem Subjekt Überzeugungen und Wünsche zuschreibt und diese dann an
(minimalen) Rationalitätsstandards mißt. Pathologische „Leidenschaften“
sind demnach konative Zustände, die regelmäßig zu solchen Handlungen
führen, die diese Rationalitätsstandards verletzten.
HUME: IMPOTENZ DER VERNUNFT
Berühmt sind Humes Invektiven gegen die klassische Sichtweise vom
„Kampf zwischen Affekt und Vernunft“. Ein solcher finde nicht statt – weil
er nämlich gar nicht stattfinden könne. „Reason“ und „passion“ seien zwei
fundamental verschiedene Vermögen, denen es schlicht an der Gemeinsam12 Richard Wollheim betont ebenfalls die sachliche Nähe von Emotionen und Wünschen:
So behauptet er etwa, „[d]aß die Emotionen gleichsam auf den Schultern unserer Wünsche in unser Leben treten“ (Wollheim 2001, 31).
Sklaven der Leidenschaft?
295
keit mangele, die nötig wäre, damit sich sinnvoll von einem Kampf zwischen beiden sprechen ließe. Die Vernunft sei, was die Handlungsmotivation angehe, radikal impotent, sie könne für sich betrachtet niemals zum Motiv einer Handlung werden; während einzig die Leidenschaften13 die nötige
motivationale Kraft aufbrächten. Wenn dem einen der beiden vermeintlichen Antagonisten aber jede eigene Antriebskraft fehlt, so könne man nicht
kohärent davon reden, daß Vernunft und Leidenschaft miteinander um die
Handlungskontrolle ringen würden. Wenn man überhaupt von einem
Kampf reden könne, dann höchstens von einem zwischen entgegengesetzten Gefühlszuständen.
In dieser Zuspitzung der Humeschen Position sind (unter anderem) zwei
wichtige Thesen enthalten:14
1.
2.
Die Vernunft hat keine motivationale Kraft
Emotionen – und nur sie – sind Motivationen
Im folgenden werde ich diese beiden Thesen anhand Humes Ausführungen
in Buch II und III des Treatise of Human Nature erläutern und kritisch diskutieren, diejenigen Elemente seiner Emotionstheorie identifizieren, denen
„alltagsphänomenologische Plausibilität“ zukommt und die Konzeption
schließlich mit zwei Kritikpunkten konfrontieren, die mir einschlägig erscheinen.15
Bei der Demonstration der angeblichen „Impotenz der Vernunft“ wählt
Hume eine unkomplizierte Route. Er definiert Vernunft einfach in einer
Weise, die denkbar weit von jeglichem Handlungsbezug entfernt ist:
Reason is the discovery of truth or falsehood. Truth or falsehood consists in
an agreement or disagreement either to the real relations of ideas, or to the real
existence and matter of fact. Whatever, therefore, is not susceptible of this
agreement or disagreement, is incapable of being true or false, and can never
be an object of our reason (Buch III, 1.1; 458).16
13 Ich verwende „Leidenschaft“ in diesem Abschnitt als Übersetzung von Humes „passion“, womit ich von Kants eigenwilliger Verwendung dieses Wortes abweiche und wieder einem der heutigen Alltagssprache näher stehenden Wortgebrauch folge. Hin und
wieder verwende ich auch das Wort „Emotion“.
14 Darüber hinaus natürlich auch die grundlegende – und keineswegs triviale! – These von
der radikalen Verschiedenheit von Emotion und Vernunft.
15 Mein Verständnis von Humes Auffassung wurde durch die ausgezeichnete Rekonstruktion Dominik Perlers (2001) erleichtert, auch wenn ich seine weitgehend affirmative Haltung bezüglich der Humeschen Position nicht teile.
16 Eine ausführlichere Bestimmung der Vernunft liefert Hume im Enquiry concerning Human
Understanding, Section IV.
296
Jan Slaby
Angesichts dieser Bestimmung von Vernunft ist allerdings noch keineswegs
klar, daß damit die Emotionen etwas fundamental anderes, und demnach
etwas Arationales seien. Wie in der gegenwärtigen Debatte des öfteren behauptet, könnten schließlich auch die Emotionen selbst Kandidaten für
Vernünftigkeit sein – etwa dadurch, daß sie Überzeugungen bzw. Urteile
beinhalten, die wahr oder falsch sein können.17 Genau an dieser Stelle
kommt eines der umstrittensten Elemente der Humeschen Affektenlehre ins
Spiel, nämlich seine These, die Leidenschaften seien „original facts and realities, compleat in themselves, and implying no reference to other passions,
volitions and actions“ (ibid.). Aufgrund dieser Nicht-Referentialität bzw.
Nicht-Repräsentativität gelte dann: „’Tis impossible, therefore, they can be
pronounced either true or false, and be either contrary or conformable to
reason“ (ibid.).
Eine weitere, etwas ausführlichere Version des „Impotenz-Arguments“
erfolgt im Abschnitt 3.3 von Buch II. Dort geht Hume näher auf die zwei
Arten von Verstandestätigkeit ein, die es seiner Ansicht nach gibt – einerseits das Urteilen nach demonstrativen Beweisgründen (d. h. Erkenntnis von
„relations of ideas“), andererseits das Urteilen nach Wahrscheinlichkeit
(d. h. Erkenntnis von „matters of fact“) – und fragt dann beinahe rhetorisch, ob diese beiden Tätigkeiten jemals die Ursache einer Handlung seien
könnten (vgl. S. 413). Zu demonstrativen Urteilen bemerkt er, daß deren
Anwendungsbereich die Welt der Ideen sei, während der Wille uns jederzeit
in den Bereich der Realität versetze. Diese Bereichsunterscheidung zeige,
wie weit Demonstration und Volition auseinander liegen (vgl. S. 414.).
Die zweite Verstandestätigkeit hat zwar Realitätsbezug, doch dieser stehe
ebenfalls nur in äußerst indirektem Zusammenhang mit Handlungen: Flößt
uns nämlich irgendein Gegenstand Lust oder Unlust ein, so ist es dieser
Gefühlszustand, der unsere Handlungstendenz – „to avoid or embrace what
will give us this uneasiness or satisfaction“ (ibid.) – auslöst, während der
Verstand lediglich durch Erkenntnis von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen Informationen darüber beschafft, welche anderen Objekte mit dem lustoder unlusterzeugenden Objekt verbunden sind oder welche Objekte ähnliche Eigenschaften besitzen:
Here then reasoning takes place to discover this relation; and according as our
reasoning varies, our actions receive a subsequent variation. But ’tis evident in
this case, that the impulse arises not from reason, but is only directed by it
(Buch II, 3.3, S. 414).
17 Am pointiertesten vertritt gegenwärtig R. C. Solomon (1976) eine solche Position.
Sklaven der Leidenschaft?
297
Was die Vernunft nicht kann – nämlich den für die Handlung nötigen „Impuls“ geben – muß folglich ein anderes Vermögen leisten. Und dies sei eben
die Aufgabe der Leidenschaften.
Die Vernunft produziert Überzeugungen, aber diese allein reichen nicht
aus, um uns zu Handlungen zu veranlassen. Die Leidenschaften, insbesondere die direkten, sind hingegen intrinsisch motivational.18 Andererseits sind
sie ihrerseits vollkommen arational, weil sie – wie eben gesehen – keine
Kandidaten für Wahrheits- oder Falschheitszuschreibungen sind. Es mache
demnach keinen Sinn, sondern komme einem Kategorienfehler gleich, sie
rational kritisieren zu wollen. Aus alledem folgt dann Humes berühmtes
Diktum, daß die Vernunft der „Sklave“ der Leidenschaften sei und es auch
sein müsse und daß ihr nie eine andere Aufgabe zukomme, als den Leidenschaften zu dienen und Folge zu leisten:
Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them (Buch II, 3.3, S. 415).
Wie wir gesehen haben, ist diese These nicht als eine normative Auszeichnung der Gefühle im Gegensatz zur Vernunft zu verstehen, sondern als eine
gleichsam konstitutionstheoretische These im Rahmen einer Handlungstheorie: Die Vernunft kann aufgrund ihrer rein epistemischen Natur gar
keine andere als eine „dienende“ Rolle spielen, sie kann sich an der Verwirklichung einer gegebenen Motivation zwar auf entscheidende Weise beteiligen, indem sie die nötigen deskriptiven oder instrumentellen Überzeugungen bereitstellt, aber sie kann weder selbst Ziele bestimmen noch von sich
aus die „Körpermaschine“ in Bewegung setzen.
Ein solches Zwei-Komponenten-Modell ist in der gegenwärtigen philosophischen Handlungstheorie weit verbreitet: In dem Ausdruck „beliefdesire-explanation“ finden sich die beiden von Hume proklamierten Vermögen wieder; seine Handschrift ist auch noch gut zu erkennen, wenn – wie
etwa bei Davidson – von sogenannten „pro attitudes“ die Rede ist, die zu
den deskriptiven Überzeugungen in einem praktischen Syllogismus hinzukommen müssen, damit dieser Handlungen wirklich zu erklären vermag
(vgl. Davidson 1963).
18 Die Unterscheidung zwischen „direkten“ und „indirekten“ Leidenschaften ist neben der
zwischen „ruhigen“ und „heftigen“ zentral für Humes Emotionstheorie. Die direkten
Leidenschaften sind u.a. dadurch charakterisiert, daß sie unmittelbar willensbildend sind
– in erster Linie sie sind es also, die den Motivationscharakter der „passions“ ausmachen
(vgl. insb. Buch II, Abschnitt 3.1). Die indirekten Leidenschaften – Humes ausführlich
diskutierte Beispiele sind „pride“, „humility“, „love“ und „hatred“ – können hingegen
auch ohne unmittelbare Handlungstendenzen auftreten.
298
Jan Slaby
In der bisher geschilderten abstrakten Form entbehrt Humes Theorie
aber noch jeglicher Plausibilität, denn zwei Einwände drängen sich geradezu
auf: Erstens scheint die These, Emotionen seien „original existences“ ohne
repräsentative Eigenschaften, kontraintuitiv. Emotionen haben doch offensichtlich intentionalen Gehalt: Bin ich wütend, dann bin ich wütend über
etwas oder über jemanden, freue ich mich, dann freue ich mich über etwas
etc. Aufgrund dieser Intentionalität scheint es auch durchaus möglich, Emotionen rational zu kritisieren – schließlich können sie, je nach dem, auf was
sie gerichtet sind, angebracht oder weniger angebracht und damit, wie es
scheint, eben doch: vernünftig oder unvernünftig sein.
Der zweite Einwand betrifft die vermeintliche Unfähigkeit der Vernunft,
uns zu Handlungen zu motivieren. Es gibt doch klarerweise Fälle, in denen
wir uns aufgrund vernünftiger Überlegungen gegen die Neigungen des Augenblicks entscheiden, also das tun, was wir für vernünftig halten und nicht
das, zu dem wir uns „gefühlsmäßig“ hingezogen fühlen.
Es ist leicht einzusehen, daß der Umgang mit diesen Einwänden, die ja
nicht auf Details sondern ins Grundsätzliche gehen, für eine fundierte Einschätzung der Humeschen Theorie von entscheidender Bedeutung ist.
Dem ersten Einwand begegnet Hume mit der Präzisierung des Verhältnisses von Leidenschaften und Überzeugungen. Selbstverständlich bestehe
zwischen beiden Komponenten ein Zusammenhang – Leidenschaften würden gemeinhin von Urteilen und Überzeugungen begleitet, und insofern diese
Urteile und Überzeugungen unvernünftig seien, könne man in einem gewissen Sinne sagen, daß es auch die entsprechenden Leidenschaften seien. Er
präzisiert noch weiter und unterscheidet zwei Weisen potentieller Unvernünftigkeit von Emotionen:
First, When a passion, such as hope or fear, grief or joy, despair or security, is
founded on the supposition of the existence of objects, which really do not exist. Secondly, When in exerting any passion in action, we choose means insufficient for the design’d end, and deceive ourselves in our judgment of causes
and effects (Buch II, 3.3, S. 416).
Nun wird zumindest deutlicher, was Hume mit der „original existence“ der
Leidenschaften meinen könnte: Zwar werden Leidenschaften in der Regel
von Überzeugungen verursacht und stehen daher in einem unmittelbaren
Zusammenhang mit diesen;19 dennoch sind diese Überzeugungen aber nicht
Bestandteil der Leidenschaften selbst.20 Betrachtet man das Buch II des Treatise in seiner Gesamtheit, dann scheint diese Interpretation angemessen:
19 „As belief is almost absolutely requisite to the exciting our passions, so the passions in
their turn are very favourable to belief“ (Buch I, 3.10, S. 120).
20 Dominik Perler (2001, 12, 14 und Anm. 26) versucht diese Lesart zu plausibilisieren.
Sklaven der Leidenschaft?
299
Einerseits gibt es zahlreiche Passagen, die dafür sprechen, daß Hume eine
Art „feeling theory“ der Emotionen vertritt; andererseits besteht der Großteil
des Textes aus umfangreichen Analysen der kognitiven Antezedenzbedingungen verschiedener Emotionen, etwa des Stolzes und der Niedergeschlagenheit, der Liebe und des Hasses.
Fraglich ist es indes, ob Hume mit dieser Klarstellung tatsächlich unseren ursprünglichen Einwand entkräftet: Wenn die Überzeugung, auf der
eine Emotion basiert, falsch ist, kritisieren wir nicht die Emotion als irrational – im Gegenteil, nun verstehen wir, warum jemand die unpassende Emotion hat und versuchen ihn über seinen Irrtum aufzuklären. Es ist die der
Emotion zugrunde liegende falsche Überzeugung, die wir kritisieren und zu
korrigieren suchen. Die Emotion selbst kritisieren wir erst dann, wenn sie
nicht zu den Überzeugungen desjenigen paßt, der sie hat: wenn sich jemand
über die Maßen über einen kleinen, unbedeutenden Fehler eines Kollegen
ärgert; wenn jemand Angst vor einer Prüfung hat und sie deshalb immer
wieder verschiebt, obwohl er weiß, daß er in der Lage ist, sie zu bestehen,
weil er ähnliche Prüfungen in der Vergangenheit gemeistert hat, sich gut
vorbereitet hat etc.; wenn jemand aufgrund gleichsam „subliminaler“ Anhaltspunkte übertriebene und lang anhaltende Eifersuchtsanfälle erleidet,
obwohl alles objektiv dafür spricht, daß seine Partnerin die Treue in Person
ist etc. – weitere Fälle dieser Art sind Legion. Da Hume seine Diskussion
nicht auf diese Fälle ausdehnt,21 können wir nur darüber spekulieren, wie er
mit ihnen umgehen würde. Vermutlich würde er die These vertreten, daß
bei all diesen Fällen dennoch jeweils eine kausal relevante und zur jeweiligen
Emotion passende Überzeugung vorliegen muß – so versteckt sie auch sein
mag – und daß es erst das Verwerfen dieser Überzeugung ist, das die Emotion auslöscht.
Humes Entgegnung auf den zweiten Einwand kommt in dem für uns relevanten Zusammenhang eine noch größere Bedeutung zu, weil davon abhängt, ob es Hume gelingt, uns von der Unmöglichkeit eines Kampfes zwischen Vernunft und Leidenschaft zu überzeugen. Humes Desiderat ist ein
alternativer begrifflicher Kommentar zu den Fällen, wo wir doch ganz offensichtlich aus vernünftiger Einsicht heraus gegen momentane Inklinationen
21 Humes Behandlung dieses Problems in Abschnitt 3.3 endet, bevor es zu den eigentlich
interessanten Fällen kommt: „The moment we perceive the falsehood of any supposition, or the insufficiency of any means our passions yield to our reason without any opposition. I may desire any fruit as of an excellent relish; but whenever you convince me
of my mistake, my longing ceases.” (Buch II, 3.3, 416 f.) Daß auch Hume solche „Emotionen wider besseres Wissen“ kennt wird im Abschnitt 2.3 deutlich. Dort behauptet er,
daß Leidenschaften gelegentlich die zu ihnen passenden Überzeugungen erst nachträglich
erzeugen. Eine ernsthafte Problematisierung dieses Umstandes fehlt jedoch.
300
Jan Slaby
zu Handeln imstande sind. Seine Lösung ist denkbar unkompliziert – er
deutet die in Frage stehenden Erfahrungen einfach um: Diese Fälle seien gar
keine Fälle, bei denen sich die Vernunft gegen unsere Wünsche und Leidenschaften durchsetzt, sondern auch hier seien Leidenschaften am Werk –
allerdings handele es sich dabei um die sogenannten „ruhigen“ Leidenschaften („calm passions“), deren Wirken wir aufgrund des Fehlens der ansonsten üblichen emotionalen Erregung gemeinhin mit der Vernunft zu verwechseln pflegen:
These desires are of two kinds; either certain instincts originally implanted in
our natures, such as benevolence and resentment, the love of life, and kindness to children; or the general appetite to good, and aversion to evil, consider’d merely as such. When any of these passions are calm, and cause no disorder in the soul, they are very readily taken for the determinations of reason,
and are suppos’d to proceed from the same faculty, with that, which judges of
truth and falsehood. (Buch II, 3.3, S. 417)
Was gemeinhin für einen Kampf zwischen Vernunft und Leidenschaft
gehalten werde, sei tatsächlich ein Konflikt zwischen zwei Arten von Leidenschaften: den heftigen Begehrlichkeiten des Augenblicks auf der einen,
sowie den ruhigen, beständigen, den Charakter der Person ausmachenden
Neigungen auf der anderen Seite. „Present disposition“ versus „general
character“ also statt Vernunft versus Gefühl (vgl. S. 418.).
Dieser Schachzug sollte uns mißtrauisch machen. Oftmals erfüllt nämlich eine solche terminologische Spitzfindigkeit einzig den Zweck, eine
Schwierigkeit aus der Welt zu räumen, die im Rahmen des ansonsten gebräuchlichen Vokabulars nicht zu bezwingen wäre. Hume scheint mir mit
seinen „calm passions“ eine theoretische Anomalie schlicht „wegdichten“ zu
wollen. Man braucht gar nicht zu bestreiten, daß es neben den heftigen auch
ruhige, mit wenig Erregung verbundene Emotionen gibt, und daß diese uns
auch hin und wieder zu Handlungen motivieren. Äußerst unplausibel ist
einzig die Behauptung, daß immer dann, wenn wir glauben, aus vernünftiger
Einsicht heraus gegen eine emotionale Neigung gehandelt zu haben, es nicht
unsere Vernunftgründe sondern kaum- oder gar nicht spürbare „ruhige“
Leidenschaften gewesen sein sollen, die den entscheidenden motivationalen
Impuls lieferten.
Ob akzeptabel oder nicht, zusammenfassend läßt sich zu Humes Theorie
der Leidenschaften folgendes sagen: Seine Affektenlehre tritt an ihrer entscheidenden Stelle als Handlungstheorie auf, und zwar mit der Kernthese,
daß einzig die „passions“ motivationale Kraft haben, während die Vernunft
lediglich instrumentellen Charakter hat und sich in den Dienst der wechselnden Leidenschaften stellt, ohne je selbst handlungswirksam zu werden.
Sklaven der Leidenschaft?
301
Obwohl der Kantischen Theorie radikal entgegengesetzt, läßt sich auch
für Humes Auffassung einiges an „alltagsphänomenologischer Evidenz“
anführen: Daß Rauchen schädlich für die Gesundheit ist, wissen die meisten
Raucher, dennoch ist diese Überzeugung gewöhnlich kein Grund, mit dem
Rauchen aufzuhören. Wie man aus der einschlägigen Literatur zum Abgewöhnen des Rauchens weiß, muß die Motivation in der Regel von ganz
woanders kommen. Daß man als Student gute Gründe hat, eine Hausarbeit
zügig zu schreiben und abzugeben, ist klar, dennoch fällt es vielen schwer,
es tatsächlich zielstrebig und konzentriert zu tun. Besteht jedoch ein starkes
persönliches Interesse an dem Thema, sind Begeisterung und positive Emotionen damit verbunden, geht die Arbeit locker von der Hand und nicht
selten ist auch das Ergebnis besser, als es wäre, wenn eine Arbeit über irgendein beliebiges Thema einfach lustlos heruntergeschrieben würde. Geradezu lächerlich käme uns ein Fußball-Trainer vor, der seiner Mannschaft
vor dem Spiel schlicht sachlich erklärte, daß es angebracht sei, zu gewinnen,
weil es dafür drei Punkte gebe und es dann in der Tabelle bergauf gehe.
Beim Sport wie in vielen anderen Bereichen auch ist eine Motivation gefragt,
die sich aus anderen Quellen speist als aus der rationalen Abschätzung der
zählbaren Vorteile des angestrebten Resultats. Die These, daß Emotionen
für Motivationen dieser Art eine weitaus wichtigere Rolle spielen als rationales Abwägen, wird kaum jemand bezweifeln wollen.
Auch Humes Darstellung trifft also etwas, das wir aus unserer alltäglichen Erfahrung zu kennen glauben. Nun haben wir aber im Abschnitt zu
Kant gesehen, daß uns auch eine der Humeschen grundsätzlich entgegengesetzte Auffassung empirisch plausibel erscheint. Die Art meiner Präsentation der Positionen von Kant und Hume dürfte bereits verraten haben, welches Modell ich für das treffendere halte. Bevor ich einen genaueren Blick
auf die Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen den Ansätzen der beiden Autoren werfe, möchte ich noch kurz auf zwei m. E. zentrale Mängel
der Humeschen Auffassung hinweisen.
Der erste problematische Punkt betrifft die Anforderungen, die Hume
ganz offensichtlich an eine Handlungstheorie stellt. Er redet davon, daß ein
„Impuls“ gegeben werden müsse, der uns in Bewegung setzt.22 Er schließt
von der Tatsache, daß die Vernunft in erster Linie ein abstraktes Urteilsvermögen sei, darauf, daß sie uns keinen „Antrieb“ zum Handeln geben
könne. Wie es scheint, fordert Hume als Bestandteil von Handlungserklärungen die Aktivität eines „Antriebsvermögens“ und dies sieht er in den
Leidenschaften. Eine solche Impetus-Theorie der Handlung scheint mir nun
aber verfehlt zu sein. Von einer philosophischen Handlungstheorie zu fordern, daß sie nicht nur erklären solle, warum sich der menschliche Körper
22 Zur Erinnerung: “But ’tis evident in this case, that the impulse arises not from reason, but
is only directed by it.” (Buch II, 3.3, S. 414 – Hervorhebung von mir, J. S.).
302
Jan Slaby
so bewegt, daß er die und die Handlung ausführt, sondern darüber hinaus
auch, warum er sich überhaupt bewegt, ist zuviel verlangt. Es geht vielmehr
darum, eine adäquate Beschreibung für diejenigen Körperbewegungen zu
finden, die Handlungen sind. Nicht jedoch darum, zu erklären, warum wir
uns überhaupt bewegen und nicht vielmehr nicht. Wie es kommt, daß wir
uns bewegen, darf für die Philosophie keine offene Frage mehr sein. Eine
Behandlung dieser Frage gehört in die Naturwissenschaft und benötigt keine
obskure philosophische Ergänzung.23 Begibt man sich aber der Notwendigkeit, einen Impetus-Faktor unter den Handlungsantezedentien auszuzeichnen, so ist auch die motivationale Asymmetrie zwischen Vernunft und Leidenschaft hinfällig. Dann können beide Vermögen gleichermaßen ausschlaggebende Handlungsgründe bereitstellen.24
Der zweite Einwand ist noch ein wenig allgemeiner als der erste: In
Humes Konzeption von Vernunft fehlt eine Perspektive, von der aus gegebene Handlungsgründe als vernünftig oder unvernünftig ausgezeichnet werden können. Das Problem liegt in Humes Auffassung von Vernunft als
bloßem Urteilsvermögen. Was die Vernunft seiner Ansicht nach einzig leistet, ist das Gewinnen von Überzeugungen durch entweder demonstrative
Schlüsse oder durch empirische Tatsachenurteile. Beide Urteilsarten werden
gleichsam kontextfrei als Spezialvermögen beschrieben, deren Aktivität
endet, wenn die entsprechende Überzeugung vorliegt.25 Diese rein deskriptive Auffassung von Vernunft mag charakteristisch sein für Humes Empirismus; dieser Umstand sollte uns aber nicht daran hindern, auf ihre Mängel
aufmerksam zu machen: Eine solche eingeschränkte Vernunftauffassung
beraubt uns der Möglichkeit, wichtige Elemente unserer Handlungs- und
Urteilspraxis als vernünftige Wesen zu beschreiben. Am deutlichsten wird
23 J. Nida-Rümelin (2001, 39 ff.) nennt eine Auffassung wie diejenige Humes eine „Physik
des Wollens und des Handelns“ und sieht ihren Ursprung bei Thomas Hobbes, der im
Leviathan Liebe und Haß als Abstoßungs- und Anziehungskräfte auffaßt, die den Körper
in Bewegung halten. Ich stimme seiner Kritik an dieser fest verwurzelten Auffassung zu.
24 Ein Umstand, der mit unserer gewöhnlichen Praxis der Handlungsbegründung bestens
im Einklang ist; schließlich akzeptieren wir auf die Frage „Warum hast Du das getan?“
sowohl die Antwort, „Weil ich gerade Lust darauf hatte“ als auch die Antwort, „Weil es
mir vernünftig erschien“. Es besteht keine Asymmetrie.
25 Man könnte das, was Hume bei der Bestimmung von Vernunft unterläuft, als „faculty
fallacy“ bezeichnen: Er schließt von den am meisten offenkundigen „Produkten“ dessen,
was wir im weitesten Sinne umgangssprachlich als Vernunft bezeichnen – also deduktivlogisch und deskriptiv-empirisch adäquat gewonnene Überzeugungen – auf ein Vermögen, dessen Aufgabe genau dies ist: das Gewinnen solcher Überzeugungen. Zusammen
mit weiteren Hintergrundannahmen – die empiristische Ausrichtung, die Tendenz zum
methodologischen Individualismus – ergibt sich dann die „nothing buttery“: Vernunft ist
nichts als ebendieses Vermögen. Normative, evaluative und intersubjektive Erwägungen
kommen gar nicht erst in den Blick.
Sklaven der Leidenschaft?
303
dieser Vernunftdefätismus angesichts der berühmten Aussprüche Humes,
daß es der Vernunft nicht zuwider laufe, eher die Zerstörung der ganzen
Welt zu wollen als einen Ritz am Finger und daß es ebensowenig unvernünftig sei, den vollständigen eigenen Ruin in Kauf zu nehmen, um das
kleinste Unbehagen eines Indianers zu verhindern. Die Fähigkeit und Berechtigung, punktuelle Einzelhandlungen in einen größeren Kontext zu
stellen und so auf ihre Vernünftigkeit zu überprüfen, geht bei Hume also
völlig verloren. Entsprechend fehlt auch die Perspektive, von der aus Kant
seine „Pathologisierung“ von Affekt und Leidenschaft vornimmt: Die Perspektive einer Gesamtschau über das Miteinander von gegenwärtigen und
künftigen Neigungen einer Person, von der aus die Person eine gegebene
Handlungsmöglichkeit daraufhin überprüfen kann, ob sie zum gegebenen
Zeitpunkt vernünftig ist oder nicht.
Selbst wenn man nur dieses minimal-normative Kriterium der Neigungskoordination in Anschlag bringt – also alles andere als eine anspruchsvolle
Konzeption von praktischer Vernunft – fällt Humes Vernunftauffassung
weit dahinter zurück. Das sollte für uns Grund genug sein, sie zu verwerfen.
Dann bleibt uns allerdings die Aufgabe zu zeigen, warum auch Humes
Emotionstheorie alltagspsychologischen Gehalt zu haben scheint. Warum
haben wir den Eindruck, daß unsere Vernunftgründe allein selten ausreichen, uns zu Handlungen zu veranlassen? Wieso sind wir davon überzeugt,
daß Emotionen die stärksten Motivationen sind?
Nun, darauf zu antworten ist denkbar einfach: Wir haben diese Eindrükke, weil es stimmt: Emotionen sind die Motivationen par excellence –
Humes These, Leidenschaften (insbesondere seine „direct passions“) seien
unmittelbar willensbildend, dürfte voll zutreffen. Was hingegen nicht
stimmt, ist die These von der „Impotenz der Vernunft“: Wir sind sehr wohl
in der Lage, aufgrund vernünftiger Gründe gegen die Neigungen und Leidenschaften des Augenblicks zu handeln. Daß das glücklicherweise nicht
immer nötig ist und daß es manchmal mißlingt, spricht nicht gegen diese
von Kant zu recht vorausgesetzte Tatsache der conditio humana.
KANT UND HUME IM KONTEXT
Bei der bisherigen Präsentation und Diskussion der beiden Auffassungen
spielten Verweise auf gegenwärtige Diskussionszusammenhänge keine große
Rolle. Ich bemerkte oben, daß Kant eine dem aktuellen mainstream der
Emotionsforschung entgegengesetzte Position einnimmt. Daraus ergibt
sich, daß Hume aus Sicht heutiger Theoretiker der Anschlußfähigere sein
dürfte. Der Grundzug dieser aktuellen Thematisierungen ist die Anerkennung der wichtigen Rolle, die die Emotionen für menschliches Denken,
304
Jan Slaby
Entscheiden und Handeln spielen. Beispielhaft sind in dieser Hinsicht die
Untersuchungen des Hirnphysiologen Antonio R. Damasio.26 Ausgangspunkt seiner Theorie sind die erstaunlichen Verhaltensweisen, die Patienten
mit Läsionen im Bereich des präfrontalen Kortex an den Tag legen: Diese
zeigen sich nämlich unfähig, in Angelegenheiten, die unmittelbar ihre eigene
Lebensführung und ihr nahes soziales Umfeld betreffen, Entscheidungen zu
treffen. Sie sind somit zu einer normalen Lebensführung nicht mehr in der
Lage, zeigen aber bei Denkaufgaben, die keine persönliche Signifikanz, sondern lediglich streng logischen oder mathematischen Charakter haben, kaum
oder gar keine Beeinträchtigungen. Damasio leitet aus solchen Beobachtungen seine Theorie der „somatischen Marker“ ab. Entscheidungen im personal relevanten Bereich würden nicht auf „reiner Vernunft“ allein – er versteht darunter formal-logisches Abwägen sämtlicher Handlungsoptionen
sowie rationale Kosten-Nutzen-Analysen –, sondern zusätzlich auf einer
automatisch ablaufenden emotionalen Bewertung vorgestellter Szenarien
basieren. Gewisse mentale Bilder würden „somatisch markiert“, d. h. ihr
Imaginieren werde von positiven oder negativen „Bauchgefühlen“ begleitet,
was zur Folge habe, daß negativ markierte Optionen von vornherein ausgeschlossen würden und sich so die Komplexität der Entscheidungssituation
deutlich reduziere (vgl. Damasio 1994, 173 ff.).
Es sei daher ein Fehler der klassischen Rationalisten gewesen, die Emotionen als Störfaktoren des Vernunftgebrauchs auszuschließen und statt
dessen eine rein logische Konzeption vernünftigen Überlegens und Entscheidens vorzulegen. Wie sich an den Läsionspatienten studieren lasse,
seien die Emotionen für vernünftiges Entscheiden unabdingbar.
Diese Überlegungen bezieht Damasio auch unmittelbar auf die Motivationsthematik, womit er der Auffassung Humes besonders nahe kommt:
Wenn wir etwas tun, das zwar in der Gegenwart mit Unlust verbunden ist,
aber später angenehme Folgen für uns hat – seine Beispiele sind Joggen
gehen, sich einer notwendigen Operation unterziehen oder ein Graduiertenstudium absolvieren – dann sei nicht eine nüchterne Kalkulation der langfristigen Vorteile dieser Kasteiungen und auch nicht bloße „Willenskraft“
ausschlaggebend, sondern die somatisch positiv markierte Imagination des
zukünftigen Zustandes.27 Wie in der Theorie Humes nehmen also auch bei
Damasio die Emotionen eine ausgezeichnete Rolle als motivationale Zustände ein.
26 Vgl. zur Theorie Damasios auch Walter (1998, 334 ff.).
27 „Willenskraft“ sei vielmehr bloß ein anderes Wort für den Umstand, daß wir uns den
angestrebten zukünftigen Zustand bildlich vorstellen und dabei positive Emotionen erleben. Der Gedanke an zukünftige Gratifikationen wiege somit die gegenwärtigen Mühen
auf (vgl. Damasio 1994, 175).
Sklaven der Leidenschaft?
305
Allerdings ist auch in Bezug auf Damasios fundierte Untersuchungen zu
bemerken, daß die von ihm skizzierte rationalistische Gegenkonzeption,
gegen die er seine Theorie der somatischen Marker ins Feld führt, auf einer
spürbaren Unterbestimmung von Vernunft und Rationalität basiert. Niemals
würde ein Rationalist bestreiten, was Damasio ihm gleichwohl unterstellt:
daß bei unserem faktischen Entscheiden auch evaluative Zustände wie die
Emotionen eine Rolle spielen. Die Verurteilung der Emotionalität als Störfaktoren der Vernunft war ja nicht so gemeint, daß emotionale Bewertungsmechanismen vollständig auszuschließen seien, sondern lediglich so, daß
nicht hartnäckige und unbelehrbare Emotionen die alleinige Handlungskontrolle übernehmen sollten. Kant gibt in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel ab:
Er geht von der Beobachtung aus, daß es nun einmal so ist, daß viele suboptimale Verhaltensmuster – also die von mir so genannten „Alltagspathologien“ – das Ergebnis solcher stabiler Emotionen sind. Was auch immer die
normale Rolle emotionaler Faktoren im menschlichen Entscheidungsgeschehen sei, so könnte man diesen Gedankengang paraphrasieren, lasse sich
nicht bestreiten, daß irrationales Verhalten oftmals eindeutig auf das Konto
bestimmter, stabiler Emotionsmuster gehe und Emotionen also genau in
diesem Sinne als Störfaktoren und Vernunftinhibitoren gelten können.
Der Unterschied der Auffassungen, die sich hier gegenüberstehen, betrifft also nicht das empirische Material, sondern die Perspektiven, aus denen es jeweils betrachtet wird: Kants minimal-normative Bewertungsperspektive erlaubt es ihm, gewisse Emotionen als Störfaktoren der Vernunft
zu bezeichnen. Humes und Damasios empirische Perspektive hingegen
führt zu dem Befund, daß ohne Emotionen gar kein Entscheiden und folglich kein vernünftiges Handeln möglich wäre. Eine Diskrepanz entsteht nur
deshalb, weil beide Lager den Vernunftbegriff für sich reklamieren. Kants
Konzeption ist deshalb als Antwort auf die Ausgangsfragestellung angemessener, weil sich Vernunft ohne Bezug auf normative Bewertungen nicht
adäquat charakterisieren läßt. Kant verfügt also über einen angemesseneren
Vernunftbegriff .28
28 Insofern scheint mir auch Damasio in die Nähe zu einem „faculty fallacy“ in Bezug auf die
Vernunft zu geraten: Die Untersuchungen der psychologischen Vorgänge „reasoning“ und
„decision making“ sind auf einer anderen logischen Ebene angesiedelt als die Bestimmung
der Begriffe „Vernunft“, „vernünftige Entscheidung“ und „rationales Überlegen“. Was
wir über unser faktisches Räsonieren und Entscheiden herausfinden, ändert nichts an unserem Verständnis dieser allgemeinen Ausdrücke. Insbesondere nimmt es uns nicht die
Berechtigung, bezüglich faktisch gefällter Entscheidungen eine normative Beurteilungsperspektive einzunehmen.
306
Jan Slaby
FAZIT
Es wäre falsch zu behaupten, die Differenzen zwischen Kant und Hume
beträfen klar lokalisierbare Unterschiede in den Affekt- bzw. Emotionstheorien dieser beiden Autoren. Denn das, was Kant vorgelegt hat, kann nicht als
eine solche gewertet werden. Kant hat im Rahmen seiner Motivationstheorie
– also im Rahmen seiner Bemerkungen zum „Begehrungsvermögen“ – eine
alltagspsychologisch plausible Lesart der geradezu klischeehaften These vom
Kampf zwischen Vernunft und Leidenschaft geliefert. Hume hingegen verfolgt mit seiner Position (unter anderem) den Zweck, die Existenz eines
solchen „Kampfes“ begründet zu bestreiten. Wir haben Gründe gefunden,
die eher die Kantische Lesart nahelegen als die entsprechende Gegenthese
Humes, ohne daß dadurch der Kern der Humeschen Emotionstheorie
selbst widerlegt würde. Die Probleme betrafen vielmehr Humes Vernunftauffassung sowie seine handlungstheoretische Grundannahme.
Betrachtet man die hier dokumentierte und interpretierte Kontroverse
aus einer Metaperspektive, so fällt insbesondere folgendes auf: während
Kant Affekte und Leidenschaften als alltagspsychologisch auffällige Zustände
bestimmt, deren Auffälligkeit darin besteht, daß sie das vernünftige Überlegen und Entscheiden und folglich das rationale Handeln blockieren, versucht Hume seine Bestimmung der Kategorie „passion“ tiefer anzusetzen,
nämlich auf der Ebene eines psychischen Vermögens. Humes Perspektive,
so könnte man aus heutiger Sicht sagen, bestimmt die Leidenschaften als
„natural kind“, während Kant sie lediglich als „relevant kind“ klassifiziert,
also aus der Sicht ihrer lebensweltlichen Relevanz (eben als problematische
Motivationsstrukturen). Die Emotionen als ein fundamentales psychisches
Vermögen zu bestimmen, wie Hume es tut, mag angehen, aber sobald man
diesen Schritt auch in Bezug auf die Vernunft unternimmt, gibt es die oben
erwähnten Probleme. Man verwechselt die normative Bewertungsperspektive mit der psychologischen Beschreibung und nimmt sich damit eine wichtige Möglichkeit, die menschliche Handlungspraxis adäquat zu charakterisieren.
In Bezug auf Emotionen, Affekte und Leidenschaften sind hingegen
beide Klassifikationsweisen zulässig. Es handelt sich bei diesen Zuständen
einerseits um organismische Zustände, die sich nach den in den Biowissenschaften üblichen Klassifikationsprozeduren individuieren lassen.29 Anderseits aber nehmen sie eine derart fundamentale Rolle in unseren alltagspsychologischen Selbst- und Fremdinterpretationen ein, daß man nicht ohne
29 Wobei es allerdings sein könnte, daß das, was wir umgangssprachlich mit dem Obertitel
„Emotionen“ bezeichnen, in Wahrheit mehrere natürliche Arten umfaßt. Paul E. Griffiths (1997) unterscheidet beispielsweise zwischen basalen Affektprogrammen, höheren
kognitiven Emotionen sowie sozial stabilisierten Emotionsskripten.
Sklaven der Leidenschaft?
307
weiteres über diese Klassifikationspraxis hinwegsehen kann. Daß der umgangssprachliche Emotionsbegriff die entsprechenden naturwissenschaftlichen Kategorien nicht vollständig abbildet, sondern auch andere, ähnliche
Phänomene umfaßt, ist noch kein Argument dafür, daß wir ihn aufgeben
und durch wissenschaftlich respektablere Kategorien ersetzen sollten. Kants
Vorgehensweise zeigt, daß sich am Leitfaden des klassischen Topos vom
Kampf zwischen Vernunft und Leidenschaft eine relevante Phänomenfamilie identifizieren läßt, die durch das Netz psychologischer, psychiatrischer
oder biologischer Kategorisierung hindurchzufallen droht. Bevor wir im
szientifischen Übereifer zur Entzauberung der traditionellen Vorurteile über
Emotion und Vernunft ansetzen, sollten wir also prüfen, ob die hergebrachten Bestände der folk psychology nicht einen ebenso signifikanten Gehalt
haben wie das, was von Seiten ambitionierter Naturwissenschaften an ihre
Stelle gesetzt werden soll.30
LITERATUR
Damasio, Antonio R. (1994) Descartes’ Error: Emotion, Reason, and the Human
Brain. New York: G.P. Putnam’s Sons.
Davidson, Donald (1963) Actions, Reasons, and Causes. In: Ders.: Essays on Actions and Events. Oxford: Clarendon Press, 1980, 3-19.
De Sousa, Ronald (1987) The Rationality of Emotion. Cambridge, MA: MIT Press.
Fodor, Jerry A. (2000) The Mind doesn’t Work that Way, Cambridge, MA: The MIT
Press.
Griffiths, Paul E. (1997) What Emotions Really Are. The Problem of Psychological
Categories. Chicago, London: University of Chicago Press.
Hume, David (1739/40) A Treatise of Human Nature, ed. by L. A. Selby-Bigge,
Oxford: Oxford Clarendon Press 1967.
Hume, David (1748) An Enquiry Concerning Human Understanding, ed. by L.A.
Selby-Bigge, Oxford: Oxford University Press, 1975.
Kant, Immanuel (1790) Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe, Bd. V). Berlin, 1908.
Kant, Immanuel (1798) Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe, Bd.
VII), Berlin: 1907.
Nida-Rümelin, Julian (2001) Strukturelle Rationalität, Stuttgart: Reclam.
Perler, Dominik (2001) Humes Theorie der Motivation. Allgemeine Zeitschrift für
Philosophie 26, 3-21.
Pinker, Steven (1997) How the Mind Works, London: Allen Lane.
30 Ich danke Achim Stephan und Andreas Bürger für wichtige Hinweise zu einer früheren
Version dieses Artikels.
308
Jan Slaby
Solomon, Robert (1976) The Passions. Emotions and the Meaning of Life. New York:
Anchor Press/Doubleday.
Walter, Henrik (1998) Neurophilosophie der Willensfreiheit. Paderborn: Schöningh.
Wollheim, Richard (2001) Emotionen. Eine Philosophie der Gefühle. Aus dem Englischen übersetzt von Dietmar Zimmer, München: C. H. Beck. (Originalausgabe:
On the Emotions. New Haven: Yale University Press, 1999).
Achim Stephan
ZUR NATUR KÜNSTLICHER GEFÜHLE
K
önnten Sie künstliche Gefühle haben? – Nehmen wir an, Sie fühlen
sich niedergeschlagen, gehen zur Apotheke und verlangen nach
einer Packung „Antidepressiva“. Sie nehmen eine Tablette und
nach kurzer Zeit ist Ihre Niedergeschlagenheit verschwunden, Sie fühlen
sich erheblich besser, die ganze Welt sieht wieder anders aus. Haben Sie ein
künstliches Gefühl?
Ihre Freundin hält nicht viel von Tabletten. Sie geht zum Therapeuten,
schildert ihre Beschwerden und Wünsche. Dieser leitet eine Entspannung
ein, suggeriert mit leicht hypnotischen Techniken, daß die Niedergeschlagenheit schwinden und sie sich bald wohler fühlen werde – die Besserung
tritt ein. Hat Ihre Freundin nach dem Besuch beim Therapeuten ein künstliches Wohl-Gefühl?
Ihr Bekannter von nebenan ist verzweifelt. Vor einer Woche war er auf
einer Party und lernte dort eine interessante Frau kennen, in die er sich
„Hals über Kopf“ verliebte. Nach einer Woche ist er ernüchtert und stellt
erstaunt fest, daß er wohl nicht bei Sinnen war. Ein längeres Grübeln läßt
ihn erinnern, daß jene Person ein geradezu betörender Duft umgab, der ihm
im wahrsten Sinne des Wortes die Sinne und, mehr noch, seine Urteilskraft
geraubt haben mußte. Hatte der Bekannte an jenem Party-Abend künstliche
Gefühle?
Wir wechseln die Situation. Etwas science fiction mag erlaubt sein. Drei
Ihrer Kollegen sind in der Forschung tätig. Der eine ist Chemiker in der
pharmazeutischen Industrie; er träumte schon immer davon, neue Gefühle
und Stimmungen zu kreieren; nun sei es ihm endlich gelungen, behauptet er.
Sie probieren eine seiner neuesten Pillen und fühlen sich danach ganz seltsam, es läßt sich gar nicht genau beschreiben: Sie empfinden auf lustvolle
Weise Scham, die durch einen Hauch von leichtsinniger Schwermut überlagert wird. Ist dies ein künstliches Gefühl?
Der zweite arbeitet kulturvergleichend als kognitiver Anthropologe. Er
wollte schon immer wissen, wie es ist, ein Japaner zu sein; insbesondere, wie
es ist, Amae zu erleben. Dabei handele es sich nämlich um ein sonderbares
Gefühl der Abhängigkeit, das wir nicht kennen und nur von Höhergestellten
oder Überlegenen befriedigt werden könne – ein Gefühl, für das es in den
310
Achim Stephan
europäischen Sprachen gar kein treffendes Wort gebe (vgl. Coulmas 1993,
33 ff.).1 Gemeinsam mit Kollegen aus der neurologischen Abteilung gelingt
es ihrem Bekannten herauszufinden, welche neuronalen Prozesse dem von
Japanern Amae genannten Gefühls-Zustand zugrunde liegen. Nun läßt er
diese neuronalen Prozesse bei sich selbst auslösen. Erlebt er Amae? Hat er
ein künstliches Gefühl? Weiß er nun, wie es ist, Japaner zu sein?
Der andere Bekannte erzählt gerne von seinem neuesten Roboter. Der
letzte habe sich wie noch keiner zuvor aufgeführt. Gestern habe er geradezu
getobt, nichts richtig gemacht, alle Sachen im Zimmer verstreut und es abgelehnt, diese wieder aufzuräumen. Hat der Roboter etwa Gefühle, war er
nicht „gut drauf“?
Ich glaube es wird Zeit, daß wir mit dem Sortieren anfangen.
In den ersten beiden Fällen handelt es sich offenbar um künstlich erzeugte
Gefühle. Die Gefühle selbst sind jedoch durch und durch natürlich; ihre
Träger, die beiden Personen, hätten sie – vielleicht unter anderen Umständen – genau so erleben können, wie sie durch die beiden Eingriffe, den
chemischen und den suggestiv-hypnotischen, in ihnen hervorgerufen wurden. Fortschritte der Pharmazie gestatten es, neurochemische Vorgänge so
zu beeinflussen, daß eine unliebsame Grundstimmung abgelöst und durch
eine angenehmere ersetzt werden kann. In beiden Fällen wäre das ausgelöste
Gefühl ein künstlich erzeugtes. Das gleiche scheint für die Suggestion zu
gelten. Auch diese induziert eine Gefühlslage, die in der vorherrschenden
Situation kaum von alleine aufgetreten wäre.
Medikamentöse Beeinflussungen wurden bisher hauptsächlich für die
Korrektur leidvoller Grundstimmungen und schmerzhafter Körperempfindungen entwickelt. Dagegen gibt es meines Wissens keine „Scham“- „Eifersuchts“- oder „Zornes-Pillen“. Komplexere Gefühlszustände wie diejenigen,
die man unter dem Etikett der Emotion im engeren Sinne diskutiert, die
Intentionalität, also eine Gerichtetheit auf einen Sachverhalt oder auf Gegenstände aufweisen und die einer rationalen Bewertung zugänglich sind,
solche Gefühle werden in der Regel nicht medikamentös hervorgerufen.
Daraus folgt jedoch nicht, daß Emotionen im engeren Sinne prinzipiell nicht
medikamentös zu beeinflussen sind. Es zeigt zunächst nur, daß es keinen
medizinischen Bedarf für das künstliche Auslösen spezifischer Emotionen
gibt. Emotionen dieses Typs: Zorneswallungen, Scham usw. sind ihrer Natur nach viel kurzlebiger als langanhaltende Grundstimmungen, die sich wie
ein Schatten auf unser ganzes Tun legen können und deshalb viel eher Anlaß zu einer Korrektur geben.
1
Vgl. auch Deighton und Traue (2003, 245 ff.).
Zur Natur künstlicher Gefühle
311
Aber wie verhält es sich mit dem unglücklichen Bekannten? Seine Gefühle an jenem Abend waren echt, aber sie haben ihn getäuscht. Sie wurden
durch etwas anderes ausgelöst, als er dachte. Nicht die Eigenschaften der für
begehrenswert gehaltenen Person, sondern intensive Duftstoffe haben seine
Gefühle der Zuneigung ausgelöst. Seine Gefühle waren natürliche, er hätte
sie auch durch das bekommen können, was er fälschlicherweise für den
Auslöser seiner Gefühle hielt. Hier haben wir also keinen Fall eines künstlichen Gefühls, sondern den Fall eines fehlgeleiteten Gefühls.
Doch nun zu den spannenderen Fällen. Der Chemiker hat ein neues Gefühl synthetisiert, ein Gefühl, das so noch niemand zuvor empfunden hat.
Es wurde nicht nur künstlich hervorgerufen – dies hat es mit den ersten
beiden Fällen gemein –, sondern es hat auch noch eine neue artifizielle Qualität, es empfindet sich anders als die auf herkömmliche Weise in uns entstehenden Gefühle: – „leichtsinnige Schwermut“. Anscheinend sind wir so
disponiert, daß wir Empfindungen solcher Art haben können. Unsere Natur
erlaubt es uns, diese merkwürdigen künstlichen Gefühle zu bekommen,
auch wenn es – aus einer evolutionären Perspektive betrachtet – keine Notwendigkeit gab, daß sie in uns situationsbedingt, durch natürliche Auslöser
eben, entstehen. Viele Drogen scheinen künstliche Gefühle eines solchen
Typs auszulösen.
Und der Kulturanthropologe? Er scheint die Körpersensationen zu erleben, die Japaner empfinden, wenn sie im Zustand von Amae sind. Ein für
ihn sicher neues Gefühl, ohne Zweifel künstlich hervorgerufen; artifiziell
auch insofern, als es in ihm so nicht durch Situationen im Alltagsleben ausgelöst worden wäre, noch nicht einmal in Japan. Dazu hätte er dort aufwachsen, japanisch erzogen werden müssen. Andererseits ist dieses Gefühl
nicht künstlich für Menschen schlechthin. In Angehörigen der japanischen
Kultur ist es tief verwurzelt, es spielt eine wichtige Rolle im Sozialgefüge der
japanischen Gesellschaft. Müßten wir deshalb relativ zu Kulturen von „natürlichen“ oder „künstlichen“ Gefühlen sprechen? Ist das sinnvoll?
Und wie verhält es sich mit dem Roboter, der sich benimmt, als habe er
Gefühle bekommen? – Ein künstliches System mit natürlichen Gefühlen?
Hat er welche? Kann er überhaupt welche haben?
Bis wir uns diesen Fragen näher zuwenden können, sind allerdings noch
einige Vorarbeiten zu leisten. Zunächst dies: Die heterogene Gruppe der
mentalen Zustände, die man etwas leger alle „Gefühle“ nennt, läßt sich unterteilen in „gefühlte“ Körperzustände wie Schmerzen, Taubheit oder Kribbeln, Stimmungen wie Euphorie und Schwermut, ungerichtete Gefühle wie
Angst und Lust oder gerichtete komplexere Emotionen wie Scham, Zorn
oder Eifersucht. Die Frage, die hier zur Debatte steht, ist, ob oder gegebenenfalls unter welchen Bedingungen von einem dieser Zustände gesagt werden kann, es sei ein künstliches Gefühl.
312
Achim Stephan
Mitunter ist es jedoch besser, mit einer umgekehrten Frage zu beginnen.
Also: Was macht ein Gefühl eigentlich zu einem natürlichen Gefühl? Und,
was ist wesentlich dafür, daß von einem System berechtigterweise gesagt
werden kann, es habe Gefühle?
Es ist durchaus spannend, zur Beantwortung dieser Fragen bei Aristoteles nachzusehen: In de anima befaßt er sich mit den Affektionen und Affekten der Seele – mit Zorn, Milde, Furcht, Mitleid, Wagemut, dazu mit Freude
und Lieben wie Hassen. Für Aristoteles ist klar, daß die Affekte allesamt
materiegebundene Zustände sind, die z. B. wie folgt definiert werden könnten: „Zorn ist eine Art Bewegung des so und so beschaffenen Körpers oder
Körperteiles unter der und der Einwirkung zu dem und dem Zweck.“ Naturforscher und Dialektiker definierten jeden der Affekte freilich auf verschiedene Weise. Betrachten wir den Zorn: „der eine wird ihn definieren als
Streben nach Vergeltung einer Kränkung oder etwas derartiges, der andere
als Sieden des Blutes, das um das Herz liegt und heiß ist. Von diesen gibt
der eine die Materie wieder, der andere die Form und den Begriff“ (de anima
403 a/b).
In seiner Rhetorik hat Aristoteles ergänzend hinzugefügt: Zorn sei ein mit
Schmerz verbundenes Trachten nach dem, was uns als Rache für das erscheint, worin wir eine Kränkung unserer selbst erblicken ..., und zwar durch
jemanden, dem das Kränken nicht zukomme. Ferner werde der Zorn in
jedem Fall von einem gewissen Lustgefühl begleitet, das auf der Hoffnung,
sich rächen zu können, basiere. Über die Leidenschaft des Zornes werde
daher treffend gesagt, und hier bezieht sich Aristoteles auf Homers Ilias (vgl.
1378 b):
„Der, weit süßer zuerst denn sanft eingleitender Honig,
Bald in der Männer Brust aufwächst wie dampfendes Feuer!“
(Homer, Ilias XVIII. Gesang, 109 f.)
Aristoteles schneidet nahezu alle Aspekte an, die auch heute noch für das
Vorliegen eines natürlichen Affektes für wesentlich gehalten werden: Einige
der Merkmale eines echten Gefühlszustandes sind öffentlich zugänglich,
andere dagegen scheinen nur derjenigen Person zugänglich zu sein, die die
entsprechenden Gefühle hat.
Öffentlich zugänglich sind, was Aristoteles „eine Art Bewegung des so
und so beschaffenen Körpers oder Körperteiles unter der und der Einwirkung zu dem und dem Zweck“ nennt. Moderner ausgedrückt handelt es sich
dabei um die Bestimmung eines Gefühles über dessen funktionale Rolle: In
einem Zorneszustand zu sein, heißt, in einem Zustand zu sein, der üblicherweise durch bestimmte, einem Bewertungsprozeß unterzogene Situatio-
Zur Natur künstlicher Gefühle
313
nen (z. B. Kränkungen) ausgelöst wird, der mit spezifischen Körperreaktionen (z. B. einer Erhöhung des Blutdruckes) sowie mit bestimmten anderen
mentalen Zuständen (z. B. den Gedanken: „das laß ich mir nicht bieten, dem
zahl ich’s heim“) einhergeht, und der häufig bestimmte Verhaltensreaktionen nach sich zieht (z. B. Beschimpfungen oder Handgreiflichkeiten).2 Bis
auf die begleitenden Gedanken sind die anderen Parameter des so gefaßten
Zornesgefühls zumindest im Prinzip öffentlich zugänglich. Je nach dem, in
welchem Verhältnis der auslösende Anlaß und die Heftigkeit der Reaktion
zueinander stehen, kann man die verschiedenen Temperamente unterscheiden wie z. B. Phlegmatiker und Choleriker; diese Kennzeichnung bringt
demnach die Disponiertheit einer Person, in bestimmter Weise auf mögliche
„Auslöser“ zu reagieren, zum Ausdruck. Darüber hinaus scheinen mehrere
dieser Merkmale auch kulturell spezifische Ausformungen zu erhalten: Was
für wert erachtet wird, Zorn zu erregen, ebenso wie das, was als erlaubte
Zornesreaktion angesehen wird, differiert durchaus von Zeit zu Zeit und
von Ort zu Ort.
Anders als bei gerichteten Affekten wie Scham, Zorn, Furcht, Eifersucht
oder bei schmerzhaften Körperempfindungen scheint die Verknüpfung mit
spezifischen auslösenden Faktoren bei Stimmungen weniger prägnant zu
sein. Deshalb dürfte es bei diesen etwas schwieriger sein, eine funktionale
Charakterisierung zu geben.
Darüber hinaus gehen mit dem Zornesgefühl, und auch das hat Aristoteles berücksichtigt, bestimmte Empfindungen einher. Zum einen repräsentieren diese den emotionalen Zustand selbst in seiner charakteristischen Art:
Es fühlt sich einfach anders an, zornig zu sein als beschämt oder furchtsam.
Zum anderen entsprechen aber auch den mit dem Affekt einhergehenden
2
Eine analoge Analyse des Zornes gibt auch Descartes in Les Passions de L’Ame: „Der
Zorn ist auch eine Art Haß oder Aversion, die wir gegen diejenigen empfinden, die
etwas Schlechtes getan haben oder die Schaden anzurichten versucht haben, aber
nicht irgendwem, sondern gerade uns. So enthält er dieselben [Eigenschaften] wie
der Unwille, darüber hinaus baut er jedoch auf einer Handlung auf, die uns [selbst]
betrifft und für die wir uns rächen wollen. Denn diese Begierde begleitet ihn fast
immer, und er ist der Dankbarkeit genauso entgegengesetzt, wie der Unwille der
Gunst. Aber er ist viel heftiger als diese drei anderen Leidenschaften, weil die Begierde, schädliche Dinge abzuwehren und sich zu rächen, die stärkste von allen ist.
Es ist die Begierde verbunden mit der Selbstliebe, welche dem Zorn die nötige Erregung des Blutes verleiht, die den Mut und die Kühnheit hervorrufen, und der Haß
bewirkt, daß es hauptsächlich galliges Blut ist, das aus der Milz und den kleinen
Adern der Leber stammt, das so in Wallung gerät und ins Herz eintritt. Dort erregt
es wegen seiner Übermenge und gemäß der Eigenheit der Galle, mit der es gemischt
ist, eine scharfe brennende Hitze, wie sie nicht durch die Liebe oder Freude erregt
werden kann“ (Artikel 199).
314
Achim Stephan
Körperveränderungen weitere phänomenale Körpererlebnisse: es fühlt sich
anders an, „wenn das Blut um die Herzgegend siedet“ als wenn wir ein
„flaues Gefühl im Magen“ spüren oder einen „Kloß im Halse“ sitzen haben.
Beide Empfindungsarten sind allerdings nicht öffentlich zugänglich; sie sind
private qualitative oder phänomenale Zustände der gerade emotional erregten Person. Nach Ansicht einiger Autoren besteht der qualitative Aspekt
eines Gefühls allerdings aus nichts anderem als den gefühlten Körperzuständen. So sagt William James: „Wenn wir uns ein starkes Gefühl vorstellen
und dann versuchen, in unserem Bewußtsein jegliches Empfinden für seine
Körpersymptome zu eliminieren, stellen wir fest, daß wir nichts zurückbehalten, keinen ‚Seelenstoff ’, aus dem sich das Gefühl zusammensetzen ließe,
und daß ein kalter und neutraler Zustand intellektueller Wahrnehmung alles
ist, was bleibt“ (zitiert nach Damasio 1997, S. 180).
Und schließlich können wir noch hinzufügen, daß die so erlebten Empfindungen in uns Menschen, aber auch in anderen Tiergattungen, auf neuronalen Prozessen in bestimmten Gehirnarealen basieren, die genau diese phänomenalen Zustände in uns zu realisieren scheinen – zumindest kovariieren
sie mit diesen. Die mit den empfundenen Gefühlen korrelierten neuronalen
Vorgänge sind im Prinzip zumindest wieder öffentlich zugänglich, ja sogar
durch spezifische Techniken manipulierbar.
Zusammenfassend lassen sich damit drei Parameter für das Vorliegen
von Gefühlen festhalten. Danach läßt sich ein Gefühl bestimmen:
(1)
über die funktionale Rolle, die es üblicherweise hat,
(2)
über die phänomenale Qualität, die mit ihm einhergeht – das, wie es
sich z. B. anfühlt, zornig zu sein; und
(3)
über die (neurophysiologische) Realisierungsbasis des qualitativen Erlebniszustandes.3
Kehren wir noch einmal zu den eingangs beschriebenen Situationen zurück.
Denn nun sind wir in einer besseren Lage, diese zu klassifizieren und voneinander abzugrenzen:
3
Traue und Kessler (2003, 25) nennen sechs Komponenten, nach denen sich Emotionen beschreiben lassen, nämlich: (1) Subjektives Erleben, (2) sprachliche Repräsentanz, (3) Kognitive Bewertung von inneren und äußeren Stimuli, (4) Ausdrucksverhalten der Mimik, der Gestik und des gesamten Körpers, (5) Physiologische und
endokrine Aktivierung sowie (6) Kognitiver Entwurf von Handlungen und Handlungsbereitschaften. Von diesen Faktoren gehören (2), (3), (4) und (6) zur funktionalen Rolle, die eine Emotion hat, (1) korreliert mit der phänomenalen Qualität und (5)
mit der Realisierungsbasis.
Zur Natur künstlicher Gefühle
315
Die ersten beiden Fälle enthalten offenbar eine Abweichung von der
„natürlichen“ Auslösesituation des entstandenen Gefühls. Es ist keine heitere Atmosphäre, kein Besuch von Freunden oder etwas Vergleichbares, das
zu einer Änderung der schwermütigen Gestimmtheit geführt hat, sondern
ein chemischer bzw. suggestiv-hypnotischer Eingriff in den komplexen
menschlichen Organismus. Die Kausalkette, die zu bestimmten Gefühlen zu
führen vermag, wurde an einer anderen, aber offenbar gleichfalls geeigneten
Stelle begonnen. Nicht eine lebensweltliche Situation führte zu einer „adäquaten“ Gefühlsreaktion, sondern ein das gewünschte Gefühl unmittelbar
erzeugender Eingriff.
Am Beispiel des Zornes bedeutete dies, daß nicht eine kränkende Situation zu Zornesreaktionen Anlaß gegeben hätte, sondern – vielleicht – eine
Stimulierung der medialen Anteile des Mandelkernkomplexes, einem Teil
des sogenannten limbischen Systems (vgl. Solms 1996, 514).4 Die begleitenden Körperreaktionen und das subjektive Erleben des Gefühls unterscheiden sich freilich nicht von denen, die durch ‚natürliche Faktoren’ hervorgerufen werden. Mark Solms, auf den ich mich hier beziehe, spricht davon,
daß die Stimulierung der corticalen und zentralen Kerngebiete des Mandelkernkomplexes (der Amygdala) bei Tieren zu typischen somatischen Begleiterscheinungen der Aggression und des Angriffsverhaltens führe wie z. B.
dem Zähnefletschen, Knurren, Fauchen, Sträuben des Fells u. a. mehr. Ich
gehe davon aus, daß es sich bei Menschen ähnlich verhält. In diesem Falle
sind demnach die Merkmale (2) und (3) erfüllt, die normale funktionale Einbettung hingegen ist unvollständig, die natürlich auslösende Situation fehlt.
Der Auslöser ist ein künstlicher. Genau deshalb spricht man in diesem Falle
von künstlich erzeugten Gefühlen. Hingegen sind die ebenfalls in die funktionale Charakterisierung eingehenden somatischen Reaktionen und die Bereitschaft, aggressiv zu reagieren, vorhanden. Wären wir in der Lage, die genauen neurophysiologischen Wege zu verfolgen, die vom Wahrnehmen einer
kränkenden Situation bis zum Zustandekommen einer Zornesregung im
Gehirn genommen werden, so könnten wir sehen, an welchen nachgeschalteten „Rädchen“ dieses äußerst komplexen Vorganges künstlich gedreht
wurde, um auch ohne eine Kränkungssituation Zornesgefühle und -reaktionen zu erzeugen. Daraus scheint aber zugleich zu folgen, daß es sich bei den
künstlich erzeugten Gefühlen sonst in jeder Hinsicht um echte Gefühle handelt. Sie sind den Fällen vergleichbar, in denen die Einnahme eines Entspannungsmittels den ersehnten Schlaf für jemanden bringt, der ohne diese
4
Zur Funktionsweise des limbischen Systems als eines zentralen Bewertungssystems
des Gehirns vergleiche man Gerhard Roths Das Gehirn und seine Wirklichkeit (1997,
194-212).
316
Achim Stephan
Hilfe schlaflose Nächte vor sich hätte. Der so ermöglichte Schlaf mag zwar
ein künstlich erzeugter sein, aber dennoch ist er ein genuiner Schlaf.
Dagegen scheint es für das neuartige Gefühl „leichtsinniger Schwermut“
noch nicht einmal eine „Job-Deskription“ zu geben; es ist ein un-natürliches,
ein synthetisches Gefühl. Weder die Empfindungen, von denen berichtet
wird, noch die körperlichen Reaktionen, die mit ihr einhergehen, passen zu
einer funktionalen Einbettung, die auf äußere Lebensereignisse Bezug
nimmt. Das macht hier das Künstliche aus. Und selbst wenn man unter
großen Mühen sehr komplexe Lebenssituationen zusammenstellen könnte,
die ebenfalls zu diesen Gefühlsregungen Anlaß geben könnten, so haftete
auch jenen etwas ausgesprochen Artifizielles an.
Wieder anders sieht es im Falle des neugierigen Kulturanthropologen
aus. Für den in ihm künstlich erzeugten Amae-Zustand gibt es zwar eine
funktionale Beschreibung, aber nicht im Rahmen unserer Kultur. Ebenso
fehlen jener Person die relevanten kognitiven Zustände, die bei Japanern
gewöhnlich die entsprechenden Körpersensationen begleiten. Obwohl der
Anthropologe Metareflektionen über das von ihm Erlebte anzustellen vermag – so ähnlich muß es also für einen Japaner sein, Amae zu erleben – sind
es wahrscheinlich gar keine genuinen Zustände von Amae, die von ihm empfunden werden, sondern nichts weiter als merkwürdige somatische Vorgänge, die sich in keine bekannte Kategorie einfügen lassen.
Wenden wir uns nun den möglichen Gefühlen eines künstlichen Systems
zu. Was kann sinnvollerweise gemeint sein, wenn wir in diesem Falle von –
künstlichen – Gefühlen sprechen?
Nun, nicht gemeint ist sicherlich, daß ein solches System dieselben
„Körperzustände“ wie Menschen oder andere Organismen haben sollte, um
ihm Gefühle zusprechen zu können. Ebenso wenig muß die Realisierungsbasis der Empfindungen derjenigen entsprechen, die bei uns Gefühle realisiert. Auch von künstlichen Organen oder Gelenken wird nicht verlangt, daß
sie aus Fleisch und Blut bestehen, sondern nur, daß sie den ihnen zugedachten „Job“ gut verrichten. Mit anderen Worten: Die künstlichen Körperteile
sollen diejenigen Aufgaben vollbringen, die im Normalfall ihre natürlichen
Gegenstücke leisten. Sie ersetzen die organischen Teile, wenn diese ihre
angestammte Funktion nicht mehr erfüllen können. Übertragen auf künstliche Gefühle hieße dies, sie sollten die Aufgaben übernehmen, die normalerweise natürliche Gefühle haben. Aber, und das ist sehr wichtig, sie sollen
diese Aufgabe natürlich nicht in uns erfüllen – Gefühle sind nicht transplantierbar, sie sind Zustände oder Prozesse sehr komplexer und in der Regel
organischer Systeme. Zu erfüllen hätten die künstlichen Gefühle verhaltenssteuernde Aufgaben in artifiziellen Systemen.5
5
Sollte es gelingen, Personen, die unter einer Schädigung des ventromedialen präfrontalen Cortex leiden, mit einer künstlichen Gefühls- und Bewertungsinstanz auszu-
Zur Natur künstlicher Gefühle
317
Einer, der tatsächlich diesen Weg beschreitet, ist der in Bielefeld im
Grenzbereich zwischen Neurobiologie und Robotik forschende Holk Cruse.
Am einfachen Beispiel der Steuerung eines dreigelenkigen Greifarmes versucht Cruse zu zeigen, wie „Körpermodelle“ dem System bei der Erfüllung
seiner Aufgaben nützlich sein können. Ein solches System habe sowohl eine
Repräsentation seiner gegenwärtigen „Greif-Position“ wie auch eine der als
nächstes zu realisierenden. Stimmen beide Repräsentationen überein, so ist
das System, meist ein konnektionistisches Netz, im energetischen Zustand
eines relativen Minimums, sein „Harmonie-Wert“ sei dann hoch.6 Umgekehrt verhalte es sich bei großen Abweichungen zwischen den Ist- und SollZuständen. Nach Cruses Ansicht sind es diese Differenzen, die ein System
zu einer optimalen Steuerung repräsentieren müsse. Deren Repräsentation
stelle zugleich einen ersten Schritt zur Entwicklung eines „Erste-PersonStandpunktes“ dar. Er selbst faßt seine Hypothese in die folgenden Worte:
[Ein] System ... hat eine Erste-Person Perspektive, wenn es (a) ein veränderbares Modell seiner internen, die Eigenschaften des eigenen Körpers umfassenden Welt enthält, das (b) dazu verwendet werden kann, die (‚virtuellen’) Daten
des Modells mit den ‚realen’ Daten zu vergleichen, die durch die sensorischen
Eingänge (und die Erinnerungssysteme ...) zur Verfügung gestellt werden
(1999, 170; Übersetzung vom Verf.).
Nun mag man fragen, ob Systeme, die in dieser Weise ihren eigenen Körper
und die Differenz zwischen Ist- und Sollzuständen repräsentieren können,
wirklich Gefühle und nicht nur Quasi-Gefühle haben: Zustände, die nicht
wirklich das Etikett „Gefühl“ verdienen.
Betrachten wir zur Beantwortung dieser Frage, aber nun ausgedehnt auf
beliebige Gefühlsregungen, wieder die drei Kriterien, die wir zuvor festgehalten hatten. Die Bestimmung eines „Gefühls“ über Merkmal (1), seine
funktionale Rolle, scheint für künstliche Systeme kein prinzipielles Hindernis
darzustellen. Neuronale Netze sind bereits jetzt in der Lage, komplexe Muster gut zu erkennen, es dürfte kein unüberwindbares Problem darstellen, sie
auf Situationen einzustellen, die für uns gewöhnlich emotional bedeutsam
sind. Ebenso denkbar ist, daß diese Systeme in angemessener Weise reagieren. Dagegen ist – per definitionem – ausgeschlossen, daß die künstlichen
Systeme in ähnliche Körperzustände wie wir geraten. Das, so haben wir
statten, so ließe sich u. U. deren bedauernswerte Unfähigkeit, Entscheidungen zu
treffen und entsprechend zu handeln, ausgleichen; zum Krankheitsbild vgl. man
Damasio (1997).
6
Der hier verwendete Ausdruck „Harmoniewert“ ist nicht anthropomorph zu verstehen, er entstammt einer mathematischen Theorie, die u.a. bei der Evaluierung neuronaler Netze verwendet wird.
318
Achim Stephan
oben schon festgestellt, ist aber auch nicht zu verlangen. Es wäre in der Tat
sehr engstirnig, wollte man die Möglichkeit des Habens von Gefühlen an
das Haben unserer organischen Struktur, d. h. an Merkmal (3), knüpfen.
Damit würde man zugleich anders strukturierten Bewohnern des Universums absprechen, über emotionale Zustände verfügen zu können. Nicht
zuletzt Überlegungen dieser Art führten in der Philosophie des Geistes in
den späten sechziger Jahren zu einer Abkehr von der Identitätstheorie, nach
der das Haben eines mentalen Zustandes mit dem Haben eines bestimmten
physischen Zustandes identisch ist. Seitdem werden vor allem Spielarten des
Funktionalismus favorisiert, denen zufolge mentale Zustände über ihre funktionalen oder kausalen Rollen individuiert werden.
Aber damit sind wir zugleich bei Einwänden, die gegen funktionalistische
Theorien generell vorgebracht werden: Ist das Ausfüllen einer gewissen
funktionalen Rolle wirklich schon hinreichend für das Haben von Gefühlen
und Empfindungen? Wenn wir der Meinung sind, daß zum Haben eines
genuinen Gefühls notwendigerweise gehört, daß dieses auf irgendeine Weise
erlebt wird, daß es für denjenigen, dem wir das Gefühl zuschreiben, irgendwie ist, dieses Gefühl zu empfinden, um Thomas Nagels Diktion zu übernehmen, nun, dann garantiert uns die Einnahme einer bestimmten funktionalen Rolle durch einen Systemzustand gerade nicht, daß mit diesem Zustand qualitative Erlebnisse, wirkliche Gefühle also, einhergehen. Liegen die
Dinge so, dann könnten sich die mutmaßlichen Gefühle künstlicher Systeme
als bloße „Schein-Gefühle“ entpuppen, sie wären nichts anderes als vorgegaukelte, simulierte Gefühle. So wie wir manchmal Gefühle simulieren: Interesse und Zuneigung zeigen, aber eigentlich gelangweilt sind.
Aber da widerspräche nun Katrin Hille, eine frühere Mitarbeiterin von
Dietrich Dörner, dessen Bamberger Arbeitsgruppe seit Jahren mit der Modellierung unserer Psyche befaßt ist. Hille hat vor einigen Jahren eine Arbeit
mit dem Titel Die ‚künstliche Seele’ vorgelegt und darin ausdrücklich betont,
daß es nicht nur um die Simulation von Emotionen, sondern um deren Modellierung gehe:
Wenn der Biologe den Nährstoffhaushalt im See simuliert, so braucht er dazu
weder Nährstoffe noch Wasser. Er simuliert das Ökosystem nur durch ein System von Differentialgleichungen.
Auch wir simulieren in gewisser Hinsicht: Wir nutzen keine Eiweißstrukturen als Träger der psychischen Prozesse. In anderer Hinsicht heben wir uns
aber von einer bloßen Simulation ab: Für die psychischen Prozesse des Menschen an sich spielt der Stoff, auf dem sie passieren, keine Rolle. Man könnte
sie als informationsverarbeitende Prozesse charakterisieren. Wir ahmen aber
diese informationsverarbeitenden Prozesse nicht nur nach, sondern wir bilden
sie ab. Die Simulation eines solchen Prozesses ist der Prozeß selbst. Wir spre-
Zur Natur künstlicher Gefühle
319
chen daher nicht von einer Simulation der psychischen Prozesse (wie der Biologe einen See simuliert), sondern von der Modellierung der psychischen Prozesse. Dieses Modell der psychischen Prozesse des Menschen realisieren wir
als Computersimulation (1997, 22).
Nach Hilles Ansicht wird demnach eine gelingende Computer-Simulation
eines psychischen Prozesses, sei es eines Gefühles oder des Gewinnens einer
Einsicht, selbst zu einem Modell solcher Prozesse. Und damit unterscheide
sich die Simulation psychischer Vorgänge gravierend von der Simulation anderer Naturvorgänge, zum Beispiel von der Regulierung des Nährstoffhaushaltes eines Sees. Oder, wie Dennett einmal feststellte, von der Simulation eines
Hurrikans: Wenn wir das tun, dann ist nicht zu befürchten, daß in unseren
Computern Wirbelstürme toben und Mikrochips durch die Luft gewirbelt
werden (vgl. Dennett 1978, 191 f.). Aber wie kommt es, daß Hille die Computersimulation für ein Modell und nicht für eine bloße Simulation ansieht?
Eine nähere Betrachtung gibt Aufschluß:
Simulationsmodelle werden immer zu einem bestimmten Zweck konstruiert.
Für die ‚künstliche Seele’ [...] besteht der Nutzen der Modellierung:
• in der Beschreibung der psychischen Prozesse des Menschen,
• in der Gewinnung von Einsichten in die Struktur und den Ablauf menschlicher Handlungsregulation (1997, 23).
Hille interpretiert Emotionen als Modulationsparameter der kognitiven Prozesse, die die Anpassung unseres Verhaltens an die jeweils gegenwärtige
Situation leisten; sie rechnet dazu die Selektionsschwelle, die Aktiviertheit,
die Abtastrate und den Auflösungsgrad (vgl. 1997, 96). Dabei entspricht die
Selektionsschwelle der Ablenkbarkeit von der gegenwärtigen Beschäftigung,
die Aktiviertheit der investierten Energie in jene Beschäftigung, die Abtastrate
dem Aufmerksamkeitsgrad, mit dem man neben der aktuellen Beschäftigung
Ereignisse aus der Umwelt wahrnimmt. Der Auflösungsgrad bezeichnet die
Genauigkeit, mit der man sich einer Beschäftigung widmet. Nun, spätestens
jetzt dürfte klar sein, daß sich Hille mit ihrer Modellierung innerhalb von
Merkmal (1) bewegt. Modelliert wird die funktionale Rolle emotionaler Zustände, aber nicht das mit ihnen einhergehende subjektive Empfinden. So wenig zu befürchten steht, daß ein simulierter Wirbelsturm in meinem Notebook tobt, so wenig steht zu befürchten, daß Hilles Computer leidet, wenn
sie auf ihm Schmerzen modelliert und nicht bloß simuliert. Ihr PC hat nach
allgemeiner Einschätzung keine phänomenalen Zustände (2), er befindet sich
lediglich in verschiedenen elektromagnetischen Zuständen, die Veränderungen der Modulationsparameter repräsentieren.
Aber spinnen wir das Ganze etwas weiter aus. Nehmen wir an, die
„künstliche Seele“ arbeite nicht nur mit Hilfe einer Theorie emotionsgelade-
320
Achim Stephan
nen menschlichen Verhaltens, sondern instantiiere eine solche Theorie, und
zwar dadurch, daß das Programm das Verhalten eines hochkomplexen Roboters steuere. Dieser „zeige“ nun wirklich emotional gefärbtes Verhalten,
er könne mechanisch rot werden, sich die Antennen raufen, aufgeregt hin
und herrollen usw. Und dies regelmäßig in adäquaten Situationen. Hat dieser
Roboter nun Gefühle? Nun, in diesem Falle müßten wir sicherlich zugestehen, daß er über Zustände verfügt, die in ihm die Rolle der Verhaltenssteuerung übernehmen, die in uns gewöhnlich Gefühle leisten. Aber empfindet er
etwas dabei?
Mit dieser Frage stoßen wir auf das alte Qualia-Problem, das sich für alle
naturalistischen Theorien des Geistes stellt.7 Sollten sich bewußte Erlebnisse
naturwissenschaftlichen Erklärungsversuchen entziehen, und zwar aus prinzipiellen Gründen, so hätten wir keine Basis, aufgrund derer wir begründete
Ansichten über das Vorliegen bewußter Empfindungen in komplexeren
Systemen haben könnten, die sich deutlich von menschlichen Organismen
unterscheiden. Wie können wir hier weiter kommen?
Vielleicht liegt ja gar nicht so viel an den empfundenen oder gespürten
Emotionen. Könnten wir nicht bereit sein, einem Roboter aufgrund seines
emotional gefärbten Verhaltens Gefühle zuzuschreiben? Echte Gefühle? Für
ein künstliches System?
Sind wir denn nicht ebenso bereit, einigen unserer Artgenossen Gefühle
zuzuschreiben, obwohl diesen, wie sie selbst sagen, ein Erlebnis- oder Spüraspekt fehlt? Vor allem durch Krankenberichte aus psychoanalytischer Perspektive haben wir Kenntnis von Patienten, die offenbar nicht in der Lage
sind, ihre Gefühle, wenn es denn welche sind, wahrzunehmen. Fachsprachlich wird dann häufig von unbewußten Affekten, z. B. von unbewußter
Scham, unbewußter Angst oder unbewußter Aggression gesprochen. Ulrich
Moser verdanken wir die folgende Darstellung:
Affekte [wie Ärger, Zorn, Wut, Haß, etc.] werden in derselben Weise wie
Angst als innere Signale verwendet – immer vorausgesetzt, das affektive Erleben hat überhaupt den Entwicklungsstand eines inneren Meldesystems (Signalsystems) erreicht. Bei vielen neurotischen Entwicklungen (z. B. bei neurotischen Depressionen, Zwangsneurosen, charakterneurotischen Störungen) ist
das aggressive Meldesystem ganz verkümmert oder schlecht ausgebildet. Es
sind dies Patienten, die ihre aggressiven Impulse nicht spüren, sie infolgedessen auch nicht erkennen und in einen situativen Kontext einordnen können
(1978, 236 f.; zitiert nach Thomä und Kächele 1989, 111).
7
Eine Dokumentation der wichtigsten Stationen der Qualia-Debatte bieten Heckmann und Walter (2001); über die neueste Entwicklung informiert der Sammelband
von Pauen und Stephan (2002).
Zur Natur künstlicher Gefühle
321
Moser nennt zwei mögliche Konsequenzen: Einige Patienten zeigen aggressives Verhalten, bemerken es nicht und vermögen es auch nachträglich
nicht, dieses als solches zu sehen. Andere reagieren auf Aggression auslösende Umweltstimuli mit einer emotionalen Aktivierung, analysieren sie
andersartig und interpretieren sie z. B. als Angstsignale. Für unsere Belange
interessanter noch sind jedoch Fälle, wie sie Leuner am Beispiel eines Herzneurotikers beschreibt (vgl. 1985, 183 f.). Sein Patient spürte seine aggressiven Impulse nicht, er handelte weder aggressiv, noch deutete er die Situation
auf andere Weise. Statt dessen reagierte er mit einer psychosomatischen
Erkrankung, einer Herzneurose, auf eine Situation, die bei Gesunden geeignet gewesen wäre, heftige Aggressionen auszulösen.
Erklärt werden Erkrankungen dieser Art damit, daß der „Körper“ eigentlich adäquat auf die Situation reagiere, die normalerweise z. B. aggressives Verhalten rechtfertigen würde. Da der aggressive Impuls nicht wahrgenommen werde, ein phänomenales Erleben des Zornes oder der Wut nicht
vorhanden sei, werde keine adäquate Handlung eingeleitet, die körperliche
Erregung persistiere jedoch und könne dadurch zu dauerhaften Erkrankungen führen.
Inwiefern kann in diesen Fällen jedoch überhaupt von Gefühlen – unbewußten zwar, aber immerhin: von Gefühlen – gesprochen werden? Vergleichen wir dazu noch einmal die verschiedenen Abweichungen von unserem
Norm-Modell, die sich beim „emotionsgesteuerten“ Roboter bzw. bei Patienten mit „unbewußten Gefühlen“ ergeben:
Der Roboter zeigt auf eine Situation, die geeignet ist, aggressives Verhalten auszulösen, adäquate Reaktionen. Er antwortet in einer Weise, die wir als
aggressiv beschreiben würden. Auf Nachfrage gibt er zu, daß er sich ärgert
und z. B. eine Entschuldigung verlangt. Wir entschuldigen uns. Er ist einverstanden und beruhigt sich wieder. Der neurotische Mensch dagegen spürt
nichts in einer vergleichbaren Situation. Er fühlt sich nicht gekränkt, kein
Zorn steigt in ihm auf wie „sanft eingleitender Honig“. Keine aggressive
Handlung von seiner Seite erfolgt, doch Herzrasen packt ihn: „sein Blut ist
heiß in der Herzgegend“, so heiß, daß ihn Todesängste quälen.
Im Unterschied zum Roboter fehlen beim Neurotiker adäquate Reaktionen; ferner fehlen die privat zugänglichen Empfindungen und die Körpersensationen, die mit Aggressionen einhergehen; anstelle dieser Empfindungen durchlebt er keine oder ganz andere wie z. B. eine Herzphobie.
Was uns zu der Annahme unbewußter Aggressionen geführt hat, ist eine
Theorie. Es ist die Annahme, daß somatisch das bereitgestellt wird, was zu
aggressivem Verhalten nötig wäre und auch führen würde, läge nicht eine
Aggressions-Hemmung vor, die die jeweils wahrgenommene Situation bis
zur Unkenntlichkeit verzerrt. Und es ist die Erfahrung, daß bei geeigneter
Behandlung, die zuvor unbewußten, unzugänglichen Aggressionen spürbar
werden können, häufig verbunden mit einem Schwinden der Symptomatik.
322
Achim Stephan
Unbewußte Gefühle werden folglich solchen Wesen zugeschrieben, die auch
über bewußte Gefühle verfügen können, die in einer bestimmten Situation
körperliche Reaktionen zeigen, die einer adäquaten emotionalen Reaktion
entsprechen würden, könnte diese auch wirklich erfolgen. Im Gegensatz
dazu mag es seltsam erscheinen, auch solchen Systemen unbewußte Gefühle
zusprechen zu wollen, die nicht einmal über die Möglichkeit bewußten
Empfindens verfügen.
Aber könnte es nicht sein, daß Roboter durchaus Empfindungen haben,
und wir es nur nicht wissen (können)? Ausschließen kann ich das nicht. Hier
kommen wir allerdings in die dunklen Bereiche des „Ignoramus“ in der
gegenwärtigen Philosophie und Kognitionswissenschaft.
Zusammenfassend ergibt sich damit das folgende Bild:
Von den drei Merkmalen, die ich als Kennzeichen für Gefühle vorgeschlagen habe, ist das dritte – die neurophysiologische Basis unserer qualitativen Erlebniszustände – am unbedeutendsten. Sein Vorhandensein sollte
nicht als notwenig für das Vorliegen von Gefühlen angesehen werden. Es
kann jedoch dazu dienen, einen Zustand, der aus anderen Gründen als ein
genuiner Gefühlszustand gilt, als den eines künstlichen Systems zu klassifizieren, und zwar dann, wenn die Realisierungsbasis des Gefühls eine nichtnatürliche ist.
Ausschlaggebend dafür, ob es sich bei einem spezifischen Zustand eines
künstlichen oder natürlichen Systems überhaupt um einen Gefühlszustand
handelt, ist das zweite Merkmal – die phänomenale Qualität, die mit jenem
Zustand einhergeht oder zumindest (wie im Falle unbewußter Gefühle) mit
ihm einhergehen könnte. Dagegen kann das erste Merkmal, die funktionale
Einbettung, weder als hinreichend noch als notwendig für das Vorliegen
eines genuinen Gefühlszustandes angesehen werden: Fehlt der Empfindungsaspekt (das zweite Merkmal) nämlich prinzipiell, so genügt auch eine
adäquate funktionale Einbettung – etwa bei Verhaltensmodellierungen in
künstlichen Systemen – nicht, um diesen Systemen das Haben von Gefühlen
zuschreiben zu können.
Andererseits zögern wir nicht, bei künstlich erzeugten Gefühlen von echten
Gefühlen zu sprechen, auch wenn dabei die funktionale Einbettung defizitär
ist, insofern die natürliche Auslösesituation fehlt. Nur wenn sämtliche behavioralen und mentalen Reaktionen fehlen sollten, die die funktionale Rolle
eines spezifischen Gefühles ausmachen, würden wir davon absehen, von
genuinen Gefühlen zu sprechen.
Ein Problem ist jedoch, wie wir (insbesondere) bei künstlichen Systemen
objektiv feststellen können, ob sie die für Gefühlszustände charakteristischen phänomenalen Erlebnisse haben. Analogieschlüsse, die sich – wie bei
der üblichen Zuschreibung von Gefühlen unter menschlichen Artgenossen
– auf eine gemeinsame neuronale Ausstattung stützen könnten, greifen in
Zur Natur künstlicher Gefühle
323
diesen Fällen nicht. Hier könnte nur eine Theorie Abhilfe schaffen, die es
gestatten würde, phänomenale Zustände reduktiv zu erklären. Solange wir
diese nicht haben, und die Perspektiven dafür sehen eher düster aus, können
wir weder zeigen, daß künstliche Systeme Gefühle haben, noch können wir
zeigen, daß sie keine haben.
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Traue, Harald und Henrik Kessler (2003) Psychologische Emotionskonzepte. In
diesem Band.
PERSONENREGISTER
Adams, Henry E. 156
Adolphs, Ralph 12, 57
Aharon, Itzhak 65
Ainsworth, Mary 125
Alexander, Franz 184
Alston, William 266
Angel, Ronald 257
Arend, Richard A. 128
Argelander, Hermann 157
Argiolas, Antonio 89, 103
Aristoteles 238-239, 262, 264-265,
275-277, 312
Averill, James R. 251
Bänninger-Huber, Eva 151, 152
Baier, Annette 265
Bandelow, Borwin 51, 117
Bard, Philip 17, 26
Barnard, Kathryn E. 130
Bartels, Andreas 64, 103
Bartlett, Frederic C. 164
Basch, Michael F. 148
Baumrind, Diana 123
Bechara, Antoine 66, 150
Becker-Stoll, Fabienne 128
Bedford, Errol 271, 275
Beebe, Beatrice 122, 124
Belsky, Jay 127
Benecke, Cord 116, 141, 143, 147,
151, 157-158
Ben-Ze’ev, Aaron 12, 264
Bergmann, Martin S. 79
Berlin, Lisa J. 127
Berridge, Kent 150
Betzler, Monika 238, 280
Beutel, Manfred 149
Bianchin, Marino 63
Birbaumer, Nils 41, 47
Bierhoff, Hans-Werner 80-83
Bischof, Norbert 85, 146
Bischof-Köhler, Doris 157
Blackburn, Simon 265
Blair, James 65
Bloom, Floyd 45
Boca, Stefano 252
Bocher, Moshe 65
Bower, Gordon H. 146
Bowlby, John 80, 115, 121-122, 127,
143
Brachfeld, Sheila 130
Braun, Anna K. 80
Brazelton, Berry T. 122-123
Breiter, Hans C. 65
Brenner, Charles 151
Brentano, Franz 272
Bretherton, Inge 147
Brooks-Gunn, Jeanne 148
Bucci, Wilma 27, 180-181
Buck, Ross 202
Buchheim, Anna 80
Büchel, Christian 61, 65
Bush, George 65
Butler, Ann 40, 42-44
Cacioppo, John T. 27
Cahill, Larry R. 63
Canli, Turhan 62, 65
Cannon, Walter B. 17, 26, 220
Carter, Rita 75
Carter, Carol Sue 101
Cassidy, Jude 127
Chorover, Stephan L. 189
Christophe, Véronique 252
Ciompi, Luc 146
Cisamolo, D. 249
Clarkin, John. F. 144
Clore, Gerald L. 139, 149
Cohn, Jeffrey F. 122, 124
Cole, Steve W. 205
Condon, William S. 124
Coryell, Charles D. 58
Coulmas, Florian 310
Crawford, J. W. 130
Crenshaw, Theresa L. 92, 99, 106
Critchley, Hugo 64
Crits-Christoph, Paul 174
Crnic, Keith A. 130
Cruse, Holk 317
326
Personenregister
Dahl, Hartvig 116, 166-168, 171, 174176
Dalgleish, Tim 64
Damasio, Antonio R. 11, 21, 22, 57,
66, 150, 188, 238, 264, 288, 291, 304305, 314, 317
Dammann, Gerhard 116
Darwin, Charles 17, 25, 34, 36-37,
115, 118, 120-121, 264
Daudert, Elke 158
Davidson, Donald 277, 279, 282, 297
Davidson, Richard J. 11, 64, 68, 119
Deigh, John 277
Deighton, Russell M. 31, 117, 237,
249, 253-255, 310
d’Elia, Giacomo 27
Dennett, Daniel C. 146, 319
Descartes, René 11, 238, 262, 265,
267-269, 272-275, 313
DeSousa, Ronald 264, 276, 291
de Wolff, Marianne 126-127, 131
Dix, T. 131
Donders, Frans C. 58-59
Döring, Sabine 12
Dörner, Dietrich 318
Dornes, Martin 119, 122, 142-144,
146-148
Dougherty, Darin D. 63, 65
Draghi-Lorenz, Riccardo 120
Dunn Judy 120
Egeland, Byron 128
Ekman, Paul 28, 115, 118, 120, 123,
125-126, 141, 262
Elias, Norbert 194
Elliott, Rebecca 63
Elster, Jon 264, 282
Emde, Robert N. 119-120, 124, 149
Erk, Susanne 18, 57, 62-63, 65, 103,
188
Esser, Günter 125, 129, 131
Evans, Dylan 262, 264
Ewert, Jörg 46, 48
Eysenck, Hans J. 203
Farber, Ellen A. 128
Farrell, Daniel 277
Fehr, Beverley A. 51, 251
Fernandez, I. 249, 253, 255
Field Tiffany M. 119, 130
Fisher, Helen 104-106
Fodor, Jerry A. 287
Fonagy, Peter 139, 144, 158
Fox, Nathan A. 119
Francis, Sue 64
Frankfurt, Harry 265, 267, 280
Freud, Sigmund 17, 26, 116-117, 139140, 142, 146, 151-152, 154, 157, 159,
164-165, 181, 184, 190, 192-193, 218
Frey, Stephen 64
Friesen, Wallace V. 115, 119-120, 125
Frijda, Nico H. 22, 249
Frodi, Ann 130
Frohlich, Penny F. 89, 103
Gaensbauer, Theodore 120, 149
Garner, Pamela W. 130
Gennaro, Susan 130
Giovanni, D. 253
Goldberg, Susan 130
Goldie, Peter 281
Goleman, Daniel 21
Gordon, Robert 277, 282
Gorman, Jack M. 225
Grande, Tilman 158
Grau, Ina 80, 82-83
Grawe, Klaus 184
Gray, Jeffrey A. 203-205
Greene, Joshua D. 67-68
Greenberg, Leslie S. 209-210
Greenspan, Patricia 279
Griffiths, Paul E. 263-264, 278, 306
Gross, James J. 201
Grossmann, Klaus E. 127
Guarnaccia, Peter J. 257
Gündel, Harald A. 206
Güntürkün, Onur 94
Haidt, Jonathan 68
Hamann, Stephan B. 62
Hanlon, Robert 49
Hariri, Ahmad R. 61
Harmon, Robert J. 119
Hart, Allen J. 61
Haviland-Jones, Jeannette M. 21, 126
Heckmann, Heinz-Dieter 320
Heller, Bruce W. 20, 185
Henningsen, Peter 145
Hess, Walter R. 44-45
Hiatt, Leslie R. 244
Personenregister
Hiatt, Susan 149
Hille, Katrin 318-319
Hobbes, Thomas 262, 302
Hodos, William 40, 42-44
Hölzer, Michael 116, 175
Hoffmann, Sven Olaf 152, 155
Hofstede, Geert 256
Homer 312
Horowitz, Mardi J. 173-174
Howell, Signe 247
Hülshoff, Thomas 85, 93
Hume, David 11, 237-238, 262, 267,
287-288, 294-306
Isabella, Russell A. 127
Izard, Carroll E. 115, 118-119, 123,
125
Jacobson, Edith 143
James, Susan 273
James, William 17, 25, 149, 184, 267271, 314
Jenkins, Janis H. 257
Jessel, David 90-91
Kächele, Horst 80, 116, 165-166, 174,
181, 320
Kämper, Günter 18
Kagan, Jerome 199-200, 218
Kant, Immanuel 11, 164, 237-238,
262, 264, 287-295, 301, 303, 305-307
Kelly, Harold 82
Kenny, Anthony 273
Kernberg, Otto F. 142-144, 158, 165
Kessler, Henrik 17, 55, 314
Kiehl, Kent A. 68
Kierkegaard, Soren 218
Kihlstrom, John F. 150
Kimbrell, Tim A. 63, 65
King, Laura A. 208
Kirson, Donald 241
Klein, Donald 96-97
Kleinman, Arthur 257
König, Karl 152-153, 155
Kövecses, Zoltán 252
Kohts, Nadia 37
Kohut, Heinz 165
Krause, Rainer 119, 139, 141-142, 153,
158, 181
Kravitz, Edward 49
327
Kruse, Otto 140, 142
LaBar, Kevin S. 61
Laborit, Henri 203-205
Lachmann, Frank M. 122, 124
Lakoff, George 251
Landgraf, Rainer 46-47
Landry, Susan H. 130
Lane, Richard D. 65, 206
Lange, Carl 17, 25
Laucht, Manfred 129
LeDoux, Joseph E. 11, 18, 54-55, 61,
139, 146, 150, 159, 226, 269
Lee, John A. 81-82
Leimann, Arnold L. 41
Leuner, Hanscarl 321
Leuschner, Wolfgang 145, 156
LeVay, Simon 91
Levenson, Robert W. 25, 201, 252,
255
Leventhal, Howard 31
Levy, Robert I. 242, 244-245
Lewis, Michael 21, 115, 120-121, 126,
148
Liebowitz, Michael 96-97
Locke, John 262, 267
Locke, R 130
Logothetis, Nikos K. 58
Long, Anthony A. 264, 276
Lorenz, Konrad 38
Lorenzer, Alfred 143
Luborsky, Lester 174, 179
Lyons, William 277-279
Madell, Geoffrey 277-278, 281
Main, Mary 128, 147
Malatesta, Carol Z. 120, 126, 130
Marks, Joel 279
Markus, Hazel R. 251
Masson, Jeffrey 34
Matas, Leah 128
Mayberg, Helen S. 65
Mayer, John D.
McCarthy, Susan 34
McDougall, William 20
McFarland, David 35
McGaugh, James L. 63
Mergenthaler, Erhard 180
Merten, Jörg 151-152
Mesquita, Batja 252
328
Personenregister
Messenger, John B. 49
Meston, Cindy M. 89, 103
Meyer, Adolf-Ernst 166
Meyer, Elaine C. 130
Michalson, Linda 115, 120-121, 126
Miketta, Gaby 88, 97, 99, 106
Miller, Nancy B. 129, 131
Mills, C. Wright 195
Mills, Maggie 129
Milrod, Barbara 153
Minsky, Marvin 166
Moir, Anne 90-91
Moll, Jorge 67
Morgan, Drake 65
Morris, John S. 61, 65
Mosbach, Peter 31
Moser, Ulrich 148, 153, 320-321
Mosso, Angelo 57
Murphy, M. R. 100
Murray, Lynne 122, 129, 131
Nash, Robert A. 278
Neu, Jerome 281
Nida-Rümelin, Julian 302
Nieuwenhuyse, B. 249
Nussbaum, Martha C. 264, 277
O’Conner, Cary 241
O’Doherty, John 63
Offenberg, L. 249
Ohl, Frauke 46
Olds, James 47
Oster, Harriet 118-120, 123
Paez, Dario 249, 253, 255
Paivio, Allan 180
Panksepp, Jaak 55
Papousek, Hanus 123
Papousek, Mechthild 123
Paradiso, Sergio 65
Patzig, Günther 275
Pauling, Linus 58
Pauen, Michael 320
Pawlby, Susan J. 125
Pawlow, Iwan P. 117, 190-193
Paykel, Eugene S. 129
Pennebaker, James W. 184, 248-249
Perler, Dominik 273, 295, 298
Petrus, Klaus 263
Phelps, Elizabeth A. 61-62
Philippot, Pierre 249, 252
Phillips, Mary L. 64
Piaget, Jean 165
Pietrini, Pietro 63
Pinker, Steven 287
Pitcher, George 271, 275
Platon 262
Plötzl, Otto 156
Plutchik, Robert 40
Power, Mick 64
Pugmire, David 277, 281
Rachman, Stanley 213
Raine, Adrian 68
Raters, Marie-Louise 68
Rauch, Scott L. 65
Rauland, Marco 89, 95
Redoute, Jerome 103
Reisenzein, Rainer 27
Rey, Georges 263
Rimé, Bernard 207, 249-253, 255
Roberts, Robert C. 271
Rolls, Edmund T. 11, 55-56, 62, 64,
269
Rorty, Amélie O. 263, 268
Rosch, Eleanor 250
Rosenstein, Diana 119-120
Rosenzweig, Mark 41
Roth, Gerhard 139, 149-150, 154, 315
Royet, Jean-Pierre 64
Rubinstein, Benjamin 166
Rusch, Gebhard 145
Russell, James A. 51, 242, 244, 247,
251
Ryle, Gilbert 275
Sabini, John 251
Safran, Jeremy D. 209-210
Salovey, Peter 207
Sander, Louis W. 124
Sandler, Anne Marie 139, 143, 145
Sandler, Joseph 139, 143, 145
Saykin, Andrew J. 165
Schachter, Stanley 17, 27, 115, 120
Schafer, Roy 165
Scherer, Klaus R. 29, 123, 253, 255
Schieche, Michael 128
Schmidt, Martin H. 129
Schmidt, Robert F. 41, 47
Personenregister
Schmücker, Gesine 60, 80, 115-116,
123, 125, 129
Schneider, Frank 68
Schultz, Wolfram 65
Schwartz, Judith 241
Sedley, David N. 264, 276
Selz, Otto 164
Sharp, Deborah 129
Shaver, Phillip 241, 251
Sherrington, Charles S. 117, 190, 192193
Shevrin, Howard 156
Shields, Stephanie A. 249
Shin, Lisa M. 64-65, 68
Shweder, Richard A. 243-244, 247,
251
Silver, Maury 251
Simó, Sandra 127
Singer, Jerome 17, 27, 115, 120
Slaby, Jan 238
Slap, Joseph W. 165-166
Sloman, Aaron 263
Small, Dana M. 63-65
Smith, Roger 190-191
Soderstrom, Henrik 68
Soldati, Gianfranco 281
Solms, Mark 315
Solomon, Robert 277, 291, 296
Spangler, Gottfried 127
Spinoza, Baruch de 262, 264
Sprengelmeyer, Reiner 64-65
Sperry, Roger W. 205
Sroufe, Alan L. 115, 120, 148, 267
Steimer-Krause, Evelyne 151
Stellar, Eliot 47
Stellar, James 47
Stemmler, Gerhard 25
Stephan, Achim 68, 239, 320
Stern, Daniel N. 122, 143, 149
Sternberg, Robert 83-84
Stocker, Michael 267, 277-278
Stoleru, Serge 64
Strauß, Bernhard 80, 143
Streeck, Wolfgang 157
Suess, Gerhard 128
Symonds, Percivall M. 123
Tabert, Matthias H. 63
Taylor, Gabriele 277
Teasdale, John D. 65
329
Tebel-Nagy, Claudia 88, 97, 106
Teller, Virginia 166, 171
Tembrock, Günter 37
Thalberg, Irving 278, 280
Thomä, Helmut 143, 146-148, 158,
165, 181, 320
Tinbergen, Nikolaas 35
Tomkins, Silvan S. 21, 27, 141
Traue, Harald C. 17, 22-24, 26, 28, 3031, 55, 117, 184, 186, 199, 203, 206208, 214, 237, 249, 252-253, 255-256,
258, 310, 314
Trevarthen, Colwyn 122
Tronick, Edward Z. 122, 124
Ulich, Dieter 141
van Ijzendoorn, Marinus H. 126-127,
131
van Lawick-Goodall, Jane 39
Vingerhoets, Ad 184
von Zeppelin, Ilka 153
Vuilleumier, Patrik 61
Wallbott, Harald G. 253
Walter, Henrik 18-19, 26, 51, 57, 62,
68-69, 103, 188, 304
Walter, Sven 320
Wedekind, Dirk 51, 117
Weinberg, M. Katherine 124
Weissman, Myrna 129
Westphal, Carl 218
White, Geoffrey M. 241, 246
Wierzbicka, Anna 245
Willaschek, Marcus 68
Winkielman, Piotr 150
Wollheim, Richard 281, 294
Wouters, Cas 195
Wundt, Wilhelm 184
Wurmser, Leon 152
Young, Larry J. 102
Zajonc, Robert B. 29, 150
Zalla, Tiziana 62
Zegans, Leonard 28
Zeki, Semir 64, 103
Zepf, Siegfried 139-140, 142-143, 145,
149, 152, 154-155
Zimmermann, Peter 128
ZU DEN AUTOREN
BORWIN BANDELOW. Geschäftsführender Oberarzt an der Psychiatrischen
Klinik der Universität Göttingen, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie,
Psychotherapie, Psychologischer Psychotherapeut. 1970-1976 Medizinstudium in Tübingen und Göttingen, 1976-1985 Psychologiestudium in Göttingen, 1978 Promotion in Medizin (Mikrobiologie), 1996 Habilitation in
Psychiatrie und Psychotherapie. 1986-1987 Assistenzarzt im Niedersächsischen Landeskrankenhaus Moringen, 1987-1995 Assistenzarzt in der Psychiatrischen Klinik, der Neurophysiologischen Klinik und der Neurologischen
Klinik der Universität Göttingen; seit 1995 Oberarzt der Klinik und Leiter
der Poliklinik und Angstambulanz, 2000 apl.-Professor, seit 2002 geschäftsführender Oberarzt. Vorsitzender der Gesellschaft für Angstforschung e.V.,
Editor-in-Chief von German Journal of Psychiatry.
CORD BENECKE. Universitätsassistent am Institut für Psychologie der Universität Innsbruck, Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker,
Mitglied der Projektgruppe Klinische Emotions- und Interaktionsforschung
unter Leitung von Prof. Eva Bänninger-Huber. 1987-1994 Studium der
Psychologie an der Universität des Saarlandes, 1994-2001 Wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der Abteilung Klinische Psychologie der Universität des Saarlandes, 2001 Promotion. 1995-2002 Psychoanalytische Weiterbildung am
Saarländischen Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie (DPG), 2002
Fellow am Hanse Wissenschaftskolleg. Forschungsschwerpunkt: Mentale
Repräsentanzen und Affekte bei psychischen Störungen. Autor von Mimischer Affektausdruck und Sprachinhalt. Interaktive und objekt-bezogene Affekte im
psychotherapeutischen Prozeß (Bern 2002).
MONIKA BETZLER. Wissenschaftliche Assistentin am Philosophischen Seminar der Universität Göttingen und Feodor-Lynen-Research Fellow am
Philosophy Department der University of California at Berkeley. Studium
der Philosophie, Literaturwissenschaft und Geschichte in München und
Lyon, 1992 Promotion. 1994-1996 Scholar an der Kennedy School of Government in Harvard. Forschungsschwerpunkte: Moralpsychologie, Ethik,
Handlungstheorie, Theorie der Emotionen. Autorin von Ich-Bilder und Bilder-Welt (München 1994), Herausgeberin von Ästhetik und Kunstphilosophie
von der Antike bis zur Gegenwart. (mit Julian Nida-Rümelin; Stuttgart 1998),
Autonomes Handeln. Beiträge zur Philosophie Harry G. Frankfurts. (mit Barbara
Guckes; Berlin 2000), Harry Frankfurt: Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Aufsätze. (mit Barbara Guckes; Berlin 2001) und Practical Conflicts.
New Philosophical Essays (mit Peter Baumann; Cambridge, im Erscheinen).
Zu den Autoren
331
GERHARD DAMMANN. Oberarzt und Ärztlicher Abteilungsleiter der Psychotherapeutischen Abteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel,
Diplom-Psychologe, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt
für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker (DPV/IPV). Zahlreiche Publikationen zur Diagnostik und Behandlung von Persönlichkeitsstörungen (insb. der Borderline-Störung), zur Psychotraumatologie und zu den
affektiven Störungen des Wochenbetts, Herausgeber von Psychotherapie der
Borderline-Störungen. (mit P. L. Janssen; Stuttgart 2001).
RUSSELL DEIGHTON. Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für
Medizinische Psychologie der Universität Ulm, Mitglied mehrerer Projektgruppen zum Thema „Emotionale Hemmung und Somatisierung“ unter
Leitung von Prof. Harald Traue, Berater in der Psychosozialen Studentenberatung der Universität Ulm. 1989-1993 Studium der Psychologie und Germanistik in Melbourne, seit 1994 Studium der Psychologie in Konstanz,
1998 Psychologie-Diplom, 2002 Promotion in Humanbiologie an der Universität Ulm mit der Arbeit Culture, emotional inhibition & somatization. (in
press).
SUSANNE ERK. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Psychiatrie III in Ulm, zuvor klinische Tätigkeit in der Inneren Medizin. 19891996 Studium der Medizin in Köln, 1998 Promotion. Forschungsschwerpunkt: Interaktion von Emotion und Kognition, methodische Ausrichtung:
Funktionelle Magnet-Resonanz-Tomographie. Seit 2001 Managing Editor
der Zeitschrift Nervenheilkunde. Wichtigste Arbeiten: Emotionalität in historischen Psychopathiekonzepten und ihre Bedeutung für ein modernes Verständnis der
Persönlichkeitsstörung (Dissertation 1998), „Denken mit Gefühl: Der Beitrag
von funktioneller Bildgebung und Simulationsexperimenten zur Emotionspsychologie“ (mit H. Walter; Nervenheilkunde 19 (2000): 3-13), „Cultural
objects modulate reward circuitry“ (Erk et al.; Neuroreport 13 (2002): 24992503, „Emotional context modulates subsequent memory effect“ (Erk et al.;
Neuroimage 18 (2003): 430-447).
MICHAEL HÖLZER. Chefarzt im Bereich Psychotherapie an der Sonnenberg
Klinik in Stuttgart, Fachleiter eines Verbundes Psychotherapeutischer Kliniken (SINOVA-Kliniken) in Südwürttemberg, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker (DPV). Medizinstudium und Promotion an
der Universität Ulm, Habilitation in der Abteilung Psychotherapie der Universität Ulm. Auswahl an Publikationen: „How to find frames“ (mit H.
Dahl; Psychotherapy Research 6 (1996): 177-196), „Die Entwicklung der freien
Assoziation durch Sigmund Freud“ (mit H. Kächele; Jahrbuch der Psychoanalyse 22 (1988), 184-217).
332
Zu den Autoren
HORST KÄCHELE . Ärztlicher Direktor der Abteilung Psychotherapie und
Psychosomatische Medizin an der Universität Ulm. 1963-1968 Studium der
Medizin in Marburg, Leeds und München, 1968 Promotion zum Dr. med.
1970-1975 psychotherapeutische und psychoanalytische Weiterbildung an
der Abteilung Psychotherapie der Universität Ulm, 1976 Habilitation zu
einem Thema der psychoanalytischen Prozeßforschung. 1977 Leiter der
Sektion Psychoanalytische Methodik an der Abteilung; seit 1988 auch Leiter
der Forschungsstelle für Psychotherapie in Stuttgart. Forschungsfelder:
Psychoanalytische Prozeß- und Ergebnisforschung (u. a. bei Eßstörungen),
Psychosoziale Folgen der Knochenmarktransplantation, perinatale Psychosomatik. Ca. 400 Publikationen; gemeinsam mit Helmut Thomä Autor von
Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie (2 Vol.; in zehn Sprachen übersetzt).
GÜNTER KÄMPER. Außerplanmäßiger Professor in der Abteilung Neurobiologie an der Universität Ulm. Studium der Biologie in Köln, Stipendiat
am MPI für Verhaltensphysiologie in Seewiesen, Forschungsaufenthalte in
den USA und Rußland. Sein besonderes Interesse gilt der Kommunikation
zwischen Tieren sowie der Entwicklung von Nervensystemen. Er ist außerdem freiberuflich als Berater im Internetbereich tätig.
HENRIK KESSLER. Arzt im Praktikum in der Abteilung Psychotherapie und
Psychosomatische Medizin an der Universität Ulm. Studium der Medizin
und Philosophie in Ulm und Porto Alegre, Brasilien, Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes, Promotion 2002 mit der Arbeit Entwicklung
und Reliabilitätsstudie des FEEL-Tests (Facially Expressed Emotion Labeling), tätig in der Lehre der Fächer „Medizinische Psychologie“ und „Ethik
in der Medizin“. Forschungsschwerpunkte: Emotionales Verhalten, Spezifika teilstationärer psychotherapeutischer Behandlung sowie Anwendungsgebiete der philosophischen Diskursethik.
GESINE SCHMÜCKER. Psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie). Seit 1995 Mitarbeit an einer prospektiven Längsschnittstudie zur emotionalen Entwicklung von sehr kleinen Frühgeborenen an der Abteilung für
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Ulm.
Psychologiestudium in Edinburgh, 1989 MA, 1997 PhD an der University
of London. Wichtigste Publikationen: D. Sharp, ..., G. Schmücker et al.
„The impact of postnatal depression boy's intellectual development” (Journal
of Child Psychology and Psychiatry 36 (1995): 1315-1336), H. Kächele, ..., G.
Schmücker et al. (1999). „Entwicklung, Bindung und Beziehung – neuere
Konzepte zur Psychoanalyse“ (in H. Helmchen et al. (Hrsg.) Psychiatrie der
Gegenwart. Berlin 1999), „Mutter-Kind-Interaktion und Bindung in den ersten Lebensjahren“ (mit A. Buchheim; in: B. Strauß, A. Buchheim & H.
Kächele (Hrsg.) Klinische Bindungsforschung. Stuttgart 2002).
Zu den Autoren
333
JAN SLABY. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kognitionswissenschaft und an der Abteilung Philosophie der Universität Osnabrück.
Studium der Philosophie, Soziologie und Anglistik an der HumboldtUniversität Berlin, M.A. 2001 in Philosophie, arbeitet an einer Dissertation
zum Thema Emotionen und Intentionalität. Fernsehreporter für EuroSport
(Basketball).
ACHIM STEPHAN. Professor für „Philosophie der Kognition“ am Institut
für Kognitionswissenschaft an der Universität Osnabrück. 1976-1987 Studium der Philosophie, Mathematik sowie Psychotherapie und Psychosomatik
in Mannheim und Göttingen, 1988 Promotion in Philosophie in Göttingen,
1991 Gastwissenschaftler an der Rutgers University (NJ, USA), 1998 Habilitation für Philosophie an der Universität Karlsruhe und Fellow des HanseWissenschaftskollegs Delmenhorst. 2000-01 Gastprofessor in Ulm, 2002-03
Forschungsgastprofessor an der VU Amsterdam. Publikationen: Sinn als
Bedeutung (Göttingen 1989), Emergenz. (Dresden 1999), Animal Mind (Hg.
mit H. Hendrichs u. F. Dreckmann; Erkenntnis 1999); Ethik ohne Dogmen.
Aufsätze für Günter Patzig (Hg. mit K. P. Rippe; Paderborn 2001); Phänomenales Bewußtsein – Rückkehr zur Identitätstheorie? (Hg. mit M. Pauen; Paderborn 2002).
HARALD C. TRAUE. Professor für Medizinische Psychologie und Leiter der
Sektion für Gesundheitspsychologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm. Nach Studium der Elektrotechnik, Kybernetik, Informatik und
Kommunikationswissenschaft in Lemgo, Berlin und Bremen Beginn der
wissenschaftlichen Tätigkeit an der Universität Ulm. Nach der Promotion
Gastprofessur in Kanada, Leiter der Abteilung Psychophysiologie an der
Forschungsstelle für Psychotherapie Stuttgart und Habilitation für Medizinische Psychologie im Jahr 1986. Seit 1993 als wissenschaftlicher Beirat am
Behandlungszentrum für Folteropfer Ulm, am Behandlungszentrum für
Folteropfer Berlin und am Institut für Fort- und Weiterbildung für Verhaltenstherapie in Bad Dürkheim. Die wissenschaftlichen Arbeitsfelder umfassen: Emotionales Verhalten, Psychophysiologie zentraler und peripherphysiologischer und endokriner Systeme und die Psychosomatik und Verhaltenstherapie von Kopfschmerzen, Chronischen Schmerzen, Depression und
gastrointestinalen Störungen. Ein weiterer Schwerpunkt ergibt sich aus der
Beschäftigung mit Migration und Traumatisierung durch Folter und organisierte Gewalt. Autor von Emotion und Gesundheit. Die psychobiologische Regulation durch Hemmungen (Heidelberg 1998), Mitherausgeber der Zeitschriften
Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin, Medizinische Psychologie und Biofeedback and Self-Regulation.
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Zu den Autoren
HENRIK WALTER. Leitender Oberarzt der 1997 neu eröffneten Abteilung
III der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, Facharzt für Neurologie und
Psychiatrie, Leiter einer Neuroimaging-Arbeitsgruppe mit den Schwerpunkten Gedächtnis, Emotionen und Handlungssteuerung. Die Arbeitsgruppe
untersucht grundlegende Fragestellungen aus der Kognitiven Neurowissenschaft bei Gesunden und entwickelt Paradigmen zur Anwendung bei psychiatrisch erkrankten Patienten. 1981-1988 Studium der Medizin, Philosophie
und Psychologie in Gießen, Marburg und Boston, 1991 Promotion in Medizin, 1997 Promotion in Philosophie, 2003 Habilitation in Psychiatrie. Weiterhin arbeitet er über Fragestellungen aus der Philosophie des Geistes.
Autor von Neurophilosophie der Willensfreiheit (Paderborn, 2. Aufl. 1999).
DIRK WEDEKIND. Wissenschaftlicher Assistent an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Georg-August-Universität Göttingen. Promotion in der Abteilung Neurobiologie bei Prof. Gerald Hüther. Arbeits- und
Interessenschwerpunkte: Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen sowie
somatoforme Störungen. Er hat bisher vor allem im Bereich neurobiologischer bzw. neuroendokrinologischer Aspekte der Panikstörung geforscht
und publiziert. Ein großes Interesse besteht aber auch für die Psychopathologie und Psychopharmakologie sowie allgemeine wissenschaftstheoretische
Fragen in der Psychiatrie und Hirnforschung. Im Rahmen seine klinischen
Tätigkeit arbeitet er momentan in der Ambulanz für Angststörungen und
der Ambulanz für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeiten der Klinik.