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Thomas Benedikter (Hg.) Mit mehr Demokratie zu mehr Autonomie Ausbau der Südtirol-Autonomie? Bürgerinnen und Bürger reden mit Ergebnisse eines Bildungsprojekts POLITiS πολίτης P OL I T I S C H E B I L DU N G U N D S T U DI E N I N SÜ DT I ROL CENTRO SUDTIROLESE DI FORMAZIONE E STUDI POLITICI ZENTER DE STUDE Y DE FORMAZION POLITICA DL SÜDTIROL SOUTH TYROL'S CENTER FOR POLITICAL STUDIES AND CIVIC EDUCATION Reihe Beiträge zur Demokratieentwicklung 2.2014 Thomas Benedikter (Hg.) Mit mehr Demokratie zu mehr Autonomie Ausbau der Südtirol-Autonomie? Bürgerinnen und Bürger reden mit Ergebnisse eines Bildungsprojekts ISBN978-88-88203-50-8 Thomas Benedikter (Hg.) Bozen, April 2014 © Copyright POLITiS Herausgeber: SBZ und POLITiS - Politische Bildung und Studien in Südtirol Weinstr. 60, 39057 Eppan, Tel. +39 324 5810427 info@politis.it www.politis.it Konzept und Redaktion: Thomas Benedikter Lektorat und Übersetzungen ins Italienische: Thomas Benedikter und Monica Margoni Lektorat der italienischen Fassung: Monica Margoni Lektorat der ital. Fassung des Berichts zur Online-Umfrage: Giuliana Cannata Layout und Covergestaltung: Hanna Battisti Druck: ESPERIA Lavis (TN) Fotos: jeweilige Autoren und Referentinnen Mit mehr Demokratie zu mehr Autonomie Ausbau der Südtirol-Autonomie? Bürgerinnen und Bürger reden mit Ergebnisse eines Bildungsprojekts © Das Copyright dieser Publikation unterliegt den Bestimmungen des Creative Commons License “Attribution-Non-Commercial-No Derivs 2.5”. Es steht allen frei, dieses Werk unter folgenden Bedingungen zu verbreiten und wiederzugeben: * Angabe des Autors in der oben angegebenen Form. * Nicht kommerzielle Verwendung: dieses Werk darf nicht für Gewinnzwecke verwertet werden. * Keine transformierte Verwertung: dieses Werk darf nicht in abgeänderter Form oder in Varianten herausgebracht werden. * Für jede Verwendung und Verbreitung müssen gegenüber Dritten die Bedingungen der Creative Commons License klar gestellt werden. Mit Einverständnis des Copyright-Inhabers kann jede der genannten Bedingungen aufgehoben werden. Weitere Informationen unter: http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.5/ Danksagung Ein besonderer Dank geht an alle Referenten und Referentinnen, an alle Experten und Expertinnen, an die Interviewpartner, die ihre im Rahmen dieses Bildungsprojekts geleisteten Beiträge kostenlos für diese Publikation zur Verfügung gestellt und ohne Honorar mitgewirkt haben. Unseren Dank sprechen wir aus dem Land Südtirol (Abteilung Bildungsförderung, Universität und Forschung) sowie der Stiftung Südtiroler Sparkasse für die finanzielle Unterstützung. Wir bedanken uns bei der Autonomen Region Trentino-Südtirol für die finanzielle Unterstützung der italienischen Version dieser Publikation. Zu danken ist dem Forschungsinstitut APOLLIS, Bozen, für die Durchführung der Online-Umfrage. Außerdem geht ein Dank an die Moderatorin der Expertenhearings Monica Margoni, an Hanna Battisti und an die Geschäftsführerin des Südtiroler Bildungszentrums Irene Heufler. Schließlich gebührt Dank und Anerkennung auch allen Teilnehmenden des Bildungsprojekts. POLITiS πολίτης P OL I T I S C H E B I L DU N G U N D S T U DI E N I N SÜ DT I ROL CENTRO SUDTIROLESE DI FORMAZIONE E STUDI POLITICI ZENTER DE STUDE Y DE FORMAZION POLITICA DL SÜDTIROL SOUTH TYROL'S CENTER FOR POLITICAL STUDIES AND CIVIC EDUCATION Reihe Beiträge zur Demokratieentwicklung 2.2014 I N H A LT 6 Mit mehr Demokratie zu mehr Autonomie Otto Saurer 69 Mehr soziale Gerechtigkeit durch mehr Autonomie? Sepp Stricker 7 Ein Bildungsprojekt für mehr Bürgerbeteiligung an der Autonomiereform Thomas Benedikter 73 Mit mehr Autonomie die Gesamteffizienz in der Sozialpolitik optimieren Karl Tragust 9 Die Weiterentwicklung der Südtirol-Autonomie aus der Sicht der Ladiner Christoph Perathoner 76 Eine solidere Finanzierung der Südtirol-Autonomie für mehr Gestaltungsspielraum bei der Finanzpolitik des Landes Eros Magnago 13 Einige Erwartungen an die Reform der Autonomie in der italienischen Sprachgruppe Lucio Giudiceandrea 80 Nutzt Südtirol seine Autonomie in der Wirtschaftspolitik? Alberto Stenico 15 Ethnische Konkordanz und demokratische Legitimation zusammenführen Thomas Benedikter 83 Die Reform der Autonomie aus der Perspektive des Trentino Roberto Toniatti 21 Zentrale Ansatzpunkte zur Vervollständigung der Südtirol-Autonomie Francesco Palermo 88 Die Autonomiereform aus der Sicht von “L’Alto Adige nel cuore” Alessandro Urzì 24 Aufbruch in eine neue Zeit - Überlegungen zur Reform und zu den Grundlagen für ein drittes Südtiroler Autonomiestatut Oskar Peterlini 91 Soll die Verwaltung der Gerichtsbarkeit in die Zuständigkeit des Landes? Ein Gespräch mit Dr. Heinz Zanon 33 Die Versammlung zur Ausarbeitung des neuen Sonderstatuts der Region Friaul Julisch Venetien William Cisilino 97 Welche Kulturautonomie und Bildungspolitik in einem “vollautonomen” Südtirol? Pius Leitner 101 Mehr Souveränität der Bürgerinnen und Bürger in einer vollständigeren Autonomie Thomas Benedikter 106 Für eine Autonomie der Bürger und Bürgerinnen Riccardo Dello Sbarba 39 Die Modernisierung der Sonderstatuten zwischen Pragmatismus und Wunschdenken Robert Louvin 46 Sardinien will einen direkt gewählten statutgebenden Konvent Interview mit On. Pierpaolo Vargiu 110 Autonomiereform und Partizipation Bernd Karner 49 Reformen für das Zusammenleben - Reformen des Autonomiestatuts Günther Pallaver 114 Autonomiereform und Direkte Demokratie Stephan Lausch 53 Die international-rechtlichen Aspekte der Südtirol-Autonomie, die Schutzfunktion, die europäische Integration, die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft Peter Hilpold 118 Modelle für die Weiterentwicklung der Autonomie: der europäische Faktor Esther Happacher Erfahrungen bei der Umsetzung der Südtirol-Autonomie 1973-2010 Karl Rainer 125 59 Ein Meinungsbild zur Autonomiereform Die Online-Umfrage zu den Präferenzen in der Autonomiereform Thomas Benedikter 62 Lücken und Mängel der heutigen Südtirol-Autonomie in der Praxis der Selbstverwaltung Siegfried Brugger 142 Entwurf für ein Landesgesetz zur Einrichtung eines Konvents zur Autonomiereform 150 Die heutigen Vorteile der Autonomie besser nutzen Luisa Gnecchi 159 160 Anhang Der Fragebogen der Umfrage zur Autonomiereform Bibliografie Kurzvorstellung der Veranstalter 66 Eröffnung der Expertenhearings und Reflexionstreffen zur Autonomiereform Einführung Mit mehr Demokratie zu mehr Autonomie Ein Bildungsprojekt für mehr Bürgerbeteiligung an der Autonomiereform Im Namen des Netzwerks für Partizipation im Südtiroler Bildungszentrum eröffne ich das Bildungsprojekt mit Expertenhearings und Reflexionstreffen zum Thema „Mit mehr Demokratie zu mehr Autonomie“ und begrüße Sie auf das Herzlichste. Das Netzwerk für Partizipation ist eine ehrenamtliche Vereinigung zur Stärkung der Partizipation der Bürger auf allen Ebenen und zum Ausbau eines ökosozialen Netzwerks. Schwerpunkte sind vor allem Autonomie, Subsidiarität und Demokratie. Über Jahrhunderte hinweg war die Geschichte Tirols gekennzeichnet vom Ringen um eine Verfassung, die dem Land und seinen Menschen mehr politische Gestaltungsfreiheit und Eigenständigkeit ermöglichen sollte. Das Pariser Abkommen wurde nun zur neuen Magna Charta der Landesverfassung Südtirols. Der Kampf um die verbrieften Rechte dauerte aber über ein halbes Jahrhundert. Nachdem sich nunmehr die große Mehrheit unserer Bevölkerung und zwar aller Sprachgruppen in dieser Autonomie wiedererkennt, sollte man die Chance für eine dynamische Weiterentwicklung ergreifen. Initiativen in diese Richtung gibt es mehrere. Denken wir nur an die Gruppe Manifest/o 2019, mit der das Netzwerk für Partizipation eng zusammenarbeitet. Aber auch verantwortungsvolle politische Parteien und aktive Bürger denken in diese Richtung bis hin zur Einberufung eines gemeinsamen Südtiroler Konvents zur Ausarbeitung einer Landesverfassung. Das SBZ hat sich schon in der Vergangenheit über das Forum für Rechtsvergleichung verschiedentlich mit Autonomiefragen beschäftigt. Mit dieser Veranstaltungsreihe will das Netzwerk für Partizipation einen Beitrag zu Objektivierung dieses nicht einfachen Fragenkomplexes leisten. Wir sind Dr. Thomas Benedikter, der schon in der Vergangenheit an diesem Thema gearbeitet hat, für die Entwicklung dieses Projekts dankbar, das er gemeinsam mit Monica Margoni und der Sozialgenossenschaft POLITiS koordiniert. Außerdem bedanken wir uns bei der Wissenschaftsabteilung des Landes und bei der Stiftung Südtiroler Sparkasse, die das ganze Projekt durch ihren finanziellen Beitrag erst ermöglicht haben. Es ehrt uns, dass der Bürgermeister und der Stadtrat von Bozen die Schirmherrschaft übernommen haben. Ein Dank geht auch an alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen und ein besonderes Dankeschön allen Referenten und Referentinnen für ihre ehrenamtliche Mitwirkung an diesem Projekt. Dr. Otto Saurer, Präsident des Südtiroler Bildungszentrums Bozen, 27. September 2013 Der Ausbau der Autonomie bildet in diesen Jahren ein zentrales Thema der Südtiroler Politik. Um die schrittweise Verbesserung der Autonomie bemühen sich die Südtiroler Vertreter in Rom seit Langem, sowohl im Parlament wie in den paritätischen Kommissionen. Doch erst ein Mal ist in das jetzt 42 Jahre alte Autonomiestatut eingegriffen worden, nämlich mit der Verfassungsreform von 2001. Diese Änderungen sind noch nicht formal ins Statut eingefügt worden. Heute geht es darum, das Autonomiestatut in vielen Punkten auf einen neuen, besseren Stand zu bringen. Die SVP hat die "Vollautonomie" zum neuen Leitbild erklärt, deutsche Oppositionsparteien propagieren die Selbstbestimmung mit verschiedenen Optionen neuer staatlicher Organisation des Landes, italienische Parteien haben sich noch nicht klar positioniert, andere befürworten vor allem die Verbesserung des Verhältnisses zwischen den Sprachgruppen. Weitgehende Einigkeit besteht jedenfalls darin, dass es eine Reform des Statuts braucht und dies mit mehr Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen geschehen soll. Somit ist die Bevölkerung mit auseinander strebenden Projekten zur politischen Zukunft Südtirols konfrontiert, die sich scheinbar ausschließen. Es besteht die Gefahr, dass keine für die deutliche Mehrheit der Südtiroler aller Sprachgruppen überzeugende und tragfähige Reform der Autonomie wie 1969/70 vorangebracht wird, sondern kontrastierende Positionen zu immer mehr gegenseitiger politischer Blockade führen. In Rom stehen zur Zeit die Zeichen für einen mutigen Ausbau der Sonderautonomien nicht besonders gut. Südtirol muss auf einigen Gebieten sogar darum kämpfen, das Erreichte zu bewahren. Dabei steht die Südtiroler Bevölkerung vor einer wichtigen Chance. Nach Jahrzehnten relativ erfolgreicher Umsetzung der Paket-Autonomie von 1972, unterstützt durch vorteilhafte Finanzierungsabkommen mit Rom, ist das Bewusstsein verbreitet, dass die Territorialautonomie nicht nur der ganzen Bevölkerung Vorteile bringt, sondern dass Umfang und Tiefe der autonomen Regulierungskompetenzen erweitert werden können, und zwar mit dem Einverständnis breiter Teile der italienischen Sprachgruppe. Damit kann die Qualität der Selbstregierung, die stabile wirtschaftliche und soziale Entwicklung gefördert werden, auch einige Regeln zum Ausgleich der Sprachgruppeninteressen können angepasst werden. Käme eine breite, sprachgruppenübergreifende Legitimation für ein drittes, wesentlich verbessertes Autonomiestatut zustande, wäre das gegenüber Rom ein herausragender Trumpf, diese Reform im Parlament auch durchzusetzen. Bisher gab es in Südtirol selbst keinen institutionellen Rahmen, in welchem ein solches Reformprojekt mit pluralistischem und transparentem Verfahren erarbeitet, diskutiert und 6 7 verabschiedet werden konnte. Die Südtirol-Autonomie war bisher absolute Expertensache. Eine Handvoll SVP-Fachleute sitzen bei diesen Verhandlungen einigen Experten der Regierung gegenüber, obwohl das Autonomiestatut und seine Durchführungsbestimmungen nichts anderes sind als eine "Landesverfassung". Zudem haben die heutigen Regierungsparteien in Bozen im Unterschied zu 1969 politisch gesehen nur mehr eine knappe Mehrheit. Weder der Landtag als Institution, die den inneren Pluralismus widerspiegelt, noch die Bürger und Bürgerinnen, die Souveräne in der Demokratie, haben echte Mitwirkungsrechte. Es besteht ein Problem demokratischer Legitimation. Ein Ausweg könnte eine Art konstituierende Landesversammlung sein, auch "Konvent" genannt, der in anderen Regionen schon erprobt worden ist. Strittig ist, ob er nur nominiert oder direkt gewählt werden soll, ob ihm Mandatsträger und Experten oder frei gewählte Volksvertreter angehören sollen. Klar ist, dass damit ein offener Informations- und Willensbildungsprozess zum Autonomieausbau erfolgen und ein Konsens zumindest bei der Mehrheit aller Sprachgruppen erzielt werden könnte. Es besteht die Chance, einen Qualitätssprung in unserem Gemeinwesen von der bisher eher "dissoziativen Autonomie" zur "assoziativen Autonomie" zu schaffen (Günther Pallaver). Im Hinblick auf die Einrichtung eines solchen Konvents für ein 3. Autonomiestatut wollte das Südtiroler Bildungszentrum in Zusammenarbeit mit der Sozialgenossenschaft POLITiS ein vorbereitendes Bildungsprojekt anbieten. Die Südtirol-Autonomie ist ein sehr komplexes Regelwerk, das vielen Menschen im Land nicht so vertraut ist. "Autonomiekunde" gibt es noch kaum in der Schul- und Erwachsenenbildung, doch mehr Kenntnisse unserer Autonomie sind eine Voraussetzung für bewusste und kritische Beteiligung. Dieses Bildungsprojekt hat fast 30 Experten und Expertinnen mit den TeilnehmerInnen zu Anhörung und Dialog zusammengeführt, in Reflexionstreffen in kleinerem Kreis sind einige Themen vertieft worden, eine Online-Umfrage hat die Reichweite einer denkbaren Reform und die Akzeptanz zahlreicher Vorschläge ausgelotet. Erfahrene Wissenschaftler, Politikerinnen und Fachleute erläuterten eine ganze Reihe wesentlicher Aspekte. Was nicht geleistet werden konnte, ist die Formulierung einer neuen Vorlage eines Statuts, was einem demokratisch legitimierten Konvent vorbehalten bleibt. Der vorliegende Band sammelt die knapp 30 Expertenbeiträge und das zentrale Referat des Abschluss-Symposiums, und bringt kurz gefasst die Ergebnisse der Umfrage. Eingegangen wird außerdem auf das erforderliche partizipative Verfahren der Ausarbeitung des neuen Statuts und auf die demokratischen Beteiligungsrechte, die im Statut verankert werden sollten. "Die Bürger und Bürgerinnen reden mit", war das Motto dieser Initiative, anders gesagt: "Mit mehr demokratischer Beteiligung zu einem besseren Statut, das neue demokratische Spielräume und direkte Teilhabe ermöglicht". Einen kleinen Beitrag zu diesem Anliegen könnte dieses Projekt leisten. Dr. Thomas Benedikter Projektleiter, Präsident des Verwaltungsrats von POLITiS 8 Die Weiterentwicklung der Südtirol-Autonomie aus der Sicht der Ladiner Christoph Perathoner Aus der Sicht der Ladiner über die Autonomieentwicklung zu sprechen, ist eine in dieser Zeit spannende Herausforderung. Als Ladiner in der SVP durften wir vor zwei Jahren einen Gesetzentwurf vorbereiten, der im Parlament 2012 erstmals vorgelegt und 2013 wieder eingebracht worden ist. Damit sollen einige Diskriminierungen der ladinischen Volksgruppe innerhalb des Autonomiestatuts beseitigt werden. Die ladinische Volksgruppe hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten in Südtirol stark weiterentwickelt. Zunächst hatte sie nach der Annexion 1919 kein ethnisch ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Erst im 19. Jahrhundert kam man in der Linguistik zum Schluss, dass Ladinisch nicht bloß ein italienischer Dialekt, sondern eine eigenständige Sprache ist. Dies hat dazu geführt, dass es bei den Ladinern in der Geschichte nie zu einem starken ethnischen Zusammengehörigkeitsgefühl gekommen war. Auch einzelne Kundgebungen wie jene am 5. Mai 1920 am Grödnerjoch für das Selbstbestimmungsrecht und mehr Eigenständigkeit der Ladiner waren eher von kleinen Eliten gesteuert, während die Bevölkerung dies nicht so sehr als Zeichen des eigenen Ladinertums betrachtete, sondern eher als ein Bekenntnis zum Tirolertum. Man war "ethnisch" gesehen eher Tiroler als Ladiner. Vor und während des 2. Weltkriegs wurden solche ethnische Eigenständigkeiten vom faschistischen Regime negiert, die im Ladinischen einen Dialekt sehen wollten. Nach dem Krieg war unter den Ladinern noch lange Zeit eine erhebliche politische Polarisierung zu spüren, vor allem infolge des Risses der Option, der quer durch die Ladiner ging. Noch in meiner Jugendzeit identifizierte man sich in Gröden als Dableiber- oder Optantenfamilien. Erst seit 30 Jahren setzte hier eine Korrektur ein. Nach dem 2. Weltkrieg blieben die Dolomitenladiner aufgeteilt auf drei Provinzen, Südtirol, Trentino und Belluno, weshalb das Ladinische eine ganz unterschiedliche Entwicklung erfahren hat. So haben sich etwa bei der Sprache erst nach der Aufteilung die ladinischen Idiome stärker auseinander entwickelt, weil sie verschiedenen Rahmenbedingungen unterworfen waren. Im Ampezzo spricht heute nur mehr ein kleine Minderheit Ladinisch, während das Fassatal ganz klar aufgeholt hat. Ein ethnisches Bewusstsein als Ladiner haben wir eigentlich erst seit den 1980er Jahren. Ich stamme aus einer komplett ladinischen Familie, doch hat z.B. mein Großvater selbst an Familienangehörige immer auf Deutsch geschrieben, nie Ladinisch. Auch mein Vater schrieb nie auf Ladinisch. Für mich ist die Verwendung des schriftlichen Ladinischen etwas ganz Alltägliches: gegenüber Ladinern verwende ich automatisch immer Ladinisch, ganz gleich ob ich eine SMS sende, einen Geschäftsbrief oder einen Liebesbrief. Damals konnte man das schriftliche Ladinisch einfach nicht lernen. Als Schriftsprachen waren früher bei uns nur 9 Italienisch und Deutsch zugelassen, als "anständige, ordentliche Sprachen", wie es hieß. Wir haben somit als Ladiner in sprachlicher Hinsicht seit den 1980er Jahren eine starke Entwicklung vollzogen und ein weit stärkeres Bewusstsein kultureller Eigenständigkeit entwickelt. Das ist auch die Grundvoraussetzung, wenn wir von einer Eigenständigkeit der ladinischen Sprachgruppe sprechen, die sich kollektiv artikuliert und auch kollektiv an der Reform des Autonomiestatuts beteiligt sein will. Wenn wir nämlich diese Frage politisch betrachten, waren es bisher in Ladinien nur kleine Eliten, die sich mit der Politik beschäftigt haben und diese Elite hatte man gleich irgendwo eingebaut, weil man froh war, auch irgendwo einen Ladiner platzieren zu können, der manchmal schon zu einer Art Alibi-Ladiner oder VorzeigeLadiner geriet. Auch nach 1945 hatten die Ladiner politisch eine ziemlich schwache Position, denn Italien betrachtete uns immer noch als eine Art Italiener. So werden wir im Pariser Vertrag nicht explizit genannt, obwohl Österreich das gefordert hatte. Genauso wenig wollte man uns 196061 bei den UN-Resolutionen einschließen, die somit die Ladiner nicht ausdrücklich nannten, sondern auf die "österreichischen Minderheiten" in Italien Bezug nahmen. Nicht einmal bei der Streitbeilegungserklärung 1992 wurden die Ladiner ausdrücklich genannt. Wie auch immer, wir haben mit dem 2. Autonomiestatut von 1972 eine wesentliche Aufwertung erfahren. Ganz wesentlich war dabei das bereits nach dem II. Weltkrieg eingeführte und dann weiterentwickelte paritätische Schulsystem, das uns auf den Leib geschnitten ist. Für uns war eindeutig das 2. Autonomiestatut die Magna Charta, während wir im Pariser Vertrag gar nicht erwähnt werden. Natürlich ist auch das 2. Autonomiestatut in einigen Punkten verbesserungsbedürftig, weshalb wir 2012 und 2013 diesen Verfassungsgesetzentwurf eingebracht haben, bei welchem ich selbst mitarbeiten durfte. Autonomie ist ein dynamischer Prozess, genauso wie das Minderheitenrecht und man muss versuchen, immer mehr Menschen dafür zu gewinnen. Als Ladiner konnten wir politisch direkt partizipieren. Allerdings als ich in Gröden und im Gadertal Veranstaltungen anbot, um unsere Vorstellungen zur Verbesserung der Autonomie vorzustellen, kamen relativ wenige Leute. Ich war teilweise schockiert, wie wenig das Autonomiestatut bekannt ist. Auch einige Vertreter der SVP, Bürgermeister und Ortsobleute haben sich kaum die Mühe gemacht, diese Fragen etwas zu vertiefen. Wir haben im Autonomiestatut einige Passagen vor allem formaler Natur, die man ändern muss. Ein sehr substanzielles Thema ist aber jenes des Proporzes bei den höheren Positionen. Hier gibt es im Allgemeinen für die Ladiner recht wenig Stellen, weil wir nur etwas mehr als 4% der Bevölkerung ausmachen. Deshalb bleibt bei einer relativ kleinen Zahl ausgeschriebener Stellen für die Ladiner oft keiner übrig. Wir haben seit September 2013 endlich einen ladinischen Richter am Landesgericht, was auch ein Fortschritt ist. Bisher waren beim Gericht zwar Stellen für Ladiner vorgesehen, doch fand sich kein ladinischer Richter. Dies hat aber auch mit der guten Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage in den ladinischen Tälern zu tun. Vielleicht haben sich Ladiner aber auch einfach in Vergangenheit zu wenig gewehrt, wes- 10 halb wir im Autonomiestatut immer noch einige Lücken bezüglich der Ladiner feststellen. So muss z.B. immer noch der Landeshauptmannstellvertreter der deutschen oder italienischen Sprachgruppe angehören, kann also kein Ladiner sein. Ein Ladiner kann in Südtirol Landeshauptmann werden, nicht jedoch sein Stellvertreter. Das muss geändert werden. Wie steht es mit den Ladinern in der Landesregierung? Die Landesregierung wird aufgrund des Sprachgruppenverhältnisses im Landtag zusammengesetzt. Laut Statut kann heute ein Ladiner abweichend vom strengen Proporz im Landtag in der Landesregierung vertreten sein. Doch mit unseren 4% hatten wir bisher keinen Rechtsanspruch, nur fakultativ kann man einen Ladiner in die Landesregierung kooptieren. Im Rahmen einer Autonomiereform ist zu überlegen: sollen die Ladiner zwingend in der Landesregierung vertreten sein, auch wenn kein Ladiner als direkter Koalitionspartner der Regierungsparteien auftritt, also nur als ethnische Vertretung wie bei den Italienern? Laut Statut müssen nur im Landtag alle drei Sprachgruppen vertreten sein, nicht aber in der Landesregierung. Hier gilt gegenwärtig noch die Kann-Bestimmung für die Ladiner. So ist es dem Gutdünken der Mehrheitspartei überlassen, einen Ladiner aufzunehmen oder auch nicht. Wir haben eine andere wichtige minderheitenrechtliche Bestimmung bezüglich des Verfahrens zur Verabschiedung des Haushaltsvoranschlags durch den Südtiroler Landtag. Jede Sprachgruppe kann laut Statut über bestimmte Kapitel im Haushalt getrennt für sich abstimmen. Wenn der Haushaltsvoranschlag von einer Sprachgruppe mehrheitlich abgelehnt wird, kommt eine Kommission zum Einsatz bestehend aus zwei deutschen und zwei italienischen Mitgliedern, die zusammen eine Lösung suchen. Wenn dies nicht gelingt, ist das Verwaltungsgericht Bozen anzurufen. Carlo Willeit hatte zu Recht das Problem des fehlenden ladinischen Mitglieds dieser Schlichtungskommission in einer Anfechtung aufgeworfen, und auch den Ladineranteil bei den Mitteln des geförderten Wohnbau zum Thema gemacht. Hier befinden ja heute noch ausschließlich Deutsche und Italiener darüber, ob man den Ladinern bestimmte Mittel zur Verfügung stellen soll. Diese Bestimmung sollte aus meiner Sicht so abgeändert werden, dass eine 3er-Kommission mit Abgeordneten aller drei Sprachgruppen darüber entscheidet. In zweiter Instanz entscheidet dann das Verwaltungsgericht. Auch im Art. 89 des Statuts hat man die Ladiner vergessen. Es geht zwar um einen Sachverhalt von geringer Bedeutung, doch ist diese Lücke wiederum symptomatisch. Absatz 6 und Absatz 7 regeln, wie die Staatsbediensteten auch außerhalb des Landes und der Region versetzt werden können. Weitere Bestimmungen sind folgende: maximal 10% der Bediensteten der deutschen Volksgruppe können an einen Dienstort außerhalb der Provinz versetzt werden, z.B. Postbeamte, INPS-Angestellte usw. Die Ladiner hat man hier einfach vergessen. Dasselbe gilt für die Richter, die nicht versetzt werden dürfen, sofern sie der deutschen Sprachgruppe angehören. Laut Art. 89 des Statuts gibt es einen spezifischen Richterwettbewerb für die Südtiroler. Doch ladinische Richter dürfen im Unterschied zu Richtern, die der deutschen Sprachgruppe angehören, beliebig versetzt werden. Es ist nicht explizit vorgesehen, dass auch Ladiner nicht versetzt werden dürfen. 11 Ein weiterer paradoxer Artikel ist jener zur Besetzung des Verwaltungsgerichtshofs Bozen. Wir haben dort acht Richter, jeweils vier der deutschen und italienischen Sprachgruppe, aber keinen ladinischen. Vier werden von Rom, vier von Bozen bestimmt, aber kein Ladiner ist als Verwaltungsrichter zugelassen. Pikant ist schon, dass ein Ladiner in ganz Italien Verwaltungsrichter werden kann, in Südtirol hingegen nicht. Ähnliches gilt für die Besetzung des Staatsrats, wo Südtirol laut Art. 93 des Statuts die Möglichkeit hat, zwei Staatsräte vorzuschlagen. Wiederum wird die ladinische Volksgruppe nicht genannt. Was ich für geradezu pervers halte, ist die Besetzung der 12er- und 6er-Kommission, die für die Ausarbeitung der Durchführungsbestimmungen zum Statut zuständig sind. Hier waren bis vor Kurzem nur Deutsche und Italiener vertreten. Nur Beppe De Tomas war für kurze Zeit Mitglied der 12er-Kommission. Dabei hat es auch innerhalb der SVP durchaus Meinungsverschiedenheiten zwischen Deutschen und Ladinern zu einzelnen Fragen der Umsetzung der Autonomie gegeben. Jedenfalls müssen in diesen wichtigen paritätischen Kommissionen alle drei Sprachgruppen vertreten sein. Für die Ladiner muss somit ein Rechtsanspruch zur Mitgliedschaft in der 6er-Kommission geschaffen werden Wir tun gut daran, diese Fleißaufgabe zu machen, wenn wir über ein drittes Autonomiestatut nachdenken. Wir müssen auch versuchen, die Bevölkerung viel stärker einzubeziehen. Für uns als Minderheit ist es wichtig, dass immer mehr Menschen für dieses Anliegen sensibilisiert werden. Autonomie ist etwas Dynamisches, es geht um Territorialautonomie, aber auch um Minderheitenschutz. Außerdem geht es um die tatsächliche Einbindung der Bevölkerung in die Weiterentwicklung der Autonomie, was nicht nur Sache einer kleinen Elite von Juristen bleiben darf. DDr. Christoph Perathoner, Rechtsanwalt in Bozen, SVP-Bezirksobmann in Bozen, Spitzenvertreter der Ladiner in der SVP Einige Erwartungen an die Reform der Autonomie in der italienischen Sprachgruppe Lucio Giudiceandrea In meinem Beitrag gehe ich auf die Erwartungen der italienischen Sprachgruppe in Bezug auf die Autonomie ein. Aus geschichtlicher Perspektive betrachtet ist die Autonomie eine Errungenschaft der deutschen Sprachgruppe, die formell auch von einem beträchtlichen Teil der italienischen Parteien unterstützt worden ist. Diese Parteien, Koalitionspartner der SVP, haben diese Unterstützung mit einem gewissen Verlust an Konsens bei ihren Wählern bezahlt. Die Autonomie ist von den Italienern nicht gerade enthusiastisch aufgenommen worden, vielmehr haben sie eben "die Kröte geschluckt". Der Beweis dafür ist der jahrelange Erfolg der nationalistischen italienischen Rechten, die Unterschriftensammlung in den 1980er Jahren zur Abschaffung des Proporzes, das Referendum zum Siegesplatz. Seit 15 Jahren ändern sich die Dinge langsam hin zu einer Öffnung der Italiener gegenüber der Autonomie. Jetzt betrachten auch die Italiener die Autonomie als Gewinn und Chance, was durch die Wahlkoalitionen des PD mit der SVP belegt wird. Auch in der Arbeitswelt wird die Autonomie begrüßt, wo die Gewerkschaften mehr lokale Autonomie in den Kollektivverhandlungen verlangen. Man kann jedoch eine gewisse Asymmetrie beobachten. Während auf der einen Seite die deutsche Sprachgruppe neue, weitergehende Formen von Autonomie anstrebt, ist die italienische Sprachgruppe bei der geltenden Autonomie gerade erst angekommen. In Südtirol gibt es zudem die "ethnische Besonderheit". Somit zeigt sich heute ein fragiles Gleichgewicht: zum einen Meinungsverschiedenheiten und neue ethnische Auseinandersetzungen, wenn wir etwa an die Toponomastik denken; zum anderen Annäherungen wie etwa im Bereich der Schule und der Mehrsprachigkeit. Die Zukunft der Autonomie hängt von uns ab, also davon, was wir anstreben und was wir aus der Autonomie machen wollen. Hinsichtlich der Medienlandschaft und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens muss auf die Besonderheit der RAI in diesem Kontext bei der Entwicklung einer neuen Autonomie hingewiesen werden. Das bis heute bei der Programmgestaltung angewandte System ist ein Nacheinander von Sendungen in verschiedenen Sprachen, was auf ein "Nebeneinander" hinausläuft. Während die TV-Sendungen auf Deutsch, Italienisch und Ladinisch auf dem selben Kanal gesendet werden, gilt dies nicht für den Rundfunk. Die Radiosendungen in italienischer Sprache werden auf Radio 1 und Radio 2 gesendet, nicht auf dem 4. Netz, das die deutschen und ladinischen Sendungen bringt. Während sich auf der einen Seite das Bildungsniveau und das Niveau der öffentlichen Meinung laufend verbessert haben, entspricht das quantitative Angebot an italienischsprachi- 12 13 gen Sendungen nicht dem Bedarf und den Erwartungen des hiesigen Publikums, obwohl wir eigentlich dank der Autonomie über mehr Kompetenzen als andere Regionen Italiens verfügen. Darüber hinaus müssen wir unsere Rundfunkkapazitäten mit Trient teilen, weil das aufgrund der regionalen Autonomie so geregelt worden ist. Es gibt nicht genügend italienische Sendungen, die ausreichend Zeit für aktuelle Themen bieten, vergleichbar mit der Sendezeit der deutschsprachigen RAI-Redaktion. Es braucht aus meiner Sicht etwas mehr, wie z.B. den deutsch-französischen Kanal ARTE, der die Verständigung zwischen Franzosen und Deutschen als sein Grundanliegen betrachtet. Warum könnte man nicht Sendungen anbieten, in welchen jeder seine Sprache spricht? Mit zwei Moderatoren, die jeweils in ihrer Sprache zusammenfassen und leiten? Man muss "Lust auf den Anderen" schaffen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk braucht mehr Handlungsfreiheit, also mehr Freiheit und mehr Spielraum in der Programmgestaltung, auch um für einen gewissen Austausch zwischen den drei Redaktionen sorgen. Er muss in die kulturelle Weiterbildung der Mitarbeiter investieren und den Austausch und die gegenseitige Kenntnis fördern. Mehr Autonomie erreicht man mit mehr Zusammenleben. Lucio Giudiceandrea, Journalist der italienischen Redaktion der RAI Bozen, Buchautor, Mitinitiator der Initiative Manifest/o 2019 Nominierter oder gewählter Konvent: Welches Verfahren zur Reform der Autonomie? Ethnische Konkordanz und demokratische Legitimation zusammenführen Thomas Benedikter Dass das Autonomiestatut reformiert werden muss, dazu scheint inzwischen allgemeiner Konsens zu bestehen. Seit Abgabe der Streitbeilegungserklärung 1992 und seit der Verfassungsreform 2001 hat sich ein hoher Reformbedarf aufgestaut, nicht nur um die Territorialautonomie zu erweitern, sondern allein schon um bereits erfolgte Änderungen in ein organisch aufgebautes "Grundgesetz" (eine Art Landesverfassung) zu überführen. Demokratische Mehrheiten scheinen dafür in Südtirol vorhanden zu sein, und einige Teile einer solchen Reform sind inhaltlich im Verfassungsgesetzentwurf Nr.32 vom 15.3.2014 (Unterzeichner Senatoren Zeller und Berger) bereits vorweg genommen. Die Paket-Autonomie von 1972 war ein für die damalige Zeit akzeptabler Kompromiss zwischen den ethnischen Minderheiten, der Schutzmacht Österreich und dem Zentralstaat, doch von vornherein unvollständig und unzureichend. Die gesellschaftliche Entwicklung in Südtirol und die staatlichen Rahmenbedingungen haben einen neuen Bedarf an autonomer Gestaltungsfreiheit und Regulierungskompetenz entstehen haben lassen. Nun wird inzwischen die Forderung nach einer Selbstbestimmungslösung mit verschiedenen Optionen neuer staatlicher Organisation Südtirols von einem wachsenden Teil der Bevölkerung unterstützt, auch wenn diese Optionen "realpolitisch" aussichtslos erscheinen. Im Gegenteil: in Italien ist die Stimmung gegenüber den Regionen mit Sonderstatut sowohl im Parlament wie in der öffentlichen Meinung Italiens ziemlich ungünstig. Dennoch: der Spielraum zur Verbesserung der geltenden Autonomie ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Auf diesem Hintergrund scheint es geboten, ein in Konkordanz der Sprachgruppen mögliches, rechtlich mit der Verfassung vereinbares und demokratisch legitimiertes Projekt zur Autonomiereform von Südtiroler Seite aus vorzulegen. Doch mit welchem Verfahren soll ein solches Projekt zur Reform der Autonomie erstellt werden? Statutsautonomie erforderlich Vorauszuschicken ist in diesen Zusammenhang, dass die Region und die Autonomen Provinzen über keine Statutsautonomie verfügen. Im Unterschied zu den Regionen mit Normalstatut können Italiens Regionen mit Sonderstatut ihr Statut nur im Wege einer Verfassungsänderung gemäß Art. 138 Verf. ändern, weil diese fünf Sonderstatuten Verfassungsrang haben. Gleich wie die Reform inhaltlich ausgestaltet und formuliert ist, sie muss mit zweimaliger 14 15 Lesung vom Parlament beschlossen werden, künftig wohl nur mehr in der Abgeordnetenkammer. Kein Wunder, dass in 42 Jahren erst einmal (2006) ein solcher Eingriff erfolgt ist. Zumindest ist eine solche Statutenreform gemäß Art. 103, Abs.4 des Statuts, keinem bestätigendem Referendum auf nationaler Ebene unterworfen, aber auch nicht auf Regions- und Landesebene. Die betroffenen BürgerInnen können also nicht abschließend darüber befinden. Südtirol verfügt nicht über Statutshoheit (autonomia statutaria) wie etwa die Schweizer Kantone mit ihrer Kantonalverfassung oder die österreichischen Bundesländer. Zudem hat der Landtag nur sehr beschränkte Rechte auf Initiative und Mitwirkung bei einer Statutsänderung. Er kann zwar Vorschläge zur Statutsabänderung ans Parlament verabschieden, doch die eigentliche Initiative kann formell nur vom Regionalrat gegenüber dem Parlament ergriffen werden (Art. 103, Abs.2 Statut). Andererseits muss der Landtag bei Statutsänderungen von der Regierung gehört werden, hat aber immer noch kein formalisiertes Vetorecht zu den Entscheidungen des Parlaments. Fazit: die politische Opposition im Südtiroler Landtag hat fast kein Mitwirkungsrecht in Autonomiefragen, schon gar nicht die in Südtirol wahlberechtigten Bürger und Bürgerinnen. Die politischen Minderheiten in Südtirol können sich allenfalls mit eigenen Abgeordneten im Parlament artikulieren, was allerdings auch nicht immer gegeben ist. Die BürgerInnen als Souveräne anerkennen Die Bürger sind zwar der Souverän in der Demokratie, haben aber bezüglich des Autonomiestatuts kein Recht auf Petition, geschweige denn echtes Initiativ- oder Referendumsrecht, vergleichbar mit den Volksrechten in allen Schweizer Kantonen und den deutschen Bundesländern, deren Verfassungen auch durch die Bürger direkt abgeändert werden können. Über die grundlegenden Verfahrensregeln ihres Gemeinwesens selbst abstimmen zu können - das wäre eigentlich Grundelement der Souveränität der Bürger einer Demokratie. Insbesondere das Wahlrecht und die direkte Mitentscheidung in Volksabstimmungen müssten die Bürgerinnen über die Volksinitiative und das bestätigende Referendum selbst regeln können. In den deutschen Bundesländern gehört das Wahlrecht zu den beliebtesten Themen von Volksabstimmungen überhaupt. In Südtirol geht das nicht, eine Volksinitiative zu den sog. Regierungsformgesetzen scheint unzulässig. Laut SVP schließt der Art. 47 des Autonomiestatuts dieses Recht der Bürger nämlich aus und behält es dem Landtag vor. Nur zum bestätigenden Referendum können die Bürgerinnen oder 7 Landtagsabgeordnete greifen, wenn ein Wahlgesetz oder Direkte-Demokratie-Gesetz nicht passt, was am 9.2.2014 geschehen ist, um das SVP-gesetz zur Direkten Demokratie zu verhindern. Konsequente Statutshoheit würde bedeuten, den betroffenen Bürgerinnen und ihren direkten politischen Vertretern das unmittelbare Recht einzuräumen, das Statut mitzugestalten. Dieses Recht fehlt heute den Regionen mit Sonderstatut Italiens. Verfassungsrechtlich wäre es allerdings nicht zwingend, diesem Teil der Bevölkerung Italiens in diesen fünf Regionen dieses Recht vorzuenthalten. 16 Der Statutenkonvent der Region Friaul Julisch Venetien Eine zweite Möglichkeit der Revision von Sonderstatuten ist von anderen Regionen ergriffen worden. So hat die Region Friaul Julisch Venetien schon 2004 für die Reform ihres Autonomiestatuts einen Konvent einberufen (Regionalgesetz vom 2. April 2004, Nr. 12, mit der offiziellen Bezeichnung “Convenzione per la stesura del nuovo Statuto speciale di autonomia della Regione Friuli Venezia Giulia”). Dieser Versammlung gehörten Regionalratsabgeordnete und VertreterInnen zahlreicher Institutionen, Verbände und gesellschaftlicher Organisationen an, wie die Unternehmensverbände und Gewerkschaften, Kultur- und Sozialverbände, Handelskammern (vgl. den Beitrag von W. Cisilino in diesem Band). Nach nur fünf Monaten intensiver Beratungen und Debatten verabschiedete dieser Konvent den Entwurf eines neuen Statuts, das im Anschluss vom Regionalrat im Herbst 2004 beraten, abgeändert und verabschiedet wurde. Die Steuerung des gesamten Prozesses lag in der Hand des Regionalratspräsidiums. Seit der offiziellen Verabschiedung dieses neuen Statuts durch den Regionalrat und der Vorlage dieses Entwurfs im Parlament am 1. Februar 2005 hat es keine konkreten Ergebnisse gegeben. Von den Beteiligten, den politischen Kräften, der Öffentlichkeit wurde diese Untätigkeit als Missachtung des politischen Willens einer ganzen Region aufgenommen. Eine Konvents-Erfahrung im Aostatal Ein ähnliches Verfahren wählte auch die Region Aostatal. Wie der frühere Regionspräsident Robert Louvin in diesem Band ausführt, hat das Aostatal in einem ersten Anlauf einen Expertenbeirat mit der Überarbeitung des Autonomiestatuts beauftragt (1997-98). 2006 setzte der Regionalrat einen Konvent für das Autonomiestatut ein, der mit breiter Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft bis 2008 in Funktion war. Der Regionalrat nominierte eine Reihe von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens als Mitglieder dieses Konvents: die Handelskammer, Gewerkschaften, wichtige Verbände, die Universität waren vertreten. Die politische Elite hatte zu Recht erkannt, dass eine bloß vom Regionalrat ausgearbeitete Reform ein zu selbstbezogenes Unterfangen wäre, doch gelang es nicht, breitere Kreise der Bevölkerung einzubeziehen. Auch dieser dritte Anlauf zeitigte somit keine konkreten Wirkungen und geriet schließlich mehr zu einer Imageveranstaltung der Region, die die Bürgerschaft nicht tatsächlich in die inhaltliche Debatte einbezog. Seitdem Stillstand: weder gab es innovative Vorschläge noch einen gemeinsamen politischen Willen für eine weitergehende Statutsreform. Diese steht heute nicht auf der politischen Agenda des Aostatals. Die Erfahrung der Region Aostatal kann zwar als interessantes Experiment der Bürgerbeteiligung gelten, war aber in seiner partizipativen Reichweite noch zu begrenzt und in seiner politischen Legitimation zu schwach. Es hat den Anschein, dass die Bürgerbeteiligung bei der Revision von Sonderstatuten zunächst verfassungsrechtlich und regionalrechtlich besser verankert werden muss, um bei der Bevölkerung und in der Politik, also im Parlament, einen höheren Stellenwert zu erhalten. 17 Ein direkt gewählter Konvent auf Sardinien? Von dieser Erkenntnis scheint man auf Sardinien ausgegangen zu sein, wo am 6. Mai 2012 eine regionale Volksabstimmung zur Einsetzung einer direkt zu wählenden "Statut-gebenden Versammlung" abgehalten wurde. 525.000 Sarden gingen zu den Urnen und stimmten der Volksinitiative SARDEGNA SI CAMBIA mit großer Mehrheit zu. Damit übertrugen sie u.a. dem Regionalrat die Aufgabe, die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, einen direkt gewählten Konvent wählen zu können. Wie Initiator Pierpaolo Vargiu in diesem Band ausführt, ist bereits 2001 ein Versuch, das Autonomiestatut mit Verfassungsgesetz zu ändern, damit ein gewählter Konvent einberufen werden kann, im Parlament abgeblockt worden. Der im Wege einer Volksabstimmung von 2012 erfolgte Auftrag für ein derartiges Verfahren zur Statutsreform Sardiniens zielt auch nur auf eine beratende Versammlung ab. Die eigentliche Verabschiedung des neuen Statuts steht dem Regionalrat zu, der eine "moralische Verpflichtung" hätte, den Vorschlag zu übernehmen. Nach den Regionalsratswahlen vom 16.2.2014 muss der neue Regionalrat über die weitere Vorgangsweise dazu befinden. Welche Art von Konvent für Südtirol? Welches Verfahren ist zur Zeit vom Autonomiestatut Trentino-Südtirols für Statutsänderungen vorgesehen? Gemäß Art. 103 Statut kann das Statut mit dem in Art. 138 Verf. vorgesehenen Verfahren abgeändert werden, wobei ein nationales bestätigendes Referendum ausgeschlossen ist. In der Praxis wird eine Statutsabänderung in bilateralen Verhandlungen zwischen den Spitzen der Regierungsparteien sowie zwischen der Staats und Landesregierung vorbereitet. 2001 haben sich im Rahmen der Verfassungskommission Parlamentarier verschiedener Parteien beteiligt, außen vor bleibt dagegen der Landtag und alle nicht in der Regierung vertretenen Parteien. Diese haben allerdings seit den letzten Landtagswahlen gut 47% der Stimmen und 16 von 35 Sitzen im Landtag. Somit besteht nicht nur ein Mangel an direkter Partizipation der Bevölkerung an diesem Verfahren, sondern auch ein Mangel an politischer Legitimation. Dieses Verfahren spiegelt den bisher absolut Elite-geprägten Zuschnitt der Autonomieverhandlungen wider: einige Regierungsexperten sitzen dabei einigen SVP-Experten gegenüber. Die Bevölkerung würde vor fertige Ergebnisse gestellt, also von oben "beglückt". Demokratischere Verfahren zur Statutsabänderung sind nicht nur vorstellbar, sondern in autonomen Regionen anderer Länder durchaus gängige Praxis (Katalonien, Åland-Inseln, Färöer-Inseln, Baskenland). Dabei geht es nicht nur darum, dem Regionalparlament eine weit stärkere, wenn nicht gar entscheidende Rolle in der Statutenrevision zu verschaffen, sondern auch die Vorstellungen und Präferenzen der gesamten Bevölkerung und aller Sprachgruppen einfließen zu lassen. Dies bedeutet, dass den Bürgerinnen ein direktes Vorschlags- bzw. Initiativrecht eingeräumt werden muss. Dadurch würde der Revisionsprozess nicht nur transparenter, sondern auch demokratisch weit besser legitimiert. Wenn die Reform abschließend einem bestätigendem Referendum unterworfen wird, wird die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit zur Grundlage der politischen Legitimation, ein gegenüber dem Zentralstaat sehr gewichtiger Faktor. 18 Ein Landesgesetz zur Einsetzung des Autonomie-Konvents Bevor also die Reform des Autonomiestatuts inhaltlich durch eine wie immer bestellte Versammlung bearbeitet wird, muss mit Landesgesetz die rechtliche Möglichkeit eines Konvents geschaffen werden, der dem Landtag und dem Regionalrat Statuten zur Beschlussfassung vorlegen kann. In diesem Gesetz müssten sein Bestellungsmodus (Direktwahl, Nominierung), seine Arbeitsweise (Geschäftsordnung) und die Art der Bürgerbeteiligung festgelegt werden. Auch der Stellenwert des Ergebnisses im nachfolgenden Gesetzgebungsverfahren im Landtag und im Parlament muss geklärt werden. Ein Entwurf eines solchen Landesgesetzes wird im letzten Beitrag dieses Bandes vorgelegt. Um den grundlegenden Charakter einer statutgebenden Versammlung zu erfüllen, sollten diesem Konvent alle wahlberechtigten Bürger und Bürgerinnen angehören können, die von Parteien, Bürgerplattformen und wahlwerbenden Listen nominiert und direkt gewählt werden. Aktive Mandatsträger im Landtag und im Parlament müssen davon ausgeschlossen bleiben, weil sie im demokratischen Verfahren der Statutsreform zu einem späteren Zeitpunkt eine aktive Rolle spielen. Der Konvent sollte die Bürgerinnen und die Gesellschaft in seine Beratungen einbeziehen, sei es durch Expertenhearings und Vernehmlassungen, durch die Transparenz seiner Arbeit und durch ein persönliches Vorschlagsrecht. Wichtig ist die Unterstützung der Konventsmitglieder durch Experten, die von öffentlicher Seite gestellt werden. Eine besondere Herausforderung für einen derartigen "Statut-gebenden Konvent" bildet in Südtirol, im Unterschied zu anderen Regionen mit Sonderstatut und auch zum Trentino, die unverzichtbare "ethnische Konkordanz", also die Abstimmung zwischen den Sprachgruppen in Gleichberechtigung. Mehrere Vorkehrungen sind zu diesem Zweck bereits im Landesgesetz zur Einrichtung des Konvents zu treffen. So kann die Verabschiedung der einzelnen Statutsänderungen wie des gesamten neuen Statuts seitens des Konvents einer qualifizierten Mehrheit unterworfen werden; es kann nach dem Muster des Art. 56 Autonomiestatut eine Klausel zum Schutz der Sprachgruppen bei ethnisch sensiblen Fragen gelten mit einer internen, paritätischen Schlichtungskommission. Dies bedeutet, dass eine Art Vetorecht der Mehrheit der jeweiligen Sprachgruppe bei ethnisch sensiblen Fragen eingerichtet würde, was allerdings die Erklärung der Sprachgruppenzugehörigkeit der Konventsmitglieder voraussetzt. Bei einem bestätigenden Referendum kann das von der INITIATIVE vorgeschlagene "doppelte Mehr" in Anwendung gebracht werden. Damit erhielten die Südtiroler Bürger hinsichtlich ihres Grundgesetzes dasselbe Recht auf ein (provinziales) bestätigendes Referendum, das heute allen Staatsbürgern bei Verfassungsänderungen schon zusteht. Auf jeden Fall wären in einem solchen Verfahren die Bürger und Bürgerinnen auf vierfache Weise in die Mitwirkung einbezogen: - über Plattformen, Listen und Parteien nominieren sie Kandidaten für den Konvent; - sie wählen den Autonomiekonvent direkt (Personenwahl); - sie können im Konvent direkt Vorschläge und Petitionen einbringen; 19 - sie können in einer Volksabstimmung das Ergebnis bestätigen oder ablehnen. Allein durch ein solches Verfahren wären die Menschen dafür motiviert, sich aktiv zu beteiligen. Eine bloße Nominierung der Mitglieder des Konvents von oben hätte nicht dieselbe Wirkung, weder in der Kommunikation mit den Bürgern und Bürgerinnen, noch in der Legitimation nach außen. Mehr Legitimation durch mehr Partizipation Diese Optimalversion eines partizipativen Verfahrens zur Autonomiereform begreift die Südtiroler Bürger und Bürgerinnen als eigentliches souveränes Subjekt der Landesautonomie und ihrer Verfassung. Sie geht von einer Statutshoheit der Autonomen Provinz (autonomia statutaria) aus, die es heute noch nicht gibt. Ein direkt gewählter, statutgebender Konvent ist dabei demokratisch sinnvoll, aber nicht zwingend notwendig. Sofern es sich um weniger umfassende Statutsrevisionen handelt, könnte der Landtag selbst diese Aufgabe rascher und kostengünstiger erfüllen. Auch ein bloß nominierter Konvent nach dem Muster der beratenden Versammlungen zur Statutsreform im Aostatal und Friaul Julisch Venetien würde ein zweifaches Defizit aufweisen: zum einen fehlt ein spezifischer demokratischer Auftrag durch die Wählerschaft; zum anderen hat sich gezeigt, dass das Parlament in Rom dieses leicht "verstärkte Verfahren" der Statutsrevision keinesfalls höher einstuft. Zudem hätte ein bloß nominierter Konvent gerade auf dem Hintergrund der Südtiroler Realität mehrere Mängel. Die Einbeziehung von Verbandsspitzen und Institutionenvertretern würde vielfach nur zur Verdoppelung der Präsenz einer dominanten Partei, nicht aber zur direkten Abbildung der Wählerpräferenzen führen. Auch Kompetenz in Sachen Autonomiestatut ist nicht direkt an irgendein Amt oder Verbandsvorsitz gekoppelt. Ein weiterer gravierender Nachteil eines nominierten Konvents hat sich im Aostatal gezeigt: die Bevölkerung wird nicht wirklich in den statutgebenden Prozess einbezogen - wie etwa im isländischen Verfassungsprozess 2011 - sondern das Ganze wird eher zu einer Imageveranstaltung der Regionalregierung. Ein demokratisch gewählter Statutskonvent führt hingegen zu einer breiten Bewusstseinsbildung über die gemeinsame Zukunft des gesamten autonomen Gemeinwesens. Natürlich braucht es für ein runderneuertes Autonomiestatut immer auch das Plazet des Parlaments, andernfalls könnte es nicht Teil der Verfassung werden. Denn ein Damoklesschwert schwebt über dem ganzen Verfahren ohnehin: welchen Stellenwert würde ein mit Konventsverfahren in Südtirol abgesegneter Vorschlag für ein neues Autoinomiestatut verfassungsrechtlich überhaupt erhalten? Könnte es genauso wie jeder andere Verfassungsgesetzentwurf abgelehnt, völlig verändert oder gar ignoriert werden? Wenn dem so wäre, wäre der ganze Prozess den Aufwand nicht wirklich wert. Thomas Benedikter, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Publizist, Mitbegründer und derzeit Leiter der Sozialgen. POLITiS für politische Bildung und Forschung. 20 Zentrale Ansatzpunkte zur Vervollständigung der Südtirol-Autonomie Francesco Palermo Diese Veranstaltung ist ein sehr interessanter Ansatz zur Bearbeitung dieses Themas, ein Anlass für alle Bürger, sich ernsthaft damit zu befassen, wie bestimmte Aspekte unserer Autonomie verändert werden könnten. Konzentrieren wir uns zunächst auf die Methode, also auf das Verfahren für eine Änderung des Autonomiestatuts. Laut Art. 103 des Statuts kann das heutige Autonomiestatut nur mit einem Verfassungsgesetz geändert werden, das vom Parlament zu verabschieden ist. Die Initiative dafür kann auch vom Landtag ergriffen werden. Ein entsprechender Vorschlag muss jedoch vom Regionalrat, also beiden Landtagen von Trient und Bozen, genehmigt werden. Seit 2001 ist ein bestätigendes Italien-weites Referendum bei Änderungen des Autonomiestatuts unserer Region zum Glück ausgeschlossen. Bei der Änderung des Autonomiestatuts muss man nicht ausschließlich diesen Verfahrensweg des Art. 103 Statut beschreiten, es gibt auch andere Wege mit unterschiedlicher politischer Legitimation, wenn die Grenzen des Art. 103 eingehalten werden sollen. Hier haben wir auch beträchtlichen Spielraum für Kreativität. Für eine stärkere Partizipation der Bürger scheinen allerdings große Hindernisse zu bestehen, und zwar folgender Art: die Gewohnheit, dass Reformen eben von den Politikern bewerkstelligt werden; dann die Notwendigkeit, sich mit einem komplexen Themenbereich auseinanderzusetzen, dann auch das Mehrheitsprinzip. Können wir denn eine Reform des Statuts allein unter Anwendung des Mehrheitsprinzips – ganz gleich ob von politischen Vertretern oder von der Bevölkerung in einer Volksabstimmung – über alle Themen durchführen? Die Antwort darauf muss lauten: weder nur die repräsentative Demokratie, noch ausschließlich die direkte Demokratie kann es sein, wobei Letztere in diesem Fall gar nicht anwendbar ist. Vielmehr geht es darum, mehr Möglichkeiten der Beteiligung zu schaffen. Die Verfahren für eine stärkere Beteiligung können verschiedener Art sein: so gibt es den Weg eines Konvents, etwa nach dem Muster der Ausarbeitung der Reformen der EU-Verträge. Dabei geht es um ein Organ mit gemischter Zusammensetzung, und zwar bestehend zum Teil aus nominierten Experten und zum Teil aus politischen Vertretern, die in ständiger Beziehung zu den Wählern stehen. Dieser Mechanismus gleicht jenem, der auch für die Reform der italienischen Verfassung vorgeschlagen wird. Hier wurde ein „Weisenrat“ vorgeschlagen, der aus Experten oder normalen Bürgern bestehen kann, der getrennt vom normalen parlamentarischen Betrieb operiert. Man könnte auch eine vorbereitende Arbeit an einem neuen Autonomiestatut zusammen mit der Zivilgesellschaft ermöglichen, die dann 21 dem Landtag überreicht würde. Dieser könnte den Vorschlag ausbauen, abändern und dann genehmigen. Die Alternative wäre, über einzelne Themenbereiche zu sprechen, doch in 20 Jahren ist es noch nie gelungen, eine organische Diskussion über die Reform und in diesem Zusammenhang über die Grundlagen unseres Zusammenlebens zu führen. Wie bei jeder Konstruktion gilt es, zuerst eine Entscheidung zur Vorgehensweise zu treffen, um dann das Verfahren zur inhaltlichen Arbeit zu starten. Es gibt einige Knackpunkte, die vorab zu lösen sind, und zwar vor allem auf der Ebene der Regierungsform. Die institutionellen Regelungen des Zusammenlebens der Volksgruppen brauchen ganz bestimmt einige Anpassungen, doch im Brennpunkt der Aufmerksamkeit müssen die Fragen der institutionellen Struktur stehen. Das Regierungssystem der Autonomen Provinzen und der Region, das noch aus dem Jahr 1948 stammt, ist veraltet und nicht mehr zeitgemäß. Inzwischen haben wir die Region ausgehöhlt und den beiden Ländern mehr Kompetenzen übertragen, doch ist das Gesamtsystem unverändert geblieben. In der Provinz Trient hat man einige wesentliche Änderungen im Regierungssystem vorgenommen, wie etwa hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Landesregierung und Landtag und der territorialen Struktur (Talgemeinschaften). Doch nun braucht es einen modernen Verwaltungsapparat mit neuen Verfahren. Hier ist das Verfahren wichtiger als der Inhalt. Man muss auch jenen Personen eine Beteiligung ermöglichen, die sich heute nicht vertreten fühlen. Bevor Gesetze verabschiedet werden, sollten obligatorische Anhörungen abgehalten werden, die es ermöglichen, Gegengutachten darzulegen, Spielräume für Mediation und Vermittlung zu öffnen, also andere Verfahren vorsehen, die allen ein Recht auf Beteiligung am Entscheidungsprozess gewähren. Ansonsten bleibt die gesamte Expertise den Landesämtern überlassen. heiten gekümmert haben und nie um die gesamtitalienischen Angelegenheiten. Es ist strategisch keine gute Entscheidung, sich nur um den eigenen Vorgarten zu kümmern. Dies hat zwar einerseits Erfolge gezeitigt, doch auf der anderen Seite ist man rundherum auf Distanz zu uns gegangen. Diese Strategie kostet uns heute viel Sympathien. Wir tun auch niemandem besonders leid, weshalb sich die Regierung bei den Finanzeinschnitten leichter tut. Auf diese Weise tun wir aber unserem Land keinen guten Dienst. Wir müssen somit in Zukunft unsere Strategie überdenken, auch weil die Zahl unserer Parlamentarier in Rom nicht von großem Gewicht für die Mehrheit sein wird. Die Koalitionen werden in Zukunft ziemlich umfangreich sein. Nun gilt es, mit unseren Argumenten zu punkten. Es braucht auch ein System, um unsere besonderen Bedürfnisse gegenüber Rom und Brüssel in einen besseren Kontext zu stellen. Andernfalls laufen wir Gefahr, einen Preis zu zahlen, den wir uns nicht leisten können. Wir müssen auch nicht für einige Kleinigkeiten, die uns heute angeboten werden, eine Gegenleistung in Kauf nehmen, die uns in Zukunft sehr viel kosten kann. Prof. Dr. Francesco Palermo, Professor für Verfassungsrecht an der Universität Verona, Direktor des EURAC-Instituts für Regionalismus und Föderalismus, derzeit Senator in Rom Auch auf gesamtstaatlicher Ebene sind die Entscheidungsprozesse nicht modernisiert worden. Die Gesetzgebung kommt zu einem beträchtlichen Teil von der Regierung, das Parlament hat immer weniger Gewicht. Im Parlament werden die Anliegen der Lobbys und die Partikularinteressen erörtert: damit wird ein anfänglich organischer und sinnvoller Ansatz dann immer widersprüchlicher. Wir haben die Reihenfolge der Verfahrensschritte umgekehrt, auch weil wir keine Möglichkeiten der Beteiligung vorgesehen haben. Heute brauchen wir einen modernen Weg zur Verabschiedung der Gesetze, der es verhindert, dass die gewählten Vertreter alles alleine entscheiden ohne andere Stimmen anzuhören. In den Beziehungen zu Rom sollte eine dauerhaft gute Beziehung gepflegt werden, doch diese erfolgte bisher praktisch auf Botschafter-Ebene. Früher hat es Südtirol viel Geschlossenheit und Glaubwürdigkeit verliehen, dass die politischen Vertreter Südtirols in ersten Linie Vertreter einer ganzen Provinz waren, obwohl sie immer derselben Partei angehörten. Doch gibt es auch ein strategisches Defizit in der Beziehung zu Rom. Es gibt auch immer weniger Verständnis für unsere Forderungen in Rom, weil wir uns immer nur um unsere Angelegen- 22 23 Aufbruch in eine neue Zeit Überlegungen zur Reform und zu den Grundlagen für ein drittes Südtiroler Autonomiestatut Oskar Peterlini 1. Der derzeitige Rechtsrahmen 1.1 Die Verfahren zur Änderung des Statutes Für Änderungen des Statutes, das im Verfassungsrang steht, ist das Parlament zuständig. Das Verfahren ist jenes der Verfassungsgesetze (Art. 138 Verf., aber ohne Referendum, Art. 103,1 AuSt.)(1). Das Initiativrecht steht auch dem Regionalrat zu, auf Vorschlag der Landtage von Trient und Bozen und übereinstimmendem Beschluss des Regionalrats (Art. 103,2 AuSt.). Für Regierungs- und Parlamentsvorlagen ist nur eine Stellungnahme, der Landtage von Trient und Bozen und des Regionalrats vorgesehen (Art. 103,3 AuSt.). Somit ist für Statutsänderungen kein Verfassungsgesetz, sondern das Einvernehmen vorgesehen. Nur für die Finanzregelung (VI. Abschnitt AuSt.), die Bestimmungen über die Konzessionäre großer Wasserableitungen (Art. 13 AuSt.) und den Wechsel der Präsidenten von Regionalrat und Südtiroler Landtag (Art. 30 und 49 AuSt.) ist kein Verfassungsgesetz vorgesehen. Ein schwächerer Schutz vor einseitiger Abänderung durch den Staat? Schutz ist durch das Einvernehmen zwischen Staat und Provinzen vorhanden. Diese Artikel können mit einfachem Staatsgesetz, nach einvernehmlichen Vorlagen der Provinzen, der Region und der Regierung abgeändert werden (2). Das führte zu verschiedenen Änderungen der Finanzbestimmungen im Autonomiestatut, letzthin aufgrund des Mailänder Abkommens (von 2009 und G. Nr. 191/2009). Mit dem PD-Sekretär wurde in dieser Legislaturperiode ein neues Finanz-Abkommen politisch vereinbart 10. Februar 2013), das Ministerpräsident Enrico Letta (5. August 2013 s.g. Bozner Abkommen) bestätigt hat. Zentrale Punkte sind die Beteiligung Südtirols an der Sanierung der Staatsschuld und im Gegenzug mehr Finanzautonomie, u.a. durch die Umkehrung des Verfahrens für die Steuereinhebung. 1.2 Das Bemühen um das „Einvernehmen“ für die Statuten-Änderung: Warum keine Reform seit 2001? Bei der Reform der Autonomie als Ganzer herrscht seit 2001 Stillstand. In den jüngsten Legislaturperioden wollten wir keine Reform vorantreiben, aus dem einfachen Grund, dass Mitte-rechts an der Regierung saß und man befürchten musste, dass eine Befassung des Parlamentes mit der Autonomie Südtirols zu Abänderungen in pejus führen könnte. Die Verfassungsreform von Mitte- Rechts (3) von 2005 hatte für die Änderung der Statuten der Regionen mit Sonderstatut ein Einvernehmen mit den betroffenen Gebietskörperschaften vorgesehen (Art. 116 der Verfassung). Das war eine starke Absicherung und ein eindeu- 24 tiger Fortschritt, den die Sonderregionen erzielen konnten. Das Referendum im Juni 2006 brachte aber die Reform zu Fall. Damit fiel dieses Entgegenkommen ebenso weg, wie eine Reihe von schweren Begrenzungen der Autonomie (Anfechtungen der Landes- und Regionalgesetze vor dem Parlament wegen nationaler Interessen, Ersatzvornahme der Regierung gegenüber Regionen, Zurücknahme von regionalen Kompetenzen für eine schwache s.g. Devolution etc.) (4). Deshalb wurde im Abkommen mit Prodi 2006,(5) ein s.g. Einvernehmen als Voraussetzung für die Änderung des Autonomiestatutes vereinbart. Dieses neue Verfahren sollte im AutSt. selbst verfassungsrechtlich verankert werden. Der G.E. wurde in Kammer und Senat von uns Südtiroler Parlamentariern zusammen mit den Fraktionssprechern der damaligen Mittelinks-Mehrheit (unter Prodi) vorgelegt und deren Behandlung zügig vorangetrieben.(6) In der vergangenen XVI. Legislaturperiode wurde der Entwurf erneut vorgelegt.(7) Aber trotz fortgeschrittenen Stadiums gelang es nicht, ihn im Parlament zu behandeln. Die Landtage von Bozen und Trient hatten sogar schon ihr Gutachten abgegeben. 2. Ein breit angelegtes, demokratisches Verfahren 2.1 Einen Konvent für die Autonomiereform einberufen Es gilt, einen breiten Konsens für ein neues Modell der Autonomie zu suchen. - Die Bevölkerung auf breiter Basis in die Diskussion um das zukünftige Leitbild Südtirol miteinbeziehen, wie es die Gemeinden für ihren Bereich gemacht haben, - Vereine, Verbände, Genossenschaften, Gewerkschaften, Wirtschaft usw. als Träger für diese Initiative gewinnen, - Die Gemeinden als lebendige Zellen demokratischer Teilnahme dazu herausfordern, - Die Jugend und die Schulen mit dem Thema befassen (Wettbewerbe, Spiele, Unterrichtsmodelle für Gemeinschaftskunde), z.B. Meine Vision: Wie soll sich Südtirol in Zukunft entwickeln? Wie möchte ich mein Land gestalten? Was wünsche ich mir von meinem Land für meine Zukunft? - Alle Sprachgruppen beteiligen, sei es in den öffentlichen Diskussionen als auch, indem deren wichtigste Träger eingebaut werden, allen voran deren Kulturreferate der Landesregierungen und die Schulämter. - Um die Autonomie auszubauen, muss sich die Mehrheit aller Sprachgruppen Südtirols auf solche Verbesserungen verständigen, die allen zugute kommen, ein Verfahren, das im Baskenland fehlte und deshalb scheiterte, in Katalonien hingegen 2006 gelungen ist.(8) Italien hat nach dem Krieg als erstes eine Verfassunggebende Versammlung gewählt. Die besten Köpfe wurden miteinbezogen, die Universitäten brachten ihre Vorstellungen ein. Auch Südtirol sollte sich einen solchen Verfassungskonvent leisten. Entweder der Landtag, oder eine Landtagskommission in Zusammenarbeit mit Fachleuten, oder – was ich für viel wirksamer erachte - ein eigener gewählter Autonomiekonvent, der auch die notwendige Zeit zur Verfügung hat, was sich bei Landtagsabgeordneten oft schwierig gestalten könnte. In einem solchen Konvent sollten sich gewählte Vertreter und Wissenschaftler die Waage halten. 25 2.2 Das Einvernehmen festschreiben Als Verfassungsgesetz muss die Änderung des Statutes vom Parlament mit besonderem Verfahren genehmigt werden. Bevor auf Staatsebene eine solch grundlegende Reform in Angriff genommen wird, sollte die Garantie erreicht werden, dass Änderungen des Statutes nur im Einvernehmen zwischen Staat, autonomen Ländern und Region möglich sein sollen. Damit rücken die Länder auch zu einer teilweisen Statutshoheit auf. 2.3 Die internationale Verankerung wahren Österreich als Verhandlungspartner des Pariser Vertrages und des Paketes miteinbeziehen, um die internationale Verankerung zu wahren. Am 22. April 1992 überreichte der Generalsekretär des italienischen Außenministers, Bruno Bottai, dem österreichischen Botschafter in Rom, Emil Staffelmayr, die Note mit dem Ersuchen um Streitbeilegung, mit der Liste mit der von der ital. Regierung und dem Parlament erlassenen Durchführungsakte zugunsten Südtirols und eine Kopie des Autonomiestatuts. Österreich gab daraufhin, am 11. Juni 1992 die Streitbeilegung vor der UNO ab. Trotz des bis dahin vertretenen italienischen Rechtsstandpunktes, es handle sich um eine innere Angelegenheit Italiens, wurde durch diese nachfolgende Praxis auch dem Paket internationaler Charakter verliehen. Dieser darf bei Änderungen nicht verloren gehen. 2.4 Änderungen der Verfassung von 2001 einfügen Seit Beginn der 90er Jahre hat in Italien eine Föderalismusdiskussion eingesetzt, die ihren Niederschlag in einer Verfassungsreform im Jahre 2001 (Verf. G. Nr. 3 vom 18.10.2001) erfahren hat. Diese Verfassungsreform, die sich zwar auf die Regionen und Lokalkörperschaften beschränkt, hat aber trotzdem umwälzende Neuerungen und Erweiterungen der Zuständigkeiten für alle Regionen Italiens gebracht. Sie stellt einen wichtigen Schritt zu mehr Föderalismus dar. Eine weitere Verfassungsreform ist 2012 angelaufen. Die Sonderstatute der fünf Regionen sind auf dem Papier noch gleich geblieben. Auf sie wirkt nun unmittelbar eine entscheidende Bestimmung der Verfassungsreform ein: Die weitergehenden Formen an Autonomie werden auch auf die Sonderautonomien direkt angewandt (Art. 10 Verf. G. Nr. 3/2001). Somit besteht in vielen Bereichen ein Gegensatz zwischen dem formalen Wortlaut der Autonomiestatute und der neuen Verfassung. Die Herausforderung dieser Arbeit ist es nun, zunächst einmal alle diese neuen Zuständigkeiten und erleichterten Verfahren bei der Gesetzgebung (keine Rückverweisung mehr, keine Anfechtungen vor dem Parlament etc.) statutarisch abzusichern. In Italien weht nämlich ein neuer zentralistischer Wind und - unter dem Druck der Sparpolitik - auch ein großer Neid der ordentlichen Regionen gegenüber den Sonderregionen. Schon Monti hatte am 15. Oktober 2012 einen Verfassungsentwurf vorgelegt, der einige Errungenschaften der Reform von 2001 rückgängig machen sollte.(9) In erster Linie ging es der Regierung darum, die Sonderregionen in ihrer Finanzautonomie an die wirtschaftlichen und finanziellen Auflagen der EU und der internationalen Verpflichtungen zu binden, was ausdrücklich im Art 116 Verf. festgeschrieben werden sollte, obwohl das schon im Art. 117, 1 Verf. als Grenzen der Gesetzgebung für Staat und Regionen festgeschrieben ist. Der vom 26 Ministerrat verabschiedete Verfassungsentwurf führt auch eine so genannte Klausel der Vormachtstellung des Staates gegenüber den Regionen ein, die weit über das vormalige so genannte „nationale Interesse“ hinausgeht. Die Entwürfe zur Verfassungsreform von Monti (und neuerdings auch von Renzi)(10) wollen einige Zuständigkeiten der Regionen in die Zuständigkeit des Staates zurückführen. Diese Einschränkungen würden dann „automatisch“ für Südtirols Autonomie gelten, insofern sie nicht im Statut selbst festgeschrieben wurden. So wie die Erweiterungen „automatisch“ durch die Besserstellungsklausel (Art. 10, Verf.ges. Nr. 3/2001) eingeführt wurden, würden sie wieder verschwinden.(11) Deshalb sollten sie dringend in das Autonomiestatut eingebaut und damit gesichert werden. Außerdem sind einige Korrekturen und Anpassungen vorzunehmen. Das gilt beispielsweise für jene Bestimmungen, welche die Ladiner aus gewissen öffentlichen Ämtern ausschließen.(12) 3. Welche Inhalte sollen dem neuen Statut eingehaucht werden? Zuerst sollte ein Leitbild im Konsens erarbeitet werden, dann kann man festlegen, was angestrebt werden soll. Ein Beispiel dazu: Soll die Region abgeschafft werden, oder gibt es eine wirksamere Lösung, beispielsweise als Koordinierungsforum auch mit dem Bundesland Tirol für die Gestaltung gemeinsamer Bereiche? Viele Fragen, z.B. Toponomastik lassen sich leichter lösen, wenn die kulturellen Voraussetzungen vorher geschaffen werden (gemeinsames Geschichtsbild, gemeinsame Zukunftsvision). Wohin soll sich Südtirol entwickeln? Zukunftsbilder und Visionen wie Selbstbestimmung und Vollautonomie, sollen an den Möglichkeiten ausgeleuchtet, diskutiert und auf ihre Zustimmung abgefragt werden, um einen breiten Konsens zwischen allen Sprach- und Bevölkerungsgruppen für ein gemeinsames Zukunftsbild zu finden. Das Autonomiestatut von 1972 muss an die neue Zeit angepasst werden. Hier sollen nur einige Bereiche als Denkanstöße aufgezeigt werden, die als Diskussionsgrundlage für den Ausbau der Südtirol Autonomie dienen sollen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die vollständigen Bereiche sollen ja im Konsens diskutiert und ausgewählt werden. • Eine Autonomie, die möglichst viel eigenständigen Entscheidungsrahmen bietet. • Umkehrung der Generalklausel der Zuständigkeiten. Im Autonomiestatut sind die Zuständigkeiten der Länder und der Region taxativ aufgezählt, wie es bis zur Verfassungsreform von 2001 auch für die wenigen Zuständigkeiten der ordentlichen Regionen war. Alles was nicht aufgezählt ist, fällt in die Zuständigkeit des Staates. Seit 2001 zählt der Art. 117 Verf. die ausschließlichen Zuständigkeiten des Staates und jene der konkurrierenden Gesetzgebung auf, bei denen der Staat die Grundsätze festlegt. Alle anderen Zuständigkeiten stehen den Regionen zu (Art. 117,4 Verf.). • Steuerhoheit: Nicht wie bisher nur die Ausgaben gestalten, sondern auch für die Einnahmenpolitik verantwortlich sein: Vorteile: besseres Steuerungsinstrument für die Wirtschaftspolitik; für die Steuergerechtigkeit (Steuern selbst einheben und festlegen, statt Subventionen Steueranreize schaffen). • Umkehrung des Finanzierungsmodells zwischen Staat und Länder: nicht einen Prozent- 27 • • • • • • • • satz des Steueraufkommens (z.B. derzeit 90%) zugunsten der Länder, sondern den Anteil (z.B. 10%) festlegen, der von den Ländern an den Staat abzuführen ist. Volle Schulautonomie, einschließlich der Gestaltung der Mittel- und Oberschulen. Recht auf Lehrer in der eigenen Muttersprache, aber Öffnung zum besseren Erlernen der Zweitund Drittsprache (das ist eine von Südtirols Spitzen-Kompetenzen) Übernahme aller Staatsdienste und deren Finanzierung als Beitrag zur Sanierung der öffentlichen Schulden; Schutzklausel gegenüber Europa, überall wo es um Minderheitenschutz und Interessenausgleich zugunsten aller Sprachgruppen geht, oder um heikle Bereiche wie den Umweltschutz und Verkehr geht (sektorelles opting out nach dem der Nordischen Autonomen Inseln); Die Rolle der Region diskutieren. Denkbar wäre eine Zusammenführung mit der Euregio als gemeinsame Plattform von Südtirol, Trentino und dem Bundesland Tirol. Die Euregio im Staut verankern und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit stärken, für all jene Bereiche, die nach dem Subsidiaritätsprinzip wirksamer auf gemeinsamer Ebene angegriffen werden sollen, z.B. Zusammenarbeit der Universitäten (ergänzende statt konkurrierende Angebote, jeder in seinen Spitzen-Kompetenzen), Werbung für Alpenprodukte und Tourismus Marketing in fernen Ländern, Exportförderung, gemeinsame Europa-Politik für Berggebiete, besonders teure Projekte wie z.B. Satelliten etc. Tarifhoheit für die Verträge im Arbeitsbereich, die es ermöglichen den sozialen Standard und die Löhne an die höheren Lebenshaltungskosten anzupassen. Revision des Wahlsystems in Südtirol, um die Zersplitterung der Parteienlandschaft besonders im italienischen Lager – unter Wahrung der Pluralität und der Rechte der Ladiner – zu vermeiden. Direktwahl des Landeshauptmannes diskutieren. Verankerung eines Vertretungsrechtes im Parlament in Rom (derzeit vom jeweiligen Wahlsystem abhängig, z.Z. Mindestklausel für Minderheitenparteien von 20% in der Region). Beitrag zu Föderalisierung in Italien und Europa. Die Nationalstaaten müssten Kompetenzen nach unten abgeben und Regionen stärken. Das Modell Südtirol als Erfolgsmuster. 4. Macht braucht Kontrolle Die Autonomie hat dem Land Südtirol die Zuständigkeit über die meisten Bereiche des öffentlichen Lebens übertragen. Macht braucht Kontrolle Eine große Autonomie braucht starke Garantien, damit sie nicht in Vetternwirtschaft, Bevorzugungen und Benachteiligungen, Willkür und langfristig auch in Leistungsdekadenz ausartet. 4.1 Wir brauchen unabhängigen, starken Landtag - Der Landtag muss seine Rolle gegenüber der Exekutive stärken. - In vielen Fällen bleibt die Beschlussfassung derzeit aufgrund des Statutes und mancher Staatsgesetze bei der Landesregierung stehen (so z.B. wenn es heißt: „La Provincia …“ und nicht ausdrücklich steht, dass ein Gesetz vorgesehen ist, steht das automatisch der 28 Landesregierung zu). - Informations- und Mitbestimmungsrecht des Landtages ausbauen. - Aktive zügige Gesetzgebung des Landes bei staatlichen Reformen, um schnell den autonomen Spielraum auszuschöpfen, statt die Staatsgesetze durchführen und nachträglich beim VfGH anfechten zu müssen (Art. 105 Aut-St.) - Kontrolle der Landesregierung und Bürgergarantie 4.2 Ausbau der Autonomie der Gemeinden Mit der Übertragung der Zuständigkeiten im Laufe der vergangenen 40 Jahre, sind viele Zuständigkeiten beim Land hängen geblieben, die gemäß dem Subsidiaritätsprinzip besser bei den Gemeinden angesiedelt wären. Die Verfassungsreform hat in ganz Italien eine Generalzuständigkeit der Gemeinden für die Verwaltung gegeben (Art. 118 Verf.), die in Südtirol nicht greift. 4.3 Aufsicht und Unabhängigkeit für Verwaltung - Unabhängigen öffentlichen Rundfunk und Fernsehen, Beirat aus kulturellem wissenschaftlichen Bereich, kein Presse- und Propagandaorgan der Landesregierung; - Interessenkonflikte durch Ämtertrennung und Unvereinbarkeiten vermeiden; Eigner, unabhängiger Rechnungshof, um die Sinnhaftigkeit und die Sachbezogenheit der Ausgaben zu prüfen und der Sparsamkeit zu dienen, - Stellenbesetzung durch Wettbewerbe gerade auch der führenden Positionen (mit den Besten besetzen); Ernennungen schaffen Abhängigkeiten, fördern den Nepotismus, wirken demotivierend, gehen auf Kosten der Qualität; - Aufwertung des Beamtenstatus, Ausbau des Entscheidungs- und Verantwortungsrahmens, nicht Politiker Gefälligkeit - Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Verwaltungsakte; - Steuergerechtigkeit, Kontrollen; - Für Gesuche jeglicher Art: klare Kriterien(Beiträge, Baulizenzen etc.) kein Gefälligkeitssystem; keine Gesetze ad personam; - Übersichtliches Urbanistik Gesetz, mit klaren Begrenzungen zum Schutze der Umwelt und von Grund und Boden; 4.4 Demokratisches und richterliches Korrektiv - Möglichkeiten der Einbeziehung der Bürger bei der Entscheidungsfindung vorsehen und mehr direkte Bürgerbeteiligung als Korrektiv; - Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit gewährleisten, auch in Verwaltungsfragen, Weg von politisch ernannten Richtern im Staatsrat und Verwaltungsgericht; Wettbewerbe sollen entscheiden. 5. Visionen für die Zukunft 5.1 Von der Konfliktlösung zu einem europäischen Modell der Zusammenarbeit Das Autonomiemodell Südtirol hat Vorzeigecharakter in ganz Europa. Es ist ein positives Bei- 29 spiel, um Minderheitenkonflikte friedlich zu lösen. Damit bieten sich Autonomie und Föderalismus als Modelle an, um die Minderheiten- und Nationalitätenfragen zu lösen, wie das Beispiel Südtirol gezeigt hat. Die größte Herausforderung Südtirols für die Zukunft besteht darin, ohne Vorurteile allen Sprachgruppen nicht nur Frieden, sondern auch eine gemeinsame Heimat zu bieten. Damit stellt sich der Anspruch an ein neues Statut auf einer höheren Ebene, von der reinen Konfliktlösung zu einem europäischen Modell der Zusammenarbeit. 5.2 Vision und Hoffnung Die heute erreichte Autonomie kann man sicher nicht als Erfüllung aller Wünsche der Südtiroler betrachten, aber eine tragfähige Kompromisslösung ist sie allemal, die auch auf internationaler Ebene anerkannt worden ist. Sie bildet den Rahmen für das Zusammenleben der drei Sprachgruppen in einem delikaten Gleichgewicht, das die Konflikte überwinden konnte und das hoffentlich auch in Zukunft leisten kann. Das Autonomiestatut von 1972 stellt den Versuch dar, das kulturelle Überleben der deutschen und ladinischen Minderheit zu sichern. Doch muss die Autonomie gleichzeitig auch das friedliche Zusammenleben der drei Gruppen gewährleisten. Von einem dritten Autonomiestatut erwarten wir uns einen Schritt mehr. Das Autonomiestatut bietet der Bevölkerung Südtirols und des Trentino eine konsolidierte Gesetzgebungs- und Verwaltungsautonomie. Es erlaubt in verschiedenen wichtigen Bereichen, die sozialen und politischen Verhältnisse nach eigenen Vorstellungen zu regeln. Somit wirkt sich die Autonomie zugunsten aller drei Sprachgruppen aus. Der wirtschaftliche Wohlstand, die geringe Arbeitslosigkeit, die hohe Qualität des Sozial- und Gesundheitswesens, der soziale Wohnbau und andere soziale Errungenschaften geben davon Zeugnis ab. Auch der Ausbau des gemeinsamen europäischen Hauses und der Beitritt Österreichs zur EU (1. 1.1995) stellen wichtige Etappen in diesem Prozess dar. Die Brennergrenze hat ihre Bedeutung verloren. In dieser immer noch wachsenden EU wird es allerdings auch immer schwieriger, die Bürgerbeteiligung zu organisieren. Somit ist es angemessen, die Rolle der Regionen aufzuwerten und in Anwendung des Subsidiaritätsprinzips den kleineren, bürgernäheren Gemeinschaften mehr politischen Spielraum zu überantworten. Die Herausforderungen für Südtirol gehen noch weiter, geht es doch darum, allen Sprachgruppen ein gemeinsames Haus zu bieten, ohne Dominanz einer Gruppe, wobei aus der Verschiedenheit eine Ressource, ein Reichtum wird. Wir wollen stolz sein, in dieser Region zu leben und eine Autonomie ausschöpfen zu können, die für alle sichtbare Früchte bringt. Zu diesem Zweck müssen die Sprachgruppen noch besser zusammenfinden und sich auf einen Weg zur Weiterentwicklung der Autonomie verständigen. Dabei geht es darum, Werte und gemeinsame Perspektiven zu teilen und sich einer Politik der Entzweiung und ethnischen Frontstellung entgegenzustellen. 5.3 Eine gemeinsame Autonomie für alle Somit ist die Botschaft klar: Wir müssen das Zusammenleben ausbauen, damit alle Bürger Südtirols sich hier zuhause fühlen können, ganz unabhängig von der Sprachgruppe. Zu die- 30 sem Zweck muss eine gemeinsame Sicht der Geschichte und der Zukunft entwickelt werden. Vereinfacht und etwas überspitzt gesagt: ein Geschichtsverständnis ist nicht mehr zeitgemäß, in dem sich die einen ausschließlich mit Andreas Hofer und die anderen nur mit Garibaldi und dem Siegesdenkmal identifizieren. Wie können wir eine Autonomie schaffen, mit der sich alle Sprachgruppen identifizieren können? • Wir müssen somit gemeinsame kulturelle und geschichtliche Werte entwickeln. • Es geht darum, ein gemeinsames Projekt für ein gemeinsames Südtirol zu entwickeln, nicht nur ein drittes Autonomiestatut. • Somit braucht es neuen Mut für weitergehende Schritte, wie z.B. einen wirksamen Unterricht der italienischen, deutschen und englischen Sprache, wobei auch neue didaktische Versuche gewagt werden sollen. Die Sprachkenntnisse sollen Südtirols besonderes Markenzeichen werden. • Die Anpassung des Autonomiestatuts an die im Rahmen der Verfassungsreform von 2001 erfolgten Änderungen. Die erfolgten Reformen und Verbesserungen müssen im Statut formal übernommen und abgesichert werden, bevor sie Rom durch Reformen, die von einem neuen Zentralismus inspiriert sind, rückgängig gemacht werden. • Als zweiten Schritt die Anpassung des Statutes an die inzwischen erfolgten gesellschaftliche Änderungen und gesellschaftlichen Herausforderungen. • Leistung soll wieder zählen, nicht Parteibuch oder Patronage; mehr Wettbewerb, statt ethnischen oder politisch begründeten Nominierungen von Personen für Spitzenpositionen. • Ein echter Fiskalföderalismus soll ermöglicht werden, wobei die Verwalter nicht nur für die Ausgaben verantwortlich sein sollen, sondern auch für die Einnahmen. • Gemeinsame Geschichtsbücher, Begegnungen und Kulturveranstaltungen. Diese Herausforderungen können wir angehen, wenn wir die gemeinsamen Werte festhalten und vertiefen, und nicht jene, die uns trennen. Wir wollen unseren Kindern eine klare Botschaft mitgeben: Wir sind stolz auf unser Land, nicht nur wegen seiner hohen Berge und seiner einmaligen Landschaft, sondern auch wegen seiner Vielfalt, die das historische Tirol schon immer ausgezeichnet hat. Diese Vielfalt an Kulturen und Sprachen, soll für uns kein Grund zum Gegeneinander darstellen, sondern einen Reichtum, der uns in Europa auszeichnet, der den Jugendlichen neue Tore öffnet, neue Horizonte bietet und auch ein einmaliges Rüstzeug für ihr Leben und ihre Arbeit. Lasst uns gemeinsam in eine neue Zeit aufbrechen! Dr. Oskar Peterlini, ehem. Landtagsabgeordneter und Senator, Pensplan-Präsident, heute Dozent für Autonomierecht an der Universität Bozen 31 Endnoten (1) Die internationalen und verfassungsmäßigen Rechtsquellen für die Autonomie sind folgende: der Pariser Vertrag vom 5. September 1946; das Südtirol Paket von 1969; die Reform des 1. Statutes: Das 2. Autonomiestatut von 1972; die Verf. Reform von 2001 und die Besserstellungs-Klausel (Verf. G: Nr. 3, 18.10.2001, Art. 10). (2) „Su concorde richiesta del Governo, e, per quanto di competenza, della Regione o delle due Province“ (Art. 104,1 AuSt.). (3) A.S. 2544, Berlusconi, Fini, Bossi, Buttiglione, genehmigt von der Abgeordnetenkammer am 20. Oktober 2005 und vom Senat am 16. November 2005 (mit den ausschließlichen Stimmen von Mitterechts). Der Verfassungsgesetz-Entwurf wurde allerdings bei einem Referendum am 25.und 26. Juni 2006 mehrheitlich abgelehnt. (4) Peterlini, O., (2012d de): Südtirols Autonomie und die Verfassungsreformen Italiens, Vom Zentralstaat zu föderalen Ansätzen: die Auswirkungen und ungeschriebenen Änderungen im Südtiroler Autonomiestatut, New Academic Press (ex Braumüller) Wien, 357-363, besonders 360 ff. (5) Peterlini, O. (2012c de): Minderheitenschutz und Wahlsysteme, Die Spielregeln von Wahlsystemen und ihre Auswirkungen auf Sprachminderheiten - Südtirol und europäische Minderheiten im Blickfeld, New Academic Press (ex Braumüller) Wien, S. 205-206; Peterlini, O. (2012b it): Funzionamento dei sistemi elettorali e minoranze linguistiche, Franco Angeli, Milano, S. 165. (6) Atto Senato n. 648, XV Legislatura, Parl. Initiative, vorgelegt am 14. Juni 2006 von Oskar Peterlini (Aut): Disposizioni concernenti la procedura per la modifica degli Statuti delle Regioni a statuto speciale. Cofirmatari: Anna Finocchiaro (Ulivo), Aniello Formisano (Misto, Italia dei Valori), Stefano Cusumano (Misto, Popolari-Udeur) , Giovanni Russo Spena (RC-SE) , Manuela Palermi (IU-Verdi-Com), Natale Ripamonti (IU-Verdi-Com) , Manfred Pinzger (Aut) , Carlo Perrin (Aut) , Daniele Bosone (Aut) , Claudio Molinari (Aut) , Accursio Montalbano (Aut) , Magda Negri (Aut) , Giorgio Tonini (Aut), Helga Thaler Ausserhofer (Aut) (unterzeichnet am 4. Juli 2006), Carlo Pegorer (Ulivo) ( unterzeichnet am 4. Juli 2006) (7) Atto Senato n. 41, XVI Legislatura, ddl. cost, d’iniziativa Parlamentare, Oskar Peterlini (UDC-SVPAut): Disp. concernenti la procedura per la modifica degli statuti delle regioni a statuto speciale, vorgelegt am 4. Juni 2008. (8) Benedikter, Thomas (2010): Wie könnte die Südtirol Autonomie ausgebaut werden?, in: Matscher, F./ Pernthaler, P./ Raffeiner, A. (Hrsg): Ein Leben für Recht und Gerechtigkeit, FS für Hans Richard Klecatsky zum 90.Geburtstag, Neuer Wissenschaftlicher Verlag Wien, S. 78. (9) Senato N. 3520 disegno di legge cost. presentato dal Presidente del Consiglio dei ministri (Monti) di concerto con il Ministro per la pubblica amministrazione e la semplificazione (Patroni Griffi), comunicato alla Presidenza il 15 ottobre 2012: Disposizioni di revisione della Costituzione e altre disposizioni costituzionali in materia di autonomia regionale. (10) Verfassungsgesetzentwurf der Regierung Renzi, vom Ministerrat am 31.3.2013 genehmigt. (11) Bin, R./ Falcon, G. (2012): Diritto regionale, Società editrice Il Mulino, Bologna, S. 321-326. Peterlini, O., (2012d de): Südtirols Autonomie und die Verfassungsreformen Italiens, bereits zitiert, 229-353. Toniatti, R. (2011): La revisione degli Statuti regionali in prospettiva comparata: la politicità dell‘atto fondamentale dell‘autonomia regionale e la rilevanza degli istituti di compensazione, in L‘evoluzione statutaria della Provincia Autonoma di Trento dopo le riforme del 2001, Franco Angeli, Milano, S. 143156. Peterlini, O. (2010a, it): L’autonomia che cambia, Gli effetti della riforma costituzionale del 2001 sull’autonomia speciale del Trentino Alto Adige Südtirol e le nuove competenze in base alla clausola di maggior favore, Casa editrice Praxis 3 Bolzano, S. 97-164. D’Atena, A. (2010): Diritto Regionale, Giappichelli Editore Torino, S. 240-266; (12) Vgl. Beitrag von Perathoner, C. Die Erwartungen der ladinischen Volksgruppe, vom 27.9.2013, in dieser Publikation. 32 Die Versammlung zur Ausarbeitung des neuen Sonderstatuts der Region Friaul Julisch Venetien William Cisilino 1. Vorbemerkung Der Versuch des Regionspräsidenten Riccardo Illy, das Autonomiestatut mit mehr Bürgerbeteiligung zu reformieren, war grundsätzlich eine gute Idee. So wurde 2004 ein eigener Konvent (Versammlung) mit dieser Aufgabe konstituiert. Dieser Konvent umfasste nicht nur die Regionalratsabgeordneten, sondern auch Vertreter von Wirtschaftsverbänden, von kulturellen und sozialen Organisationen und anderen öffentlichen Institutionen. Man hat versucht, die ganze Gesellschaft in die Arbeiten des Konvents einzubeziehen. So gab es in diesem Rahmen auch eine Reihe von öffentlichen Anhörungen (Hearings). Ich selbst hatte die Ehre, in Vertretung der Vereine für die friaulische Sprache und Kultur teilzunehmen, und kann bestätigen, dass sehr ernsthaft gearbeitet wurde. Bei uns gibt es - mit Ausnahme kurzer Episoden des Konflikts infolge der Nationalismen - ein friedliches Zusammenleben der Sprachgemeinschaften. Das Friaul ist die einzige europäische Region, in welcher die drei größten Kulturen Europas - die lateinische, die deutsche und die slawische - zusammenleben. Nach anderthalb Jahren wurde dann ein Reformvorschlag für ein neues Statut verabschiedet, doch fand dies unglücklicherweise fast zeitgleich mit den Parlamentswahlen 2006 statt. Seitdem wurde das ganze Projekt blockiert und ist dann nicht wieder aufgenommen worden. Eine typisch italienische Dynamik war ausgelöst worden, nämlich jene, nicht den richtigen Zeitpunkt für eine große Reform gewählt zu haben. Parteiinteressen und Kirchturmpolitik behielten die Oberhand zu Lasten des Gemeinwohls. Der Vorschlag für ein neues Statut enthielt einige sehr interessante Vorgaben zur Ausweitung der Zuständigkeiten unserer Region. Für uns ist es z.B. von größter Bedeutung, die primäre Kompetenz für den Unterricht in der friaulischen Sprache innerhalb der Pflichtschule zu erhalten. Anderes Beispiel: die Befugnis der Region, im Dringlichkeitswege Dekrete zu verabschieden, was nicht nur ein Privileg der Zentralregierung bleiben sollte. Seit die Regionalregierung von Riccardo Illy abgelöst worden ist, hat die paritätische Kommission Triest-Rom nichts mehr verabschiedet, mit Ausnahme einer Durchführungsbestimmung zum Übergang der Kompetenzen der Gesundheitsversorgung in den Haftanstalten, die immer noch nicht angewandt worden ist. Die Regierung Serracchiani (PD) hat dagegen die Bedeutung dieses Instruments verstanden, gerade nachdem der vorherige Ansatz zur Reform der Autonomie gescheitert war. Die Präsenz der Sprachminderheiten ist nicht nur für Italien von Bedeutung, sondern für ganz Europa. 33 2. Der Konvent Der Konvent ist mit dem Regionalgesetz vom 2. April 2004, Nr. 12, mit der offiziellen Bezeichnung “Convenzione per la stesura del nuovo Statuto speciale di autonomia della Regione Friuli Venezia Giulia” eingerichtet worden. Es handelt sich um eine außerordentliche Versammlung, die ans Modell des EU-Konvents von 2003 anknüpfte und deren Dauer mit 6 Monaten ab Inkrafttreten des Gesetzes festgelegt wurde. Dieser Statuts-Konvent für Friaul Julisch Venetien sollte in seiner Zusammensetzung die regionale Gemeinschaft widerspiegeln, und zwar in seiner politischen, territorialen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Vielfalt. Alle Kräfte, die konstruktiv an der Reform mitarbeiten wollten, sollten vertreten sein. Der Konvent trat in Triest beim Regionalrat zusammen und wurde vom Präsidenten des Koordinierungsamtes einberufen, und zwar jedes Mal, wenn dieser es für geboten hielt oder wenn zumindest ein Fünftel der Mitglieder es verlangten. Die Konvention hatte die Aufgabe, dem Regionalrat ein Abschlussdokument vorzulegen mit dem Inhalt des neuen Autonomiestatuts der Region, in einzelne Artikel gegliedert, das verschiedene Optionen hinsichtlich aller vom Statut zu behandelnden Aspekte enthielt. Der Konvent konnte unabhängig und autonom arbeiten und zu bestimmten Themen auch Arbeitsgruppen einsetzen. Er hatte die Aufgabe, die Debatte innerhalb der gesamten Region anzuregen, und zwar so tiefgehend und umfassend wie möglich. Dabei gliederten sich die Arbeiten in drei Phasen: 1. Eine Anstoßphase, die vom Koordinierungsamt geleitet wurde und auf einem vorbereitenden Dokument der Konferenz der Sprecher der politischen Fraktionen im Regionalrat aufbaute. 2. Eine Phase der Anhörung der verschiedenen Interessenvertreter und Experten der regionalen Gesellschaft (diese Anhörungen fanden vor allem im sog. "Forum der Organisationen" statt.) 3. Eine Vorschlagsphase, in welcher das Abschlussdokument erstellt werden sollte, das dem Regionalrat zur endgültigen Beschlussfassung übermittelt werden sollte. Die Arbeiten des Konvents wurden koordiniert vom Präsidenten des Regionalrats und einem eigenen Koordinierungsamt. Ausgehend von den Bestimmungen der Verfassung und des Regionalgesetzes zur Einsetzung des Konvents waren im Zuge der Reform des Statuts zwei weitere Passagen vorgesehen, und zwar im Regionalrat und im Parlament. Der ganze Reformprozess sollte mit der Behandlung und Verabschiedung des Reformvorschlags in den beiden Kammern des Parlaments und mit der Verlautbarung durch den Präsidenten der Republik beendet werden. Der Konvent war gemäß Art. 2 des R.G.. 2.4.2004, Nr.12, folgendermaßen zusammengesetzt: - Der Präsident des Regionalrats Alessandro Tesini; - Der Präsident der Region Riccardo Illy; - Die Fraktionssprecher im Regionalrat Bruno Zvech (DS), Cristiano Degano (DL-Margh.), Isidoro Gottardo (FI), Bruno Malattia (Citt.), Alessandra Guerra (LN), Luca Ciriani (AN), Alessandra Battellino (IpR), Igor Canciani (PRC); 34 - - Die Mitglieder des Präsidiums der V. Ratskommission Antonio Martini (DL-Margh.), Mauro Travanut (DS), Antonio Pedicini (FI); Die Vertreter der gemischten Fraktion Roberto Molinaro (UDC), Bruna Zorzini (PCDI); Ein Vertreter der Handelskammer Trieste Antonio Paoletti; Ein Vertreter der Handelskammer Udine (Adalberto Valduga); Ein Vertreter der Handelskammer Görz (Giovanni Pavan); Ein Vertreter der Handelskammer Pordenone (Pierluigi Medeot); Ein Vertreter des Regionalkomitees des CONI (Emilio Felluga); Ein Vertreter der Auslandsfriulaner (Elvio Ruffino); Ein Vertreter des regionalen Dachverbands des Volontariats (Paolo Matteucci); Ein Vertreter der CISL (Sante Marzotto); Ein Vertreter der CGIL (Ruben Colussi); Ein Vertreter der UIL (Luca Visentini); Ein Vertreter der slowenischen Minderheit (Bojan Brezigar); Ein Vertreter der friaulischen Minderheit (Pier Carlo Begotti); Ein Vertreter der deutschsprachigen Minderheit (Velia Plozner Van Ganz); Drei Vertreter des Verbandes der Regionalräte der Autonomen Region Friaul Julisch Venetien (Matteo Bortuzzo, Bruno Longo, Claudio Tonel); Die Präsidentin des regionalen Gleichstellungsrates (Renata Brovedani). Die Mitglieder des Präsidiums der Versammlung der Lokalkörperschaften Giorgio Brandolin, Franco Baritussio, Sergio Bolzonello, Marzio Strassoldo, Fabio Scoccimarro, Elio De Anna, Roberto Di Piazza, Sergio Cecotti, Vittorio Brancati, Attilio Vuga, Micaela Sette, Giovanni Luigi Cumin, Gianfranco Pizzolito, Mirko Sardoc, Danilo Del Piero; Ein Vertreter der Universität Triest (Fabio Severo Severi); Eine Vertreterin der Universität Udine (Maria Rita D’Addezio). 3. Das vorbereitende Dokument Das von der Konferenz der Fraktionsvorsitzenden im Regionalrat ausgearbeitete vorbereitende Dokument erläuterte nicht nur den Grund für die Reform des Statuts, sondern gab auch die wichtigsten Vorgaben zur Form, zu den Zielen und zu den Beziehungen der Region zur Gesellschaft, zum regionalen System der Lokalautonomien, zu den Kompetenzen der Region, zum System der Rechtsquellen in dieser Frage, zur Organisation der Region und zur Finanzierung vor. 4. Das Koordinierungsamt Das Koordinierungsamt arbeitete innerhalb des Konvents mit der Aufgabe, den Prozess zu begleiten und die Arbeiten insgesamt zu organisieren. Es besorgte nicht nur die technischorganisatorische Seite, sondern stellte auch die rechtliche Beratung. Es gewährleistete auch die Verbindung zu den in der Region gewählten Parlamentariern und stattete regelmäßig dem Regionalrat über Fortgang und Ergebnisse der Arbeit Bericht ab, und zwar durch seinen Koordinator. Das Amt war zusammengesetzt aus dem Präsidenten des Regionalrats, der 35 als Koordinator fungierte, aus dem Vizekoordinator (ausgewählt unter den Mitgliedern des Konvents auf Vorschlag der Fraktionsvorsitzenden der Opposition) und aus vier Abgeordneten, zwei der Mehrheit und zwei der Opposition. 5. Das Forum der Organisationen Das Forum der Organisationen war ein Organismus (eingerichtet gemäß Art. 6 des R.G. vom 2. April 2004, n. 12), dem jede Organisation mit den nötigen Voraussetzungen angehören konnte, die einen Beitrag zur Debatte zum neuen Autonomiestatut leisten wollte. Es konnte auch jede öffentliche oder private Körperschaft oder auch jeder nicht anerkannte Verein diesem Organ angehören, sofern dieser seinen Sitz in der Region hatte. Das Forum wurde regelmäßig über die Arbeiten des Konvents informiert. 6. Das Komitee für die Rechtsberatung Der Konvent konnte sich auch eines eigenen Komitees für Rechtsberatung bedienen, das beim Generalsekretariat des Regionalrats eingerichtet worden war. Das aus sechs Universitätsdozenten gebildete Komitee hatte die Aufgabe, dem Regionalrat, seinen internen Organen und den einzelnen Abgeordneten, eine hoch qualifizierte Rechtsberatung zu leisten vor allem für Fragen größerer Komplexität und von besonderer politischer oder verfassungsrechtlicher Bedeutung, immer mit Bezug auf das neue Autonomiestatut und das neue Regionalgesetz zur Regierungsform und zum regionalen Wahlrecht. Das Komitee tagte aufgrund eines Beratungsauftrags, der ihm vom Regionalrat erteilt worden war. Seine Tätigkeit entfaltete sich aufgrund eines Arbeitsplans, der parallel zu den Arbeiten des Konvents ablief. Die Leistungen der Experten bestanden in der Rechtsberatung gegenüber den Organen des Regionalrats, insbesondere bei der Abfassung von Arbeitsdokumenten, Analysen und Expertisen, zusammenfassenden Thesen, Entwürfen, einzelnen Artikeln und Abänderungsanträgen. 7. Die Arbeiten des Regionalrats und das Endergebnis Gemäß Regionalgesetz vom 2. April 2004, Nr. 12, verabschiedete der Konvent in den Sitzungen vom 21., 22. und 23. September 2004 ein Schlussdokument, das einen neuen Statutsentwurf mit 80 Artikeln in 11 Abschnitten enthielt. Für jeden Artikel gab es einen Ausgangstext und rund 10 alternative Fassungen, die von einem oder mehreren Mitgliedern des Konvents vorgeschlagen worden waren. Dies war auch eine Folge der Tatsache, dass dem Regionalrat die Aufgabe zustand, den Statutsentwurf als Verfassungsgesetzentwurf zu verabschieden und dem Parlament vorzulegen. Dies konnte nicht Aufgabe des Konvents sein, der nur eine vorschlagende Rolle spielte. Der Regionalrat nahm den Verfassungsgesetzentwurf am 1. Februar 2005 an mit dem Titel „Statuto speciale della Regione Friuli Venezia Giulia/Regjon Friûl Vignesie Julie/Dežela Furlanija Julijska Krajina/Region Friaul Julisch Venetien“. Der Verlauf der Statutsreform hatte seinen Ausgang in der 8. Legislatur genommen mit der Verabschiedung der Entschließung des Regionalrats vom 23. Oktober 2002. Diese Initiative 36 war aus der Erkenntnis entstanden, dass das Autonomiestatut von 1963 aufgrund der vielfältigen Änderungen in den geschichtlichen, sozialen, wirtschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen nicht mehr zeitgemäß war. Die Entschließung forderte die Einsetzung eines Konvents zur Ausarbeitung der Grundlinien eines neuen Sonder-Autonomiestatuts. Nachdem der Konvent beim Regionalrat am 6. Mai 2004 eingerichtet worden war, wickelte er seine Arbeit mit intensivem Arbeitsrhythmus bis September 2004 ab und schloss sogar vor dem geplanten Termin ab. Parallel zu den Arbeiten des Konvents war eine breite und mehrsprachige Informationskampagne seitens der Institutionen gestartet worden, um alle Bürger, Schulen, Körperschaften, Vereine usw. mit dem Motto "In Richtung neues Statut" auf diese basisorientierte Arbeit an einem neuen Statut hinzuweisen. Zudem wurde ein Koordinierungsorgan mit den in Friaul Julisch Venetien gewählten Parlamentariern geschaffen, um die größtmögliche Repräsentativität der Inhalte der Reform zu gewährleisten. Nach Abschluss des Konvents wurde eine Phase der Debatte im Regionalrat eröffnet mit der Vorlage des Verfassungsgesetzentwurfs Nr. 5 vom 7. Oktober 2004 mit dem Titel “Statuto speciale del Friuli Venezia Giulia” seitens der Abgeordneten Tesini und Pedicini, denen sich auch der Abgeordnete Travanut anschloss. Dieser Entwurf folgte treu dem Schlussdokument des Konvents und gab die in der Debatte mehrheitlich geäußerten Vorschläge wieder. In dieser Debatte im Regionalrat ging es somit darum, die Beiträge aller politischen Kräfte aufzunehmen, weshalb es auch von einem Regionalratsabgeordneten der Mehrheit und einem der Opposition unterzeichnet wurde. Die Diskussion darüber wurde zunächst im Oktober 2004 in der zuständigen Kommission abgehalten, wobei man feststellte, dass bezüglich der wichtigsten Fragen keine Übereinkunft zwischen Mehrheit und Opposition gefunden werden konnte. Somit kam es zu einem Runden Tisch der Fraktionsvorsitzenden, der genauso wenig fruchtete. In der Zwischenzeit wurden zwei weitere Gesetzentwürfe vorgelegt: der Verfassungsgesetzentwurf n. 6 “Statuto speciale del Friuli Venezia Giulia” vom 19. Oktober 2004 seitens der Regionalräte Panontin, Follegot, Franz, Guerra und Violino der Lega Nord, mit einem ganz anderen Ansatz als jenem des schon vorliegenden Entwurfs. Dann der Gesetzentwurf Nr. 9 “Statuto speciale del Friuli Venezia Giulia”, am 16. Oktober 2004 vorgelegt von den Räten Pedicini, Gottardo, Asquini und Marini von Forza Italia, der in einem Gesetzestext sämtliche Anträge zusammenfasste, die diese Partei im Rahmen des Konvents bereits vorgelegt hatte. Nach einer lebhaften Auseinandersetzung, in welcher nicht wenige Artikel abgeändert wurden, andere Anträge zurückgezogen wurden, entschied die V. Kommission des Regionalrats in ihrer Sitzung vom 25. November 2004 (zuständig für Fragen des Autonomiestatuts und institutionellen Fragen) als Grundlage den Basistext des Verfassungsgesetzentwurfs Nr.5 am 13.1.2005 zu verabschieden. Dieser Text kam dann am 24. Februar 2005 ins Plenum des Regionalrats, wo noch 268 Abänderungsanträge vorgelegt wurden, von welchen 49 angenommen wurden. 17 dieser angenommenen Anträge stammten von der Opposition. Der Vorschlag ist jedoch vom Parlament in Rom noch nicht angenommen worden, sodass immer noch das Autonomiestatut von 1963 in Kraft ist. 37 8. Die Phasen des Statutenkonvents von Friaul Julisch Venetien im Überblick 16.03.2004 April 2004 Institution des Statutenkonvents Übergabe des "Vorbereitenden Dokuments" seitens der Konferenz der Fraktionssprecher des Regionalrats 06.05.2004 Einsetzung des Konvents 05.09.2004 Abschluss der Anhörung der regionalen Zivilgesellschaft seitens des Konvents 11.09.2004 Abschluss der Treffen mit den Parlamentariern der Region 23.09.2004 Ausarbeitung eines Abschlussdokuments seitens des Konvents 05.10.2004 Übergabe dieses Dokuments an den Regionalrat Okt. - Nov. 2004 Vorlage der Gesetzentwürfe im Regionalrat 13.01.2005 Prüfung der Gesetzesentwürfe durch die zuständige Kommission für institutionelle Fragen des Regionalrats 01.02.2005 Verabschiedung und Übergabe des Verfassungsgesetzentwurfs an die beiden Kammern des Parlaments in Rom 02.05.2006 Übergabe des Gesetzentwurfs an die am 9 und 10. April neu gewählten Häuser des Parlaments 20.12.2006 Beginn der Diskussion des Gesetzentwurfs durch die Abgeordnetenkammer Dr. William Cisilino, Udine, verantwortlicher Direktor des Instituts der Region Friaul Julisch Venetien für den Schutz der friaulischen Sprache Die Modernisierung der Sonderstatuten zwischen Pragmatismus und Wunschdenken Robert Louvin Die fünf Regionen mit Sonderstatut Italiens unterscheiden sich ziemlich stark. Die Region Aostatal und die Region Trentino-Südtirol und insbesondere die Autonome Provinz Bozen weisen wiederum zahlreiche Gemeinsamkeiten auf. Südtirol und das Aostatal haben auf demokratischem Weg das Recht errungen, ihre tradierten Sprachen zu erhalten, und haben Mehrsprachigkeit in der öffentlichen Sphäre gegen jede sprachliche Diskriminierung durchgesetzt. Sie teilen auch eine lange Phase des Widerstands des italienischen Staats gegen ihre Sonderansprüche, bevor Rechtsgarantien in Kraft getreten sind. Beiden haben, genauso wie das Trentino, mit Erfolg territoriale Selbstregierung umgesetzt.(1) Dieses Modell strahlt über die Regionsgrenzen aus. In Sachen internationale Absicherung hat Südtirol mit dem Degasperi-Gruber-Abkommen von 1946 sicher die besseren Karten, nämlich eine völkerrechtlich nicht anfechtbare Grundlage. Doch auch das Aostatal hat seine Autonomie zunächst aufgrund einer Forderung nach Unabhängigkeit erhalten, die 18.000 aostanische Familienväter 1945 unterzeichnet haben. Nicht nur eine Überlegung De Gaulles, das Aostatal an Frankreich anzugliedern, sondern vor allem die Forderung nach Selbstbestimmung der aostanischen Politiker war es, die dem Aostatal im September 1945 (2) zur ersten Regionalautonomie Italiens verholfen hat. Gemeinsam ist unseren beiden Regionen auch die starke Präsenz der regionalen Parteien. Die nationalen Parteien sind sowohl im Aostaner Regionalrat wie im Südtiroler Landtag schwach vertreten. Ähnlich wie in Südtirol hat sich auch im Aostatal die Partei der absoluten Mehrheit zunehmend an Boden verloren und die politische Vertretung der autonomen Kräfte ist pluralistischer geworden.(3) Im Aostatal ist gleich wie in Südtirol auf die Direktwahl des Regionspräsidenten verzichtet worden. Der Präsident der Region wird bei uns vom Regionalrat gewählt, der ihm auch im Wege des konstruktiven Misstrauensvotums das Vertrauen wieder entziehen kann. Im Parlament können die Südtiroler, Trentiner und Aostaner Vertreter auf eine positive Zusammenarbeit verweisen. Diese Konvergenz scheint auch weitere Autonomiekräfte im Alpenraum anzusprechen. Die Unsicherheiten im italienischen Bipolarismus hat jedoch die alte Strategie der Blockfreiheit der Vertreter der autonomen Regionen immer fragwürdiger werden lassen, weshalb man sich tendenziell immer stärker dem Mitte-Links-Lager angeschlossen hat. Politische Übereinstimmung gibt es zwischen Südtirol und dem Aostatal auch in der Distanznahme zu den politischen Projekten für ein „Padanien“, die auf die Bildung einer Makrore- 38 39 gion des Nordens abzielen. Derartige Projekte werden als gefährlich betrachtet, auch wegen des geringen Gewichts, das die Bergregionen gegenüber den Metropolen der Po-Ebene hätten. Die Bergregionen wenden sich vielmehr euroregionalen Perspektiven zu, sowohl im jeweiligen Kulturraum als auch im gesamten Alpenraum.(4) Daneben gibt es aber auch deutliche Unterschiede: so ist das Aostatal hinsichtlich der sprachlichen Verschiedenheit weniger deutlich abgegrenzt als die deutschsprachigen Südtiroler gegenüber den südlich angrenzenden Nachbarregionen. Hier wiegt die geschichtliche Entwicklung schwer, denn das Aostatal gehört schon seit 1862, und zwar nicht infolge einer Annexion, zu einem Staat, der seine kulturelle Verschiedenheit einzudämmen versucht. Dabei hat Frankreich immer eine Schutzmachtfunktion für die Rechte der französischsprachigen Minderheiten in Italien abgelehnt. Ausgehend von diesem Vergleich ist es einen Versuch wert, die Gründe und Verfahren für eine mögliche Reform der jeweiligen Autonomie zu vergleichen. Dies erfolgt hier in ganz überparteilicher Atmosphäre im Rahmen einer Bildungsveranstaltung. Es geht hier nicht um die Ausbildung von Nachwuchs-Parteikadern, sondern um eine offene Veranstaltung der Bewusstseinsbildung für Bürger. Was kann und was soll an den Autonomiestatuten reformiert werden? Unsere beiden Statuten sind zu verschiedenen Zeiten verfasst worden. Das aostanische Statut, ein eher „statisches Statut“, ist sozusagen noch ein Statut der ersten Generation, das schon 1947 verabschiedet und erst 2001 erstmals abgeändert worden ist, zusammen mit anderen Statuten. Diese Abänderung sollte die Regionen mit Sonderstatut an die umfassende Neuordnung der Regionen im Zuge der Reform des Abschnitts V der Verfassung näher heranführen. Das Grundgesetz der Region Trentino-Südtirol ist bereits 1972 grundlegend abgeändert worden und jetzt wird ein „3. Statut“ gefordert.(5) Auf formaler Ebene schreibt die Verfassung ein spezielles erschwertes Verfahren vor: im Unterschied zu den Normalregionen sind die Statuten der autonomen Regionen nur mit Verfassungsgesetz abzuändern, also durch zweifache Lesung im Parlament. Seit mindestens 20 Jahren versuchen die Parlamentarier unserer Regionen durchzusetzen, dass jeder Abänderung ein Einvernehmen vorausgehen muss, ein Schutzschild für die Interessen der autonomen Regionen und Provinzen. Neben diesem erschwerten Verfahren der Abänderung der Autonomiestatuten über Verfassungsänderung - wesentlich für die Kompetenzenaufteilung und die Entwicklung der Selbstregierung - gibt es auch „interne Regulierungskompetenzen“, die den Regionen übertragen worden sind. Das Autonomiestatut von Trentino-Südtirol weist diesbezüglich mehr Starrheit auf, weil sowohl das Verhältnis zwischen den Sprachgruppen als auch zwischen den beiden Provinzen zu berücksichtigen ist. Im Aostatal kann die Region ganz selbstständig über die Regierungsform und die innere Organisation der regionalen Institutionen entscheiden. Somit kann man zwei Ebenen einer Autonomiereform unterscheiden: zum Einen die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Staat und Region, zum andern die innere „Landesverfassung“. Beide zusammen, 40 das Statut und die Regierungsformgesetze, sowie auch einige wichtige Durchführungsbestimmungen bilden substanziell die Regionalverfassung. Die Erweiterung der Gesetzgebungskompetenzen der autonomen Regionen und Provinzen muss auf verfassungsrechtlicher Ebene erfolgen. Diese Fragen sind in der öffentlichen Debatte schwer zu vermitteln, weil oft recht technische Feinheiten und die verschiedenen Kompetenzenarten das Ganze für den Normalbürger stark verkomplizieren. Bei der inneren Organisation der Institutionen können die Bürger auch mit Verfahren der direkten Demokratie mitmischen. Hier geht es auch darum, mit der bisher paternalistischen Art der Politik zu diesen Institutionen zu brechen. Welche Reformen sind heute möglich und ist dieser Augenblick günstig, um diese Transformation durchzuführen? Ausgehend von einer weitgehenden Autonomie, fordern unsere beiden Regionen eine robustere und vollständigere Autonomie, mit weniger Einmischung seitens des Staatsapparats. Gleichzeitig muss als Gegengewicht eine stärkere Bürgerbeteiligung gewährleistet werden.(6) Die jetzige Phase ist allerdings für ein solches Reformprojekt alles andere als günstig. Seit 10 Jahren wird in Italien der Föderalismus beschworen, in der Praxis hat es jedoch nur für bescheidene Maßnahmen in diese Richtung gereicht. Heute hat sich dieses Klima verflüchtigt, in dem kein Politiker mehr behaupten konnte, gegen die föderalistische Umgestaltung Italiens zu sein, sowohl infolge der Wirtschaftskrise als auch wegen der eingetretenen Ernüchterung insbesondere bei den Kosten der regionalen Institutionen. Heute ist es viel schwieriger geworden, für Föderalismus in Italien einzutreten. Es mag absurd erscheinen, doch ein guter Teil der politischen Elite scheint von einem Extrem ins andere gewechselt zu sein, ohne die insgesamt positiven Chancen des Föderalismus im Blick behalten zu haben. So kam es 2001 zu einer bloß verhaltenen Reform des Abschnitts V der Verfassung, nicht jedoch zur Schaffung des föderalen Senats und zur nachhaltigen Stärkung der Regionen. Neue verfassungsrechtliche Elemente haben paradoxerweise wieder den Zentralstaat gestärkt. Besonders kritisch ist die Lage deshalb, weil gerade die Sonderautonomien, also die Speerspitze einer weitergehenden Regionalisierung Italiens, unter Beschuss geraten sind. In der öffentlichen Meinung stehen sie zu Unrecht alle zusammen als privilegierte und verschwenderische Regionen am Pranger. Somit braucht es enormen Einsatz dafür, die positive Rolle der Regionen mit Sonderautonomie hervorzuheben. Die autonomen Provinzen und Regionen haben schon viel aus ihrem Potenzial gemacht, doch nach außen ist das zu zögerlich vermittelt worden. Somit muss es gelingen, die eigenen Erfahrungen als gutes Beispiel auch in der italienischen Öffentlichkeit darzustellen. Was hat das Aostatal unternommen, um seine Autonomie auf verfassungsrechtlicher Ebene weiterzuentwickeln? Der bisher einzig rechtlich gangbare Weg war die Verfassungsänderung über das Parlament, so geschehen mit der Institutionalisierung der paritätischen Kom- 41 mission fürs Aostatal, der Anerkennung der Minderheit der Walser, der Anerkennung der Kompetenz für die Gemeindeordnung. Dabei ging es immer um spezielle Änderungen auf Wunsch der Region und noch nie ist es dabei zu Verschlechterungen gekommen.(7) In den letzten Jahren gab es auch eine Reihe von Misserfolgen. Schon in den 1980er Jahren waren wir Aostaner der Auffassung, dass das Statut veraltet war und sowohl mehr Zuständigkeiten als auch einer Neu-Organisation des inneren Aufbaus bedurfte. Das ganze Statut sollte neu geschrieben werden. Doch die vom Regionalrat ernannte Sonderkommission für institutionelle Reformen ist durch eine Regierungskrise in der Region 1990 brüsk zum Stillstand gekommen und nicht mehr aufgenommen worden.(8) Zehn Jahre später, in einem stark abgekühlten Klima, wagte der Regionalrat einen neuen Anlauf zur Autonomiereform, vor allem zur Reform der Gebietskörperschaften. Doch auch dieser Versuch hat dann nichts gefruchtet.(9) Der dritte und jüngste Anlauf spielte sich dann von 2006-08 ab: als Methode ein interessantes Experiment, bei den Ergebnissen leider enttäuschend. Man hat nämlich einen „Konvent für das Autonomiestatut“ geschaffen, indem dem Regionalrat eine Reihe von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens beigefügt wurden: aus der Handelskammer, den Gewerkschaften, den Verbänden, der Universität. (10) Die politische Elite hat zu Recht erkannt, dass eine bloß vom Regionalrat ausgearbeitete Reform ein zu selbstbezogenes Unterfangen wäre, doch ist es ihr nicht gelungen, breitere Kreise der Bevölkerung einzubeziehen. Es sind zwar einige neue Interaktionsformen erprobt worden, wobei die Verfahren der Bürgerbeteiligung noch nicht ausgereift waren. Auch dieser dritte Anlauf hat somit keine konkreten Wirkungen gezeitigt, geriet dann mehr zu einer Imageveranstaltung der Region, die die Bürgerschaft nicht tatsächlich in die inhaltliche Debatte einbezogen hat. Seitdem ist alles liegen geblieben: weder gab es innovative Vorschläge noch einen gemeinsamen politischen Willen. Vielmehr lässt sich sagen, dass die Statutenreform heute nicht auf der politischen Agenda des Aostatals steht, mit Ausnahme sporadisch auftauchender Fragen wie z.B. die Reduzierung der Mitglieder des Regionalrats, eine Kompetenz, die formalrechtlich dem Parlament zusteht. Heute stehen Fragen der Wirtschaftskrise im Vordergrund, während es durchaus sehr anregend wäre, die Idee der Vollautonomie hinsichtlich der autonomen Kompetenzen aufzunehmen (11). Wichtige Impulse wie das sardische Referendum von 2012 zur Wahl einer Statut-gebenden Versammlung wären im heutigen Kontext des Aostatals eher Wunschdenken, ohne klare rechtliche Absicherung der Aufgabe einer solchen Versammlung. Fest steht, dass der Ausbau und die Verbesserung der Autonomie als höherer Grad an Verantwortung eine Konsolidierung des verfassungsrechtlichen Rahmens erfordert. Unsere kleinen regionalen Gemeinschaften haben zwar weniger unter der Legitimationskrise der Institutionen zu leiden, müssen aber gleichwohl auf moderne und bürgerfreundlichere Verfahren setzen. Zwei Fragen scheinen in den Beziehungen zum Staat bei der Reform der Institutionen wichtig zu sein. Die erste betrifft den Fiskalföderalismus. Die Regionen mit Sonderstatut des Al- 42 penraums sind die einzigen, wo dieser zur Anwendung gelangt ist. Ausgehend von ihrer Beteiligung am lokalen Steueraufkommen, haben sie eine klare Entscheidung getroffen. Das Mailänder Abkommen für Bozen und Trient war Wegbereiter, das Aostatal und Friaul Julisch Venetien sind gefolgt, um den Fiskalföderalismus für sich anzuwenden. Es liegt an unserem politischen Wesen als Alpenregionen, eine möglichst föderalistische Lösung sowohl für die Finanzen wie für die Institutionen zu suchen. Nachdem mit dem Staatsgesetz Nr.42/2009 der Rahmen gesetzt worden war, hat man sich an einen Tisch gesetzt und eine Art föderalistische Verhandlungslösung also, die z.B. Deutschland auch laufende Anpassungen zwischen Bund und Ländern durch den Bundesrat ermöglicht (12). Die beiden Inseln haben sich diesem Prozess leider nicht angeschlossen und keine Neuregelung der Finanzbeziehungen getroffen. Sizilien hat überdies die Regelung aufrecht erhalten - vordergründig in Widerspruch zur Verfassungsreform von 2001 - die Regionalgesetze vorab auf Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Wenn man somit über Reformen spricht, gilt es Vorsicht walten zu lassen, weil die Sonderautonomien stark divergieren. Es gibt keine reale politische Solidarität unter den Regionen mit Sonderstatut, und es besteht tatsächlich ein Risiko für eine Verschlechterung ihrer Position. Somit braucht es robuste Schutzschirme gegen Versuche der Verwässerung durch den Zentralstaat. Zahlreiche Mitglieder der Expertenkommission zur Erarbeitung von Vorschlägen der Verfassungsreform, die 2013 beim Ministerium für institutionelle Reformen eingesetzt worden ist, haben sich negativ zur Rolle der Sonderautonomien ausgesprochen, wobei einige soweit gehen, die Gründe für ein Sonderstatut für überholt zu erklären. Was verwundern mag, ist dabei die Tatsache, dass bei dieser Gelegenheit keine Kritik an diesen vorurteilsbelasteten Stellungnahmen geübt worden ist. Die zweite Frage betrifft die Bürgerbeteiligung und die Rechte auf direkte Demokratie, Initiative und Referendum. In den vergangenen Jahren gab es dazu eine Art Dialog zwischen Aosta und Bozen.(13) Wahrscheinlich haben nicht alle im Parlament die Tragweite der Verfassungsreform von 2001 richtig eingeschätzt, jedenfalls hat diese einen hochinteressanten Samen gesetzt. Damit ist nicht nur eine Bresche geöffnet worden für die klassischen, abschaffenden und befragenden Referenden, sondern auch das „propositive Referendum“ ermöglicht worden, also die echte Volksinitiative gestartet worden, mit 4 Vorschlägen zu institutionellen Reformen bezogen auf das Wahlrecht und die direkten Demokratie selbst. Dazu gab es seitens der Regierungsmehrheit der Region starken Widerstand. Diese haben auf die Wirkung des hohen Beteiligungsquorums (45%) gesetzt und mit einer Boykottkampagne versucht, die Wahlberechtigten von der Abstimmung fernzuhalten. Dadurch schaffte die Volksabstimmung nicht mehr als 27% und war ungültig.(14) Die Volksinitiative, die im Oktober 2009 in Südtirol zur Abstimmung kam, berührte ebenfalls die Regierungsform, und zwar die direkte Demokratie selbst (also das propositive, abrogative, bestätigende Referendum und die Volksbefragung). Auch diese Volksabstimmung scheiterte mit knapp 38% Beteiligung am 40%-Quorum. Bei der darauf folgenden Volksinitiative in Aosta 2012 stand keine institutionelle Frage zur Wahl, doch wurde endlich das Quorum 43 überschritten. Zum ersten Mal in Italien kam ein Regionalgesetz über eine Volksinitiative zustande. In der italienischen Presse fanden diese Ereignisse kaum ein Echo. Dies zeigt, dass diese spannenden Demokratie-Versuche in Italien kaum zur Kenntnis genommen werden. Die Misswirtschaft macht Schlagzeilen, doch demokratische Errungenschaften kaum. Bei näherer Analyse haben diese beiden „Pilotprojekte“ als innovative Formen direkter Demokratie für Italien sehr wohl Bedeutung. Sardinien ist mit interessanten Volksinitiativen 2012 dazu gestoßen. Die Bevölkerung des Aostatals und Südtirol hat direkt erfahren, dass man mit der Volksinitiative die Spielregeln ändern kann, mit Verfahren, die der Direkten Demokratie der Schweiz nachempfunden sind. Direkte Demokratie als Ergänzung der repräsentativen Demokratie. Somit heben sich unsere beiden Regionen positiv von den anderen ab. Allerdings hat man seitens der Mehrheitsparteien und der Regierung gleich wieder versucht, der Bürgerbeteiligung einen Riegel vorzuschieben. Das über eine Volksinitiative 2012 verabschiedete aostanische Gesetz ist von der Regierung angefochten worden.(15) Abschließend gesagt muss man sich im Hinblick auf die Neufassung der Grundregeln der Sonderautonomien auf drei verschiedenen Fronten bewegen. Zunächst ist es nötig, durch eine Neuformulierung des Art. 116 der Verfassung (gemäß verfassungsrechtlicher Erfordernis) jene Bereiche der Statuten festzulegen, die einer spezifischen formalen Garantie bedürfen: das Verhältnis zum Staat und zur EU, die Finanzbeziehungen, die Definition der Kompetenzen und der Schutz der Minderheiten. Sodann wäre eine klarere formale Kennzeichnung der sog. Regierungsformgesetze erforderlich, als Akte der Selbstregierung der Region bzw. der Autonomen Provinzen. So würden diese Gesetze aufgewertet als eine Art „internes Statut“, das noch mit weiteren Normen mit Programmcharakter gefüllt werden könnte. Schließlich sollte ein innovativer Ansatz für die bilateralen Beziehungen zwischen Staat und Region gefunden werden, der - über die Übertragung von Verwaltungsbefugnissen im Wege der üblichen Durchführungsbestimmungen hinaus - auch eine Verhandlung zur Festlegung von Gesetzgebungs-kompetenzen erlauben muss. Eine wichtige Erfahrung für eine derartige Reform wären die Sewel Conventions, die im Rahmen der schottischen Devolution erprobt worden sind. Nicht so sehr gut gemeinte, aber oft nutzlose rhetorische Übungen braucht es, sondern pragmatische Lösungen, die den Gesamtansatz konkret stärken, also den demokratischen Charakter und den Schutz der autonomen Befugnisse. Weniger Poesie, sozusagen, und mehr Prosa. Prof. Avv. Robert Louvin, Aosta, Rechtsanwalt und Professor für vergleichendes Verfassungsrecht, früherer Regionalratspräsident und Landeshauptmann der Region Aostatal Endnoten 1) Un‘analisi e una lettura in controtendenza con la saggistica demolitoria oggi imperante è contenuta 44 in due recenti e documentati contributi: M. Baldi, M. Marcantoni, Regioni a geometria variabile. Quando, dove e perché il regionalismo funziona, Donzelli, 2013, e G. Cerea, Le Autonomie speciali. L‘altra versione del regionalismo, fra squilibri e possibile equità. Franco Angeli, 2013. 2) Su profili internazionali della costruzione autonomistica valdostana: R. Louvin, L‘autonomia ritrovata: impronte di persistenza storica e di pattuizioni costituzionali, in G. Rolla (cur), Regimi speciali di autonomia delle comunità territoriali. profili di diritto comparato, Milano, Giuffré, 2013, pp.255-282 3) Su 35 consiglieri vi sono solo 3 consiglieri del PD e due consiglieri del M5S, mentre il PDL non ha neanche raggiunto il quorum. Quindi solo 5 consiglieri su 35 aderiscono a forze politiche nazionali. Tutti gli altri consiglieri (30) aderiscono a formazioni regionali, con 13 seggi dell‘Union Valdotaine, il partito a maggioranza, 7 dell‘Union Valdotain progressiste, 5 di ALPE (acronimo di Autonomie, Liberté, Participation e Ècologie), formazione autonomista e ecologista, 5 consiglieri del Movimento Stella Alpina (formazione erede della Democrazia Cristiana regionale scomparsa nel 1994). Diversamente dall‘Alto Adige/Südtirol, però, non si registrano però in Valle d‘Aosta significative rivendicazioni separatistiche. 4)Come dimostrano le rispettive esperienze euroregionali e l‘impegno conseguente alla Dichiarazione dei Presidenti delle Regioni dell‘Arco alpino di Bad Ragaz del 29 giugno 2012 nel solco della decisione assunta a Bruxelles l‘8 novembre 2011 di promuovere un progetto comune nell‘area delle Alpi attraverso un‘iniziativa regionale per una Euroregione Alpina. 5) Il riferimento è alle ‚proposte per l‘approfondimento di possibili linee guida per il terzo Statuto di autonomia redatte da Massimo Carli, Gianfranco Postal e Roberto Toniatti per incarico della Giunta provinciale di Trento e rese pubbliche nel giugno del 2013. 6) Nella corrente legislatura con la proposta di Legge costituzionale d‘iniziativa dei Deputati Schullian, Alfreider, Gebhard, Plangger e Marguerettaz, „Modifiche agli statuti delle regioni ad autonomia speciale, concernenti la procedura per la modificazione degli statuti medesimi“, presentata alla Camera dei Deputati il 15 marzo 2013. Il testo ricalca sostanzialmente quello di analoghe precedenti iniziative. 7) Secondo lo Statuto speciale vigente, questa competenza consente alla legge regionale e statutaria di determinare „la forma di governo della Regione e, specificatamente, le modalità di elezione del Consiglio della Valle, del Presidente della Regione e degli assessori, i casi di ineleggibilità e di incompatibilità con le predette cariche, i rapporti tra gli organi della Regione, la presentazione e l‘approvazione della mozione motivata di sfiducia nei confronti del Presidente della Regione, nonché l‘esercizio del diritto di iniziativa popolare delle leggi regionali e del referendum regionale abrogativo, propositivo e consultivo“ (art. 15, c.2). 8) L‘analisi sui limiti ordinamentali e le prime valutazioni sul processo di riforma ipotizzato in quella circostanza sono consegnate nella Relazione sullo stato dell‘autonomia della Regione Valle d‘Aosta - Contributo di analisi per i lavori della Commissione speciale delle Riforme Istituzionali del Consiglio regionale della Valle d‘Aosta, Aosta, Duc, 1991 (ristampa Aosta, 1996). 9) La proposta è consultabile nel Dossier di documentazione n.1/2001 redatto a cura del Consiglio regionale della Valle d‘Aosta. 10) Con la Legge regionale 29 dicembre 2006, n.35 è stata istituita la Convenzione per l‘autonomia e lo Statuto speciale della Regione autonoma Valle d‘Aosta/Vallée d‘Aoste, con il compito di predisporre un documento da sottoporre al Consiglio regionale come iniziativa per la revisione della legge costituzionale 26 febbraio 1948, n.4 (Statuto speciale per la Valle d‘Aosta). 11) Rinvio in proposito alle articolate riflessioni sviluppate nel mio recente scritto La modifica dimensionale dei Consigli regionali: una trappola per la Regioni speciali, in Quaderni regionali, Gennaio-Aprile 2012, n.1, pp.99-114. L‘unica proposta di legge costituzionale attualmente in discussione (n.1 del 2013) riguarda peraltro appunto la modificazione dell‘art. 16 dello Statuto speciale per la Valle d‘Aosta per ridurre la composizione del Consiglio della Valle a venticinque consiglieri. 12) Su questo approccio si vedano le interessanti osservazioni di J. Woelk, „I rapporti finanziari nell‘ordinamento tedesco“, in F. Palermo e M. Nicolini (a cura di), Federalismo fiscale in Europa, Esperienze straniere e spunti per il caso italiano, Napoli, 2012, p. 17 ss. 13) Sulla pratica della democrazia diretta: Thomas Benedikter, Democrazia diretta - Più potere ai cittadini, Casale Monferrato, 2008 e dello stesso autore, Più democrazia per l‘Europa, Trento 2010. 14) Ha colpito, in negativo, la campagna di manifesti che rappresentava matite spezzate con cui le forze di governo invitavano, indicando le proposte referendarie come prive di senso, a non votare. 15) Sentenza n.285 del 2013 con cui è stato dichiarato incostituzionale l‘articolo unico della legge della Regione autonoma Valle d‘Aosta/Vallée d‘Aoste 23 novembre 2012, n.33 (Modificazione alla legge regionale 3 dicembre 2007, n.31 - Nuove disposizioni in materia di gestione dei rifiuti). 45 Sardinien will einen direkt gewählten statutgebenden Konvent Interview mit On. Pierpaolo Vargiu (I Riformatori Sardi – Liberaldemocratici) On. Pierpaolo Vargiu, Begründer der Riformatori Sardi - Liberaldemocratici, früherer Regionalratsabgeordneter, heute Kammerabgeordneter. Pierpaolo Vargiu, ein Arzt aus Cagliari, war Sprecher der Volksinitiative SARDEGNA SI CAMBIA, die am 6. Mai 2012 525.000 Sarden zu einer Volksabstimmung über 10 Einzelfragen der regionalen Politik an die Urnen gebracht hat, vor allem hinsichtlich der Politikkosten und der Gebietskörperschaften Sardiniens. Dabei ging es auch um eine Volksbefragung (referendum consultivo) zur Einrichtung einer direkt von den Bürgern und Bürgerinnen zu wählenden "Statut-gebenden Versammlung" für Sardinien mit der Aufgabe, das Autonomiestatut Sardiniens neu zu fassen. Welche Auswirkung hat dieses Votum auf politischer Ebene gehabt? Vargiu: Die Volksabstimmungen vom Mai 2012 waren zum Teil abschaffend, zum Teil konsultativ, also Volksbefragungen. Erstere haben unmittelbare Rechtswirkung, z.B. wurden die Gehälter der Regionalratsabgeordneten sofort um 30% gesenkt. Die vier auf Sardinien neu eingerichteten Provinzen sind eben erst unter kommissarische Verwaltung gestellt worden, weil der Regionalrat ein Rahmengesetz zur Neuordnung dieser Verwaltungsebenen verabschieden muss. Damit soll dann die gesamte Verwaltungsebene der Provinzen in Sardinien abgeschafft werden. Zur Einrichtung einer Statut-gebenden Versammlung hat der Regionalrat noch keine Maßnahme ergriffen. In Ihrem Gesetzesvorschlag Nr. 352 vom Jänner 2012 haben Sie die zentrale Rolle der künftigen Statut-gebenden Versammlung Sardiniens erläutert und die Notwendigkeit unterstrichen, dass ein solch wichtiger Reformschritt mit einer partizipativen Methode erfolgen muss. Er kann also nicht durch das legislative Organ erfolgen, den Regionalrat, weil dieser 46 anderweitig zu stark beansprucht ist. Er kann auch nicht durch ein beratendes Organ erfolgen, weil ein solches nicht demokratisch legitimiert wäre. Warum lassen sich die anderen Parteien von Ihrem Vorschlag nicht überzeugen? Vargiu: Die politischen Parteien sind sich nicht der Bedeutung bewusst, die ein verfassunggebender Prozess im Bewusstsein der Menschen haben kann, noch erkennen sie die Tragweite dieses Akts für die Zukunft unserer Region. Viele betrachten die Statut-gebende Versammlung als bloßes Instrument für die Neufassung des Statuts, doch ist diese Versammlung zu einem gutem Teil auch schon die Substanz eines neuen Wegs der Identifizierung der Bürger mit ihrer Region in ihrem Verhältnis zum Staat und zu Europa. Das ist die zukünftige Herausforderung für das sardische Volk. Ist der sardische Regionalrat verpflichtet, das Ergebnis der Volksbefragung umzusetzen? Hat er überhaupt die rechtliche Zuständigkeit, eine solche Statut-gebende Versammlung einzuberufen, gleich ob mit beratendem oder mit beschließendem Charakter, wie Sie es vorschlagen? Vargiu: Der Regionalrat ist "moralisch", aber nicht rechtlich dazu verpflichtet. So wie von den Riformatori sardi konzipiert, hätte die Statut-gebende Versammlung das Mandat, das Autonomiestatut neu zu fassen, wobei dem Staat, also dem Parlament nur die Möglichkeit bliebe, es zurückzuweisen oder zu akzeptieren, nicht aber es in seinem Sinn abzuändern. Schon 2001 hat Ihre Partei einen staatlichen Gesetzentwurf vorgelegt, um das Verfahren zur Reform der Statuten Sardiniens abzuändern. Eine gewählte sardische Versammlung hätte die Zuständigkeit erhalten, selbst ein Statut auszuarbeiten, welches dem in Art. 138 der Verfassung vorgesehene Verfahren für Verfassungsänderungen unterworfen wäre. Die Grundidee war schon damals jene, dass die Sarden Statutsautonomie erhalten und ihr neues Statut selbst erstellen, das dann vom Parlament ratifiziert werden muss. Warum ist dieser Vorschlag nicht durchgegangen? Vargiu: Der Vorschlag ist nicht durchgegangen, weil das Parlament kein Interesse hatte, aber auch weil die Sarden sich in solch grundsätzlichen Fragen nicht einigen können. Es gab also keine einheitliche Unterstützung unseres Vorschlags seitens der Sarden im Parlament, um das sardische Autonomiestatut, das Verfassungsrang hat, in diesem Sinn abzuändern. 2006 haben Sie dann versucht, einen "Beirat für ein neues Statut" (Regionalgesetzentwurf vom 18.5.2006) einzurichten, was ebenfalls gescheitert ist. Sind die sardischen Parteien in dieser Hinsicht auch im Regionalrat gespalten? Vargiu: Leider ja. Es scheint so, dass die Zustimmung zu diesem Vorschlag eher aus zufälligen Zweckbündnissen unter den Parteien erwächst, nicht aber aus der Erkenntnis der eigentlichen Bedeutung eines solchen Akts. Es würde ja bedeuten, dass man anders AutonomiePolitik betreibt und die Sarden auf eine andere, demokratischere Weise gemeinsam ihre politische Zukunft entwerfen. 47 Welche wären denn, ganz grob gesagt, die Hauptmerkmale eines neuen Autonomiestatuts Sardiniens: neue Kompetenzen, mehr Freiheit in der Regierungsform, mehr Stabilität und Spielraum bei den Finanzen, neue Formen der Anwendung des Statuts? Könnten Sie einige Beispiele anführen oder haben Sie den Entwurf gar schon in der Tasche? Vargiu: Wir haben schon über einen Entwurf des künftigen Autonomiestatuts nachgedacht, doch wäre eine gewählte Statut-gebenden Versammlung der einzige Garant dafür, einen Partizipationsprozess zu lancieren, der allen Sarden zu mehr Beteiligung und zu einer anderen Einstellung gegenüber dem Staat und gegenüber der eigenen Zukunft verhilft. Ein neues Statut, das dem Parlament vorgeschlagen werden müsste, sollte eine möglichst breite Unterstützung in ganz Sardinien erfahren. Eine Statut-gebende Versammlung wäre jener Ort, in welchem alte, überholte Parteikonflikte und Differenzen überwunden werden können. Nun sehen Sie in Ihrem Entwurf zwar Volksinitiativen während der Erstellung des neuen Statuts vor, nicht aber ein bestätigendes Referendum zum Ergebnis der Statutgebenden Versammlung, wie es in den Autonomen Gemeinschaften Spaniens der Fall ist. Warum? Vargiu: Uns schien, dass das Verfahren zur Bürgerbeteiligung im Rahmen einer Statut-gebenden Versammlung schon ausreichen kann. Im Fall von Friaul Julisch Venetien ist mit partizipativem Verfahren ein neues Regionalstatut ausgearbeitet worden, das der Regionalrat verabschiedet hat, doch ist dieses seit mehr als 9 Jahren im Parlament stecken geblieben. Bedeutet dies, dass das Parlament derzeit in dieser Hinsicht nicht nachzugeben bereit ist, also darauf beharrt, ganz eigenständig die Regionalstatuten abzuändern? Wie schätzen Sie die Möglichkeit ein, dass der Staat den Regionen mit Sonderstatut auf Augenhöhe begegnet und ihnen auch Statutsautonomie gewährt? Vargiu: Die Debatte zur Regionalautonomie ist sehr komplex und hat in den verschiedenen Regionen einen verschiedenen kulturellen, geschichtlichen und geopolitischen Hintergrund. Das Gespräch führte Thomas Benedikter am 8.11.2013 48 Reformen für das Zusammenleben Reformen des Autonomiestatuts Günther Pallaver Das Erste Autonomiestatut wurde ohne systematische Einbeziehung der deutschsprachigen SüdtirolerInnen vom Staat Italien verabschiedet, das Zweite Autonomiestatut wurde von den deutschsprachigen SüdtirolerInnen unter weitgehendem Ausschluss der ItalienerInnen im Lande erarbeitet. Das Dritte Autonomiestatut sollte hingegen im Sinne einer politischen und gesellschaftlichen Symmetrie gemeinsam erarbeitet werden. Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit sollte in eine Präambel zum Autonomiestatut fliessen, in welcher der hohe Wert des Zusammenlebens verschiedener Sprachgruppen (und nicht nur der autochtonen) zum Ausdruck gebracht wird. Ich gehe von der These aus, dass nicht mehr die Sprachgruppen, sondern das Territorium die Grundlage der neuen Identität aller in Südtirol lebender Personen werden sollte, einer demokratischen, offenen, aufnahmefähigen, offensiven Identität im Gegensatz zu einer selbstbezogenen, geschlossenen, ablehnenden, abgrenzenden, defensiven Identität. Aktuell haben wir es mit einem politischen System zu tun, welches das Primat des Ethnischen und weniger das Primat des Territoriums unterstreicht. Ein Paradigmenwechsel müsste den Sprung von der ethnischen zur territorialen Autonomie einleiten. Das Autonomiestatut beinhaltet eine Reihe von Regeln für das Zusammenleben der verschiedenen Sprachgruppen, um potentielle Konflikte zu verhindern. Das Autonomiemodell von 1948 beruht auf dem dissoziativen Konfliktlösungsmodell. Dieses zielt auf die Herstellung des negativen Friedens ab, verstanden als Abwesenheit von personaler Gewalt, das die Konfliktparteien physisch und/oder sozial trennt, oder anders ausgedrückt, das (ethnische) Einflusssphären absteckt. Die Implementierung dieses Konfliktlösungsmodells orientierte sich am Modell der Konkordanzdemokratie. Die wichtigsten Merkmale dieses Modells sind: 1. Beteiligung aller relevanten Sprachgruppen an der (Regierungs-)Macht und an nachgeordneten verschiedenen Subsystemen. Es handelt sich dabei um das Prinzip der Inklusion aller Sprachgruppen. 2. Entscheidungsautonomie der jeweiligen Sprachgruppen in Fragen, die nicht von gemeinsamem Interesse sind. Im Wesentlichen betrifft dies den Gruppenschutz im Bereich von Bildung und Kultur. 3. Verhältnismäßige Vertretung der einzelnen Sprachgruppen in politischen Organen (über das Verhältniswahlsystem), bei Einstellungen im öffentlichen Dienst (ethnischer Proporz) und bei der Zuweisung von öffentlichen Geldern. 49 4. Vetorecht der jeweiligen Sprachgruppe, wenn es um die Verteidigung zentraler Interessen des Gruppenschutzes geht und die vereinbarten Formen der Konfliktregelung nicht greifen. Dieses Modell geht von einem gemeinsamen Territorium, aber einer Aufteilung nach ethnischen Einflusssphären aus, geht aus von der Kooperation der Eliten, aber einer so weit als möglichen, abgestuften Trennung der Gesellschaft nach Sprachen. In diesem Modell besteht das Primat des Ethnischen. Nun haben sich die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den letzten beiden Jahrzehnten stark geändert, sodass sich auch Änderungen bei den vier Grundpfeilern und Konfliktregelungsmechanismen der Autonomie ergeben haben. Von der maximalen Einbindung aller Sprachgruppen auf Grund ihrer numerischen Stärke ist man heute in ein asymmetrisches Loch gefallen. Durch die Änderung des Parteiensystems auf staatlicher und auf Landesebene vertreten heute die italienischen Parteien in der Landesregierung, aber auch auf kommunaler Ebene nur mehr eine Minderheit der italienischen Zivilgesellschaft. Das hat wiederum zu einem politisch-kulturellen Unbehagen unter den ItalienerInnen geführt, welches das Zusammenleben gefährden kann, wenn sich eine Sprachgruppe von den „öffentlichen Angelegenheiten“ ausgeschlossen fühlt. Es bedarf deshalb einer Korrektur der eingetretenen Asymmetrien. 1. Beim Prinzip der Inklusion sollte ein freiwilliger Proporz eingeführt werden. Damit soll ein gesetzliches Minimum an Präsenz in der Exekutive auf allen Ebenen garantiert werden, politisch aber „freiwillig“ ausgedehnt werden können, wenn eine Sprachgruppe eine adäquate politische Vertretung aus eigener Kraft nicht schafft. Auf diese Art könnte man das Prinzip der maximalen Einbindung wieder verwirklichen. 2. Bei der Entscheidungsautonomie gibt es im Autonomiestatut einen Konstruktionsfehler: in der Landesregierung wird nämlich nach dem Mehrheitsprinzip abgestimmt, sodass auch bei den selbstständigen Agenden einer Sprachgruppe die größere über die kleinere bestimmen kann. Als Fallbeispiel kann der Immersionsunterricht herangezogen werden. Die italienische Minderheit will diesen, die deutschsprachige Mehrheit lehnt diesen ab und entscheidet über die Minderheit, also über einen Bereich, der eigentlich in die Kulturautonomie der jeweiligen Sprachgruppe fällt. 3. Um den Wettbewerb zwischen den Sprachgruppen zu vermeiden, verlagert der ethnische Proporz den Wettbewerb in die jeweilige Sprachgruppe. Damit ist das Leistungsprinzip, das Prinzip des „meritum“ relativiert worden. Obgleich der ethnische Proporz als eine unantastbare Säule der Autonomie angesehen wird, ist dieser immer wieder modifiziert worden, um den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Gesellschaft nachkommen zu können. Letztlich aber sollte der ethnische Proporz überwunden werden, wie dies in den Durchführungsbestimmungen auch vorgesehen ist. Schon 50 jetzt sollte bei den Karrierechancen eine größere Durchlässigkeit nach oben möglich sein. Nach fünf oder zehn Jahren etwa könnte man verifizieren, ob die Abwesenheit des Proporzsystems bei der Ressourcenverteilung funktioniert hat, ohne zu starke Asymmetrien zu produzieren. Den LadinerInnen sollte man hingegen weit mehr Rechte einräumen. 4. Das Vetorecht ist seit jeher eine stumpfe Waffe und sollte durch andere Schutzmechanismen ersetzt werden. In der Zwischenzeit bewegen wir uns von einer dissoziativen zu einer assoziativen Konfliktlösung, von der (unterschiedlich intensiven) Trennung hin zur Kooperation. Integration im Sinne von Kooperation wird in der Praxis bereits gepflegt. Beispielsweise haben die meisten ökonomischen Eliten die Trennung nie vollzogen und sind seit jeher interethnisch organisiert. Reformbedarf und Bedarf nach Öffnung haben hingegen die Bildung und die Kultur. Was die Schule betrifft, hat jede Minderheit selbstverständlich das Recht auf ein eigenes Schulmodell, aber als Option sollte für alle, die dies wünschen, auch eine mehrsprachige Schule angeboten werden. Eine besonders wichtige Rolle für den Ausbau der Kooperation unter den Sprachgruppen, für den Abbau von Vorurteilen und den Aufbau von Vertrauen spielen die Medien, die neben der Informationsfunktion auch eine friedensstiftende Funktion haben. Derzeit beliefern die Medien, da ethnisch getrennt, mit ihren Informationen lediglich (ethnisch geprägte) Teilöffentlichkeiten. Wenn man aber davon ausgeht, dass eine gemeinsame Öffentlichkeit die Voraussetzung für eine ungeteilte politische Legitimation eines politischen Systems ist, so können persistente Teilöffentlichkeiten auch zu Legitimationsproblemen des Systems führen. Auch dem ist entgegenzuwirken. Unter Autonomie wurde bislang eine territoriale Selbstverwaltung verstanden, die in einer immer größeren Übernahme von Zuständigkeiten vom Staat auf das Land zum Ausdruck kommt. Weit weniger ist es in der Vergangenheit um das Innenverhältnis der Autonomie gegangen, um die Südtiroler-interne Demokratie sowie um die Weitergabe der Zuständigkeiten nach unten, um die Aufteilung und Gestaltung von Macht. Die „neue“ Autonomie muss deshalb Fragen der Ausweitung der Demokratie, der politischen Partizipation angehen. Die bisher privilegierte Output Seite des politischen Systems muss durch die stärkere Betonung der Inputseite ergänzt werden. Südtirol hat den Zentralismus von Rom durch den Zentralismus von Bozen ersetzt. Dabei wäre es aus ethischer genauso wie aus demokratischer Sicht, aus Überlegungen der Effizienz wie der Transparenz durchaus zielführend, diesen Zentralismus aufzubrechen und vor allem die untergeordneten Gebietskörperschaften stärker in den Gestaltungs- und Verwaltungsprozess mit einzubeziehen. Das bedeutet Abtretung von Zuständigkeiten an die Gemeinden und Bezirksgemeinschaften im Sinne der Subsidiarität. In einem allgemeineren Sinne geht es also um die Frage der Südtiroler Governance, worunter man Steuerungssysteme versteht, die Politik, Institutionen und Individuen/Zivilge- 51 sellschaft verbinden sowie Aushandlungsprozesse zwischen den verschiedenen Akteuren und den verschiedenen Ebenen gestalten, welche die Bereiche policy, politics und polity betreffen und auf den Transformationsprozess „from Government to Governance“ verweisen. Schliesslich geht es auch um die Aufwertung des Landtages, um die Aufwertung seiner Kompensationsfunktionen. Das betrifft beispielsweise die Überprüfung der Politikherstellung, also die Kontrollfunktion, aber auch die Vermittlungsfunktion, um die Politikergebnisse zu kommunizieren. In unserem spezifischen Falle sollte das Landesparlament, neben dem Ausbau der Kontroll- und Vermittlungsfunktion, durch eine stärkere Einbindung bei allen autonomiepolitischen Fragen aufgewertet werden. Zu überlegen ist, ob die Aufgaben der 6er Kommission (für die autonomen Provinzen Bozen und Trient) und der 12er Kommission (für die Region Trentino-Südtirol) dem Landtag bzw. dem Regionalrat übertragen werden sollten. DDr. Günther Pallaver, Universitätsprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck, Gastprofessor an der Freien Universität Bozen, Gründer der Forschungsgruppe MediaWatch (Innsbruck), Präsident der Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft. Die international-rechtlichen Aspekte der Südtirol-Autonomie, die Schutzfunktion, die europäische Integration, die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft Peter Hilpold 1. Die international-rechtlichen Aspekte der Südtirol-Autonomie 1.1 Vorbemerkung Im Mittelpunkt dieser Vortragsreihe stehen Fragen nach Garantien für die bestehende Autonomie und Möglichkeiten ihrer Reform, ihres Ausbaus und ihrer Weiterentwicklung. Dies schließt auch und gerade den Aspekt der international-rechtlichen Absicherung mit ein. Wenn wir heute auf eine hochentwickelte, resiliente Autonomieregelung in Südtirol blicken können, dann wäre dieses Ergebnis ohne Beitrag der internationalen Ebene kaum denkbar gewesen. Es ist Kennzeichen des internationalen Rechts, das dieses in den Hintergrund tritt, sobald eine Regelung innerstaatlich erfolgreich umgesetzt worden ist. Die internationale Ebene wird erst dann wieder in Erinnerung gerufen, wenn größere Gefahr für die Autonomie droht oder wenn umfassende Umgestaltungen geplant sind. Da die international-rechtlichen Grundlagen der Autonomie zwischenzeitlich im Bewusstsein der Menschen schon längst in eine verstaubte Schublade verlegt worden sind, kommen regelmäßig Zweifel auf, ob es diese Absicherung überhaupt gibt und worin ihr konkreter Wert liegt. Diese Aspekte rechtfertigen eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Frage. 1.2 Die internationale Absicherung Andererseits konnte Italien nicht leugnen, dass nach wie vor ein Streit mit Österreich anhängig war. Die GV der VN hatte dies ja 1960/1961 festgestellt. Im Operationskalender war auch tatsächlich vorgesehen, dass am Ende des Streits Österreich eine Streitbeilegungserklärung abgeben sollte, die dann den VN notifiziert werden sollte. In Südtirol und in Österreich fürchtete man, dass die Südtirol-Frage damit ihren internationalen Charakter verlieren und wieder auf die innerstaatliche Ebene zurückfallen würde. Diese Problematik wurde dann sprichwörtlich in letzter Minute mit einem geschickten Schachzug gelöst: Es wurde vereinbart, dass den Noten, mit welchen Österreich und Italien wechselseitig die Beendigung des Streits erklärten, Bezug genommen werden sollte auf Paket und Operationskalender. So hat Italien in der Note vom 22. April 1992, in welcher die vollständige Umsetzung des Pakets bekannt gegeben wurde, auch den Text des Autonomiestatuts der Region Trentino-Südtirol angefügt und auf die Tatsache verwiesen, dass die Südtirol-Autonomie als Minderheitenschutzmaßnahme im Sinne des Pariser Vertrages zu interpretieren sei. Österreich wiederum hat die Streitbeilegungserklärung in eine umfang- 52 53 reiche Verbalnote eingebaut, in der auf die italienische Note Bezug genommen worden ist und dabei die internationale Absicherung der Autonomie nochmals viel stärker herausgestrichen. Österreich konnte damit darauf vertrauen, dass das gesamte Autonomierecht völkerrechtlich abgesichert war. Eine Beschneidung der Autonomie kann damit vor internationale Instanzen gebracht werden, u.U. auch vor den IGH. Offen bleibt natürlich, welche Autonomieverletzungen konkret vor ein internationales Gericht gebracht werden könnte oder, um es mit anderen Worten auszudrücken, wie einschneidend die Rechtsverletzung sein muss, damit sie von völkerrechtlicher Relevanz ist. Es ist davon auszugehen, dass Italien ein gewisser Gestaltungsspielraum verbleiben muss, dass also nicht jeder Beistrich des Autonomieabkommens in Stein gemeißelt ist. Maßnahmen allerdings, die sich als Verletzung von Treu und Glauben darstellen, müssen nicht hingenommen werden und können zweifelsohne auf völkerrechtlicher Ebene geahndet werden. 2. Die Schutzfunktion (3) Eng zusammen mit diesen Fragen hängt jene der Schutzfunktion. Auch diese wird auf politischer Ebene immer wieder thematisiert, wobei die Südtiroler Politik in den vergangenen Jahren wiederholt in Wien darauf gedrängt hat, dass Österreich eine entsprechende Verpflichtung in die Verfassung aufnimmt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie sinnvoll oder gar nötig dies ist. Hierzu sind Zweifel anzumelden. Wie gezeigt, ergibt sich eine qualifizierte Schutzfunktion Österreichs bereits aus dem Pariser Vertrag aus 1946. Diese Funktion hat Österreich seit 1955 wiederholt ausgeübt und damit eine ganz wesentliche Schützenhilfe zur Verwirklichung der gegenwärtig bestehenden Autonomie geleistet. Diese Schutzfunktion ist mit der Abgabe der Streitbeilegungserklärung auch keineswegs konsumiert worden. Wie gezeigt, ist die 1969 vorformulierte Streitbeilegungserklärung im Jahr 1992 sogar so umformuliert worden, dass die Schutzfunktion nunmehr einen viel breiteren materiellen Anwendungsbereich hat. Dennoch gibt es, wie erwähnt, Initiativen, die daraus ausgerichtet sind, eine explizite Schutzverpflichtung auf verfassungsrechtlicher Ebene durch Österreich zu erwirken. So hat bspw. eine vom Südtiroler Schützenbund und von fast allen Südtiroler Bürgermeistern unterzeichnete Petition aus dem Jahr 2006 folgenden Wortlaut: „Die unterzeichneten Schützenkompanien und Bürgermeister aus allen Teilen des historischen, großen Tirol ersuchen den Nationalrat bei den derzeit laufenden Beratungen über eine neue österreichische Bundesverfassung auf der Grundlage der Beratungen des Österreich-Konvents in der Präambel einer solchen Verfassung folgende Worte aufzunehmen: 1. Die Republik Österreich anerkennt die historisch gewachsenen Volksgruppen in Österreich und setzt sich für Schutz und Förderung der mit Österreich geschichtlich verbundenen deutschsprachigen Minderheiten, insbesondere auch der Südtiroler, ein. 2. Die Republik Österreich bekennt sich zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des vom Land Tirol abgetrennten Tiroler Volkes deutscher und ladinischer Sprache und zum beson- 54 deren Schutz der Rechte der Südtiroler auf der Grundlage des Völkerrechts. Von einer früheren österreichischen Ministerin wurde hingegen folgende Verfassungsergänzung eingebracht: „Eingedenk der Verantwortung für die österreichische Volksgruppe in Italien (Südtirol) und aller anderen österreichischen Volksgruppen im Ausland,…“(Eingebracht von Mag. Henhapel in Vertretung von Frau Bundesminister Elisabeth Gehrer.) Schließlich gab es einen Vorkonsens, Art. 9a in einem Absatz 2 in folgender Form zu ergänzen: „Die Republik Österreich nimmt ihre Schutzfunktion für die österreichische Minderheit in Südtirol wahr und achtet diese Funktion anderer Staaten gegenüber den in Österreich lebenden Minderheiten.“ Dies wäre eine sehr weitreichende Anerkennung der Schutzfunktion gewesen, und zwar auf der Grundlage des im Völkerrecht so zentralen Reziprozitätsprinzips. Österreich hätte damit insbesondere den jugoslawischen Nachfolgestaaten sehr weitreichende Konzessionen gemacht. Von Italien hingegen kamen gleich vorab Protestbekundungen. Es war absehbar, dass eine solche Verfassungsänderung das zwischenstaatliche Verhältnis getrübt hätte. Was hätte es aber gebracht? Völkerrechtlich wäre eine solche gesetzliche Maßnahme an und für sich irrelevant gewesen. Jeder Staat kann sein innerstaatliches Recht nach Belieben gestalten, ohne dass dies das Völkerrecht tangieren würde. Österreich kann andererseits aber auch mit einer unilateralen, noch dazu innerstaatlichen, Maßnahme keine neuen völkerrechtlichen Ansprüche begründen. Das Ergebnis einer solchen Maßnahme wäre somit eine zwischenstaatliche Verstimmung, ohne dass völkerrechtlich etwas dazu gewonnen wäre. Wie gezeigt, ergibt sich die Schutzfunktion Österreichs gegenüber der deutschen und der ladinischen Volksgruppe bereits aus dem Pariser Vertrag. Zudem gibt es im internationalen Minderheitenrecht Bestimmungen, aus denen ein Schutzanspruch des Mutterstaates ableitbar ist. So wurde im KSZE-Abschlussdokument des Expertentreffens über nationale Minderheiten (Genf 1.-19. Juli 1991) festgehalten, dass „[i]ssues concerning national minorities, as well as compliance with international obligations and commitments concerning the rights of persons belonging to them, are matters of legitimate concern and consequently do not constitute exclusively an internal affair of the respective State“. Auch die UN-Minderheitendeklaration vom 18. Dezember 1992 enthält eine Bestimmung, wonach Angehörige von Minderheiten das Recht haben „ohne jegliche Diskriminierung freie und friedliche Kontakte mit anderen Mitgliedern ihrer Gruppe und mit Angehörigen anderer Minderheiten herzustellen und zu pflegen, sowie Kontakte über die Grenzen hinweg mit Bürgern anderer Staaten, mit denen sie nationale oder ethnische, religiöse oder sprachliche Gemeinsamkeiten verbinden.“ 55 Wie es scheint, sollte hier also Österreich einen Anspruch reklamieren, über den es längst schon verfügt, während Italien einen solchen Anspruch bestreiten möchte, während es einen solchen nicht nur bilateral schon längst akzeptiert hat, sondern auch nach Maßgabe des allgemeinen Völkerrechts nicht bestreiten kann. Es ist zutreffend, dass eine verfassungsrechtliche Verankerung des Schutzanspruchs in Österreich nicht völlig ohne praktische Auswirkungen wäre, auch wenn dieser Anspruch schon längst existiert. Wie schon angedeutet, werden völkerrechtliche Regeln nämlich innerstaatlich oft ignoriert. Es würde sich um eine Art Selbstverpflichtung des maßgeblichen politischen Organs handeln. Südtirol-Anliegen könnten in Zukunft im österreichischen Parlament möglicherweise wirksamer thematisiert werden. Ob dies aber um den Preis einer Verschlechterung der bilateralen Beziehungen mit Italien geschehen sollte, ist mehr als fraglich. Dies wurde wohl auch auf höchster politische Ebene in Österreich erkannt und deshalb ist – zumindest für die nächste Zukunft – nicht mit einer erfolgreichen Umsetzung der genannten Initiative zu rechnen. Neben der Angst vor einem politischen Zerwürfnis mit Italien dürfte zudem die Sorge vor einer reziproken Anwendung dieses Grundsatzes gegenüber Österreich dazu beigetragen haben, dass eine verfassungsrechtliche Verankerung des Schutzprinzips auf wenig Unterstützung, die über Lippenkenntnisse hinausginge, gestoßen ist. Die Schutzfunktionsdebatte richtet sich damit eher nach innen. Sie wird immer wieder aufflammen, aber sie wird wohl zu keinem konkreten Ergebnis führen, zumindest nicht auf die absehbare Zukunft hin. 3. Minderheitenschutz und EU-Recht(4) Immer wieder Anlass zu Sorge für die Fortexistenz der Südtirol-Autonomie gab in der Vergangenheit das EU-Recht. Dies war primär darauf zurückzuführen, dass das EU-Recht weitgehend „minderheitenblind“ war. Obwohl die weit überwiegende Zahl der Mitgliedstaaten mit Minderheitenfragen konfrontiert war, war die Grundhaltung der einzelnen Mitgliedstaaten in dieser Frage überaus konträr, wobei einige eher minderheitenfreundliche Staaten (darunter gerade Italien und Österreich) anderen Staaten gegenüberstanden, die dem Minderheitenkonzept grundsätzlich ablehnend gegenüber standen. Zwischenzeitlich, und insbesondere seit dem Vertrag von Lissabon, hat sich dieses Bild aber doch erheblich verändert. Nunmehr zählt Minderheitenschutz zu den Werten, „auf die sich die Union gründet“ ( Art. 2 EUV). Art. 49 EUV, der die Aufnahmekriterien für neue Mitgliedstaaten nennt, nimmt darauf Bezug. Art. 21 GRC verbietet unter anderem Diskriminierung aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen Herkunft oder der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit. Gemäß Art. 22 GRC achtet die EU die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen. Der EuGH hat – noch dazu in einem, zumindest territorial Südtirol betreffenden Fall (Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637.) - Minderheitenschutz als „legitimes Ziel“ bezeichnet, das vom Gemeinschaftsrecht zu berücksichtigen sei Diese vom EuGH „obiter“ vorgenommene Äußerung wurde als revolutionär gefeiert, hat 56 aber bislang noch keine konkreten Konsequenzen gezeitigt. Nach Ansicht einzelner Kommentatoren hat der EuGH damit in den Raum gestellt, dass der Schutz von Minderheiten Grund für die Rechtfertigung eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit sein kann. Zu erwähnen ist auch, dass das Recht der Südtirol-Autonomie an vielen Stellen derart umgebaut worden ist, dass frühere Reibungspunkte mit dem EU-Recht weggefallen sind. Dies gilt insbesondere, was das Recht auf Freizügigkeit und das ganze (in Südtirol sehr großzügige) Förderungsrecht anbelangt. 4. Doppelte Staatsbürgerschaft Der Frage der Verankerung der Schutzfunktion zugunsten der Südtiroler in der österreichischen Bundesverfassung ist jene nach Einführung einer doppelten Staatsbürgerschaft zumindest wesensnah. Bekanntlich stießen doppelte oder mehrfache Staatsbürgerschaften im Völkerrecht lange Zeit auf Ablehnung. Dieser Umstand fand noch 1963 im „Europäischen Übereinkommen über die Verminderung der Fälle mehrfacher Staatsangehörigkeit und über die Militärdienstpflicht in Fällen mehrfacher Staatsangehörigkeit“ seinen Ausdruck. Bezeichnend für diese Grundhaltung ist schon die Präambel dieses Übereinkommens: „Considering that cases of multiple nationality are liable to cause difficulties and that joint action to reduce as far as possible the number of multiple nationality, as between member States, corresponds to the aims of the Council of Europe.” Entsprechend steht schon in Artikel 1 Abs. 1 dieses Abkommens, dass der Erwerb der Staatsangehörigkeit eines anderen Landes zum Verlust der anderen Staatsbürgerschaft führt. Dieses Abkommen ist zwar von Österreich und von Italien ratifiziert worden, aber Italien hat dieses mittlerweile in den wesentlichen Teil wieder gekündigt. Italien, nicht aber Österreich, hat demzufolge die doppelte Staatsbürgerschaft wieder zugelassen (Gesetz Nr. 91 v. 5. Februar 1992). Generell ist Österreich sehr restriktiv, was den Erwerb der Staatsbürgerschaft anbelangt. Nun steht gegenwärtig das österreichische Staatsbürgerschaftsrecht gerade zur Diskussion. Der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft soll erleichtert werden und es gibt auch Initiativen, die auf die Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft gerichtet sind. Könnte auf dieser Grundlage die doppelte Staatsbürgerschaft für Südtiroler in Reichweite gelangen? Dies wäre denkbar, aber dennoch lässt sich eine doppelte Staatsbürgerschaft im Umfang, wie sie von den Promotoren dieser Idee anvisiert wird, wohl kaum verwirklichen. Österreich kann nämlich die Staatsbürgerschaft nicht einseitig verleihen. Die Verleihung ist nur nach Maßgabe des Antragsprinzips möglich. Sollte eine größere Anzahl von Südtiroler (und in diesem Zusammenhang wäre noch die schwierige Frage zu klären, wer überhaupt antragsberechtigt ist) die österreichische Staatsbürgerschaft begehren, so würde dies zu einer Masseneinbürgerung auf der Grundlage ethnischer Kriterien führen, gegen welche international größte Bedenken bestehen. Hinzu kommen noch ganz offenkundige innerös- 57 terreichische (politische) Widerstände gegen eine solche Masseneinbürgerung, weshalb mit einem Erfolg dieser Initiative nicht zu rechnen ist. Diese Initiative wird wahrscheinlich dennoch fortleben; sie ist aber wohl eher ein Instrument zur politisch-rhetorischen Bedienung von Interessen einzelner Wählerklientelen. Erfahrungen bei der Umsetzung der Südtirol-Autonomie 1973 bis 2010 Karl Rainer Prof. DDr. Peter Hilpold, studierte Rechtswissenschaften, Wirtschaft und Geisteswissenschaften. Anwalt seit 1992, seit 2001 Professur für Völkerrecht, Europarecht und Vergleichendes Öffentliches Recht in Innsbruck, Autor von über 100 Publikationen und Herausgeber mehrerer Periodika. Endnoten (1) Diese Überblicksdarstellung baut auf früheren Arbeiten dieses Autors auf, von welchen einige wesentliche hier zitiert werden. Weitere Literaturhinweise finden sich in den betreffenden Publikationen. (2) Vgl. dazu ausführlich Peter Hilpold, Modernes Minderheitenrecht, Manz et al.: Wien et al. 2001. (3) Vgl. dazu P. Hilpold/Ch. Perathoner, Die Schutzfunktion des Mutterstaates im Minderheitenrecht, NWV et al.: Wien et al. 2006 sowie dieselben, Die Schutzfunktion Österreichs gegenüber der deutschen und ladinischen Minderheit in Südtirol – eine völkerrechtliche und rechtsvergleichende Analyse, in: P. Hilpold et al. (Hrsg.), Rechtsvergleichung an der Sprachgrenze, Peter Lang: Frankfurt a.M. et al. 2011, S. 197-223. (4) Vgl. P. Hilpold, Minderheitenschutz und EU-Recht, in: A. Reinisch (Hrsg.), Völkerrecht, Bd. 1, 2013, S. 394. 58 Die Zeit vor 1992, also vor der Streitbeilegungserklärung und dem formellen Abschluss des Südtirol-Paketes, ist gekennzeichnet durch zwei Schienen. Die erste ist der Schutz der deutschen und ladinischen Sprachminderheit im Rahmen des italienischen Staates und die zweite ist die Umsetzung einer Regionalautonomie auch im Sinne des Pariser Abkommens. In den ersten Jahren der zweiten Autonomie, die ich miterlebt habe, als ich 1973 ins Präsidium gekommen bin, sind wir durch bewegte Gewässer gefahren. In der Umsetzung der Sprachenrechte waren die Südtiroler süchtig nach Beteiligung am öffentlichen Leben und der öffentlichen Verwaltung. 1951 waren noch 69 Prozent der Südtiroler deutscher und ladinischer Sprachgruppe in der Landwirtschaft tätig und wir hatten bei Polizei, bei Gericht, in der öffentlichen Verwaltung nichts zu sagen, die Entscheidungsebenen waren weit weg. Zunächst ging es um die Durchsetzung des Rechtes auf den Gebrauch der Muttersprache im öffentlichen Bereich. Dabei ist 1976 mit der Verpflichtung zur Dreisprachigkeit in allen öffentlichen Ämtern und mit der Ablegung einer entsprechenden Zweisprachigkeitsprüfung ein großer Schritt gemacht worden. 1977 wurde die erste Prüfung abgehalten, 8.000 Leute traten an. Es war organisatorisch eine große Herausforderung: Klassen wurden besetzt, Übersetzungen monatelang korrigiert. Die Prüfungen haben verheerende Ergebnisse gezeigt. Zum Thema Proporz: 1977 wurden die ersten Wettbewerbe für 300 Stellen für Streckenwärter ausgeschrieben und gleich viele bei der Post. Das wurde als Zeichen der Wende und als Umsetzung des Autonomiestatutes erkannt. Mit dieser Problematik verbunden war die Erklärung der Sprachgruppenzugehörigkeit. 1981 kam es zu einer riesigen politischen Aufregung und harten Auseinandersetzungen. Alexander Langer bezeichnete diese Politik als „Apartheidpolitik“. Es gab Zeitungen, die Südtirol damals als „das letzte Apartheidsystem in Europa“ bezeichneten. Diese Zeit war von einer extremen Sturheit gezeichnet. So gab es zum Beispiel bei der Zugehörigkeitserklärung genaue Termine. In meinem Büro wurden Leute vorstellig, die davon nichts wussten. Man hat dann Jahre gebraucht, bis man die Erklärung nachholen konnte. Es war eine politisch spannungsgeladene Zeit. 1976 hat die kommunistische Partei PCI 34 % der Stimmen bekommen und die Democrazia Cristiana DC 38 %. Im Gespräch war der historische Kompromiss mit der SVP. Es gab auch ideologische Auseinandersetzungen. 1982 gab es auf dem Waltherplatz eine riesige Protestkundgebung der Gewerkschaften, eine Kraftprobe mit der Autonomiepolitik des Landes. 1979 wurde der ASGB als ethnische Gewerkschaft anerkannt und im selben Jahr war in Südtirol praktisch keine Arbeitslosigkeit mehr gegeben. 59 Zur zweiten Schiene, nämlich der Umsetzung der territorialen Autonomie. Neben all diesen politischen Auseinandersetzungen wurde die Autonomie auf Verwaltungsebene konsequent umgesetzt. Es wurden fortschrittliche Landesgesetze verabschiedet, wie zum Beispiel im Landschaftsschutz, bei Bau- und Urbanistikgesetzen. Auch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit wurde geregelt, wie z.B. mit der Arge Alp, mit der Schweiz, Tirol, Lombardei. Schon 1973 hatten wir 81 Landesgesetze, die natürlich auch einen steigenden Verwaltungsbedarf mit sich brachten. In Bozen breiteten sich die Landesbüros aus wie Ölflecke. Erst 1992 konnte man nach dem Abschluss des Gesamtpaketes eine erste Landesämterordnung erstellen. Das größte Problem in dieser Zeit waren die Finanzen, weil die zustehenden Gelder mit großer Verspätung überwiesen wurden. 1976 hatte das Land dafür 2,5 Milliarden Lire Verzugszinsen zu bezahlen, bei einem Landeshaushalt von 175 Milliarden Lire. 2012 blockierte der Staat wegen Haushaltseinschränkungen die Finanzzuweisungen ans Land, das in der Folge viele Baufirmen nicht bezahlen konnte. Man musste Prioritäten setzen und alle Verwaltungsakte mussten vorab der Kontrolle des Rechnungshofes unterbreitet werden. Schon in den 1980er Jahren wurden Planungsmaßnahmen getroffen, die unserem Land gut getan haben. So kam es 1991 zum ersten Landesraumordnungsplan, dessen oberste Priorität es war, das Landschaftsbild zu erhalten. Mit dem Jahr 1992 begann mit dem europäischen Binnenmarkt eine neue Entwicklungsphase der EU. Die Grenzen öffneten sich, die Freizügigkeit der Menschen, der Dienstleistungen und des Kapitals wurden konkret umgesetzt. Inzwischen hatten sich die Landesämter zu richtigen Kompetenzzentren entwickelt, und so wurden auch die Zuständigkeiten klarer. Dadurch, dass wir eine fortgeschrittene Zweisprachigkeit hatten, konnten wir besser als andere europäische Länder die Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt, vor allem im Speditionsbereich und im grenzwirtschaftlichen Bereich wettmachen. Mehrere Betriebe aus dem nahen deutschsprachigen Raum siedelten sich in Südtirol an. Die zweite Bemühung war es, mitzubekommen, was in Brüssel vorgeht, also rechtzeitig zu den Informationen zu kommen, um mitzuspielen. 1995 wurde gemeinsam mit der Handelskammer das erste Büro in Brüssel eröffnet. Wir waren schon im Flughafen und bekamen ein Telefonat aus Rom, dass diese Eröffnung gesetzeswidrig sei. Auch die Frage, inwieweit unser Autonomiestatut mit den EU-Grundverträgen vereinbar ist, hat sich bald eingestellt. Wir mussten als Beamten lernen, dass die EU-Richtlinien, also das EU-Recht alle anderen innerstaatlichen Normen bricht. Doch war es auch faszinierend, sich mit anderen Minderheiten zu treffen und zu sagen, dass wir ein Autonomiestatut haben, das besagt, dass Minderheitenschutz in Italien nationales Interesse ist. Das hat uns sehr geholfen. Eine große Frage vor dem Europäischen Gerichtshof war die Zweisprachigkeitsprüfung und die zweifelhafte Feststellung der Sprachkenntnisse seitens einer einzigen Kommission. Was mich noch mehr fasziniert hatte, war die Beteiligung an den Strukturfondsprogrammen, wie z.B. dem INTERREG. Dieser Ansatz war für 60 uns eine Erneuerung, wir mussten Kriterien erstellen und haben viel gelernt. Diese EU-Programme waren Katalysatoren für andere Projekte und die Beteiligung an diesen Programme haben zum Erfolg unseres Autonomiemodells beigetragen, aber auch die Zusammenarbeit mit dem Staat und mit der EU verbessert. Das interne Zusammenwirken und diese Zusammenarbeit nach außen hat zum Südtiroler Wirtschaftswunder beigetragen, wie es in einer Zeitung 2004 zu lesen war. Wir sind beim Einkommen pro Kopf unter die ersten 20 Regionen Europas aufgestiegen. Was ich als eine Verschlechterung empfinde, die aber nicht zum Autonomiestatut zurückzuführen ist, ist die Gründung von "In-House-Gesellschaften" von Seiten der Landesregierung. 1978 hat die große Privatisierung von öffentlichen Diensten angefangen, die jetzt zu Aktiengesellschaften geworden sind, die Millionengehälter an ihre Manager zahlen. In Südtirol werden viele Aufgaben an diese übergeben. Von 2009 bis heute wurden ca 20 Millionen Euro hineingesteckt. Es geht um eine unübersichtliche Verflechtung vom privaten und öffentlichen Interesse. Mit diesem Geld könnte man viele neue Arbeitsplätze für gut ausgebildete junge Leute schaffen. Wir sollen nicht wieder träumen, sondern aufwachen. Es fehlt beim Land auch eine unabhängige Kontrollinstanz, wie die Volksanwaltschaft. Der Rechnungshof überprüft die Gesamtgebarung des Haushaltes oder von der EU mitfinanzierte Projekte aber nur auszugsweise oder stichprobenweise. Beim Land ist eine Prüfstelle zuständig, die ab heuer diese Gesellschaften kontrollieren wird, die aber der Landesregierung zuzuordnen ist. Der Überprüfte kann nicht gleichzeitig Überprüfer sein. Der LEROPLandesraumordnungsplan ist 2005 verfallen, es ist gut, dass man sich Gedanken macht, und dass die Ziele mit der Bevölkerung geteilt werden, nicht nur mit Interessengruppen und Interessenverbänden. Die Politik lebt ja von der Reaktion der Bevölkerung. Und jetzt mit der neuen politischen Lage gibt es auch die Möglichkeit, sich mehr zu beteiligen. Die Zeit ist eine andere, das Zusammenwirken der Sprachgruppen ist ein anderes. Mit unserer Autonomie können wir unsere Entwicklung im Lande mitbestimmen. DDr. Karl Rainer, ehemaliger pers. Referent von LH Silvius Magnago und Direktor der Abteilung Präsidium und des Amts für Europa-Angelegenheiten. 61 Lücken und Mängel der heutigen Südtirol-Autonomie in der Praxis der Selbstverwaltung Siegfried Brugger Ganz unbestreitbar weist die heutige Südtirol-Autonomie Lücken und Mängel auf, was auch kein Wunder ist. Wir erinnern uns: das erste Autonomiestatut stammt aus dem Jahre 1948 , also aus den ersten Nachkriegsjahren, in denen die Südtiroler wenig Selbstbewusstsein und auch nur eine bescheidene Verhandlungskraft aufzuweisen hatten. Die eigentliche SüdtirolAutonomie gab es erst mit dem zweiten Autonomiestatut 1972, gut ausverhandelt und für die damalige Zeit ein großer Erfolg, wenn auch mit ungelösten Problemen: z.B. die Energie oder Übertragung der Staatsliegenschaften. Aber, wie gesagt, eine Autonomie gut für die damalige Zeit. In der Folge wurden von den paritätischen Kommissionen (6er und 12er-Kommission) unzählige Durchführungsbestimmungen ausgearbeitet, die unter dem Zeichen der „dynamischen Autonomie“ ganze Bereiche von Kompetenzen neu ordneten und vor allem die neuen Kompetenzen, die Südtirol durch staatliche Delegierungsgesetze erhielt, umsetzten, wie etwa die Universität Bozen, Lehrer zum Land, Staatsstraßen, neue Finanzregelung, Motorisierungsamt, Arbeitsämter etc. Außerdem wurden 2001 die Verfassungsgesetze Nr.2 und Nr.3 verabschiedet, die entscheidende Verbesserungen des Autonomiestatutes brachten. Eine erste Conclusio zum Thema: die Flut von Durchführungsbestimmungen wurden nie organisch aufbereitet, nie gesetzlich in einen Guss gebracht und die Änderungen der Verfassungsgesetze Nr. 2 und 3 von 2001 nicht ins Autonomiestatut eingearbeitet. Das ist sicher ein erster großer Mangel. Bei dieser Gelegenheit: wir Südtiroler haben uns immer als die besseren und transparenteren Verwalter und Gesetzesschreiber gesehen. Doch die Unleserlichkeit und das Wirrwarr unserer Gesetze geben uns nicht recht: das ist ein zweiter Mangel und eine anspruchsvolle Aufgabe für die neue Legislatur, ganz nach dem Motto: jeder Durchschnittsbürger sollte jedes Südtiroler Gesetz lesen und auch verstehen können! Ein konkreter Vorschlag: eine Taskforce aus Juristen nimmt sich die Gesamtgesetzgebung Südtirols vor, streicht alle obsoleten Gesetze und schreibt die verbleibenden in verständlichem Deutsch. Eine Aufgabe für eine ganze Legislatur. In der Praxis unserer Selbstverwaltung gibt es natürlich unzählige Lücken und Mängel, größere und kleinere, die mit der Verwaltung selbst und sehr oft auch mit den Prioritäten der Politik zusammenhängen. Diese sind aber nicht Gegenstand meiner heutigen Überlegungen, ich möchte mich vielmehr mit einigen wesentlichen Lücken des Modells Autonomie 62 bzw. des Autonomiestatutes beschäftigen, und zwar aus der Sicht der heutigen Zeit des Umbruchs in und außerhalb Südtirols und der desolaten Gesamtsituation Italiens, nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in institutioneller Hinsicht. Stichworte: Wahlgesetz, Überwindung des perfekten Bikameralismus, Krise des Regionalismus und der Sonderautonomien. Wer die Debatte um die Zukunft Südtirols verfolgt, stellt fest, dass Themen wie Selbstbestimmung, Freistaat, Angliederung an Österreich in der Bevölkerung heute einen viel höheren Stellenwert haben als noch vor 10 Jahren. Dies hat, wie oben schon gesagt, sicher viel mit der Krise der Politik, der Wirtschaft, der Institutionen und auch der Rolle der Regionen in Italien zu tun. Dies spürt zunehmend auch der Durchschnittsbürger, der um seinen Arbeitsplatz, um seine Rente und um die sozialen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte zu bangen hat. Dies nicht nur im Rest des Staates, sondern auch in Südtirol. Die Antwort "Aber wir haben ja die Autonomie" klingt ziemlich abgedroschen und banal, weil der Wert der Autonomie nach vier Jahrzehnten als selbstverständlich angenommen wird, Andererseits sind uns in den letzten Jahren auch einige Zuständigkeiten durch das Verfassungsgericht wieder genommen worden. Deshalb sind neue Erfolge zum Ausbau der Autonomie, z.B. bei der Wasserkraft oder die neue Finanzregelung sehr schwer vermittelbar. Denn der Bürger, die Bürgerin fragen: was bringt das mir persönlich? Weder habe ich einen billigeren Strom, noch zahle ich weniger Steuern. Außerdem hänge ich bei den gewaltigen Sparmaßnahmen des Staates ebenso drin wie alle anderen Bürger Italiens. Und schließlich: wie sicher sind die Zuständigkeiten? Aus meiner Sicht greift auch die Gegenüberstellung Vollautonomie gegen Freistaat oder Selbstbestimmung nicht, wenn man Vollautonomie nicht klar definiert und es bei einer Worthülse belässt. Denn wenn man unter Vollautonomie versteht, dass immer neue Kompetenzen übernommen werden sollen, letzthin die Agentur der Einnahmen, das Gerichtspersonal, den Stilfserjoch- Nationalpark etc., so sind dies politische Erfolge, die sehr teuer sind. Haben wir dabei auch die exponentiell steigenden Folgekosten im Blick, haben wir das Geld, um immer Neues zu übernehmen? Ich meine, dieser Ansatz von Vollautonomie ist nicht ausreichend und ist langfristig nicht konkurrenzfähig mit anderen Modellen. Trotz der großen Krise des Regionalismus und auch der Sonderautonomien in Italien kann das Südtiroler Modell der Autonomie auch in Zukunft sehr erfolgreich sein. Wir müssen aber die wesentlichen Mängel unserer heutigen Autonomie beheben und das sind aus meiner Sicht letztlich zwei: - die einseitige Abänderung der ausverhandelten Autonomie durch den Staat; - eine unsichere Finanzregelung mit dem Staat. Zum ersten Punkt: Trotz vieler Versuche ist es noch immer nicht gelungen, das Prinzip des Einvernehmens für unsere Autonomie durchzusetzen. Dies ist aber essentiell. Denn nur wenn der Staat ausverhandelte Zuständigkeiten nicht einseitig in Frage stellen oder gar zurücknehmen kann, haben wir die erforderliche Rechtssicherheit und auch eine solide Selbstständigkeit. Für Abänderungen des Autonomiestatuts braucht es das Einvernehmen 63 zwischen Staat und Land. Dieses Prinzip ist attraktiv und unseren Bürgern leicht und gut zu vermitteln. Man hört oft den Einwand: wir haben ja die international verankerte Autonomie und deshalb ist das Einvernehmen nicht so wichtig. Diese Argumentation hat einen großen Haken: die völkerrechtliche Grundlage unserer Autonomie unterscheidet uns zwar von allen anderen Autonomien Italiens. Verletzungen unserer Autonomie können aber nur über den Gang zum internationalen Gerichtshof geltend gemacht werden, wobei klagende Parteien nur Staaten und nicht Regionen sein können und zudem Urteile erst nach Jahren ergehen. Aus diesen Überlegungen heraus wäre eine paktierte Autonomie so grundlegend. ihre Autonomiestatute grundlegend neu zu schreiben. Der Erfolg war mehr als mäßig. Die teilweise interessanten Ansätze, Konvente oder Beschlüsse der Regionalräte sind kläglich gescheitert. Zudem dürfen wir nicht vergessen, dass die Stimmung in Rom gegenüber den Sonderautonomien, ja generell gegenüber den Regionen, die als Geldverschwendungsmaschinen angesehen werden, zunehmend schlechter wird. Im Zuge der staatlichen Einsparungsprogramme kommen die Regionen immer stärker ins Visier, wie wir aus den vergangenen Jahren wissen. Der Zeitpunkt einer großen Reform des Regionalismus scheint deshalb wieder einmal nicht der richtige zu sein. Zur Finanzregelung: Die beschlossene Übernahme der Lokalfinanzen ist ein sehr interessanter autonomiepolitischer Schritt. Es genügt, sich die peinliche Diskussion und konfuse Gesetzgebung über ICI, IMU, TARES, TARSI u.s.w. in Erinnerung zu rufen, um die Bedeutung, immer auch bezogen auf die Rechtssicherheit, von autonomen Lokalfinanzen zu erkennen. Wichtig ist, dass Südtiroler Lokalfinanzen nicht bürgerbelastender werden als im Staatsgebiet. Wir sind da manchmal päpstlicher als der Papst und haben es auch schon bewiesen. Trotzdem glaube ich, dass Südtirol säumig ist. Zumindest für den „internen Gebrauch“ sollten wir klare Ideen entwickeln, wie wir unser Autonomiestatut zeitgemäß überarbeiten könnten und dabei nicht nur den Verfassungsgesetzen aus dem Jahre 2001 Rechnung tragen, sondern generell einige Grundsätze des Statutes überdenken. Einige wenige Anregungen: Zunächst zum Verfahren: Ein mit Landes- bzw. Regionalgesetz eingeführter Konvent, in den die Bevölkerung, aber besonders auch Fachleute einbezogen werden, also ein partizipatives Verfahren, ist ein sinnvoller Schritt. Aber Lokalfinanzen sind nur ein Teil der Gesamtfinanzen und noch interessanter schiene mir, wie wir aus den Erfahrungen der letzten Jahre wissen, dass Südtirol eine klare Regelung für den Beitrag für die Sanierung des Staatshaushaltes und für die Einhaltung der Maastrichtkriterien erhält. Das ist dann nicht die Steuerhoheit für Südtirol, denn die würde bedeuten, dass Mehrwertsteuer, direkte und indirekte Steuern generell von Südtirol selbst bestimmt würden, was ja auch aufgrund der europäischen Vorgaben nicht möglich ist. Bei Sparmaßnahmen zwecks Abbau des Staatshaushaltsdefizites fixe verfassungsgesetzlich festgelegte Vereinbarungen mit dem Staat zu haben, wäre ein riesiger Fortschritt für eine effektive Sonderautonomie. Der zweite relevante Fortschritt wäre jener, die Staatssteuern im Land einheben zu können, den Landesanteil einzubehalten und nur den für den Staat bestimmten Teil weitergeben zu müssen. Aus langjähriger Erfahrung wissen wir, wie schwer es ist, den Staat als verlässlichen Zahlpartner zu haben. Mit diesen zwei Garantien hätten wir tatsächlich eine herausragende und um vieles verbesserte Autonomie und erst nach Erreichung dieser Ziele ist eine Neufassung unseres Autonomiestatuts vorstellbar. Denn es gibt eine konkrete Erklärung dafür, dass Südtirol und vor allem die Südtiroler Parlamentarier in den letzten Jahrzehnten seit 1972 den Ausbau der Autonomie vor allem über Durchführungsbestimmungen und staatliche Delegierungsgesetze vorangetrieben haben. Bei Verfassungsgesetzen und somit bei Änderungsanträgen zum Autonomiestatuts besteht ohne Einvernehmensregelung immer die konkrete Gefahr, dass sich das Parlament mit 2/3 Mehrheit über unsere Änderungsanträge hinwegsetzt und sogar einseitig autonomieverschlechternde Maßnahmen setzt. Deshalb hat es in den letzten Jahren nur die Verfassungsgesetze Nr. 2 und 3 aus dem Jahre 2001 gegeben, welche auch für Südtirol gültige Bestimmungen enthalten. Zum Inhalt einer Autonomiereform nenne ich nur wenige Beispiele: Nach vorheriger Festschreibung des Prinzips des Einvernehmens müssen auf jeden Fall die Bestimmungen der Verfassungsgesetze Nr. 2 und 3 von 2001 eingearbeitet werden. Beispiele: die Umkehrung der Gewichtung Region-Autonome Provinzen, die Zuständigkeit für das Wahlrecht, die Abschaffung des Sichtvermerks der Regierung bei Landesgesetzen, die neue Kompetenzaufteilung, die Abschaffung der konkurrierenden Gesetzgebung, die Kompetenz zu Bestimmung der Regierungsform, z.B. Direktwahl des Landeshauptmanns, die Möglichkeit der externen Berufung von Landesräten, der Ausbau der Rechte der Ladiner, etc. und den famosen Art. 10, nämlich die Anwendung nur der verbessernden Bestimmungen der Verfassungsreform auf die Regionen mit Sonderstatut. In diesem Zusammenhang sei abschließend das von Trentiner Experten ausgearbeitete Modell eines dritten Statutes erwähnt, das sehr interessante Ansätze, besonders was die institutionelle Neuausrichtung vieler Organe und Körperschaften betrifft, enthält. Diese Arbeit könnte durchaus eine der Grundlagen für die Überarbeitung unseres Autonomiestatuts darstellen. Dr. Siegfried Brugger, Rechtsanwalt in Bozen, ehemaliger Landtagsabgeordneter, SVP-Obmann und langjähriger Kammerabgeordneter, heute neben Anwaltstätigkeit Koordinator der SVP-Arbeitsgruppe für die Autonomiereform. Im Unterschied zu Südtirol haben andere Regionen mit Sonderstatut, wie z.B. das Aostatal, Friaul Julisch Venetien, Sardinien und letzthin auch das Trentino Versuche unternommen, 64 65 Die heutigen Vorteile der Autonomie besser nutzen Luisa Gnecchi Wenn ich mich hier so umsehe, dann kann ich nur feststellen, dass die Frauen in den Gewerkschaften in die Spitzenpositionen aufrücken, bei Fragen der Autonomie allerdings unter Frauen noch kein so großes Interesse besteht. Dies wäre allerdings kein Problem, das nur die Bürger italienischer Sprache betrifft, die die Privilegien der Autonomie in zwiespältiger Weise kennen lernen und einschätzen. Leider haben auch die Landtagswahlen 2013 gezeigt, dass es noch kein reales Bewusstsein des Werts der Autonomie und der Möglichkeiten der Autonomie gibt. Die Wahlen bilden einen Moment der Beteiligung, doch das Ergebnis hat bewiesen, dass hier noch viel intensive Arbeit auf uns wartet. Dies betrifft nicht nur die direkte Demokratie. Die Teilnahme an den Wahlen ist eine Form der Teilnahme an der Ausübung der Autonomie, vor allem auch bei der Gesetzgebung. Die Gesetzgebungskompetenz unseres Landes ist sehr breit, doch leider ist die Wahlenthaltung sehr verbreitet. Dies verschafft uns Probleme und weist auf einen realen Handlungsbedarf hin. Auf der anderen Seite haben wir eine Autonomie, um welche uns alle beneiden und die Ereignisse rund um die Sendung von Bruno Vespa der letzten Tage beweisen das. Viele denken, es sei leicht, Demokraten zu sein, wenn man über viele Ressourcen verfügt, doch in Wirklichkeit ist es nicht so. Bezüglich der Kollektivverträge müssen wir daran erinnern, dass unser Land viele Klein- und Mittelbetriebe hat. Deshalb sind die Kollektivverhandlungen auf zweiter Ebene in diesem Umfeld schwieriger. Die Lohnelemente werden in den Verhandlungen auf der zweiten Ebene (Landeszusatzverträge) "verkauft", eingetauscht gegen andere Prämiensysteme, die nicht den allg. Bedingungen des jeweiligen Sektors entsprechen. Die Südtiroler Unternehmenslandschaft besteht vor allem aus Klein- und Mittelbetrieben. Die politische Aufmerksamkeit ist oft auf die dringenden Fragen gerichtet. Gemäß Art. 6 des Autonomiestatuts kann die Region autonome Institute für die Ergänzungsvorsorge gründen. Zunächst gab es dazu eine lange Diskussion. In Südtirol gab es aufgrund des beträchtlichen Gewichts des Handwerks und der Landwirtschaft ein geringeres Rentenniveau als etwa in Mailand und Turin, wo Rentner weit höhere Renten beziehen. Zusatzvorsorge oder ergänzende Rentenversicherung war eine der Möglichkeiten, die wir nutzen konnten. Man startete mit dem Familienpaket und mit der Hausfrauenrente. Es gibt wenige Hausfrauen ohne Rentenanspruch, doch gibt es sehr viele Frauen, die sehr geringe Renten beziehen, die vor allem in Familienbetrieben gearbeitet haben. Doch aufgrund der langen Arbeitskarrieren mit vielen Unterbrechungen und geringer Entlohnung, haben Frauen oft eine weit geringere 66 Rente angereift. Somit gab es die Notwendigkeit, eine Zusatzrentenversicherung einzurichten, die nun in Südtirol ein Pfeiler der sozialen Vorsorge geworden ist. Auf staatlicher Ebene ist es nur starken Arbeitnehmerkategorien gelungen, eine Zusatzrentenversicherung durchzusetzen. Die Zusatzvorsorge in der Region Trentino-Südtirol ist 1992 mit Regionalgesetz eingeführt worden, sodann sind Landeszusatzverträge zur Zusatzrente abgeschlossen worden. Daneben gab es auch mehrere Vorstöße, das INPS dem Land zu übertragen, doch die eigentliche Rentenversicherung wird von Staatsgesetzen geregelt. Die letzten Reformen der Ministerin Fornero waren sehr ungerecht, sie weist keine Stufenregelung auf, und die betroffenen Menschen sind sich der Tragweite dieser neuen Regeln gar nicht bewusst. Wenn man nicht 600 Euro an Monatsrente erreicht, muss man bis zum Alter von 70 Jahren arbeiten. Die durchschnittliche Altersrente der Frauen beträgt 546 Euro. Somit müssten nach heutigen Zahlen 83% der Frauen mit 70 Jahren in Rente gehen. Es ist bereits viel getan worden, wenn wir an die Anerkennung der Pflegezeiten für die Rente denken, die Möglichkeit der freiwilligen Weiterversicherung. Doch immer noch kennt man und nutzt man zu wenig die Vorteile der Landesautonomie und der Autonomie der Region. Es gibt auch Unterschiede in der Nutzung dieser Rechte bei der Rentenversicherung zwischen den Bürger italienischer und deutscher Sprache sowie zwischen Stadt und Land. Die Pflegesicherung stellt ebenfalls einen ganz außerordentlichen Beitrag dar, nachdem bei Pflegebedürftigkeit ein echtes Armutsrisiko besteht. Südtirol ist die einzige Provinz Italiens mit einer derartig wichtigen Regelung für öffentliche Beiträge für Pflegebedürftige. Diese Beiträge können in Zukunft weiter verbessert werden. Wenn wir an die Pflegebedürftigkeit denken, so wird die Pflegearbeit selbst meist von ausländischen Pflegekräften übernommen. Wir sollten deshalb besondere Sensibilität gegenüber diesen Menschen aufbringen, denen wir unsere Familienmitglieder anvertrauen. Bezüglich der Quoten neu aufzunehmender ausländischer Arbeitnehmer haben die Arbeitgeber bisher immer eine Aufstockung gefordert. Bei der Integrationspolitik hätte es zudem zusätzlicher Anstrengungen bedurft, die Unterkunft, die Eingliederung in den Arbeitsmarkt und weitere Integrationsleistungen für die Ausländer aufzubringen. Ein anderer Aspekt war der Notstand bei den Krankenpflegern, wo wiederum Personal aus dem Ausland gefragt war. Man hat auf die gestiegene Nachfrage reagiert, indem die Höhere Schule der Claudiana aufgebaut wurde. Angesichts der Möglichkeit, Nachwuchskräfte für das Krankenpflegepersonal auch in Südtirol auszubilden, stellt sich das Problem der ausländischen Fachkräfte, die seit 20 Jahren und mehr in unserem Land arbeiten und dann von jungen Einheimischen verdrängt werden und keine Arbeit mehr finden. Auch die Anerkennung der Staatsbürgerschaft bildet hierfür ein Problem, weil es geraume Zeit in Anspruch nimmt. Darüber hinaus stellt sich das Problem des Proporzes beim Zugang zum öffentlichen Dienst. Seit 1995 wird bei den Sozialleistungen vor allem die Bedürftigkeit als Kriterium angewandt, doch bleibt die Anerkennung der bisher von den Ausländerinnen geleisteten Arbeit ausgeklammert. Somit wird klar, dass hier das Problem 67 nicht etwa nur der Ausbau der Autonomie darstellt, sondern autonomierechtliche Regelungen hinsichtlich neuer sozialer Fragen angepasst werden müssen. Es muss sich erst dafür ein kulturelles Bewusstsein entwickeln. Diese verschiedenen Ebenen werden noch nicht ausreichend in Beziehung gesetzt. Mehr soziale Gerechtigkeit durch mehr Autonomie? Im Bereich der Gesundheitspolitik gibt es heute verschiedene Krankenhäuser, doch will man einige wenige Exzellenzzentren schaffen, während dei Bevölkerung das Interesse einer möglichst wohnortnahen Versorgung hat. Man muss somit die Qualität der Krankenhausdienstleistungen gewährleisten. In Italien wird jetzt für ein Krankenhaus ein Einzugsgebiet von einer Million Einwohner gefordert. Nun sind wir es in Südtirol gewohnt, ein Krankenhaus in jedem Bezirk zu haben, wovon man nicht abgehen möchte. Somit stehen wir vor diesem Konflikt: zum einen mehr Autonomie von Rom zu erhalten und diese zusätzlichen Kompetenzen mit mehr Partizipation zu verwalten; zum anderen muss geklärt werden, welche Entscheidungen getroffen werden müssen, um die Qualität der Dienste zu verbessern. Diese Entscheidungen entsprechen nicht immer den Erwartungen der einzelnen Bürger. Dies ist die echte Herausforderung, für die wir uns in den nächsten Jahren rüsten müssen, nämlich die Fähigkeit, die Änderungen zu bewältigen. Sepp Stricker K.Abg. Luisa Gnecchi, lange Zeit an führender Stelle des AGB/CGIL, 1998 in den Landtag gewählt, Landesrätin für Arbeit, ital. Schule und Berufsbildung, seit 2003 LH-Stellvertreterin und Vizepräsidentin der Region. 2008 Kammerabgeordnete für den Partito Democratico, Mitglied der Kommission für Arbeit im privaten und öff. Bereich. Um das zentrale Thema des heutigen Abends auch historisch korrekt einzuordnen erlaube ich mir drei Vorbemerkungen: 1. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ist für die deutsch- und italienischsprachige Bevölkerung Südtirols nach 1945 höchst unterschiedlich verlaufen. Es gibt bis heute enorme Unterschiede in den Gegebenheiten und in den Einstellungen. 2. Der Zeitraum zwischen dem Pariser Vertrag 1946 und der Streitbeilegungserklärung 1992 war gekennzeichnet durch Minderheitenschutz und Volkstumspolitik, alles andere war zweitrangig. 3. Die Volkstumspolitik hat zwei positive und zwei negative Nebeneffekte, beide haben beachtliche soziale Auswirkungen bis heute. Zuerst die positiven Nebeneffekte des Volkstumskampfes. Erstens, Südtirol ist die Landflucht erspart geblieben. Anders als im Trentino und in Belluno sind junge Leute zwar in hoher Zahl abgewandert, aber ein Massensterben von Bergbauernhöfen hat es bisher zum Glück nicht gegeben. Zwar handelt es sich in der Mehrheit nicht mehr um rein landwirtschaftliche Betriebe, vielmehr um Nebenerwerbsbetriebe meistens kombiniert mit gastgewerblichen Tätigkeiten. Häufig besteht der Nebenerwerb auch in einer Tätigkeit in Handwerk, Industrie und Bauwirtschaft. Der durchschnittliche Südtiroler ist kein Stadtmensch und das hat diese Entwicklung gefördert. Er und sie haben Wurzeln auf dem Land und im Dorf. Dies hat historisch gesehen mit zwei Erfahrungen zu tun, wobei es immer ums Überleben ging. Wie konnte man in der Zeit des Faschismus überleben? Wie konnte man in den 1920er Jahren bis herauf in die 1950er Jahre der totalen Verelendung entgehen? Rettungsanker war der familiäre Rückhalt auf einer Seite, und das Selbstversorgungssystem auf dem Bauernhof. Der Bauernhof wurde erlebt als wichtigste Form ökonomischer und sozialer Absicherung in turbulenten und kargen Zeiten. Dies hat die Menschen geprägt. Die Politik der 1960er und 1970er Jahre hat diese Erfahrungen volkstumspolitisch genutzt und für Entwicklung des ländlichen Raums zwei äußerst wichtige Maßnahmen gesetzt. Beide Maßnahmen haben beigetragen, die Landflucht zu verhindern. 1. Die Höfe sind erschlossen worden (Strom, Straße, Telefon usw.), die Bergbauern wurden mobil. 2. Die ländlichen Gebiete wurden vorsichtig industrialisiert. Warum erfolgte das so spät und auch dezentral und nicht nur im Raum Bozen? Die Verspätung hat zunächst historische Gründe. Bis in die 1960er Jahre war im Bewusstsein der Südtiroler die Industrie synonym mit der Industriezone Bozen. Diese wiederum gleichbedeutend 68 69 mit Zuwanderung aus Italien. Industrie wurde auch von der SVP als Vehikel zur Förderung der Italianisierung des Landes gesehen, von daher Ablehnung und Abwehrhaltung. Erst Anfang der 1960er Jahre bemerkte man den Mangel an Arbeitsplätzen für die weichenden Erben auf den Höfen und kam zur Einsicht, dass dieser Mangel in Zukunft die Existenz der Volksgruppe aufs Spiel setzen könnte. Der Abwanderungsdruck der 1950er und 1960er Jahre war ein heilsamer Schock. Damals wanderten 30-40.000 junge Südtiroler ab und da reifte die Erkenntnis: da muss etwas geschehen. Dies also die zwei positiven Nebeneffekte, die bis heute enorme gesellschaftliche und politische Auswirkungen haben. nach wie vor ein Aschenputteldasein. Bevor man die volle Tarifhoheit erreicht, wäre eine Bestandsaufnahme nötig: was hat man denn gemacht aus jenen Regelungskompetenzen, was wir schon zur Verfügung haben? Die erste negative Begleiterscheinung der Volkstumspolitik: Südtirol kennt keine industrielle Zwischenphase. Wenn wir Entwicklungen regionaler Gesellschaften der letzten 100 Jahre betrachten, stellen wir fest, dass sie zunächst Agrargesellschaft waren, die sich dann in eine Industriegesellschaft transformierten, um dann erst zur Dienstleistungsgesellschaft zu werden. Südtirol hat die industrielle Zwischenphase mit ihren gesellschaftlichen Auswirkungen übersprungen. Innerhalb weniger Jahrzehnte ist man von der Agrar- zur Dienstleistungsgesellschaft mutiert. Dabei haben wir auch Industriebetriebe, die sich sehr dezentral angesiedelt haben, da ist Einiges passiert. Andererseits gab es auch Betriebe, die wir als "Raub- und Plünderkapital" bezeichnet haben, also verlängerte Werkbänke, nämlich Unternehmen, die über Nacht wieder weg waren und die Arbeiter vor vollendete Tatsachen gestellt haben. Nun zum zweiten Hauptthema des heutigen Abends: welche Möglichkeiten haben wir bei der Sozialpolitik dank der Autonomie? Ich bin dafür, dass die Autonomie ausgebaut wird, doch da braucht es einige Voraussetzungen. Vor allem folgende zwei: 1. Wegkommen von der Haltung: "Wir Südtiroler verstehen, können und wissen alles besser." Das führt in die Sackgasse. 2. Wir brauchen eine stärkere Rechtskultur, also größeren Respekt vor dem Rechtsdenken. Dieses fehlt manchmal. Dass wir in Südtirol in ein italienisches Rechtssystem eingebettet sind, im EU-Recht verankert sind, will man nicht immer wahrnehmen. Zweite negative Begleiterscheinung: das Konstrukt Sozialpartnerschaft. Südtirol sollte, so ihre Verfechter, einen anderen Weg gehen als Italien, also nicht dem Klassenkampf verpflichtet sein, sondern der Sozialpartnerschaft. Dieses ideologische Gebilde fiel bei uns, zumindest bei den Deutschen und Ladinern, auf fruchtbaren Boden. Erstens waren diese nach Deutschland und Österreich orientiert und es entsprach auch gewissen katholisch geprägten Vorstellungen, Konflikte immer harmonisch lösen zu wollen. Wo bleiben aber die Früchte des propagierten Modells? Ich muss feststellen: viele Früchte der Sozialpartnerschaft habe ich in meiner bisherigen Laufbahn und Praxis als Gewerkschafter nicht gefunden. 1. Die Arbeitsmigranten Wir müssen bei den Migranten zwischen EU-Bürgern und Nicht-EU-Bürgern unterscheiden. Dies wird in Südtirol zu wenig gewürdigt. Wir haben in der Substanz bereits eine doppelte Staatsbürgerschaft, nämlich weil wir als EU-Bürger präzise Rechtsansprüche im gesamten EU-Gebiet haben. Jeder Bürger der 28 EU-Länder hat dieselben Rechte und Pflichten als EUBürger in der EU und im Heimatland. Das ist ein Punkt, den es stets zu beachten gilt. Die EU verbietet Diskriminierung und verpflichtet zur Gleichbehandlung. Dies muss erst mit seinen ganzen Implikationen zur Kenntnis genommen werden. Die Unionsbürger sind auf jeden Fall schon im System "drinnen", sind eigentlich keine Einwanderer. Für Nicht-EU-Bürger liegt die Rechtshoheit für Migrationskontrolle beim Nationalstaat, der immer noch die wesentlichen Spielregeln festlegt. Zur angedachten Tarifhoheit im Sinne einer territorialen Zuständigkeit für Kollektivverträge Folgendes. Auch die Gewerkschaften haben eine weitergehende lokale Autonomie oder Hoheit bei den Kollektivverträgen begrüßt und als Bestandteil der Autonomieerweiterung bezeichnet. Wir haben bis heute ein dreistufiges Tarifmodell: - die römische Ebene - Zusatzverträge auf Landesebene, also verbindlich für alle - Betriebszusatzverträge Die Möglichkeit, Landeszusatzverträge abzuschließen, haben wir seit dem Juli-Abkommen 1993. Dort ist ein neues kollektivvertragliches Modell zwischen Regierung, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften ausgehandelt worden. Was hat diese zweite Verhandlungsebene gebracht? Reichlich wenig. Dies hängt teilweise mit der Schwäche der Gewerkschaften zusammen. Man hat auch zu wenig Druck gemacht. Die Zusatzverträge fristen in Südtirol 70 Bevor wir also Tarifhoheit fordern und bekommen, wären wir gut beraten, etwas mehr aus den heutigen Zuständigkeiten zu machen. Denn wir Südtiroler müssen froh sein, dass wir von den nationalen Kollektivverträge profitieren. Diese bestehen aus einem ökonomischen und normativen Teil. Der normative Teil ist genauso wichtig. Bei der Mentalität, die wir bisher bei den Arbeitgebern in Südtirol angetroffen haben, wäre eine ausschließlich auf Südtirol bezogene Tarifhoheit mit hohen Risiken verbunden. Damit zu einigen konkreten Themen. 2. Die Mindestsicherung, ein sensibles Thema in der öffentlichen Meinung. Die EU-Verordnung zur Koordinierung der Sozialsysteme von 2004 eröffnet allen EU-Bürgern das Recht auf Mindestsicherung, dies ist heute schon europäische Rechtswirklichkeit. Man kann streiten: wo beginnt die Mindestsicherung und wo hört sie auf. Auf der einen Seite wird die Gleichbehandlung aller gefordert, auf der anderen Seite will man das sog. Sozialschmarotzertum (das Unwort des Jahres) verhindern. Es gilt, intelligente Lösungen zu finden, die mit dem EU-Recht konform sein müssen. Es gibt keine einzige Untersuchung, die beweist, dass Missbrauch der Sozialleistungen in Südtirol in großem Ausmaß praktiziert wird. Dies hängt auch mit der 5-Jahre-Ansässigkeit zusammen, die für Nicht-EU-Bürger gilt. 71 3. Die Provinzialisierung des INPS: geht das? Wer zahlt die Renten und wer ist für die Rentenregelungen zuständig? Es hat wenig Sinn, das INPS zu übernehmen, wenn man nicht für die Regelung der Renten, also das Sozialversicherungsrecht, selbst als Land zuständig wird. Hier ist also gut zu trennen zwischen dem Bestreben, die Autonomie auszubauen und den Interessen der sozialen Sicherung der Arbeitnehmer. Die Provinzialisierung des INPS ist auf absehbare Zeit nicht machbar. Man kann sie schon betreiben, man kann versuchen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, doch wird damit eine Erwartungshaltung erzeugt, die bitter enttäuscht werden könnte. Es hat wenig Sinn, dieses INPS zu provinzialisieren. In Bozen ist der Saldo zwischen Einnahmen und Rentenausgaben immer noch positiv. Abschließend: Das Bestreben, die Autonomie auszubauen ist positiv und zu unterstützen, aber zu flankieren mit der Anstrengung des Ausbaus nach innen, Richtung Selbsterkenntnis, hier gibt es großen Nachholbedarf, das muss aufgearbeitet werden. Ich schließe etwas philosophisch mit Immanuel Kant, der sagte: mit der Aufklärung verdankt der Mensch seine Wiedergeburt nicht Gott, sondern sich selbst. Dieses Lebensthema von Kant bedeutet immer zweierlei: Selbstbehauptung, aber auch Selbstbeschränkung, keine Selbstherrschaft ohne Selbstüberwindung, Selbstbestimmung, aber nicht Selbstüberschätzung. Wie wir die Selbstbehauptung regeln, das ist in Südtirol weit verbreitet, bei der Selbstbeschränkung, Selbstüberwindung und Selbsterkenntnis ist noch Einiges zu tun und auch das gehört zum Ausbau der Autonomie. Sepp Stricker, Theologe und ehemaliger Gewerkschafter, war jahrzehntelang in leitender Position des SGB/CISL und des KVW, Mentor einer zeitgemäßen christlichen Wirtschaftsethik. Heute ist Stricker geistlicher Assistent des KVW. Mit mehr Autonomie die Gesamteffizienz der Sozialpolitik optimieren Karl Tragust Die Sozialpartnerschaft, wie sie in Südtirol praktiziert oder nicht praktiziert wird, ist auch Ausdruck unserer Realität zwischen Nord und Süd. Man hat in Südtirol zum einen den Blick nach Norden gepflegt und Modelle sozialpartnerschaftlichen Ausgleichs im deutschsprachigen Raum gesucht; zum anderen haben die Gewerkschaften sich nach dem Süden orientiert. Zwei Ansätze, zwei Systeme sind bei uns aufeinander getroffen. Das Beispiel Arbeitsförderungsinstitut AFI ist kein gelungenes Ergebnis dieser Begegnung: man wollte das Modell der Arbeiterkammern in Österreich als Gegenstück zur Handelskammer etablieren, ist aber über eine Forschungseinrichtung als Teil der erweiterten Landesverwaltung nicht hinausgekommen. Die Handelskammer ist dagegen weit mehr: rund um das Wirtschaftsförderungsinstitut ist ein gut funktionierendes System von Interessenvertretung und Serviceleistungen entstanden, von wissenschaftlicher Analyse bis hin zur Umsetzung der Politik zugunsten der Arbeitgeber. Während der Versuch, ein Gegenstück für die Interessen der Arbeitnehmer zu gründen, gescheitert ist, haben die Arbeitgeber eine weit effizientere Infrastruktur. Was muss man tun, um bessere Instrumente der Interessensvertretung für die Arbeitnehmer und andere soziale Gruppen zu bekommen? Die globale Situation, in der EU, im Staat und lokal ist heute fundamental verschieden von der Situation der 1970er Jahre. Auch rechtlich müsste man verschiedene Arbeitnehmeranliegen in ein neues Kleid gießen, um den heutigen Erfordernissen gerecht zu werden. Die rechtlichen Institute der sozialen Sicherheit entwickeln sich immer mehr von beitragsfinanzierten Systemen hin zu steuerfinanzierten Systemen. Das hat Vor- und Nachteile, welche auch in Südtirol und in der Region kritisch aufgearbeitet werden müssen. Wie kombinieren wir die Zusatzkompetenz der Region bei der Sozialversicherung mit den Kompetenzen der beiden autonomen Länder für die steuerfinanzierte Sozialhilfe? Die Sozialleistungen des Landes sind heute breit aufgestellt. Es geht nicht nur um bloße Sozialhilfe, sondern um zahlreiche Leistungen, wie z.B. das Familiengeld, das Pflegegeld und das ganze System der lokalen Sozialdienste. Folgende Frage stellt sich: wie führen wir das zusammen? Die beiden bestehenden Systeme, das steuerfinanzierte und das beitragsfinanzierte (mit Mischformen wie z.B. jenen, die über Zwecksteuern finanziert werden), müssen koordiniert werden. Mehr denn je wird es notwendig sein, die soziale Sicherheit integriert zu denken und da braucht es eine enge Zusammenarbeit zwischen Region und Land. Implizit hat man den Fokus Region=Vorsorge/Sozialversicherung und Land=steuerfinanzierte Leistungen/Sozialhilfe weitgehend verlassen. Die Region hat unter dem Deckmantel der Vorsorge mehrere rein steuerfinanzierte Leistungen geschaffen und stellt etwa Gelder zur 72 73 Verfügung, welche dann vom Land in einer Sozialhilfelogik verwendet werden. Als Beispiel können die Gelder für den Pflegefonds angeführt werden, welche im Sinne des Vorsorgegedankens eigentlich den Garantiefonds speisen müssten, dies aber keineswegs tun. In der Praxis geht es auch bei der Erbringung der Sozialleistungen um mehr Wirksamkeit sowie Effizienz und Schlankheit der Systeme, sprich um den sparsamen Umgang mit Ressourcen. Ist es unter diesem Gesichtspunkt sinnvoll, vier Gesetzgeber (EU, Staat, Region und Land) zu haben? Muss die integrative Gesetzgebung im Bereich Vorsorge und Sozialversicherung bei der Region angesiedelt bleiben? Ein größeres Einzugsgebiet mag für einen Zusatzrentenfonds wichtig sein, aber insgesamt wäre es besser, die Kompetenzen für alle Sozialleistungen beim Land anzusiedeln. Nun ist einzusehen, dass Südtirol kein eigenes Sozialversicherungsrecht schaffen kann, wenn die Entwicklung eher auf eine EU-Harmonisierung in diesem Bereich hinausläuft. Doch auf regionaler oder Landesebene können zusätzliche Benefits und Förderungen ermöglicht werden. Das war zum Beispiel die Zielsetzung und Begründung der damaligen Idee der autonomen Landesversicherungsanstalt, die als solche geeignet wäre, die Leistungen der integrativen Sozialvorsorge der Region mit den Leistungen des staatlichen Vorsorgesystems und einiger Leistungen des Sozialhilfesystems des Landes zumindest verwaltungstechnisch in einer Hand zusammenzuführen. Dabei war klar, dass wir weder die Gesetzgebungskompetenz noch die Finanzierungsverantwortung bei der Sozialversicherung übernehmen können. Aber einen Einheitsschalter für alle Sozialleistungen des Staates, der Region und des Landes zu schaffen ist eine starke Idee und würde für die betroffenen Menschen viele Vorteile bringen. Man sollte da im Sinne einer sinnvollen Zusammenführung von Kompetenzen und Funktionen und zwecks Vereinfachung von Verwaltungsabläufen im Autonomiestatut etwas verankern. Im Bereich Mindestsicherung hat die im Mailänder Abkommen aufgenommene Möglichkeit der Delegierung der sozialen Leistungen des Staates bei Arbeitslosigkeit an die beiden autonomen Provinzen neue Möglichkeiten in diese Richtung eröffnet, die es im Sinne des Ausbaus der Autonomie zu nützen gilt. Bei den Themen Migration und Integration der Migranten stellt sich die Frage, welche Hürden bei Nicht-EU-Bürgern nicht nur rechtlich zulässig, sondern - bezogen auf die sozialen Gegebenheiten, Bedürfnisse und Notwendigkeiten - auch notwendig und angemessen sind. Sozialtourismus ist aus meiner Erfahrung in der Südtiroler Praxis kein gravierendes Phänomen. Nicht-EU-Bürger befinden sich eben häufiger und eher in einer sozialen Situation, die zu einem Anspruch auf beispielsweise das soziales Mindesteinkommen oder das Familiengeld führt. Bei anderen Leistungen wie Pflegegeld oder Zivilinvalidität sind sie dafür unterpräsentiert. Ausgangspunkt für soziale Leistungen kann nur das soziale Bedürfnis und der eingeräumte und anerkannte Bedarf sein. Die bestehende Bindung zum Territorium ist Teil dieser Bedarfssituation. Hier sollte eine offene Diskussion geführt werden und nicht billigen Argumenten nachgelaufen werden. Rechtlich gibt es auch für Südtirol und die Region Vorgaben, die von der EU und dem Staat vorgegeben sind. Wie Sepp Stricker betont hat, muss der Respekt vor den Grundprinzipien der EU bei uns stärker vermittelt werden. Ich bin 74 dagegen, dass man bei der Regelung der Mindestansässigkeit zwischen 3, 4 und 5 Jahren herumjongliert, die ohnehin auf EU-Bürger nicht angewendet werden kann. Eine rechtliche Regelung auf Landesebene muss den realen Erfordernissen und den gegebenen rechtlichen Rahmenbedingungen angemessen sein. In diesem Zusammenhang stellt sich eine andere Frage, nämlich die Frage des Proporzes bei der Aufteilung von sozialen Ressourcen im Bereich soziale Sicherheit. Es ziehen immer mehr Bürger aus den neuen EU-Staaten Osteuropas zu, die als EU-Bürger dieselben Rechte wie die übrigen EU-Bürger genießen. Hier gilt nicht das Etikett „Deutscher“, „Italiener“, „Ladiner“ oder „Rumäne“, sondern es gilt die Gleichberechtigung als EU-Bürger gemäß EU-Recht. Der Proporz war für den Minderheitenschutz in einigen Dingen von Bedeutung. Zum Glück war er im engeren sozialen Bereich nie ein Thema. Dies war eine wichtige Leistung im Zusammenspiel zwischen den Volksgruppen, dass im Bereich der Sozialhilfe und Sozialdienste - im Unterschied etwa zum Wohnbau – der Proporz bei der Verteilung der Ressourcen nie eine Rolle spielte. Bestehende Proporzregelungen im Sozialbereich im weitesten Sinn müssen in Zeiten zunehmender Zuwanderung überdacht und angepasst werden. Es muss ins Statut geschrieben werden: Es gibt einen Rechtsvorbehalt des Staats bei der Regelung bestimmter Grundrechte. Die Zuständigkeit der Gemeinden, also die Gemeindenautonomie, und die diesbezügliche regionale Gesetzgebungskompetenz ist aus der Sicht des Sozialen ein unterschätztes Thema, denn es hat reale Auswirkung auf wichtige soziale Lebensbedingungen. Wir müssen weiter überlegen, wie die Sozialdienste zu organisieren sind, denn derzeit ist die Aufgabenverteilung für öffentliche Leistungen im Sozialbereich zwischen Land, Bezirksgemeinschaften und Gemeinden nicht optimal geregelt. Es geht auch hier um eine Vereinfachung der Zuständigkeiten zwischen Region und Land und in weiterer Folge zwischen Land, Gemeinden und Bezirke. Die sogenannte Ordnungskompetenz der Region und die materielle Kompetenz des Land: ist das noch zeitgemäß, wenn wir an die vielen Dienste denken (Soziales und Gesundheit in erster Linie) bei welchen der institutionelle Aufbau der Träger (Gemeinden, Öffentliche Betreuungsdienste, Sanitätskörperschaften) einen wichtigen Einfluss auf die Funktionsweise, Wirksamkeit und Effizienz der Systeme und Dienste haben? Ist Ordnungskompetenz und Organisationskompetenz im Sinne der höheren Gesamteffizienz des Systems bei den beiden autonomen Provinzen zusammenzuführen? Dr. Karl Tragust, langjähriger leitender Beamter der Landesverwaltung im Bereich Sozialwesen, Direktor der Agentur für soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Autonomen Provinz Bozen 75 Eine solidere Finanzierung der SüdtirolAutonomie für mehr Gestaltungsspielraum bei der Finanzpolitik des Landes Eros Magnago Der Abschnitt Finanzen ist der einzige Teil des Autonomiestatuts, der eine besondere Regelung bei der Rechtsquelle aufweist, nämlich kann der Abschnitt VI des Statuts aufgrund eines Einvernehmens zwischen Staat und Land abgeändert werden. Wenn dieses Abkommen steht, genügt ein einfaches Staatsgesetz, um das Abkommen ins Autonomiestatut einzufügen, als Artikel, die der Staat nicht einseitig, also ohne Einvernehmen mit den beiden Ländern abändern kann. Zum Glück funktioniert der Abschnitt Finanzen des Statuts auf diese Weise. So war es auch möglich, 2009 das Mailänder Abkommen als Ergebnis von kurzen, aber hochrangigen Verhandlungen abzuschließen. Wenn man eine Verhandlung auf dieser Ebene führt, besteht allerdings das Risiko, dass andere Instanzen die Inhalte im Nachhinein in Frage stellen. Und dies ist tatsächlich geschehen. Ausgehend vom Rahmengesetz zum Steuerföderalismus Nr.42/2009 traten auf dem Hintergrund von schwierigeren Beziehungen zwischen Staat und Regionen einige Probleme auf. Das Gesetz Nr. 42/2009 sah vor, dass mit den Regionen mit Sonderstatut zwecks Überprüfung der Finanzierungsmechanismen verhandelt werde. Sehr wenige Eingeweihte verhandelten in sehr kurzer Zeit dieses Abkommen aus, das Folgendes vorgab: Aufgrund des Art. 119 der Verfassung, der auch den Autonomen Regionen einen Beitrag zum Finanzausgleich und zum Solidaritäsfonds abverlangt, sollte das Gesetz Nr. 42/2009 die konkrete Anwendung dieses wichtigen Prinzips in der Beziehung zwischen Staat und den Autonomen Provinzen sein. Die beiden Autonomen Provinzen verzichteten somit auf Einnahmen, die keine Steuern im engen Sinn waren, wie z.B. die variable Quote und der Ersatzbetrag für die Mehrwertsteuer auf den Import. Hier geht es um Einnahmen, die nicht aus den Taschen der Steuerzahler unserer beiden Provinzen stammen. Im Gegenzug verlangten wir mehr Gestaltungsspielraum bei einigen Steuern. So kann das Land jetzt bei der IRAP und beim regionalen Zuschlag zur IRPEF die Steuersätze etwas freier regeln, sie kann einen Steuerfreibetrag festlegen, kann die IRAP als absetzbare Steuer für Unternehmen erklären, sofern ein Unternehmen Neueinstellungen vornimmt usw. Nur bei diesen Parametern staatlicher Steuern kann das Land also eingreifen. Der Spielraum ist relativ begrenzt, aber immerhin ist dies ein Stück Steuerhoheit. Was ist nach dem Abkommen von Mailand geschehen? Ab 2010 haben sich sowohl die Wirkungen des Abkommens schon im Steueraufkommen selbst gezeigt, das bekanntlich den Haushalt des Landes speist, als auch die ersten Effekte der Wirtschaftskrise, die 2008/09 76 eingesetzt hat. Daraufhin ging unser Haushaltvolumen zurück, weil die Einschnitte aufgrund des Mailänder Abkommens mit den Krisenwirkungen kumulierten. Was ist dann geschehen? Die Krise hat sich nachfolgend verschlimmert und damit ist auch der Gesamtschuldenstand des Staats gestiegen. Mit dem Konjunktureinbruch hat die Neuverschuldung wieder zugenommen, was zu den bekannten drastischen Maßnahmen geführt hat: zunächst seitens der Berlusconi-Regierung 2010 und 2011, dann Ende 2011 und 2012 seitens Monti mit dem Dekret Salvaitalia und dem Dekret zur Spending Review später. Diese Haushaltsmanöver führten schon 2012 zu erheblichen Kürzungen. Diese wurden 2013 verdoppelt und gehen 2014 weiter, um 2015 permanenten Charakter zu erhalten. Zwei Gesetze also, die sich noch lange auswirken werden. Was ist zwischen Rom und Bozen in dieser Zeit geschehen? Die beiden Landeshauptleute haben Monti und Letta klar zu machen versucht, dass Einschnitte zwar unvermeidlich seien, die Methode dafür aber inakzeptabel. Die Haushaltsmanöver ließen die Pflicht des Staats zum Einvernehmen mit den Autonomen Provinzen völlig außer Acht. Die Einschnitte waren zwar aus der Sicht des Staats effizient, aber wenig demokratisch für uns. Vor allem die vorläufigen Rückstellungen (accantonamenti) sind für uns gravierend. Man verlangt von den Autonomen Regionen X Milliarden Euro und kündigt entsprechende Durchführungsbestimmungen zum Gesetz zum Fiskalföderalismus an. In der Zwischenzeit werden diese den Regionen mit Sonderstatut zustehenden Beträge einfach einbehalten. So schafft der Staat Selbstjustiz, während die betroffenen Regionen darauf beharren, den korrekten Verfahrensweg zu beschreiten. Wir wollen nicht, dass die uns zustehenden Anteile des lokalen Steueraufkommens in Rom bleiben, darin liegt der Konflikt. Dabei haben die beiden Autonomen Provinzen Trient und Bozen nicht in Frage gestellt, dass sie zur Sanierung des Staatshaushalts ihren Beitrag leisten müssen. Doch der Staat hätte zuerst das Einvernehmen mit den Provinzen suchen müssen. Die Provinzen waren auch bereit, weitere Ausgaben des Staats auf ihrem Gebiet zu übernehmen. Doch hat diese Argumentation in Rom nicht gegriffen. Wir konnten das Finanzministerium nicht zur Verhandlung zwingen, das ist auch nicht Sache der paritätischen Kommissionen. Wie können wir verhindern, dass der Staat widerrechtlich uns zustehende Mittel zurückstellt, statt mit uns zu verhandeln? Die Autonome Provinz hat folgenden Vorschlag vorgelegt: wir übernehmen Ausgaben des Staats auf unserem Territorium, wollen als Gegenleistung aber die Übertragung der Agentur der Einnahmen. Die Gegenseite ließ uns wissen, der Fiskus sei einer der Pfeiler der Einheit der Republik, nicht im Traum könnten die Steuerbehörden den Autonomen Provinzen übertragen werden. Dann kam es doch zu einer Verhandlung, auch hinsichtlich des Stabilitätsgesetzes von 2013, was wiederum für uns nachteilig war. Was ist der „Steuereinbehalt“ (riserve dell‘erario)? Wenn die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt steigt, behält der Staat dieses Zusatzaufkommen für sich und gibt es nicht an die Regionen weiter, obwohl das MWSt-Aufkommen per Gesetz zwischen Staat und Re- 77 gionen (auch den Normalregionen) aufgeteilt werden muss. Begründung: der Staat muss den Schuldendienst finanzieren. Das Verfassungsgericht gab uns recht und verpflichtete den Staat, ein Einvernehmen mit den Sonderautonomien zu erzielen. Er hat diese staatlichen Maßnahmen aufgrund des Verfahrens für widerrechtlich erklärt. So arbeitete der Staat ein neues Stabilitätsgesetz aus und bestätigte darin den Steuereinbehalt. Das gilt heute noch. In dieser Situation hatten wir zwei Möglichkeiten: 1. auf ein weiteres Urteil des Verfassungsgerichts zu warten; 2. verhandeln und Gegenvorschläge zu unterbreiten, nämlich den Steuerrückbehalt (rund 120-140 Mio. Euro im Jah) nicht vorab vorzunehmen, sondern diese Gelder den Provinzen zur Finanzierung neuer delegierter Verwaltungsausgaben zu übertragen, wie z.B. Gerichtsämter, Finanzämter usw. Nun gibt es hinsichtlich der Lokalsteuern etwas mehr Freiheit, mehr Autonomie. Z.B. haben wir bei der IMU die primäre Zuständigkeit erhalten und könnten sie nach unserem Geschmack neu fassen. Unsere Vorschläge für das neue Finanzierungssystem der Provinz wären für den Staat kostenneutral. Die Steuerrückbehalte müssten vom Staat ans Land überwiesen werden, würden aber zur Deckung der Ausgaben des Staats in Südtirol verwendet. Jene Rückbehalte, die hinsichtlich der IMU vorgenommen worden sind, werden aber auf jeden Fall vom Staat einbehalten. Wir können zwar eine lokale Immobiliensteuer einführen, weil wir jetzt dafür zuständig sind, aber das darf nicht an die uns zustehenden, aber blockierten Steueranteile gekoppelt sein. Was wir anstreben ist etwas mehr Autonomie im Bereich der Steuern, wo immer möglich. Wir wollen vom Staat einige Funktionen übertragen bekommen, nicht nur für bestimmte Bereiche der Staatsverwaltung zahlen. In der Abfassung der diesbezüglichen Durchführungsbestimmungen z.B. zu den Gerichtsämtern versucht man etwa Nützlicheres und Weitergehendes für unser Land zu erreichen. Vielleicht bringen wir das Unternehmensgericht ins Spiel, wo wir durchaus auch eine eigene Sektion in Bozen brauchen könnten. Auch eine eigene Sektion des Berufungsgerichts sollte man in Bozen ansiedeln. Wir wollen, dass unsere Gelder nicht mehr in Rom blockiert werden, sondern hier zugunsten unserer Gemeinschaft eingesetzt werden und wieder neues Steueraufkommen generieren. Es sind auch die CPT (Öffentlichen Territorialen Konten) zitiert worden. Dies ist eine Methode, alle öffentlichen Einnahmen und Ausgaben dem betroffenen Territorium zuzurechnen, also ein konsolidiertes Konto aller öffentlichen Finanzströme für ein bestimmtes Gebiet darzustellen. Im Lichte dieser CPT sind wir jetzt als Provinz Bozen eindeutig Nettozahler. Wir leben nicht mehr auf Kosten der anderen. Es ist nicht so, dass wir 9/10 des Steueraufkommens kassieren und uns jeden Luxus leisten können. Bis 2009 waren wir in dieser Situation, wir erhielten also mehr Ressourcen als im Land aufgebracht worden sind. Mit dem Mailänder Abkommen sind dagegen über 500 Mio Euro auf Dauer abgetreteten worden. Wir sollten somit mit Rom eine Übereinkunft treffen, um herauszufinden, dass wir gleich viel zu den öffentlichen Finanzen beitragen wie der Durchschnitt der Regionen mit Normalstatut Norditaliens. Die autonomen Regionen beziehen allein rund 23-25% der staatlichen Ausgaben für die Regionen insgesamt, tragen derzeit jedoch 40-45% der Kürzungen. Ein früherer Minister sagte einmal: wir müssen die Normalregionen etwas besonderer machen und die Sonderregionen etwas normaler. Der Minister der Regierung Letta hingegen stellt zum Glück fest: es geht darum, die Regionen mit Normalstatut mit etwas mehr Autonomie auszustatten. Das klingt schon anders. Unter rechtlichem Aspekt müsste man dann auch an eine bessere rechtliche Verankerung des neuen Finanzabkommens denken. Dott. Eros Magnago, langjähriger Direktor der Abteilung Finanzen des Landes Südtirols, seit 2013 Generaldirektor der Landesverwaltung und Chefunterhändler in Rom in Sachen Finanzen. Doch ist dies nur ein Teil. Ich sprach vorher von den Rückstellungen, ein von Monti eröffnetes Verfahren, wodurch in Rom uns zustehende 200-300 Millionen Euro auf Eis liegen. Wir müssen dies in den Landeshaushalt eintragen, doch können wir sie nicht ausgeben. Wir müssen nachweisen, dass wir sie benötigen und auch tatsächlich ausgeben, andernfalls bleibt ein Überschuss, den man den Bürgern kaum erklären kann. Jedenfalls steht uns ein Spiel mit hohem Einsatz bevor. Es gibt Verhandlungen, die etwas leichter zu lösen sind, der Nationalpark Stilfser Joch, die Steuerämter, die Gerichtsämter. Damit kann unser Steueraufkommen hier einbehalten und wieder ausgegeben werden. Darüber hinaus wollen wir unsere autonomen Zuständigkeiten erweitern. 78 79 Nutzt Südtirol seine Autonomie in der Wirtschaftspolitik? Alberto Stenico Südtirol ist keine Insel, vielmehr befinden wir uns in einem gesamtitalienischen und europäischen Kontext. Wir haben dank Autonomie eine Fülle von wirtschaftspolitischen Instrumenten zur Verfügung, um hier vor Ort Verantwortung zu übernehmen, sowohl bei der Umsetzung der autonomen Zuständigkeiten wie auch bei den Lokalfinanzen. Viele Mitbürger sind der Meinung, dass mit der Lösung des Konflikts mit Rom alles gelöst sei. Doch gilt es, eine Menge von Herausforderungen zwischen Bozen und Bozen anzugehen, nicht nur zwischen Bozen und Rom. In Italien stehen wir vor dem großen Problem der öffentlichen Verschuldung, die mit über 2.000 Milliarden Euro wie ein Mühlstein am Hals seiner Bürger hängt. Es gibt einen Schuldenzähler im Internet, der vorführt, wie schnell dieser Schuldenberg täglich, stündlich und pro Minute steigt. Ex-Minister Tremonti meinte dazu: "Wenn das Schiff untergeht, ertrinken auch die Passagiere der 1. Klasse". Wenn wir ganz Europa in den Blick nehmen, haben wir die Verpflichtungen aus dem EU-Stabilitätspakt, der uns enge Grenzen setzt. Italien befindet sich unter strenger Kontrolle, man könnte fast sagen, Italien steht schon unter Vormundschaft. Die EU rät Italien, den Steuerdruck zu senken und mehr Flexibilität zu erlauben. Die von den Euroländern vereinbarten Stabilitätsziele sehen allerdings vor, dass die Gesamtverschuldung nur 60% des BIP betragen darf, die Netto-Neuverschuldung maximal 3% im Jahr. Italien liegt mit seinem Schuldenstand des Staats von 134% des jährlichen BIPs weit über dem erlaubten Maß. Ein weiterer Sorgenpunkt ist jener der Sozialversicherungsanstalt INPS, die einen Schuldenstand von 14,5 Milliarden Euro aufweist. Ein Drittel der Südtiroler Bevölkerung bezieht irgendeine Rente vom INPS. In Südtirol werden jährlich 176.000 Renten ausgezahlt, doch da einige Rentenbezieher mehrere Renten beziehen, sind es rechnerisch rund 146.000 Personen, die Renten beziehen. Unser Wohlstand hängt somit auch von dieser Art von öffentlichen Ausgaben ab, für die wir keine direkte Zuständigkeit haben. Die Situation ist somit ziemlich heikel. Doch sollte sich Südtirol nicht nur auf sich selbst konzentrieren und auf die Lösung seiner kleinen Probleme, sondern auch Bedacht nehmen auf die großen wirtschaftlichen und politischen Fragen, die auf Ebene des Staates und der EU zu zählen. Wir müssen verfolgen, was sich in Italien tut, denn Südtirols Wirtschaft ist eng mit jener Italiens verflochten und hängt somit von der wirtschaftlichen und finanzpolitischen Entwicklung im gesamten Staat ab. Andererseits können wir viele wirtschaftspolitische Entscheidungen selbst treffen und in 80 vielen Bereichen unsere Autonomie für eine effiziente Selbstregierung einsetzen. Wir könnten zum Beispiel selbst eine spending review auf lokaler Ebene durchführen, um die öffentlichen Ausgaben des Landes zu rationalisieren. Auch die Südtiroler Bürger haben inzwischen gemerkt, dass man bei den öffentlichen Ausgaben in verschiedener Hinsicht bei uns übertrieben hat. Hinter den Fällen von Verschwendung stehen aber dann auch viele Arbeitsplätze, die dann wegfallen würden. Somit müsste das Land Südtirol eine Neuregelung des Arbeitsmarktes vornehmen, um Mobilität und Wiederbeschäftigung dieses Personals zu ermöglichen. Leider haben wir eine sehr statische Regelung der Arbeitslosenunterstützung, die zwar Lohnersatzleistungen garantiert, doch den Einsatz der Arbeitnehmer für eine neue Stelle zu wenig fördert. Bei der IRAP haben wir den Steuersatz gesenkt, was zu einer Steigerung der Unternehmenstätigkeit geführt hat, was wiederum die IRAP-Einnahmen auf demselben Niveau gehalten hat: ein circulus virtuosus. Man muss anfügen, dass die Stabilität unseres Landeshaushalts auch von der Wirtschaftsentwicklung abhängt, von den Umsätzen der Betriebe, von den Arbeitsplätzen. Manche nehmen an, dass der Landeshaushalt eine interne Stabilität aufweist. So ist es nicht: das Land hat nicht die Möglichkeit, überall Löcher zu stopfen. Es braucht eine intelligente Entwicklung, nicht nur die Erhaltung des status quo. Ein weiteres großes Thema ist die steigende Steuerhinterziehung. 1,2 Milliarden Euro nicht versteuerte Einkommen sind eben für Südtirol für 2013 festgestellt worden. D.h. die Schwarzarbeit könnte auch bei uns rund 15% des Südtiroler BIP ausmachen. Das Land hätte die Aufgabe, eine Sanierungspolitik zu betreiben und die Steuerhinterziehung stärker zu bekämpfen. Das wäre auch im Autonomiestatut so vorgesehen. Ein Beispiel: 1.000 Euro hinterzogene Steuern bedeuten 900 Euro weniger Einnahmen für den Landeshaushalt. Wenn die Steuerhinterziehung 1 Milliarde Euro erreicht, haben wir 900 Millionen Euro weniger im Landeshaushalt. Die Steuerhinterziehung in Südtirol wird oft dadurch gerechtfertigt, indem man behauptet: unsere Steuern werden ohnehin nur in Süditalien oder durch den Zentralstaat verschwendet. Damit verbreitet man die falsche Vorstellung, dass wir die Steuern für den Süden bezahlen. Doch bleibt der allergrößte Teil des Steueraufkommens in Südtirol. Somit müssen wir Maßnahmen ergreifen, um die finanzielle Selbstverwaltung des Landes anzustreben. Ein weiterer Aspekt ist das individuelle Vermögen sowohl in Südtirol wie in Italien insgesamt. Wir haben zwar einen hochverschuldeten Staat, aber das Durchschnittsvermögen der Bürger Italiens ist deutlich höher als jenes der Bürger anderer EU-Länder. Warum könnten wir nicht einen anderen Bezug zu den öffentlichen Gütern herstellen? Die Autonomie könnte einen Vorteil aus einem neuen Verhältnis zwischen öffentlichen und privaten Gütern ziehen. Dass sich die öffentliche Hand um alles kümmert, ist nicht mehr tragbar noch finanzierbar. Warum könnten wir nicht die Unternehmen in öffentlichen Eigentum für die Kapitalbeteiligung der Kleinsparer öffnen, also Volksaktien ausgeben? Statt 5.000 Euro auf den Cayman-Inseln zu investieren, könnte der einzelne Bürger in Aktien der öffentlichen Gesell- 81 schaften seiner eigenen Stadt investieren. Bisher gab es bei den öffentlichen Institutionen großes Misstrauen bezüglich der Partnerschaft mit den Privaten bei der Finanzierung von Projekten. Die Allgegenwart des Landes hat bisher die finanzielle Beteiligung der einzelnen Bürger an öffentlichen Gesellschaften verhindert. Die Reform der Autonomie aus der Perspektive des Trentino Beim Pflegehilfe-Fonds des Landes, der gut 200 Millionen Euro umfasst, hat man zunächst die Möglichkeit erwogen, Beiträge der Bürger vorzusehen, also die sog. „Steuer auf den Opa“, doch dann ist die Idee verworfen worden. Eine Person bei guter Gesundheit mit einem Arbeitsplatz könnte ohne Probleme zu diesem Fonds beitragen, indem ein kleiner Beitrag monatlich eingezahlt wird, wobei Abkommen auf territorialer Ebene abgeschlossen werden können. In Frankreich wird der Gegenwert von abgeschafften Feiertagen in solche Solidaritätsfonds etwa für die Pflegefinanzierung eingezahlt. Der Landeshaushalt wird nicht nur mit den aus Rom überwiesenen Steuermitteln finanziert, wir können auch in Bozen an die Erzielung neuer Einnahmen denken. Roberto Toniatti In Wahrheit sind wir mit einem ständig steigenden Landeshaushalt aufgewachsen und haben uns daran gewöhnt. Wir sind heute an der Spitze der Rangordnung nach Einkommen pro Kopf in Italien. Ist das alles unser Verdienst? Sind wir reich, weil wir so tüchtig sind? Ist alles unserem Fleiß, unserem Einsatz, unserer Effizienz zuzuschreiben? Diese Mentalität zu ändern, ist auch unsere Aufgabe. Wir können sparsamer mit unserem Haushalt umgehen und mehr Verantwortung in der Finanzpolitik selbst übernehmen. Das wäre die Botschaft, die man nach Rom schicken sollte. Alberto Stenico, früher Gewerkschafter, war jahrzehntelang Vorsitzender des Bunds der Genossenschaften/Lega delle Cooperative, Kandidat für die Parlamentswahlen 2013 für „Scelta civica“ Ich möchte vorausschicken, dass ich eigentlich nicht für die Trentiner sprechen kann, zumal ich aus Triest stamme. Die Leitlinien für ein neues Autonomiestatut, die ich heute vorstellen darf, entspringen nicht einem institutionellen Projekt der Autonomen Provinz Trient, sondern sind eine Studie von Prof. Massimo Carli, Gianfranco Postal und mir, die im Hinblick auf eine Autonomiereform vom Trentiner Landeshauptmann in Auftrag gegeben worden ist. Ein erster derartiger Auftrag ist uns schon 2006 erteilt worden. Dabei möchte ich festhalten, dass die Landesregierung uns nie präzise inhaltliche Vorgaben erteilt hat, sondern dass wir versucht haben, eigenständig die Reformvorstellungen der Mehrheitsparteien anhand einiger Eckpunkte zu interpretieren. Einer dieser Eckpunkte war die Notwendigkeit der Erhaltung der Region bei gleichzeitiger Herabstufung ihres Stellenwerts. Dabei muss man vorausschicken, dass eine Sonderautonomie des Trentino, die nicht direkt an die Region geknüpft ist, auch im Interesse des Trentino liegt, wie es die Entwicklung der Autonomie seit 1972 gezeigt hat. Das 2. Autonomiestatut hat im Trentino eine Art Reifeprozess ausgelöst, der zu einer eigenen, von Südtirol verschiedenen Regierungsform geführt hat. Insbesondere hat das Trentino nicht gezögert, das frühere Verhältniswahlrecht bei den Landtagswahlen abzuschaffen, das allenfalls auf regionaler Ebene gerechtfertigt ist. Mit Ausnahme des garantierten Sitzes für die Fassaladiner ist im Trentiner Autonomiesystem keine Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung der Kandidaten vorgesehen. Die Sprachgruppenfrage stellt sich nicht, weil über 95% der Bevölkerung italienischsprachig ist. Somit gibt es innerhalb des Trentino einen anderen Bedarf an strukturellem Gleichgewicht, verschieden von jenem Südtirols. Allerdings muss auf Ebene der Region wiederum den Besonderheiten der beiden Provinzen Rechnung getragen werden. Nun gibt es durchaus noch Positionen im Trentiner Mitterechtslager, aber auch alte Christdemokraten, die behaupten: die Autonomie des Trentino hängt von jener Südtirols ab. Somit müssten wir unbedingt die Region erhalten, weil wir ansonsten zu einer Provinz des Veneto erklärt würden. Eine unbegründete These. Es lag uns vor allem daran, die seit 1972 bereits starke Landesautonomie weiter auszubauen, die 2001 nochmals wesentlich akzentuiert worden ist. Das waren somit unsere Wegweiser, ohne politisches Mandat, sondern eine eigenständige Interpretation der Interessen der Mehrheitsparteien des Trentino. Heute somit stellen wir dieses Dokument zum ersten Mal der Südtiroler Öffentlichkeit vor. Einige Eckpunkte zunächst. Erstens: Wir haben zwei autonome Provinzen, die keine Provinzen sind, und wir haben eine autonome Region, die eigentlich keine Region mehr ist. 82 83 Somit wäre es ein elementares Gebot der Neuordnung, die Bezeichnungen mit der Realität in Übereinstimmung zu bringen. Wir nennen die neue Region somit "Regionale Union", weil sie ein Zusammenschluss von Regionen ist. Wenn wir andererseits beide autonomen Provinzen mit Region bezeichnen würden, wäre es wiederum schwierig, der institutionellen Kontinuität der Region Ausdruck zu verleihen und ihr für die Zukunft eine inhaltlich begründete Rolle zu übertragen. Wie sollten wir nun die beiden Provinzen bezeichnen, zumal sie tatsächlich keine Provinzen sind? Wir wählten den Begriff "Autonome Gemeinschaft". Gemeinschaft, weil es sowohl in Südtirol wie im Trentino eine starke Identifizierung mit diesem Land gibt. Diese beiden Gemeinschaften sind autonom sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber der Regionalen Union. Somit geht es um zwei in einer Union verbundene Gemeinschaften, die verfassungsrechtlich festgelegt werden und nach außen hin Gemeinsamkeiten zweier autonomer Einheiten sichtbar machen sollen. Welche Funktion hat nun die Region? Dies war ein kleines Kunststück. Wie sollte man eine Institution beibehalten, aber mit Kompetenzen, die den Autonomen Gemeinschaften nicht in ihrer tragenden Rolle ins Gehege kommen? Als ein Beispiel kann der Art. 14 gelten, nämlich den legislativen Kompetenzen der Regionalen Union: "Die Union hat die Aufgabe, die interne Zusammenarbeit zwischen den beiden Gemeinschaften zu regeln." Somit kann die Union ein Regionalgesetz verabschieden, um die Zusammenarbeit zwischen den beiden Autonomen Gemeinschaften zu regeln, kann Aufgaben auf der Grundlage des vorliegenden Statutes wahrnehmen, wie auch mit Durchführungsbestimmung vom Staat übertragene Aufgaben erfüllen. Ihre Funktionen werden auf ein Mindestmaß beschränkt. Unter diesem Aspekt kommt die Umwandlung der heutigen Region in einen "Regionale Union" der Vollautonomie nicht in die Quere. Wir haben uns die Forderung nach Vollautonomie zu eigen gemacht, aber in ihren Details muss dieses Konzept noch ausgearbeitet werden. Jedenfalls geht es hier um eine "Vollautonomie" der beiden Autonomen Gemeinschaften sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber der regionalen Union. Deshalb ist nicht nur die Bezeichnung der Region neu, sondern auch ihre Funktion. Zweiter zentraler Punkt dieses Projekts. Ein besonderes Problem besteht heute in der unsicheren Rechtslage hinsichtlich der Kompetenzenaufteilung zwischen Staat und Autonomen Provinzen, eine echte Belastung. Oft möchte man in Bozen oder Trient ein Gesetz verabschieden, bedenkt aber erst hinterher, ob den Provinzen überhaupt die Regelungskompetenz zusteht. Hier wagt sich interessanterweise das Trentino manchmal weiter vor als Südtirol, indem es eine vermeintliche Kompetenz zunächst einmal ausübt und sich erst hinterher die Frage stellt, ob und in welchem Ausmaß diese Landeskompetenz überhaupt vorliegt. Unsere Autonomie stützt sich auf das Statut von 1972. Dann gibt es eine Fülle von Durchführungsbestimmungen, die nicht durch ein normales Staatsgesetz abgeändert werden können, aber eine statutarische Garantie haben, die die Autonomie erweitert haben. Dann gibt es auch die Reform der Verfassung, Titel V, von 2001, mit dem berühmten Art. 10 der festhält: "Die in diesem Verfassungsgesetz geregelten Formen weitergehender Auto- 84 nomie werden auch den Regionen mit Sonderstatut zugeteilt in Erwartung der Erneuerung ihrer Statuten." Die Revision der Statuten kam allerdings bisher nicht zustande, und somit gehen jene Kompetenzen, die wir den Provinzen zuschreiben, von unserer Interpretation von "weitergehender Autonomie" aus. Der klassische Kontext also, in welchem die betroffenen autonomen Region solche Prinzipien sehr weitgehend interpretieren, der Staat hingegen sehr eng. So verlässt man sich dann auf den Präsidenten der Republik und auf das Verfassungsrecht als Gewährsorgane. Doch in den letzten Jahren und vor allem unter der Regierung Monti ist deutlich geworden, dass manche Garantien für die autonomen Regionen nicht wirklich halten. In einer ganzen Reihe von Einzelfällen hat der Staatspräsident bestimmte Gesetzte nicht unterzeichnet. Die Angriffe auf die Sonderautonomien war durchaus sehr gravierend, man hat auch das Engagement dieser Regionen auf der Ebene ziviler Solidarität nicht anerkannt. Man muss auch anerkennen, dass die Mitterechts-Mehrheit, die ansonsten den autonomen Regionen nicht wohlgesonnen ist, sich korrekter verhalten hat als die Regierung Monti. Somit gilt es, hier Klarheit zu schaffen, weil unsere Autonomie eben von diesem Art. 10 des Verfassungsgesetzes 2001 abhängt, der eben "weitergehende Formen von Autonomie" für die Regionen mit Sonderstatut vorsieht. In welcher Sinne haben wir nun Ordnung bei den Kompetenzen geschaffen? Welche Art der Zuständigkeit hat am für die größten Konflikte gesorgt? Natürlich jene der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit. Diese Kategorie an Kompetenz haben wir entfernt. Wir haben die Kompetenzen des Staates in den beiden Autonomen Gemeinschaften genau aufgelistet, indem wir den Art. 117 durchforstet haben. Dann haben wir auch die Kompetenzen der Autonomen Gemeinschaften benannt, die jene umfassen, die nicht dem Staat vorbehalten sind.in beiden Fällen geht es um primäre und exklusive Kompetenzen. In einigen Fällen wird auch die Möglichkeit vorgesehen, dass der Staat Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen mit Angabe der Grenzen an die Autonomen Gemeinschaften delegiert. Es geht also um eine möglichst klare Aufteilung der Kompetenzen. Bei uns hat es sich nämlich herausgestellt, dass die konkurrierende Gesetzgebung nicht funktioniert. Somit haben wir beide Kompetenzbereiche klar getrennt und sie beide als "primäre und exklusive Kompetenzen" benannt. Einerseits erkennen wir die Sonderautonomien an, auf der anderen Seite erkennen wir an, dass es Sachbereiche gibt, wo das Interesse auf eine staatsweit einheitliche Regelung überwiegt. Dasselbe wird auch in Bundesstaaten wie etwa in Deutschland seitens des Bundesrates vollzogen. Dort gibt es eine Reihe von Gesetzgebungskompetenzen, die die Zustimmung der Bundesländer über den Bundesrat erfordern. Somit verhandelt man in all jenen Fällen, wo ein einheitliches Interesse des Staates auf einheitliche Regelung anerkannt wird. Wir den paritätischen Kommissionen auch eine zusätzliche Aufgabe übertragen. Nämlich muss geklärt werden, bis zu welchem Punkt der Staat ein solches einheitliches Interesse mit einem zentralen Regelung geltend machen darf - und das hinsichtlich jeder Kompetenz im Bereich der beiden autonomen Länder - und wo hingegen 85 ein solches Interesse nicht nachweisbar ist, auch weil wir zu klein sind oder zu abgelegen. Es kann durchaus auch sein, dass unsere Sonderregelungen niemanden stören. Dabei können wir auch voraussetzen, dass die Sonderautonomien bereits ihre Fähigkeit bewiesen haben, sich Ziele zu setzen, sich selbst zu regieren, Verhandlungen durchzuführen. Dies lässt sich auch anhand eines Vergleichs der vielen Durchführungsbestimmungen unserer Region und auch anderer Regionen mit Sonderstatut erkennen. Man muss auch die Verbindung zwischen den paritätischen Kommissionen und den beiden Landesregierungen und Landtagen verstärken. Das Mailänder Abkommen ist vom Trentiner Regionalrat beanstandet worden, weil er bei den Verhandlungen übergangen worden ist. Es gibt Probleme der Transparenz bei den Verhandlungen. Doch Verhandlungen zeichnen sich naturgemäß durch Diskretion aus. Die paritätischen Kommissionen haben sich als Motoren der Autonomieentwicklung profiliert, doch daneben spielt auch die parlamentarische Delegation des Trentino eine wichtige Rolle. In Trient gibt es regelmäßige Treffen zwischen der Landesregierung mit allen im Trentino gewählten Parlamentariern. Der Einsatz für die Autonomie wiegt dabei schwerer als mögliche Differenzen zwischen den Parteien. Wir könnten eine solche Einrichtung durchaus auf beide Provinzen anwenden. Wir befinden uns heute in politischen Rahmenbedingungen, wo wir uns leichter durchsetzen, wenn wir gemeinsam marschieren. Offensichtlich drücken diese Leitlinien einen ausgeprägten Reformwillen gegenüber der heutigen Lage aus. Bezüglich der rechtlichen Umsetzbarkeit steht das letzte Wort dem Verfassungsgerichtshof zu, doch alles in allem müsste dies passen. Der politische Konsens dafür ist hingegen sowohl in der Region wie auf staatlicher Ebene erst herzustellen. Im Parlament muss eine uns wohlgesonnene Mehrheit gegeben sein, und dies hängt auch vom Gewicht der Stimmen aus unserer Region ab. Es wird einen Kompromiss geben müssen und dafür braucht es auch eine gewisse Verhandlungsstärke. Dann gibt es auch den Pariser Vertrag, der ganz allgemein von einem "frame" spricht, und dies könnte die neue "Regionale Union" sein. Stark zusammengefasst sind dies also die Stärken unseres Projekts, das wir ganz bewusst nur für den Trentiner Teil genau ausgeführt haben, während der regionale Rahmen für beide autonomen Provinzen benannt werden musste. Auf staatlicher Ebene braucht es zudem ein Minimum an Solidarität, zum Beispiel beim Finanzausgleich. Wenn diese Solidaritätspflichten einmal erfüllt sind, dann gibt es auch Pflichten zur Gegenseitigkeit, nämlich jene, uns zu erlauben, unseren Weg der Autonomie weiter zugehen. Gibt es auch im Trentino einen ähnlichen Vorschlag zu jenem der Senatoren Berger und Zeller zur Vollautonomie? Mir scheint, dass in jeder Provinz schon ausgereifte Ideen vorliegen, wie man zu einer solchen Reform der Autonomie gelangen kann. Wir haben uns vorgestellt, dass wir in Südtirol ein Gegenstück zu unserer Wissenschaftlergruppe finden könnten. Wir haben unsere Vorschläge ausschließlich fürs Trentino ausgearbeitet, auch wenn diese hinsichtlich der Zukunft der Region immer auch Südtirol betreffen. Das war un- 86 umgänglich. Doch nun sollten die Trentiner und die Südtiroler Politiker dafür sorgen, dass wir uns mit Südtiroler Wissenschaftlern gemeinsam diese Fragen vertiefen können. Das ist bisher nicht erfolgt. Wir sind von der Verfassungskonformität unserer Vorschläge überzeugt, jetzt kommt es ganz wesentlich auf den politischen Druck an. Doch haben wir bisher keine direkten Südtiroler Gesprächspartner. Hätten wir es den beiden Autonomen Gemeinschaften überlassen können, eine Region auf freiwilliger Basis zu bilden? Das Problem besteht darin, dass wir die Artikel 114 und 116 der Verfassung berücksichtigen mussten, in welchem die Regionen aufgelistet sind, denen besondere Formen von Autonomie angedeihen. In unserem Autonomiestatut kann man die Region auch als eine freiwillige Union zweier Einheiten konzipieren, doch in der italienischen Verfassung ist es nicht so. Dort ist keine Freiwilligkeit vorgesehen, weil die Region Trentino-Südtirol zur institutionellen Ordnung des Staatsaufbaus gehört. So erwähnen wir also die beiden Autonomen Gemeinschaften, aber errichten auch die Regionale Union, was der Verfassung entspricht. Heute dagegen lautet die Formulierung: Die Autonome Region ist zusammengesetzt aus.... Kann die derzeitige Entwicklung der EUREGIO in gewissem Maß die Neufassung der Region behindern oder erleichtern? Ich glaube, das dies keine Rolle spielt, denn wir befinden uns noch in einer Phase, in der die grenzüberschreitende Zusammenarbeit bloß auf institutioneller Ebene stattfindet. Die Zivilgesellschaft ist weitgehend abwesend. Es gibt noch kein soziales Netz in der EUREGIO. Im Trentino wird immer gesagt: wir müssen der Region die internationalen Kompetenzen zuteilen. Dies wäre völlig unsinnig, weil wir keine internen internationalen Kompetenzen haben. Z.B. bei Wissenschaft und Forschung. Die Region ist selbst für diesen Bereich nicht zuständig. Wie sollte sie also diese Kompetenzen auf internationaler Ebene verfolgen können? Wenn wir die grenzüberschreitende Zusammenarbeit aus der Perspektive der internationalen Beziehungen verstärken wollen, müssen wir sie den Autonomen Provinzen vorbehalten, denn diese bearbeiten all jene wichtigen Bereiche, in welchen ein interregionale Zusammenarbeit zwischen den die Länder aufgebaut werden soll. Prof. Dr. Roberto Toniatti lehrt Vergleichendes Verfassungsrecht und Europarecht an der Universität Trient, zu seinen Forschungsgebieten gehören auch Minderheitenrecht, Föderalismus und multikulturelle Bürgerschaft. 1997-98 erster Auftrag seitens der Provinz Trient zum Autonomiestatut, der 2002 erneuert worden ist. Im Juni 2013 hat er zusammen mit Gianfranco Postal und Prof. Massimo Carli die „Linee Guida per il 3° Statuto di Autonomia“ vorgelegt. 87 Die Autonomiereform aus der Sicht von "L'Alto Adige nel cuore" Alessandro Urzì Mein Beitrag geht vom heutigen politischen Kontext aus, und zwar von jenen Entscheidungen, die wir als Sonderkommission im Landtag derzeit zu treffen haben. Vor wenigen Tagen sind wir aufgefordert worden, eine Stellungnahme zu verschiedenen Verfassungsgesetzvorlagen abzugeben, die von den Senatoren Zeller, Berger und Palermo im Parlament eingebracht worden sind. Daneben stand auch die Anfrage der Gemeinde Taibon Agordino (Prov. Belluno) auf der Tagesordnung, die zur Autonomen Provinz Trient und damit zu unserer Region wechseln möchte. Die Sonderkommission hat diese Entscheidungen vertagt, um sie im Rahmen des anstehenden Konvents zur Autonomiereform zu behandeln, und auch weil eine umfassende Bewertung aller anstehenden Statutsänderungen nötig ist. Hier wird ein neues Kapitel geöffnet und zunächst muss geklärt werden, in welchem Kontext diese Debatte zu erfolgen hat, welche Akteure teilnehmen, wie die Beratungen organisiert werden, um zu Schlussfolgerungen zu gelangen. Treten wir zuerst aber einen Schritt zurück und betrachten wir einen wichtigen Aspekt, der zu oft außer Acht bleibt: die emotionale Seite. Die Kernfrage ist folgende: welche gefühlsmäßige Beziehung haben die Südtiroler zu ihrem Land und zur Region? Gibt es eine einzige Perspektive oder ganz verschiedene Bezugsformen? Gibt es neben den ideologisch-politischen Faktoren andere wichtige Faktoren, wie z.B. kulturelle, sprachliche, historische Faktoren? Manche Teile der Südtiroler Gesellschaft haben keinen so klaren Standpunkt wie jenen, den einige deutschsprachige Parteien vertreten. Aber auch bestimmte Parteien haben keine klare Vision, sie fahren sozusagen auf Sicht und beschränken sich auf die Lösung von Alltagsfragen. Innerhalb der italienischen Sprachgruppe gibt es derzeit keine politischen Kräfte, die eine klar definierte Position zur Weiterentwicklung der Autonomie haben. Viel klarer hingegen sind die Vorstellungen in der deutschen Sprachgruppe hinsichtlich Politik, Kultur, soziale Entwicklung, wobei es ganz unterschiedliche Positionen gibt. Gemeinsam ist ihnen das Motto "Möglichst weit weg von Rom", wobei dei Varianten dann Vollautonomie, Freistaat und Selbstbestimmung lauten. Der von der SVP eingeschlagene Weg der Vollautonomie, den ich nicht teile und der dem Konzept der "internen Selbstbestimmung" folgt, geht auch auf die Einberufung eines Autonomiekonvents ein. Letzthin ist eine Beschleunigung im Verfahren festzustellen: man will sich möglichst bald mit inhaltlichen Vorschlägen zur Statutsreform befassen. Durch Abwesenheit glänzt dabei wieder einmal die italienische Sprachgruppe. Der rechtliche Rahmen, der dieser Statutsreform gesetzt ist, ist nicht ganz klar. Es gibt auch 88 keinen Reformansatz, der breit mitgetragen wird. Bevor über die Zusammensetzung des Konvents entschieden wird, muss geklärt werden, wie die Südtiroler Interessen in dieser Versammlung und im gesamten Reformprozess vertreten sein werden. Zunächst müssen die Anliegen unserer Provinz geklärt werden, und das Trentino wird genauso vorgehen, weil kein regionaler Konvent vorgeschlagen wird, was aus meiner Sicht mehr Erfolg haben könnte. Ungeklärt ist darüber hinaus: welche Rolle werden die verschiedenen Vertreter im Konvent spielen? Wird er zu einem Ort der Konsensfindung, wo schließlich eine gemeinsame Entscheidung getroffen werden soll und wo die Sprachgruppen gleichberechtigt sind? Oder wird es ein Ort, wo einmal mehr das Mehrheitsprinzip angewandt wird? Das ist nicht nebensächlich. Wir stehen vor der Entscheidung, einen Konvent als Ort der Konsensfindung einzurichten oder als Versammlung, in der eine Gruppe die andere ausspielt. Dies ist einer der Knackpunkte unseres Autonomiesystems. Unser heutiges Autonomiesystem baut nicht auf der Gleichberechtigung der Sprachgruppen, sondern auf dem Primat einer Gruppe auf. Das ist eine meiner Grundsorgen. Im Trentino hat eine Expertengruppe im Auftrag der Landesregierung die Anliegen der politischen Mehrheit interpretiert und ein neues Statut entworfen. Dasselbe wird in Südtirol geschehen, wobei man Fachleute in der Mehrheitssprachgruppe finden wird. Hier läuft man Gefahr, sich im Kreis zu drehen. Was ist Südtirol? Entscheidet nur die politische Mehrheit? Aus diesem Kurzschluss werden wir nie ausbrechen, wenn wir nicht einen Qualitätssprung wagen, der die Vielfalt unserer Gesellschaft widerspiegelt, und wenn nicht die gleichberechtigte Rolle der italienischen Gemeinschaft anerkannt wird. Somit müssen wir auch auf unser Herz und Gefühl achten. Welche Aussagen treffen die politischen Kräfte Südtirols auf Gefühlsebene? Hier muss ein anderer Ansatzpunkt gefunden werden. Wir haben die moralische Pflicht, ein Gleichgewicht herzustellen, und zwar nicht aufgrund des zahlenmäßigen Verhältnisses, sondern um eine tatsächliche Teilhabe aller Sprachgruppen an den Entscheidungen herbeizuführen. Bezüglich des Südtiroler Beitrags zur Sanierung der öffentlichen Haushalte bin ich der Ansicht, dass das Land die ethische Pflicht hat, genauso wie die anderen Regionen etwas beizusteuern. Andernfalls müssen wir uns fragen, ob Südtirol im Rahmen der Verfassungsordnung etwas ganz Besonderes darstellt. Die Diskussion um Freistaat, Selbstbestimmung und Vollautonomie hat auf der Gefühlsebene die Einstellung verstärkt, dass wir hier etwas ganz anderes als Italien seien. Man spricht oft von Sezession und tut so, als wäre man hier grundsätzlich anders. Wenn von Vollautonomie gesprochen wird, dann auch, um sich dort zu unterscheiden, wo es überhaupt nicht nötig ist, sich krampfhaft unterscheiden zu wollen. Doch diese Unterschiede und Besonderheiten ständig überzustrapazieren ist kontraproduktiv. Vielmehr müsste man auch Botschaften aussenden, die in die Gegenrichtung zielen. Seitens der Provinz Bozen ist immer wieder die Absicht geäußert worden, die Region aufzulösen, ohne eine alternative Funktion der Region zu überlegen. Man kann die heutigen Verwaltungsaufgaben der Region nicht einfach aufgeben, ohne ein konkretes Projekt vor Augen 89 zu haben. Der Regionalrat kann kein bloßer Teesalon werden, wo man diskutiert, ohne im geringsten entscheidungsbefugt zu sein. Wenn wir damit aufs aktuelle Geschehen zurückkehren: In seiner Antrittsrede hat der neue Präsident der Region, Ugo Rossi, gesagt, dass alle Sprachgruppen in die Wertschätzung der Autonomie einbezogen werden sollen, einschließlich der italienischen Sprachgemeinschaft Südtirols. Das war eine fast revolutionäre Erklärung, weil damit die geografische, kulturelle und sprachliche Eigenart der italienischen Sprachgruppe Südtirols anerkannt wird. Darüber hinaus hat Rossi auch die Bedeutung der Einheit der Region unterstrichen sowie die Bedeutung der Mehrsprachigkeit. Dies wird auch Grundlage einer neuen Beziehung zwischen dem Trentino und Südtirol sein Alessandro Urzì, Journalist, seit 1998 Landtagsabgeordneter für Alleanza Nazionale, 2003 wiedergewählt,2008 für den Popolo della Libertà wiedergewählt, dann Wechsel zu Futuro e Libertà (FLI), dessen Regionalkoordinator für Trentino-Südtirol seit 2011. 2013 für „Alto Adige nel cuore“ n den Landtag gewählt. 90 Soll die Verwaltung der Gerichtsbarkeit in die Zuständigkeit des Landes? Ein Gespräch mit Richter Dr. Heinz Zanon, Präsident des Landesgerichts Bozen a.D. Die Frage der Landesautonomie und der Gerichtsbarkeit ist wieder aktuell geworden mit der kürzlich verfügten Schließung von drei Außenstellen des Landesgerichts Bozen. Wie stark fällt der Aufwand für solche Außenstellen ins Gewicht? Könnten diese bei einer Übernahme durch das Land im Sinne eines bürgernahen Dienstes erhalten bleiben? Zanon: Die Sinnhaftigkeit eines uneingeschränkten Weiterbestehens von Außenstellen des Landesgerichts möchte ich nach wie vor generell und auch für Südtirol sehr in Zweifel ziehen. Ich halte es für wenig sinnvoll, wenn im Rahmen eines zukünftigen Übergangs von Zuständigkeiten im Bereich der Justizverwaltung auf das Land Finanzmittel aus dem Landeshaushalt zur Finanzierung solcher Außenstellen abgezweigt würden. Dies wären dann ziemlich unproduktive Ausgaben. Ich habe fast 20 Jahre an einem kleinen, mittlerweile aufgelösten Bezirksgericht gearbeitet. Es war dies für mich eine wunderbare Erfahrung, vor allem durch die Nähe zur Bürgerschaft und durch die Vielfalt der Themen, die ich zu bearbeiten hatte. Im Rückblick muss ich allerdings zugeben, dass das Arbeiten an einem so kleinen Gericht einem wenig sinnvollen Einsatz von Ressourcen gleichgekommen ist. Heute gilt für Anwälte wie für Richter gleichermaßen, dass sie nur gute Arbeit leisten können, wenn sie sich auf bestimmte Fächer oder Fachkombinationen spezialisieren. Die Rechtsordnung wird zunehmend komplizierter, da braucht es Spezialisten. Wenn Gerichtssitze mit wenigen Richtern aufrecht erhalten werden, müssen Richter und Mitarbeiter in der Verwaltung eine Vielzahl von Agenden betreuen, was wenig ökonomisch ist. Für jeden Fachbereich muss sich ein Richter konstant ajournieren. Dies ist äußerst zeitaufwändig und bringt zudem die Gefahr lückenhafter Kenntnisse 91 mit sich. Bei jedem Gericht ist also eine Minimalgröße unabdingbare Voraussetzung für ein effizientes, sachgerechtes und wirtschaftlich vertretbares Arbeiten. In Bozen und in Trient bestehen im italienweiten Vergleich mittelgroße Landesgerichte, die seit der Schließung der Außenstellen eine ziemlich optimale Dimension aufweisen und dem Spezialisierungsgebot gerecht werden. Es stimmt allerdings, dass durch die Streichung der Außenstellen der Landesgerichte eine allgemein geschätzte größere Bürgernähe verloren gegangen ist. Für den Großteil der Bürger sind durch die Schließungen aber kaum nennenswerte Nachteile entstanden, da Normalbürger wenn überhaupt nur äußerst selten persönlich bei Gericht vorzusprechen haben, sodass also bei solcher Gelegenheit eine Fahrt zum Gerichtssitz anstatt zu den früheren näher gelegenen Außensitzen nicht als unzumutbare Belastung empfunden werden kann. Ernsthafte Probleme und echte Erschwernisse haben sich durch die Schließungen lediglich für die an den früheren Außenstellen beschäftigten Bediensteten der Gerichte ergeben. Auch für die Anwälte und für sonstige Freiberufler mit Kanzleien an den Standorten der früheren Außenstellen sind natürlich zusätzliche Komplikationen und einige Mehrkosten entstanden. Die Aufrechterhaltung oder gar Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Gerichte sollte allerdings diese Nachteile mehr als ausgeglichen haben. Wenn die Verwaltung der Gerichte zukünftig an das Land überginge, wären die Richter direkt betroffen? Zanon: Das Dienstrecht und die Verwaltung der Laufbahnen für Richter und Staatsanwälte wären durch die angedachte zukünftige Regionalisierung der Justizverwaltung nicht betroffen, da sie weiterhin in die Zuständigkeit des Ministeriums für Justiz und der Obersten Richterrates fallen müssten. Macht der Übergang der Verwaltung der Gerichtsbarkeit Sinn, weil sie dann moderner und besser ausgestattet werden kann? Zanon: Das Verwaltungspersonal spielt in der Rechtspflege eine ganz wesentliche Rolle. Seit 10 Jahren ist in Südtirol bei den Gerichten rund die Hälfte der Planstellen für Verwaltungspersonal unbesetzt. Auch an vielen anderen Standorten in Norditalien fehlen in beträchtlichem Ausmaß Mitarbeiter in der Verwaltung, da man mit der Ausschreibung von Wettbewerben zur Besetzung solcher Stellen permanent im Rückstand ist und wohl dadurch hofft, Geld einsparen zu können. Das ist allerdings ein katastrophaler Denkfehler, da ein Sparen am Verwaltungspersonal dazu führt, dass die Richterarbeit höchst ineffizient wird. Richterarbeit ist doppelt bis dreimal so teuer wie die Arbeit qualifizierter Mitarbeiter in der Verwaltung. Wenn Richter und Staatsanwälte also auf die wertvolle Zuarbeit von Verwaltungspersonal verzichten müssen, wird ihre Gesamtleistung schleppender und ineffizient. Es wäre also wirtschaftlich weit vorteilhafter, wenn man den Richtern die Konzentration auf ihre Arbeit erleichtern würde. Wenn das Land nach einer Übernahme der Gerichtsverwaltung dafür sorgen würde, dass genügend Personal bei den Gerichten zum Einsatz kommt, 92 dann könnte die Rechtspflege deutlich rascher erfolgen. Allerdings muss auch gesagt werden, dass die häufig skandalös lange Dauer von Verfahren nicht nur auf den Mangel an Richtern und Personal zurückzuführen ist, sondern vielfach auch durch verfahrensrechtliche Hemmnisse, insbesondere durch Vorschriften der Zivil- und Strafprozessordnung, bedingt ist. Deren Regelung würde jedenfalls weiterhin in die Zuständigkeit des staatlichen Gesetzgebers fallen, sodass von einem Übergang gewisser Verwaltungsbefugnisse an die Landesverwaltung nicht Wunder erwartet werden können. Der Generalstaatsanwalt Pescarzoli stellt sich gegen eine Provinzialisierung der Gerichtsbarkeit, weil die besondere Stellung, die Karriereverläufe und die Qualifikation des Personals gefährdet wären. Bestimmte Übergangsprobleme sind zwar nicht auszuschließen, aber müsste nicht der zu erwartende bessere Dienst am Bürger den Vorrang haben? Zanon: Die Details eines Übergangs des Gerichtspersonals an das Land müssen sicherlich gut überdacht werden. Wenn es der Landesverwaltung gestattet würde, für die Verwaltungsmitarbeiter bei Gericht eigene Stellenpläne vorzusehen und in regelmäßigen Abständen Stellenausschreibungen zur Neuaufnahme solcher Mitarbeiter in hinreichender Zahl auszuschreiben, würde der Widerstand in Gerichtskreisen und bei der Richterschaft sicherlich sinken. Vermieden werden müssten allerdings Mechanismen einer vorrangigen Überstellung von derzeit vielleicht überzähligen Bediensteten aus anderen Bereichen der heutigen Landesverwaltung zu den Gerichten: es ist nämlich zu befürchten, dass mit einer solchen in einem nicht zu unterschätzenden Ausmaß eine negative Auslese erfolgen könnte, welche den Übertritt wenig geeigneter oder unzureichend motivierter Bediensteter zu den Gerichten zur Folge haben könnte. Jedenfalls ist zu beachten, dass die Gerichtsverwaltung einen sehr sensiblen Bereich darstellt und dass dies insbesondere auf den Einsatz von Verwaltungsmitarbeitern bei den Staatsanwaltschaften zutrifft, sodass also darauf hingearbeitet werden müsste, dass die Besetzung der Stellen auch unter der Landesverwaltung grundsätzlich über Wettbewerbe zu erfolgen hat. Nur solche Wettbewerbe würden nämlich die Aufnahme von Bediensteten gewährleisten, von denen die Bereitschaft zur vollen Einarbeitung in ihren Beruf und die nötige Loyalität erwartet werden kann. Es klingt in Stellungnahmen von Richtern und Staatsanwälten durch, dass man sich in keiner Weise in Abhängigkeit der Landespolitik begeben dürfe. Steht der Richterschaft überhaupt zu, sich in solche Kompetenzfragen einzumischen, wo sie in ihrem Dienstrecht gar nicht betroffen wäre? Zanon: Auch unter den Richtern gibt es Anhänger zentralstaatlicher Bestrebungen. Ihrer Einschätzung nach ist der Staat als einziger dazu berufen, die Justiz zu organisieren. Andere Richter haben weniger Berührungsängste mit dezentralen Modellen der Justizverwaltung. Jedenfalls muss man eines sagen: ob der Übergang ans Land den Richtern passt oder nicht, darf nicht ausschlaggebend sein. 93 Ist es in Italien auch so: es gibt 150 Jahre alte Institutionen, die seit der Staatsgründung immer einen zentralen Apparat gebildet haben. Kommt daran zu rütteln schon fast einem Staatsstreich gleich? Zanon: Ja, das ist ist so, wenn wir beispielsweise an die Traditionen von Polizei und Carabinieri denken, die auch eine überaus teure und problematische Zweigleisigkeit aufrecht erhalten wollen und dürfen. Auch in der Richterschaft gibt es Vertreter, die sich dem Territorium, in welchem sie Dienst versehen, kaum besonders verbunden fühlen. Die SVP hat in ihrem Konzept zur Vollautonomie zunächst betont, dass eine eigene Landespolizei geschaffen werden soll. Das hat man anscheinend wieder fallen lassen, denn im Entwurf von Zeller und Berger scheint eine Landespolizei nicht mehr auf. Kann man in Italien die Polizei regionalisieren? Zanon: Wenn wir bedenken, dass Polizeiaufgaben derzeit im wesentlichen durch die Staatspolizei, durch die Carabinieri und durch die Finanzwache wahrgenommen werden, ist eine Regionalisierung in diesem Bereich kaum vorstellbar und würde wenn überhaupt nur durch die Schaffung einer zusätzlichen Polizeieinheit zu bewerkstelligen sein, die aus Kostengründen kaum vertretbar wäre. Eine gute Lösung für eine zukünftige bessere Abstimmung der polizeilichen Tätigkeit auf die Bedürfnisse unseres Landes kann also nur die sein, auch für die in Südtirol zu verwendenden Beamten der verschiedenen Polizeiapparate eine lückenlose Zweisprachigkeitspflicht vorzusehen. Eine derartige Vorschrift würde auch für die Bürgernähe der hiesigen Polizeidienststellen äußerst förderlich sein und eine durchaus wünschenswerte längere Verweildauer und vermehrte Stabilität bei den bestehenden Polizeibeamten zur Folge haben. Wie steht es mit der Sprache vor Gericht? Zanon: Die derzeitige Verwendung der beiden hauptsächlichen Landessprachen bei den Gerichten würde ich als einigermaßen zufriedenstellend einstufen. An Verbesserungen besteht aber noch großer Bedarf. Ich denke beispielsweise an die vielen Hunderte von Formularen, die beim Landesgericht in Verwendung stehen und die vielfach in einer sehr wenig gelungenen deutschen Fassung vorliegen. Daran wäre sehr zu arbeiten, aber auch das kostet Geld und erfordert geeignete Mitarbeiter, die derzeit nicht vorhanden sind. Es ist dazu auch festzuhalten, dass es seit jeher keine amtlichen Statistiken über die Wahl der Verfahrenssprache in den verschiedensten Verfahren gibt, so dass auch Fehlentwicklungen lange Zeit nicht auffallen. Höchst dringlich ist es, auch von den Rechtsanwälten endlich die Beherrschung der beiden Landessprachen einzufordern, was große Vereinfachungen bei der Abwicklung der Verfahren ermöglichen und im Endeffekt zu erheblichen Kosteneinsparungen führen würde. Ein Qualitätssprung könnte bei der Gewährleistung der Zweisprachigkeit in der öffentlichen Verwaltung und insbesondere bei den Gerichten durch ein neues Modell der Abwicklung der Stellenwettbewerbe erzielt werden, in dessen Rahmen Bewerber die schriftlichen Arbeiten 94 und die mündlichen Prüfungen unter Verwendung beider Sprachen bestehen sollten. Was spricht heute gegen einen Übergang der Gerichtsbarkeit an die beiden autonomen Provinzen? Zanon: Wenn damit der Übergang des Verwaltungspersonals, der Dienstgebäude und der Ausstattung mit IT-Leistungen und Sachmitteln gemeint ist, spricht nichts dagegen. Es gibt bereits seit mehreren Jahren eine Übereinkunft zwischen dem Ministerium der Justiz und der Region Trentino-Südtirol, durch welche den Gerichten die Ausstattung mit Sachmitteln (im Wesentlichen mit Computern, Fachpublikationen und Bürobedarf) auf Kosten der Regionalverwaltung zugesichert wird. Diese Zusammenarbeit hat bisher bestens funktioniert, allerdings mit vergleichsweise bescheidenen Kosten, welche sich bei einer Übernahme des Verwaltungspersonals durch die Landesverwaltung in beachtlichem Ausmaß erhöhen würden. Besondere Verbesserungen und eine bürgernähere Dienstabwicklung würde ich mir von einer Übernahme der Zuständigkeiten im Bereich der Verwaltung der Sprachgruppenzugehörigkeitserklärungen erwarten, die immer noch nicht informatisiert ist, sondern händisch vorgenommen wird, was mit hohen Risiken und Kosten verbunden ist und zu Recht immer wieder den Unmut unzufriedener Bürger heraufbeschwört. Soll in Südtirol ein eigenes selbständiges Oberlandesgericht eingerichtet werden? Zanon: Bozen verfügt seit dem Jahr 1996 über eine Außenstelle des Oberlandesgerichts Trient, an welcher im wesentlichen Berufungen gegen Entscheidungen der anderen im Lande tätigen Gerichte bearbeitet werden. In dieser rechtssprechenden Tätigkeit agiert die Bozner Außenstelle bereits jetzt autonom, rein organisatorisch hängt die Außenstelle allerdings vom Trienter Hauptsitz des Oberlandesgerichts ab. Auch alle anderen Gerichte, die ihren Sitz in Südtirol haben, unterstehen organisatorisch dem Oberlandesgericht Trient. Die Einrichtung eines gänzlich selbstständigen Oberlandesgerichts in Bozen würde Südtirol zu einem vollwertigen eigenen Oberlandesgerichtssprengel aufsteigen lassen. Es würden dadurch allerdings auch zusätzliche organisatorische Aufgaben und entsprechende Kosten nach Bozen verlagert. Die Schaffung eines selbstständigen Oberlandesgerichts in Bozen wäre eine klare Lösung, die allerdings zweifach auch problematisch wäre. Zum einen würden das Land Trient und auch die Trienter Richterschaft eine solche Lösung als große Bösartigkeit und Bedrohung empfinden, weil die Gefahr gesehen wird, dass Trient sein Oberlandesgericht an Verona verlieren könnte. Zum anderen würde der Bozner Richterschaft ein bisher meistens harmonisches Nahverhältnis zu den Trienter Kollegen wegbrechen, das im Bereich der Organisation der beruflichen Fortbildung und in der Meinungsbildung immer wieder beste Ergebnisse erbracht hat und einer gewissen Gefahr der Inzucht vorbeugen können hat, welche angesichts der besonderen Mechanismen der Einstellung der Richter und Staatsanwälte in Südtirol und wegen ihres meist langfristigen Verbleibs im Lande durchaus auch gegeben ist. 95 Es gibt den Vorschlag, die Nominierung der Richter des Verwaltungsgerichts dem Landtag zu entziehen und alle Richter über Richterwettbewerb einzustellen. Wäre dies zu begrüßen? Zanon: Wenn man die letzten Querelen und Polemiken um die Nachbesetzung einiger Richterstellen am Bozner Verwaltungsgericht mitverfolgt hat, könnte man tatsächlich dazu neigen, eine Vergabe auch dieser Richterstellen über Wettbewerbe als wünschenswert zu empfinden. Die Besetzung der Richterstellen beim Verwaltungsgericht Bozen über Sonderwettbewerbe unter Zulassung von Bewerbern mit Zweisprachigkeitsnachweis auch unter Beibehaltung der derzeit gültigen Sprachgruppenkontingente oder vielleicht besser nach Proporz (was auch eine mehr als gerechtfertigte Berücksichtigung ladinischer Bewerber ermöglichen würde) hätte zudem den Vorteil, dass vermehrt jüngere Juristen zum Zug kämen, die auch mentalitätsmäßig viel problemloser in ihre berufliche Stellung hineinwachsen und das nötige Handwerkszeug sich aneignen könnten, ohne dabei Ballast aus einer früheren Tätigkeit in einem anderen Beruf abwerfen zu müssen. Ich will damit nicht bestreiten, dass dies den Verwaltungsrichtern, deren Bestellung in den vergangenen Jahrzehnten durch die Regierung und durch den Landtag erfolgt ist, nicht auch immer wieder gelungen ist und dass es jedenfalls auch diese Richter verstanden haben, in ihrer Amtsführung kompetent und mit der gebotenen richterlichen Unabhängigkeit zu agieren, aber einer Berufung ins Richteramt durch politisch geprägte Gremien darf man durchaus grundsätzlich mit einiger Skepsis begegnen. Das Gespräch führte Thomas Benedikter Welche Kulturautonomie und Bildungspolitik in einem "vollautonomen" Südtirol? Pius Leitner Wir müssen eine Politik machen, die die Menschen befähigt, ihr Leben selbst gestalten zu können und einen stabilen Arbeitsplatz zu finden. Das hängt eng mit der Bildungspolitik zusammen. Südtirol ist ein kleines Land, man muss wissen, dass man nicht jeden hoch qualifizierten Beruf bei uns ausüben kann. Ein Molekularbiologe muss bei uns rechnen, keinen Arbeitsplatz zu finden. Wenn sich heute mittelfristig ein Ärztemangel abschätzen lässt, muss man die jungen Leute darauf vorbereiten und schon in der Oberschule bestimmte Fächer forcieren, die die Voraussetzung für solche Studien bilden. Wir haben die Möglichkeit und die Notwendigkeit, bei den Lehrplänen anzufangen, um auch bedarfsgerecht auszubilden. Schon der frühere Kulturlandesrat Anton Zelger hat gesagt: Wir müssen ein Gleichgewicht zwischen Akademikern und praktischen Berufen herstellen. Wir hatten in den 1990er Jahren die Tendenz: alle sollen Matura machen und zum Land gehen. Viele Kompetenzen sind neu zum Land gekommen. Die autonome Verwaltung wurde ausgebaut, manchmal aufgebläht. Das war dann ein Auffangbecken für viele, wo man viele Kräfte auch der Privatwirtschaft abgeworben hat. Das wird in Zukunft nicht mehr möglich sein. Die Autonomiegeschichte hat ihre Licht- und Schattenseiten. Dies ist Hand in Hand gegangen. 1992 hat man es versäumt, eine Neuausrichtung anzugehen. Wir Freiheitliche bestehen seit 1992 und wir denken über die Autonomie hinaus und möchten eine Post-Autonomie-Gesellschaft. Dabei verteidige ich die Autonomie, weil sie viel Gutes gebracht hat. Bevor man auf etwas anderes setzt, muss man sich das reiflich überlegen. Unser Ziel ist bekanntlich ein unabhängiger Freistaat. Ich wage die Behauptung, dass wir bereits heute eine mehrsprachige Schule in Südtirol haben. Maturanten kommen mit drei Sprachen aus der Oberschule. Mehrsprachigkeit ist schon Realität. Wenn immer mehr Italiener sich in eine deutschsprachige Schule einschreiben, wird diese auch wiederum in einem gewissen Sinn zu einer mehrsprachigen Schule. Dabei wird heute jeder von uns anerkennen, dass es von Vorteil ist, mehrere Sprachen zu beherrschen. Zwar hat sich da sicher Vieles verbessert, dennoch müssen wir durchaus noch mehr investieren. Die Lage stellt sich in Südtirol je nach Wohnort verschieden dar. Wenn jemand im hintersten Ahrntal eine Anstellung bekommt, wird er mit der italienischen Sprache fast nicht mehr in Kontakt kommen, außer die Firma hat italienische Handelspartner. Die Lage wird komplizierter für die Italiener durch den Dialekt. Ich war 17 Jahre lang Angestellter der Zollverwaltung und habe mich mit den Eigenheiten und Interessen der Italiener auseinandersetzen 96 97 müssen. Wir haben mit den Italienern auch zu wenig in der Hochsprache kommuniziert. Für einen Südtiroler ist das nicht so einfach. Es gibt in Südtirol viele unterschiedliche Situationen. Wenn wir eine Gesellschaft wollen mit grundsätzlich gleichem Stellenwert für beide Sprachen, muss auch die Bereitschaft wachsen, auf den anderen zuzugehen. Die Zweisprachigkeit als Pflicht wird immer noch nicht von allen als Selbstverständlichkeit gesehen. Aber eine Sprache zu lernen ist auch harte Arbeit, Knochenarbeit. Ich rate davon ab, die Pflicht zur Zweisprachigkeit aufzugeben, weil man dann von der Intensität des Sprachenlernens abgeht. Dann wird die zweite Sprache nur mehr ein Optional, sie muss aber bei uns ein Hauptanliegen bleiben. Zur Erlernung der zweiten Sprache ist es unverzichtbar, die Zweitsprachenlehrer besser auszubilden. Beim Vortrag einer Hauptverantwortlichen der italienischen Schule hat mich ihre Aussage erschreckt, dass ein beträchtlicher Teil der Zweitsprachlehrer nicht diese Sprache als Muttersprache habe. Zum Teil wird in den italienischen Schulen also Deutsch nicht von Deutschen unterrichtet. Giorgio Holzmann sagte mir im Landtag: er hatte in seiner ganzen Schulzeit nie einen muttersprachlichen Deutschlehrer. Es gibt also viele Ansatzpunkte und einer davon ist entscheidend: wir müssen die Zweitsprachenlehrer gut ausbilden. Andere Sprachen werden gut gelernt. Wir müssen somit Deutsch und Italienisch als Fremdsprachen unterrichten und man muss den Unterricht viel praxisbezogener gestalten. Hier lässt sich noch Vieles verbessern. Wenn wir das CLIL einführen, den so genannten Sprachfachunterricht in der 2. Landessprache, müssen wir auch auf die Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt denken. Viele deutsche Lehrpersonen fürchten um ihre Stelle, viele ital. Lehrpersonen hoffen auf eine Stelle. Ich befürchte, das dahinter auch eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme steckt. Dies ist kein Kassandraruf, aber da ist genauer hinzusehen. Ein kulturelles Fundament entsteht nicht von heute auf morgen. Wir haben das Glück, am Treffpunkt des deutschen und italienischen Kulturraums zu leben. Das beachten wir noch zu wenig. Südtirol kann sich zwei großen Kulturnationen zugehörig fühlen. Den Philosophen Kant bis Adorno stehen auf italienischer Seite ebenfalls solche Größen gegenüber. Leider wird in der Kulturpolitik Qualität durch Quote ersetzt. Das geschieht auch in der Kultur und in der Kunst. Hochkultur entsteht nicht durch Macht, sondern durch herausragende Individuen und Gruppen, die aus dem Volk hervorgehen, die über dieses hinausgehen, um Kultur am Leben zu erhalten. Für alle alles auf gleiche Weise geht nicht und bringt auch nichts. Es muss klar sein, dass die Quote die Qualität nach unten zieht, leider nicht umgekehrt. In allen Bereichen wird Kultur dort geboren, wo es keine Mehrheit gibt, das ist nicht zielführend, denn Hochkultur bleibt die Tat von Minderheiten. Der Kulturphilosoph Prof. Günter Seubold bezeichnet die Quoten-Kultur sogar als Barbarei – das gegenteil von Kultur. Nietzsche nennt die Quoten-Regierung in kulturellen Angelegenheiten als “Demokratismus”. Seubold bezeichnet sie als paternalistisch-autoritär, undurchsichtig und totalitär. Das Fundament der Kultur liegt in der Sprache. Wenn sie nicht mehr gepflegt wird, steht es 98 schlecht um sie. Man darf sie dabei nicht gewissermaßen als Denkmal pflegen, nur bestaunen. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich die Kultur und Bildungspolitik dessen bewusst ist, dass man sinnvolle Neuerungen nicht aufgrund einer Quote erreichen kann. Norbert Lammert antwortete einmal auf die Frage, was ist typisch Deutsch: die Frage selbst. Kein Volk beschäftigt sich so sehr mit der eigenen Befindlichkeit, vielleicht auch aus der Geschichte heraus. Das betrifft gleichermaßen die Südtiroler. Ein Begriff, den sie sehr deutsch empfinden, ist der Begriff Heimat. Ein Wort, das man eigentlich nicht übersetzen kann. Es gibt keine brauchbare Übersetzung. Heimat, Sprache und Identität sind eng miteinander verwoben, die Sachverhalte und Lebensbezüge hingegen nicht. Dazu hat Erasmus von Rotterdam gesagt: "Meine Heimat ist dort, wo ich meine Bibliothek habe". Das bedeutet nichts anderes als „Ich schaffe mir durch Kultur die Welt selbst“. Aber nicht jeder von uns ist ein Erasmus von Rotterdam. Eine Zugehörigkeit kann man definieren, aber man muss sie vor allem erleben. Man kann sie nicht ersetzen. Wir haben jetzt eine neue Situation mit der Zuwanderung, in Südtirol sind jetzt über 150 Nationen vertreten. Auch in einzelnen Landgemeinden ist der Ausländeranteil sehr hoch und viele Ausländer haben in Südtirol ihre zweite Heimat gefunden. Neue Herausforderungen kommen da auf uns zu. Im neuen Integrationsgesetz werden viele Maßnahmen aufgelistet, aber wenig Inhalt vorgesehen. Es hat den Anschein einer Pflichterfüllung. Aber wir haben nicht nur die Pflicht, wir haben auch ein Interesse, die Ausländer zu integrieren. Auch das spielt für die kulturelle Entwicklung eine wesentliche Rolle. Wir haben für die Steuerung der Zuwanderung keine autonome Zuständigkeit. Wie definiert sich Identität angesichts der großen Migrationsströme? Südtirol ist nicht mehr allein ein Land der Deutschen, Italiener und Ladiner, wir haben jetzt auch 45.000 Ausländer hier. Diese Realität gibt der Frage nach der Identität eine neuen Wendung. Politisch betrachtet ist Multikulturalität zwar eine zutreffende Beschreibung des Erscheinungsbildes, nicht aber ein Konzept zur Selbststabilisierung einer modernen Gesellschaft, zumindest nicht wie ich sie mir vorstelle. Dazu passen die Worte von Kurt Biedenkopf: "Wenn eine Gesellschaft multikulturell sein und gleichzeitig ihre eigene Identität nicht verlieren will, braucht sie einen gemeinsamen roten Faden, eine Leitkultur." Grundsätzlich braucht es eine solche Leitkultur als Orientierungsstiftung, wo Menschen unterschiedlicher Kulturen zusammenleben. Das hat auch in Südtirol seine Berechtigung. Multikulturalität entsteht durch Anwesenheit vieler Individuen, die verschiedenen Kulturen angehören. Eine Person kann sich in mehreren Kulturen beheimatet fühlen. Multikulturalität als Gesellschaftsbild entsteht durch viele Individuen, die vielen verschiedenen Kulturen angehören. Wir argumentieren als Südtiroler oft aus der Defensive heraus: die Geschichte, der Faschismus, die Option. Nach 1992 haben wir es versäumt, offensiver auch mit anderen Kulturen umzugehen. D.h. nicht, dass man das eigene verlassen muss. Nochmals zurück zu meinen Erfahrungen beim Zoll,. nach jeder Diskussion mit den Kollegen, habe ich immer gesagt: ihr werdet aus mir keinen Italiener machen, aber ich will aus euch auch keinen Ös- 99 terreicher machen. Aber wir leben im gleichen Land und haben täglich die schöne Aufgabe, dieses gemeinsam zu gestalten, jeder in seiner Kultur und Identität. Daraus kann auch Neues entstehen. Zum Sprachgruppenproporz Folgendes. Zunächst möchte ich in Erinnerung rufen, dass der ethnische Proporz zur Befriedung geführt hat. Wenn wir heute den Proporz so leichtfertig aufheben wollen, dann tun sich selbst die Italiener keinen Gefallen. Heute schützt der Proporz nämlich die Italiener mehr als die Deutschen. Ende der 1990er Jahre haben die italienischen Oberschüler vor dem Landhaus dagegen protestiert, dass Deutsch Maturafach wird. Die italienische Rechte hat den Proporz bekämpft und verteufelt. Das ist heute nicht mehr so. Natürlich hat die Geschichte auch ihre Tücken, nämlich in Zusammenhang mit dem Wahlgesetz: ein Italiener in Innichen kann mit dem neuen Parlamentswahlrecht nie einen Vertreter der eigenen Volksgruppe wählen. Warum haben die Italiener nicht gegen dieses Gesetz protestiert? Warum macht man nicht einen Wahlkreis für Südtirol insgesamt? Die SVP denkt hier nur parteipolitisch, aber nicht volksgruppengerecht. In meiner Heimatgemeinde Mühlbach hatten die Italiener einmal drei Gemeinderäte, heute sind sie im Gemeinderat nicht mehr mit einem eigenen Vertreter dabei. Italiener konzentrieren sich immer mehr auf die Städte. Man sucht also die eigene Kulturgemeinschaft. Menschen wollen grundsätzlich die eigene Kultur leben. Natürlich bin ich für die Aufrechterhaltung von Art. 19 des Autonomiestatuts, muss aber daran erinnern, dass er bereits einmal “uminterpretiert” wurde. Bekanntlich beginnt der Zweitsprachunterricht heute bereits im 1. Grundschuljahr und nicht im 2. wie vom Statut vorgesehen. Der ursprüngliche Sinn war ein Schutzmechanismus, nämlich das Recht auf muttersprachlichen Unterricht festzuschreiben, was für eine ethnische Minderheit von existenzieller Bedeutung ist. Wir haben viele Möglichkeiten des Sprachenlernens, und ich zitiere einen italienischen Berufsschullehrer, der einmal gesagt hat: "Ein Kind mit durchschnittlichem Talent und soviel Unterrichtsstunden in einer zweiten Sprache wie hier in Südtirol kann auch Chinesisch lernen." Es kommt somit auf den Willen und auf die Methode an. Das Beispiel der Eltern ist ebenfalls entscheidend. Die Schule allein kann diese Aufgabe nicht völlig den Eltern überlassen, es muss ein Zusammenwirken, ein gemeinsames Anliegen sein. Pius Leitner, langjähriger Landtagsabgeordneter, Mitbegründer und früherer Obmann der Freiheitlichen 100 Mehr Souveränität der Bürgerinnen und Bürger in einer vollständigeren Autonomie Thomas Benedikter Was bedeutet eigentlich "Souveränität" der Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie? Die Macht geht vom Volk, also von den Staatsbürgern aus, die sie auf bestimmte Zeit an ihre politischen Vertreter in gewählten Institutionen auf verschiedenen Ebenen delegieren. Die politische Legitimation der Vertreter leitet sich von der Wahl ab, aber die Bürger behalten sich das Recht vor, die Entscheidungsmacht an sich zu ziehen, wenn eine Mindestanzahl dies verlangt. Dann kann in einer Volksabstimmung direkt über eine Sachfrage entschieden werden. Auch mit anderen partizipativen Verfahren können Bürgerinnen auf die Politik Einfluss nehmen. Dadurch üben sie Kontrolle aus, legen ein Veto ein, bringen eigene Vorschläge ein, drücken Präferenzen aus. Die Souveränität der Bürger ist die Schranke für Selbstherrlichkeit der Politiker, Übermacht der Parteien, Dominanz organisierter Interessengruppen. Als Bürger treten die Menschen mit ihren Sorgen und Nöten, Wünschen und Werthaltungen auf den Plan, um das Gemeinwesen gemeinsam zu gestalten, korrigieren die Schräglage der ungleich verteilten Macht der Interessengruppen, beschränken individuellen und Gruppenklientelismus, verhindern Parteienwillkür. Die Entwicklung der Südtiroler Autonomie war aus geschichtlichen Gründen bisher von oben, von einer kleinen politischen Elite gesteuert. Diese genoss zwar über Jahrzehnte breite Legitimation über eine alles beherrschende Volkspartei, doch wurde die Mitbestimmung der Bürger als Ausdruck ihrer Souveränität klein geschrieben. So gab es bis 2005 keine praktikablen Rechte für direkte Demokratie, dann erst ein unzureichendes Landesgesetz und 2009, 61 Jahre nach Einführung der Demokratie, kam es zur ersten landesweiten Volksabstimmung. Der Kampf um die Autonomie bestimmte bis weit in die 1980er Jahre die Agenda und drängte den politischen Pluralismus in den Hintergrund. Später fühlten sich die deutschen und ladinischen Südtiroler immer weniger von der SVP vertreten, und seit fast 20 Jahren gibt es wachsende Bestrebungen, als Bürger von unten in politischen Fragen direkt mitbestimmen zu können. Die krasseste Beschränkung von Bürgermitbestimmung gibt es in der Gestaltung des Autonomiestatuts, also der Grundregeln der Landesautonomie, des Verhältnisses zu Rom und der Sprachgruppen untereinander. Dies hat wiederum geschichtliche Gründe, aber auch die Annahme, dass ein derartiger ethnischer Konflikt nur auf Ebene der Eliten gelöst werden könne, nämlich durch Verhandlungen von Parteispitzenvertretern in Abstimmung mit der Schutzmacht Österreich. Der zwingende Weg der Diplomatie und Verhandlungen kann nicht dazu führen, die betroffenen Bürger von der direkten Mitwirkung bei der Gestaltung der "Landesverfassung" auf Dauer auszuschließen, und dem Landtag als Bühne des poli- 101 tischen Pluralismus des Landes nur minimale Rechte hat zuzuordnen (kein eigenständiges Initiativrecht, kein Vetorecht, kein Recht der Opposition auf Vertretung in den paritätischen Kommissionen, keine Aktivierung der 138er-Kommission, keine Einbeziehung in Staat-LandVerhandlungen bei wichtigen Finanzabkommen usw.). Die Bürger haben erst seit 2001 ein im Statut verankertes Recht auf Volksinitiative, das durch landesgesetzliche Regeln nur schlecht eingelöst wird. Dabei leidet Südtirol unter einer in ganz Italien und allen Regionen restriktiven Regelung der direkten Demokratie, die weder die echte Volksinitiative noch das bestätigende Referendum kennt. Dies muss bei einer Autonomiereform in mehrfacher Hinsicht mutig geändert werden. Schon im Verfahren zur Änderung des Grundgesetzes der Autonomie braucht es eine direkte Mitwirkung der Bürger, damit sie sich mit dem neuen Autonomiestatut identifizieren können. Im Statut selbst müssen verschiedene Grundrechte auf Beteiligung als Ausdruck der Bürgersouveränität verankert werden. Darauf aufbauend muss die Landesgesetzgebung in verschiedenen Bereichen den Bürgern ein anwendbares Instrumentarium der Mitbestimmung und Beteiligung an der Politik bieten, um die Bürger von der tradierten Bevormundung von oben zu befreien und Souveränität besser zur Geltung zu bringen. Welche Mitbestimmungsrechte müssen nun - über die Möglichkeiten der landesgesetzlichen Regelung der Volksabstimmungen hinaus - auch im Autonomiestatut verankert werden? Eine kurze Übersicht über die wichtigsten Rechte: 1. Die Volksinitiative für sog. Regierungsformgesetze. Die im Art. 47, Abs.4 des Autonomiestatuts vorgesehene Zuständigkeit für die Regierungsformgesetze (Direkte Demokratie und Wahlgesetz) ist bezüglich der Regelungskompetenz in Südtirol unklar festgelegt. Ist ausschließlich der Landtag für diese Gesetze zuständig, während die Wähler nur das bestätigende Referendum ausüben können? Die echte Volksinitiative muss im Autonomiestatut für alle Landesgesetze (also alle Landeskompetenzen) klar festgeschrieben werden. 2. Einführung der Statutsinitiative des Landtags und der Bürger und Bürgerinnen. Das Initiativrecht zur Abänderung des Autonomiestatuts soll nicht nur dem Parlament und dem Regionalrat (Vorschlagsrecht), sondern auch getrennt den beiden Landtagen (mit qualifizierter Stimmenmehrheit) und den Bürgern der beiden Länder zustehen. Eine Mindestanzahl von BürgerInnen soll dem Parlament eine Initiative vorlegen können; wenn diese binnen einer festgelegten Frist nicht behandelt wird, kommt es in Südtirol zur Volksabstimmung nach dem Modus der doppelten Mehrheit (vgl. Volksbegehren der Initiative für mehr Demokratie). 3. Stärkung der Rolle des Landtags. Bei verschiedenen Schritten der Änderung des Autonomiestatuts soll der Landtag wesentlich aufgewertet werden. Die paritätischen Kommissionen sollen zu "Vermittlungsausschüssen" zwischen dem Parlament und dem Landtag werden, nicht aus Beamten oder externen Experten bestehen, sondern aus gewählten Politikern, da sie eine legislative Funktion inneha- 102 ben. Der Landtag muss ein Abwehrrecht (Vetorecht) bei Änderungen des Statuts durch das Parlament erhalten. Im Grunde müssen auch die Regionen mit Sonderstatut Statutshoheit erhalten, also eigenständig mit qualifizierter Mehrheit ihr Autonomiestatut abändern, was in einem weiteren Schritt vom Parlament ratifiziert oder abgelehnt (rückverwiesen), aber nicht modifiziert werden kann. Im Autonomiestatut muss das Recht des Landtags verankert werden, bei umfassender Revision des Autonomiestatuts einen Landeskonvent einzusetzen. Das Nähere dazu regelt ein Landesgesetz. 4. Neufassung des Autonomiestatuts im Art. 104: auch die Finanzregelung soll Verfassungsrang erhalten, also nicht mehr mit einfachem Staatsgesetz nach Erzielung des Einvernehmens zwischen Landesregierung und Staatsregierung abänderbar sein, sondern nur mit normalem Änderungsverfahren (Art. 138 Verf.) und unter Einbeziehung des Südtiroler Landtags. 5. Einführung des bestätigenden Referendums für Autonomiestatutsänderungen. Laut Art. 138 der Verfassung haben 1/5 der Abgeordneten, 5 Regionalräte oder 500.000 Wahlberechtigte das Recht, bei Verfassungsänderungen, die das Parlament ohne ZweiDrittel-Mehrheit beschlossen hat, ein bestätigendes Referendum zu erwirken. Dieses Recht fehlt auf regionaler und auf Landesebene. Zwar wird durch Art. 103, Abs. 4 Autonomiestatut ein nationales Referendum über Autonomiestatutsänderungen ausgeschlossen, doch das echte Gegenstück auf Landesebene zum Italien-weiten Verfassungsreferendum fehlt. 6. Übertragung der Statutshoheit ans Land Südtirol (wie bei Regionen mit Normalstatut). Damit erhält Südtirol die Möglichkeit der eigenständigen Reform des Statuts mit qualifizierter Mehrheit, unter Beibehaltung des Verfassungscharakters des Autonomiestatuts (also Notwendigkeit der nachfolgenden Verabschiedung, sprich Ratifizierung der Statutsänderungen durch das Parlament). 7. Übertragung der Demokratie-relevanten Kompetenzen von der Region auf die Autonomen Provinzen: die für die demokratischen Spielregeln relevanten Zuständigkeiten, die derzeit noch bei der Region verblieben sind (Politikergehälter, Gemeindeordnung) sollen unabhängig von der Reform der Region an die Länder übertragen werden. 8. Verankerung des Rechts auf Volksabstimmungen in Souveränitätsfragen. Eine solche Statutserweiterung wird zwar wegen Verfassungswidrigkeit (Art. 5 Verf.) kaum im Parlament konsensfähig sein, ist aber theoretisch denkbar und demokratisch begründbar. Eine Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit Südtirols muss allerdings an ein qualifiziertes "doppeltes Mehr" geknüpft werden, nämlich an die absolute Stimmenmehrheit auf Landesebene, und an die Mehrheit innerhalb der Sprachgruppen nach dem Vorschlag der INITIATIVE FÜR MEHR DEMOKRATIE (vgl. POLITiS-Expertise Nr.1.2014, auf www. politis.it). Eine Reihe weiterer für die Qualität der Bürgerbeteiligung, Unabhängigkeit öffentlicher Institutionen und Kontrollmöglichkeiten der Bürgerinnen wichtige Rechte und Einrichtungen 103 können über Landesgesetze neu oder besser verankert werden. Hier eine nicht erschöpfende Auflistung solcher Möglichkeiten, die Bürgerbeteiligung an der Politik zu fördern und die politische Machtausübung in Südtirol zu demokratisieren: - Verabschiedung eines bürgerfreundlichen Wahlrechts mit Einführung des Rechtes auf Briefwahl und elektronische Abstimmung für alle Wähler unabhängig vom Wohnort, Reduzierung der Kosten von Volksabstimmungen durch organisatorische Innovation. - Neuregelung der Entlohnung der Politiker und Parteienfinanzierung (durch Landesgesetz, nach Übertragung dieser Zuständigkeit von der Region ans Land), wobei auch diese Landesgesetze im Unterschied zu heute den Mitbestimmungsrechten (Referendum und Volksinitiative) unterworfen sein müssen. - Erweiterung der demokratischen Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger durch eine gute Regelung der direkten Demokratie mit Landesgesetz mit der gesamten Palette direkter Demokratie nach dem Muster der besten Regelungen, die sich anderswo bewährt haben. - Schaffung eines Rechts auf Transparenz aller öffentlichen Behörden, die in Südtirol tätig sind; Recht auf Einsicht in alle Akten der öff. Verwaltung (neues Transparenz-Landesgesetz). - Schaffung einer kompetenten Stelle beim Land zur aktiven Förderung aller Formen moderner Bürgerbeteiligung auf Landes- und Gemeindeebene (nach dem Muster des Vorarlberger "Zukunftsbüros"). - Durch Ämtertrennung und strenge Regelung der Unvereinbarkeiten soll die Unabhängigkeit der öffentlichen Verwaltung gewährleistet und verstärkt werden. - Einführung des Verfahrens der formalen Anhörung ("Vernehmlassung") der Bürger und Verbände vor der Verabschiedung von Gesetzen und Großprojekten. Dadurch Eindämmung des Hinterzimmer-Lobbyismus. - Einführung des Finanzreferendums auf Gemeindeebene: ab einem bestimmten Ausgabevolumen muss auf Verlangen von z.B. 10% der Bevölkerung ein Volksentscheid abgehalten werden. Einführung des Bürgerhaushalts. - Generelle Abschaffung des Beteiligungsquorums auf Gemeinde- wie auf Landesebene. - Beteiligung der Bürger an der Aufsicht der Steuerbehörden: die zukünftige Landesagentur für Einnahmen soll eine Kontrollinstanz in Vertretung der Steuerzahler erhalten, die aus Vertretern der Sozialpartner, des Verbraucherschutzes, wichtiger Verbände und der Steuerzahler bestehen kann. - Energieversorgung: organisierte Mitsprache und unabhängige Vertretung der Bürgerinnen und Verbraucher in den öffentlichen Unternehmen der Energieversorgung. Genossenschaftliche Organisation, getragen von den Gemeinden mit Vertretungsrechten der Verbraucherorganisationen. - Neue Formen der Einbeziehung der Bürger und Bürgerinnen in Planungsprozesse, z.B. durch Bürgerräte und Beteiligung im Vorfeld der Verabschiedung der Pläne und Fachpläne, vor allem des Landesentwicklungsplans. 104 - Ausbau und Absicherung der Autonomie der Schulen. - Ausbau der Gemeindeautonomie, vor allem durch mehr finanzielle Unabhängigkeit der Gemeinde durch eigene direkte Steuern und Einnahmen. - Einführung des Fachs Politik- und Sozialkunde an allen Schultypen der Oberstufe. - Schaffung einer öffentlichen Einrichtung für die Überwachung von Pluralismus und Fairness im Medienwesen. Trennung von Medien, Parteien und politischen Ämtern; Gewährleistung der Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen RAI Südtirol. - Unabhängiger Beirat im kulturell-wissenschaftlichem Bereich für eine faire Vergabe von Fördermitteln. - Autonomer Landes-Rechnungshof, nicht von der Landesregierung ernannt, sondern als Teil der Judikative, zur Prüfung der Rechtmäßigkeit, Sachbezogenheit und Sparsamkeit der öffentlichen Ausgabengebarung, - Besetzung auch der führenden Positionen bei Gesellschaften in öffentlichem Mehrheitseigentum durch öffentlichen Wettbewerb; Vermeidung von Ernennungen von Spitzenpositionen, was Abhängigkeit und Nepotismus fördert. - Unabhängigkeit auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit, keine politisch ernannten Richter im Staatsrat und Verwaltungsgericht, sondern Berufung durch normalen RichterWettbewerb. In Tirol ist schon am 8. Jänner 1342 im "Großen Freiheitsbrief" das Mitspracherecht der Volksvertreter verbrieft worden, sowie keine ungewöhnlichen Steuern ohne Rat und Bewilligung der "Landleute" zu erheben, ihre Zustimmung zu neuen Gesetzen einzuholen und das Land nach dem "Rat der Besten" zu regieren. Damals war das eher die Idealvorstellung von "landständischer Verfassung", die später als neue Landesordnung 1404 betätigt wurde. 1406 erneuerten die Habsburger die sog. Tiroler Freiheiten, nämlich das Recht aller Stände, bei der Regierung des Landes mitzureden. Seit etwa 1420 sind die Tiroler Stände zusammengetreten, unter dem Vorsitz des "Hauptmanns an der Etsch", später Landeshauptmann genannt. Zu einer Ausformung der direkten Demokratie wie in der benachbarten Eidgenossenschaft kam es allerdings nie. 600 Jahre später wäre es Zeit, an diese Tradition anzuküpfen und auch die heutige Landesverfassung im Sinne demokratischer Bürgersouveränität neuen Erfordernissen anzupassen. Dr. Thomas Benedikter, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Publizist, in der politischen Bildung und Forschung tätig, Mitbegründer und derzeit Leiter der Sozialgen. POLITiS für politische Bildung und Forschung. 105 Für eine Autonomie der Bürgerinnen und Bürger Riccardo Dello Sbarba Aus den Daten der Online-Umfrage von POLITiS geht hervor, dass 40% der Teilnehmer den Proporz bei der Vergabe von Sozialleistungen abschaffen wollen. Das zeigt, dass viele Südtiroler über die tatsächliche Anwendung des Proporzes nicht gut Bescheid wissen, denn bei den Sozialleistungen ist mit Ausnahme des Sozialwohnbaus der Proporz schon fast durchgehend abgeschafft. In der Sozialpolitik ist das Prinzip des Bedarfs ausschlaggebend, nicht die Sprachgruppe. Auch beim Stellenproporz wird der Proporz in den letzten Jahren immer flexibler angewandt und könnte eigentlich ganz überwunden werden. Doch ist der Proporz in unserer allgemeinen Vorstellung noch als ein starres Verteilungsprinzip verankert, was der Realität schon längst nicht mehr entspricht. die Autonomie, den Frieden und das Zusammenleben tut not. Es wirklich höchst an der Zeit für eine Reform, die die Bürger einbezieht, sonst laufen wir Gefahr, alte Konflikte und Risse wieder heraufzubeschwören. Unsere Autonomie ist sicher aus der Notwendigkeit entstanden, gerechtere Verhältnisse zu schaffen, die deutsche und ladinische Minderheit zu Schützen und das ihnen in Vergangenheit angetane Unrecht wieder gutzumachen: 1. Eine Kulturautonomie und das Recht auf die Muttersprache, also Schutz gegen Zwangsassimilierung und Italianisierung; 2. Gleichberechtigter Zugang zum öffentlichen Dienst ohne Diskriminierung. Um diese Ziele zu erreichen enthielt das 2. Autonomiestatut einige “positive Aktionen”, die auf die Wiederherstellung der Chancengleichheit in allen Bereichen abzielte. Diese Instrumente waren vor allem die nach Muttersprachen getrennte Schule, der Proporz und die Sprachgruppenerklärung. Trotz der Nähe der Landespolitik zu den Bürgern und der raschen Reaktion der Politik auf soziale Veränderungen, ist die Landesautonomie immer auf sozusagen diplomatischer Ebene zwischen Rom und Bozen verhandelt worden, wobei die Regisseure in der 6erbzw. in der 12er-Kommission saßen. Alle wesentlichen Entscheidungen wurden auf dieser Ebene der Regierungen in Rom und Bozen getroffen, die in einer Art Geheimdiplomatie alles Wesentliche fixierten. Doch später haben auch die anderen Regionen mitbekommen, welche Spielchen hier gespielt werden und haben den Provinzen Bozen und Trient manche Abmachungen übel genommen. Die Reform der Autonomie kann nun nicht bloß als eine Art Einkaufsliste betrachtet werden. Zunächst müssen die Ausgangslage erfasst und die Grundwerte definiert werden. Im Autonomiestatut gibt eine ganze Reihe von Bestimmungen, die inzwischen von den Bürgern “verdaut” worden sind. Als ich in Südtirol angekommen bin, habe ich als Toskaner und Weltbürger rasch gemerkt, dass ich hier Italiener werden musste. Für mich war es eine Art Schock, dass diese Festschreibung Auswirkungen auf Rechte und Zugangschancen zu Ressourcen hatte. Mit der Zeit habe ich verstanden, dass es hier um eine sog. Positivdiskriminierung ging, vergleichbar etwa mit den Quotenregelungen für Frauen. Nach 20 Jahren Faschismus und weiteren 20 Jahren zentralistischer DC-Politik sollten die Rechte der deutschen Minderheit wieder hergestellt werden. Somit schuf man “diskriminierende” Maßnahmen, die vom Prinzip der Gleichheit aller Bürger abweichen und ein Korrektiv einführen, wie eben den Proporz, der seinerseits zwecks Anwendbarkeit die Sprachgruppenerklärung erfordert. Man hat gewisse Grundrechte und Grundfreiheiten der Einzelnen geopfert, um die Rechte eines Kollektivs zu schützen. Lange Zeit wurde also der Proporz angewandt mit der positiven Auswirkung, dass wieder Gleichheit geschaffen wurde. Auf politischer Ebene haben diese Maßnahmen einen Erdrutsch hin zur Rechten ausgelöst: die Italiener wählten den MSI (Movimento Sociale Italiano), doch alles blieb innerhalb des demokratischen Rahmens, weil Südtirol die Ressourcen hatte, alle zufrieden zu stellen. Diese Methode hatte jedenfalls zur Folge, dass die Bürger ihre Möglichkeiten der Mitwirkung bei Autonomiefragen und Zusammenleben als sehr begrenzt wahrnehmen mussten. Der Autonomiekonvent soll nun diese elitär-diplomatische Methode ändern hin zu mehr Bürgerbeteiligung. Er müsste demnach einen partizipativen Prozess in Gang setzen, der es den Bürgern erlaubt, sich mit dieser Autonomie wirklich zu identifizieren. Dies wäre eine historische Chance, sich als Bürger und Bürgerinnen dieses Landes in die Augen zu schauen und sich direkt über die Gestaltung der Grundregeln abzustimmen, gar einen Pakt fürs Zusammenleben zu schließen. Abschied von der Geheimdiplomatie und eine neue Phase, die Autonomie der Bürger, ist angesagt. Ein Verfassungsabkommen für In jeder Verfassung weltweit werden solche “Positivdiskriminierungen” für eine bestimmte Frist aufgelegt, nicht für die Ewigkeit. Sie gehören sicher nicht zu den besten aller denkbaren Maßnahmen und Regeln. Das Problem besteht nun darin, dass diese Maßnahmen heute auf Dauer angelegt werden, während der Proporz eigentlich nur 30 Jahre, also bis 2002 in Kraft hätte bleiben sollen. Die Aufrechterhaltung dieses Regulierungsprinzips (“Besser genau aufteilen, um gut miteinander auszukommen”), ist zwar ist zwar inzwischen im allgemeinen Bewusstsein stark verwurzelt, macht den Ergebnissen der Autonomie dennoch keine Ehre, ist doch ein erhebliches Maß an Selbstregierung, an Souveränität der Bürger und an Verwurzelung der Institutionen gelungen. 95% der politischen Entscheidungen, die unser Im Vergleich mit anderen Regionen Italiens ist die Politik in Südtirol ziemlich bürgernah und reagiert relativ schnell auf Änderungen in der Gesellschaft. Während der Ära Durnwalder galt z.B. das Motto “Tut es, aber sprechen wir nicht darüber” und die Bürger haben in gewisser Weise diese Haltung übernommen. Der Immersionsunterricht ist in den italienischen Schulen gepflegt worden, aber es ist kaum darüber gesprochen worden. Man erfand das Kürzel CLIL, und unter diesem Deckmantel ist die Immersion zulässig. Dies spricht Bände über die Entwicklung der letzten 30 Jahre. 106 107 Alltagsleben mitbedingen, werden vor Ort getroffen, während Rom kein großes Problem darstellt. Wenn schon Eingriffe von außen, dann kommen sie eher aus Brüssel. Somit müssten wir uns heute fragen: schützt uns eher das Instrument des Proporzes, der im Kern schon überholt ist und immer wieder von der Landesregierung mit Ausnahmen relativiert wird, oder ist es nicht eher die Selbstregierung? Aus meiner Sicht ist es die Selbstregierung, nämlich die Tatsache, dass wir in einem guten Maß gemeinsam die Herren im eigenen Haus sind. Die Autonomie müsste eigentlich mit zwei rechtlichen Dimensionen funktionieren: zum einen die persönlichen Rechte (Freiheit und Gleichheit), zum anderen die Gruppenrechte (Trennung, oder eigenständige Entwicklung). Beide Dimensionen können dem Maß unserer autonomen Selbstregierung angepasst werden. Je mehr wir Selbstregierung erreichen, desto weniger Proporz benötigen wir, desto weniger ethnische Zugehörigkeitszählung. In einigen Bereichen ist es bereits so, doch ein weiter Weg liegt noch vor uns, wie z.B. die zweisprachige Schule für all jene, die sie wünschen. Die Ergebnisse der ersten Versuche in diese Richtung sind zwar gut, aber noch nicht konsolidiert. Die Kinder besuchen heute nach Sprache getrennte Schulen, haben getrennte Freundeskreise und dort entsteht der Südtiroler deutscher, italienischer und ladinischer Muttersprache, mit dem jeweiligen AutonomiePatriotismus. Doch gerade in den Freundschaften lernt man gegenseitige Wertschätzung. Ich kann auch die Zweisprachigkeitsprüfung absolvieren, um einen Arbeitsplatz zu erhalten, doch das reicht nicht, um die Sprache wirklich zu beherrschen und zu schätzen. Meine Vision ist also jene, mehr Selbstregierung zu gewinnen und weniger Trennung, mehr Selbstregierung und mehr Freiheit, also weniger Zwänge für den Einzelnen, um Zugang zu den Ressourcen zu erhalten. Weniger Zwänge für den Einzelnen, sich mit einer Gruppe identifizieren zu müssen. Ich bin überzeugt, dass das der richtige Weg ist und dass die Früchte der Autonomie reif sind, und nicht faulen dürfen. Daraus leite ich folgende Vorschläge ab: 1. Neben den nach Muttersprache getrennten Schulen soll ein zusätzliches Angebot einer mehrsprachigen Schule geschaffen werden, wo Italiener, Deutsche und Ladiner als Lehrpersonen und vor allem als Studierende zusammenarbeiten, damit sich gemischte Freundschaften jenseits des “ihr dort” und “wir hier” entstehen können. 2. Mein zweiter Vorschlag ist die Flexibilisierung des Proporzes in jenen Bereichen, wo ein Gleichgewicht erreicht worden ist. Dies bedeutet: der Proporz kann in all jenen Bereichen ausgesetzt werden, wo er verwirklicht ist. Alle fünf Jahre kann überprüft werden, ob die sprachliche Zusammensetzung vom Proporz abweicht. Sollte dies im Ausmaß von mindestens 10% der Fall sein, sollen die Ursachen überprüft werden, also ob Formen von Diskriminierung oder Benachteiligung vorliegen. Dann kann der Proporz für einen bestimmten Zeitraum wieder aktiviert werden. . Damit würde eher zur einer Notbremse, und nicht zur Lokomotive. 3. Der dritte Vorschlag betrifft die Sprachgruppenerklärung und ihre Abänderung, die noch einem gewissen Generalverdacht gegenüber der Bürger ausgeht, nämlich als Opportunisten verdächtigt. Bei der Volkszählung ist diese Erklärung schon anonymisiert worden, doch für all jene, die diese Erklärung nicht abgeben, gibt es Sanktionen gegenüber vermeintlichen 108 “Opportunisten”. Z.B. könnte man es den Personen frei stellen, wann sie die erste Sprachgruppenerklärung abgeben wollen. So gibt es Jugendliche, die mit Erreichen des 18. Lebensjahres es einfach vergessen, diese Erklärung abzufassen. Man bemerkt dieses Erfordernis erst, wenn man erstmals an einem Wettbewerb teilnimmt und einen Arbeitsplatz sucht. Die erste Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung sollte also ganz frei sein, d.h. der Bürger sollte sie abgeben könne, wann immer es ihm selbst geboten erscheint. 4. Der vierte Vorschlag ist jener, die Bürger nach ihrer Umgangssprache zu fragen. Heute wird im Rahmen der Volkszählung alle 10 Jahre für statistische Zwecke gefragt, welcher Sprachgruppe man angehört. Doch heute werden in Südtirol viel mehr Sprachen gesprochen, nämlich 116. Wir verkürzen die Wirklichkeit, wenn wir Südtirol nach wie vor auf ein Land mit nur drei Sprachen verengen. Dabei ist gar nicht erfasst, wie viele Sprachen die verschiedenen Bürger tagtäglich verwenden und in welchem Kontext sie sie verwenden. Das Problem liegt auch in der verzerrten Wahrnehmung, die wir von unserem Land haben. Wir könnten langsam ein realistischeres Bild gewinnen, das der realen Vielfalt besser gerecht wird. Das würde uns allen gut tun, weil wir Blöcke abbauen und merken, wie viel sprachliche Ressourcen wir haben. Wir haben uns heute in Südtirol eine fortgeschrittene Form von Schutz gegeben: die territoriale Selbstregierung. Die Bevölkerung ist zum Souverän auf ihrem Territorium geworden. Dies gewährleistet sowohl den Schutz der Sprachgruppen wie das Zusammenleben. Der ganze Autonomieprozess hätte von diesem Prinzip geprägt sein können. Je weiter sich die territoriale Selbstregierung (autogoverno) entfaltet, desto mehr können trennende Mechanismen abgebaut werden, desto eher können Maßnahmen, die den Freiheitsraum der Einzelnen beschränken und sie in eine Gruppenlogik zwingen, entfallen. Dies sind einige Punkte, wo die Zeit reif ist für eine Reform, überreif. Wird der angekündigte Konvent das dafür geeignete Instrument darstellen? Der vorliegende Vorschlag zielt ganz auf eine institutionelle Zusammensetzung dieses Konvents ab, die für eine größtmögliche Bürgerbeteiligung an der Erstellung des neuen Grundgesetzes nicht geeignet ist. Die Autonomie darf nicht mehr bloß den diplomatischen Verhandlungen zwischen Bozen und Rom überlassen bleiben, sondern soll eine Weiterentwicklung im Zusammenleben der Bürger und Bürgerinnen dieses Landes unter Einschluss der Migrantinnen sein. Die neue Autonomie darf jedenfalls nicht allein den Politikern und Professoren überlassen bleiben. Riccardo Dello Sbarba, Journalist, Landtagsabgeordneter der Grünen 109 Autonomiereform und Partizipation und Umsetzungsprozessen stattfinden kann; in denen Individualität und Vielfalt wertgeschätzt und die Lebensfreude gestärkt wird. Bernd Karner Im Partizipationsprozess sind Beziehungsebene (Qualität des Dialoges) und Ergebnisrelevanz (Grad der Zielerreichung) gleichermaßen wichtig. Der Qualität des Dialogs bzw. der Beziehungsebene wird oft nicht hinreichend Bedeutung zugeschrieben. Dieser Aspekt wird von Entscheidungsträgern in Politik und Verwaltung häufig unterschätzt. Es handelt sich hier um den bildungsrelevanten Aspekt der Teilhabe und der Beteiligung am Gemeinwesen, der mit der Art und Weise zu tun hat, wie Menschen miteinander umgehen, wie sie sich verständigen, ihre Konflikte austragen und wie sie schließlich zu Entscheidungen gelangen. Aus dieser Sicht ist die Partizipationskultur ein Lernprozess: sie ist Bewusstseinskultur. Die Einübung von Toleranz und Respekt in demokratischer Dialektik kann auf individueller Ebene mehr Zufriedenheit bewirken und auf gesellschaftlicher Ebene die soziale Kohäsion festigen, die gerade in Krisenzeiten für die Bewältigung der Herausforderungen unverzichtbar ist. Wörter wie Bürgerbeteiligung, Teilhabe oder Partizipation sind zurzeit in aller Munde. Dass es sich dabei häufig nur um wirkungs- und harmlose rhetorische Hilfsmittel für Sonntagsreden handelt, ist hinreichend bekannt. Was bedeutet aber Partizipation für die verschiedenen Teilbereiche unserer Gesellschaft und was insbesondere für die Festigung und den Ausbau unserer territorialen Autonomie? Mit dem Begriff Partizipation meinen wir nicht nur politische Gestaltung, verstehen wir nicht nur Verfahren, die mehr Demokratie zulassen. Vielmehr geht es um den Umgang der Menschen miteinander. Das heißt letztlich um eine Steigerung der Qualität in den Beziehungen, die wir zueinander pflegen. Autonomie ist ebenso wie Partizipation kein Selbstzweck. Territoriale Autonomie ist nur dann sinnvoll, wenn dadurch die Lebenschancen der Menschen besser gedeihen können. Dass dies in kleinräumigen und übersichtlichen Gebilden besser funktionieren kann, liegt auf der Hand. Voraussetzung dafür sind aber subsidiäres Denken, Leiten und Handeln, denn der Zentralismus eines kleinen, abgeschotteten Fürstentums ist hierfür nicht förderlich. Nach dem Prinzip der Subsidiarität sollten Aufgaben, Handlungen und Problemlösungen möglichst von der einzelnen betroffenen Person selbst ausgehen. Wo dies nicht möglich ist, von privaten Einrichtungen, von der kleinsten Gruppe, die den Betroffenen am Nächsten steht oder der untersten Ebene einer Organisationsform. Dazu müssen drei Voraussetzungen gegeben sein: Verantwortung, Kompetenz und die nötigen Ressourcen. Ist eine dieser Voraussetzungen nicht gegeben, muss das „Subsidium“, also die Hilfestellung, von der nächsten Ebene eingefordert und erteilt werden. Subsidiäres Denken, Leiten und Handeln ist auf Mitverantwortung ausgerichtet, vermeidet Bevormundung und fördert durch die Anerkennung und Wertschätzung vorhandene Fachkompetenzen. Durch das Wechselbad von konflikt- und konsensorientierten Handlungen innerhalb prozess- und ergebnisorientierter Lernprozesse werden die sozialen und emotionalen Fähigkeiten und Fertigkeiten aller Beteiligten nachhaltig gestärkt. Dies stiftet letztlich Gemeinschaftssinn, den wir als gesellschaftlichen Kitt so bitter benötigen. Für sich alleine kann kein Mensch leben. Auch kein Wutbürger kann für sich alleine leben. Die Qualität unserer Beziehungen ist das Vermögen, das sich in Lebenszufriedenheit ausdrückt. Die Herausforderung liegt aber darin, Zugehörigkeit und Wir- Gefühl nicht durch äußere Feindbilder aufbauen zu wollen, sondern durch die Fähigkeit, zum Anderen und zu Fremden Brücken zu schlagen. Partizipation ist auch Teilhabe an der Sichtweise des ANDEREN. Innerhalb des „Netzwerks für Partizipation“ haben wir den Begriff Partizipation wie folgt definiert: bei Partizipation geht es darum, Räume zu öffnen in denen Verständigung gelingen kann (Dialog); in denen die Teilnahme an gemeinsamen Willensbildungs-, Entscheidungs- 110 Unsere Achtsamkeit sollte dabei auf die möglichst egalitäre Gestaltung von Zugangschancen gerichtet sein: unterschiedliche soziale Schichten und ethnische Gruppierungen benötigen unterschiedliche Formen der Unterstützung, um an Beteiligungsprozessen gestaltend mitwirken zu können. Wie wir einer Projektarbeit des Netzwerkes für Partizipation zum Thema „Partizipation in den ländlichen Gemeinden“ entnehmen können, werden partizipatorische Instrumente in Südtirols Gemeinden bisher vorwiegend informell mit dem Ziel der Information und der Konsultation der Bürger/innen genutzt. Es liegt an den Gemeinden, einen wesentlichen Schritt zur Festigung dieser Ansätze zu vollziehen, indem sie die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung in den Gemeindesatzungen verankern und damit die Praxis auf formal begründete Mitspracheformen umstellen. Als Teil einer modernen Partizipationskultur können Formen der Überantwortung von Entscheidungsverantwortung an die Bevölkerung entwickelt werden, die hierzulande noch kaum bekannt und erst in Pilotprojekten in Erprobung sind, wie z.B. der Bürgerhaushalt. „Beteiligung ist immer politisch und kann nicht nur von den politischen Instanzen gewünscht werden. Es muss auch zugelassen werden, wenn sich BürgerInnen einmischen und mitbestimmen wollen. Demzufolge muss auch Macht abgegeben werden. Gerade diese Bewegungen von unten bergen viel Potential für gesellschaftliche Entwicklung. Diese Bürgerinitiativen organisieren in erster Linie Bildungsprozesse und diese werden von den diversen Bildungsträgern nicht als solche erkannt. Zukünftig gilt es, diese „Bildungsprozesse von unten“ anzuerkennen, sie zu unterstützen und ihnen Raum und Gewicht in der Bildungslandschaft zu geben.“ (Zitat aus dem Projekt „Partizipation in den Landgemeinden“). Wenn wir diese Erkenntnisse als Wasser auf die Mühlen der Autonomieentwicklung lenken wollen, so sollte der geplante Konvent zur Ausarbeitung des dritten Autonomiestatuts beteiligungsorientiert gestaltet werden. Dafür sollte ein einschlägiges Konzept partizipatorisch 111 entwickelt werden, in dem Fachkompetenz, Betroffenenkompetenz und Methodenkompetenz ausgewogen einfließen können. Um aber dazu einen geeigneten Ablauf und zielführende Methoden zu erarbeiten, müsste zuerst der politische Rahmen des Konvents selbst geklärt werden. 1) Der Konvent ist mit einem Landesgesetz zu beschließen, das die Verfahrensdetails definiert. Also müsste hier in Vorfeld auf das Zustandekommen dieses Gesetzes Einfluss genommen werden. Hier geht es darum, den partizipatorischen Prozess im Rahmen des Konvents zur Autonomiereform von der Struktur und der methodischen Ausgestaltung zu definieren und im entsprechenden Landesgesetz zu verankern. 2) Bereits dieses Gesetz sollte auf der Basis eines breiten Partizipationsprozesses erarbeitet werden. Dazu müssen wir der Frage nachgehen, wie dazu Ideen, Vorschläge eingebracht werden können. Die vom SBZ organisierte und von POLITiS durchgeführte Bildungsinitiative zur Autonomieentwicklung ist dafür schon eine Art Ideenwerkstatt. Wie könnte dieser Prozess nun weitergetragen und weitere Kreise der Bevölkerung erreichen? 3) Zuallererst ist zu klären, ob es sich um einen direkt gewählten Autonomiekonvent mit freier Kandidatennominierung, um einen vom Landtag nominierten „Rat der Weisen“, oder um einen angemessenen Mix von Beidem handelt? 4) Unabhängig davon wie die politische Entscheidung dazu ausfällt, geht es immer um die Bereitstellung von angemessenen Räumen des Dialoges, wo relevantes Wissen durch entsprechende Fragen aufgespürt, vorgestellt und erörtert werden soll. Es geht um Wissenspräsentation und Wissensmanagement. Dies kann und soll auf mehreren Ebenen der Beteiligung erfolgen. Wissen bezeichnet die Gesamtheit der Kenntnisse und Fähigkeiten, die Individuen zur Lösung von Problemen einsetzen. Dies umfasst sowohl theoretische Kenntnisse als auch praktische Alltagsfragen und Handlungsanweisungen. Wissen stützt sich auf Daten und Informationen, ist im Gegensatz zu diesen jedoch immer an Personen gebunden. Es wird von Individuen konstruiert und repräsentiert deren Erwartungen über Ursache-WirkungsZusammenhänge (Probst, Raub, Romhardt, 2006, 22). Wissensmanagement bezeichnet den bewussten und systematischen Umgang mit der Ressource Wissen und den zielgerichteten Einsatz von Wissen in der Organisation. Damit umfasst Wissensmanagement die Gesamtheit aller Konzepten, Strategien und Methoden zur Schaffung einer „intelligenten“, also lernenden Organisation. In diesem Sinn bilden Mensch, Organisation und Technik gemeinsam die drei zentralen Standbeine des Wissensmanagements. Wie kann nun ein Konvent von 40 bis 50 Personen mit relevanten Fragen und dem Wissen aus der organisierten Zivilgesellschaft und der Bürgerschaft gespeist bzw. angeregt werden? Wie können Fachwissen und Expertenwissen aus Politik, Wissenschaft und Verwaltung angezapft werden? Hinreichend bekannt, aber nicht immer ausreichend nachvollzogen und umgesetzt, ist der Austausch von Fach- und Expertenwissen durch Formen moderierter in- 112 terdisziplinärer Fachseminare in den jeweiligen Landessprachen, Dialogrunden, Expertenhearings, World Cafés, Erhebungen durch Fragebögen und Interviews usw. Das Aufspüren von Betroffenenwissen und deren relevanten Fragen kann zusätzlich zu den Formen der Zukunftswerkstatt, den Dialogrunden an themenbezogenen Tischen, Open Space usw. und der Vielfalt von Erhebungen auch durch Crowdsourcing erleichtert werden. Diese neuartige Methode wurde durch das Aufkommen des Internet ermöglicht, wo durch die leichte Erreichbarkeit der Nutzer an der Intelligenz des Schwarms, also an der Weisheit der Vielen, angedockt wird. Der hinter dem Crowdsourcing stehende Ansatz geht davon aus, dass die heterogene Masse von individuell entscheidenden Personen die Qualität von Expertenentscheidungen erreichen kann, was sich bereits in der Praxis erwiesen hat. Crowdsourcing wird auch für die Bereiche Wissens-, Ideen- und Innovationsmanagement eingesetzt. Zahlreiche Unternehmen greifen bereits auf das Prinzip des Crowdsourcings für betriebsrelevante Fragestellungen zurück. So benutzen es etwa Siemens und die Deutsche Telekom und Henkel CrowdWorx, um das kollektive Wissen ihrer Mitarbeiter zu sammeln und auszuwerten. Der Bereich der Schwarmkunst nutzt die aktive Einbindung vieler Menschen im Entstehungsprozess für die kollektive Schaffung kreativer Ergebnisse. Fach- und Betroffenenkompetenz kann aber nicht ohne Methodenkompetenz wie in einem Trichter zu einem konsensorientierten Ergebnis zugeführt werden. Um einen Partizipationsprozess in diesem Sinne zu gestalten und durchzuführen, braucht es eine professionelle Begleitung von Personen und Gruppen, die das nötige Erfahrungswissen im Bereich des Methodenwissens mitbringen. Dr. Bernd Karner, Soziologe, Leiter des Instituts Chiron, Mitpromotor der Gruppe Manifest/o 2019, Initiator des Netzwerks für Partizipation 113 Autonomiereform und Direkte Demokratie Stephan Lausch Autonomie und Direkte Demokratie sind komplementäre Begriffe: Direkte Demokratie ist die unmittelbarste Ausübung von Autonomie im eigentlichen Sinn des Wortes: autòs + nomos = Selbstgesetzgebung. Die Frage ist: Wer ist autonom und kann sich selbstgesetzgebend bestimmen? Ist es die politische Vertretung oder ist es das ganze Land mit all seinen Menschen? Eigentlich ist das Autonomiestatut in diesem Punkt seit der Reform von 2001 klar: Autonom sind mit dem neuen Art. 47, der das ganze Spektrum an direktdemokratischen Instrumenten (referendum propositivo, referendum abrogativo, referendum consultivo e proposta di legge di iniziativa popolare) vorsieht, zumindest auch die Bürgerinnen und Bürger selbst. Da ihnen nicht nur explizit mit dem Referendum ein absolutes Kontrollrecht in Bezug auf die Grundgesetze zugestanden ist, sondern auch das Referendums- und Initiativrecht in Bezug auf die einfache Gesetzgebung, sind sie im Prinzip die letzte entscheidende Instanz und damit selbstgesetzgebend. Weshalb nun ist die politische Realität eine andere? Wohl aus dem selben Grund, weshalb im bundesdeutschen Grundgesetz geschrieben steht, dass „alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und sie vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ... ausgeübt wird.“, und dennoch auf Bundesebene keine Volksabstimmungen möglich sind oder in der Verfassung der DDR (1) von 1949 sogar geschrieben stand, dass „jeder Bürger das Recht und die Pflicht hat zur Mitgestaltung in seiner Gemeinde, seinem Kreis, seinem Land und in der Deutschen Demokratischen Republik“ Art. 3, Abs 2), also nicht nur durch die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts, sondern zuallererst durch die „Teilnahme an Volksbegehren und Volksentscheiden“ (Art. 3, Abs. 3) und die DDR dann die Entwicklung genommen hat, die wir kennen. In Deutschland verweigert die CDU, zuletzt nur noch in der Person von Frau Merkel, seit über 60 Jahren ein Verfassungsgesetz, mit dem Volksabstimmungen auf Bundesebene möglich würden, genauso wie in der DDR kein Ausführungsgesetz zu den in der Verfassung festgeschriebenen Mitbestimmungsrechten erlassen wurde. Vom Streben nach einer funktionierenden Demokratie bewegt, vor allem nach der Erfahrung des Scheiterns der Demokratie und deren Ende in totalitären Systemen und Krieg, haben Verfassungsgeber eine vollständig ausgestaltete Demokratie entworfen, ihre Anwender waren dann aber mehrheitlich auch ihre Nutznießer, die diese Demokratie nur so weit praktizierbar gemacht haben, wie sie ihnen zum Vorteil war. Es gilt weiterhin, was Günther Grass anmahnt und wovor er gewarnt hat: „Die Demokratie ist der Pflege der Menschen überantwortet, überlässt man sie denen, die nur unmittelbar Nutzen daraus ziehen, dann ist sie bald verbraucht.“ Auch wir haben doch wieder das Gefühl, dass die Demokratie langsam aber sicher den Bach hinunter geht. 114 Was folgt für uns zuallererst aus dieser sich wiederholenden Erfahrung? Die alles entscheidende Forderung, die uns alle in unseren verschiedenen gesellschaftlichen Zielen einen muss, nämlich dass es die Bürgerinnen und Bürger sein müssen, die die Regeln der Demokratie bestimmen, damit die Demokratie eine Zukunft hat. Ganz sicher dürfen sie nicht einer politischen Mehrheit überlassen werden, die in der Gefahr steht, die Regeln ihrem natürlichen Bestreben nach Machterhalt und ihren Interessen dienlich zu bestimmen. Wenn es also in Zusammen¬hang mit dem Autonomiestatut einen Zweifel gibt, ob Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger darüber, wie Demokratie funktionieren soll, per Volksabstimmung in Kraft oder bestehende Regeln außer Kraft gesetzt werden können (2), dann ist es vor allem anderen notwendig, diesen Zweifel im Zuge der Reform des Autonomiestatutes mit einer einfachen Änderung im Art. 47 aus der Welt zu schaffen.(3) Einzig so würde der Intention des Verfassungsgesetz¬entwurfes und der Ausrichtung der Kommission für Verfassungsangelegen-heiten im römischen Parlament, die Grundlage waren für diesen Artikel, entsprochen.(4) Das Autonomiestatut ist eine Bestimmung unserer Autonomie. Mit ihm ist aber nicht nur der Rahmen festgesetzt, in welchem wir über uns selbst bestimmen dürfen, sondern das Statut ist auch eine inhaltliche Festlegung in vielen wichtigen Fragen. Derzeit wird, der Aussage nach, eine Vollautonomie angestrebt. Damit verbindet man die Vorstellung von einer vollständigen Entscheidungshoheit. Wie vollständig sie dann wirklich sein wird, ist in jeder Hinsicht noch offen. Tatsächlich geht es jetzt aber, wie auch schon bisher nicht nur um eine erweiterte Entscheidungshoheit, sondern auch hier wieder um inhaltliche Festlegungen, die für die politische Realität in unserem Land bestimmend sein werden. So gilt auch hier: Die Hoheit, die politischen Bedingungen zu bestimmen, muss bei den Bürgerinnen und Bürgern liegen indem sie frei wählen können müssen, wen sie mit dieser Aufgabe betrauen wollen. Das ist die Forderung nach einem frei zu wählenden Konvent und zwar mit KandidatInnen, die auch selbst von den Bürgerinnen und Bürger nominiert werden können sollen. Diese Hoheit muss auch darüber hinaus bei ihnen bleiben, indem sie in die Arbeit des Konvents so weit als nur irgendwie möglich einbezogen werden und sie es sind, die in einem Referendum über ihr Ergebnis entscheiden. Warum soll das nicht möglich sein, wenn es, um beim Beispiel DDR zu bleiben, schon 1949 möglich war, dass die Verfassung in über 9.000 Versammlungen, mit 15.000 Resolutionen und 500 Abänderungsanträgen zustande gekommen ist. Wie intensiv Partizipation in einem moderneren Verfassungsreformprozess praktiziert werden kann, zeigt hingegen das Beispiel des Kantons Zürich, in dem vom Jahr 2000 bis 2005 die Kantonsverfassung neu geschrieben wurde (5). Ein gewählter 100köpfiger Verfassungsrat erarbeitete einen ersten Entwurf. Dazu hatte er sich eine eigene Geschäftsordnung gegeben und sich einer Beratung durch drei Professoren der ETH Zürich versichert. Die Arbeit wurde auf 6 Kommissionen aufgeteilt, die in Zwischenberichten dem Plenum über den Fortschritt ihrer Arbeiten berichteten. Das Plenum beriet in fast 30 Sitzungen über die Vorlagen der Kommissionen und stimmte über 100mal über Abänderungsanträge ab. Nach dreijähriger Tätigkeit unterbreitete er der gesamten stimmbe- 115 rechtigten Bevölkerung in Form einer sechzigseitigen Broschüre mit folgender Überzeugung einen ersten Entwurf zur Diskussion und Beurteilung: „Die Stimmberechtigten sollen nicht erst am Schluss Ja oder Nein zu einer Vorlage sagen können, sondern den Entwurf, zu dem sie das letzte Wort haben werden, schon vorher beurteilen, kritisieren und mit Ergänzungen und Alternativen seine Entstehung beeinflussen können. In einer zweiten Lesung wird der Verfassungsrat anschliessend alle Anregungen, Einwände und Kritiken prüfen, diskutieren und bei entsprechenden Mehrheiten in den zweiten Entwurf einarbeiten. Dies wird der Verfassungsrat im Bemühen tun, dass schliesslich in der Volksabstimmung möglichst viele Stimmberechtigte dem Verfassungsentwurf zustimmen können.“ Der Kanton sieht in seiner neuen Verfassung (6) nun folgende direktdemokratischen Volksrechte vor: Das Volk hat selbst direkten Anteil an der Gesetzgebung, indem ihm das Referendums- und das Initiativrecht zukommt. Obligatorische Volksabstimmungen finden bei allen Verfassungsänderungen statt, fakultative Volksabstimmungen bei Gesetzesänderungen, wenn dies von mindestens 3000 Stimmberechtigten (= ca. 0,35%) verlangt wird. Volksinitiativen betreffend Änderung der Verfassung oder eines Gesetzes bedürfen der Unterstützung von mindestens 6000 (= ca. 0,7%) Stimmberechtigten; sie können in Gesetzesform oder als allgemeine Anregung vorgelegt werden; sie unterliegen auch dann der Volksabstimmung, wenn sie vom Kantonsrat abgelehnt werden. Es entscheiden die Abstimmenden unabhängig vom Ausmaß der Beteiligung. Zürcherisches Unikum ist die Einzelinitiative: eine einzelne Person kann dem Kantonsrat eine Gesetzes- oder Verfassungsänderung beantragen, und diese ist der Volksabstimmung zu unterbreiten, wenn sie von einer Mehrheit des Kantonsrates unterstützt wird. Für die Behördeninitiative (zum Beispiel von einem Gemeindeparlament ausgehend) gilt das Entsprechende wie für die Einzelinitiative. Der Wert eines solchen verfassunggebenden- oder Verfassungsreformprozesses, in den weite Teile der Bevölkerung einbezogen sind, ist unschätzbar. Nicht nur entspricht das Ergebnis damit viel eher den Vorstellungen der Bürgerinnen und Bürger, die vertragliche Einigung ist damit auch in der Bevölkerung lebendig und wirklich und nicht nur eine abstrakte Realität, die in ihrer Annehmbarkeit jederzeit in Zweifel gezogen werden kann. Stephan Lausch, Gründer und Koordinator der Initiative für mehr Demokratie (1) Artikel 3 der Verfassung der DDR vom 7. Okt. 1949: (1) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. (2) Jeder Bürger hat das Recht und die Pflicht zur Mitgestaltung in seiner Gemeinde, seinem Kreise, seinem Lande und in der Deutschen Demokratischen Republik. (3) Das Mitbestimmungsrecht der Bürger wird wahrgenommen durch: Teilnahme an Volksbegehren und Volksentscheiden; Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts; Übernahme öffentlicher Ämter in Verwaltung und Rechtsprechung. (4) Jeder Bürger hat das Recht, Eingaben an die Volksvertretung zu richten. (5) Die Staatsgewalt muß dem Wohl des Volkes, der Freiheit, dem Frieden und dem demokratischen Fortschritt dienen. (6) Die im öffentlichen Dienst Tätigen sind Diener der Gesamtheit und nicht einer Partei. Ihre Tätigkeit wird von der Volksvertretung überwacht. Siehe: http://m4ut3.w4yserver.at/de/images/Dokumente%20ext/Verfassung_DDR_1949.pdf (2) Dieser Zweifel wurde erstmals aufgeworfen mit der Entscheidung der Kommission über die Abwicklung von Volksabstimmungen (angesiedelt beim Amt für Institutionelle Angelegenheit der Landesverwaltung der Provinz Bozen), die im August 2010 erstmals (bisher sind verschiedene Kommissionen zum gegenteiligen Ergebnis gekommen) einen Antrag auf Volksabstimmung über einen Vorschlag zur Neufassung eines Grundgesetzes abgelehnt hat. (3) Es würde genügen, wenn folgende Spezifizierung im Art. 47, Abs. 2 erfolgen würde: „… la legge provinciale, approvata dal Consiglio provinciale a maggioranza assoluta dei suoi componenti o con voto referendario determina … “ (4) Parere dell’ex On. Marco Boato in merito all’ammissibilità della proposta referendaria in materia di democrazia diretta: “Nella mia veste di ex-parlamentare per sei legislature, già componente delle Commissioni Affari Costituzionali del Senato della Repubblica (decima legislatura) e della Camera dei deputati (undicesima, tredicesima, quattordicesima e quindicesima legislatura) e nella mia veste di PRIMO FIRMATARIO, nella tredicesima legislatura, della proposta di legge costituzionale Atto Camera n.168 e abb. riguardante la modifica degli Statuti delle cinque Regioni a statuto speciale, e in particolare delle disposizioni statutarie concernenti le Province autonome di Trento e Bolzano, definitivamente approvata ed entrata in vigore come legge costituzionale n. 2 del 2001, esprimo il seguente parere. Né sulla base dei lavori preparatori della legge costituzionale n. 2 del 2001 (ai quali ho interamente partecipato come componente della Commissione Affari costituzionali della Camera dei deputati nella tredicesima legislatura e come primo firmatario della proposta di legge costituzionale n. 168 e abb. in materia), né tanto meno sulla base del dettato del riformato art. 47 dello Statuto di autonomia (novellato dall’art. 4, comma 1, lettera v, della legge costituzionale n. 2 del 2001) si può in alcun modo evincere la esclusione delle materie di cui all’art. 47, comma 2, dello Statuto di autonomia dalla ammissibilità ad essere sottoposte all’iniziativa referendaria di tipo propositivo, introdotta nello Statuto dallo stesso art. 47, così come riformato dall’art. 4 della legge costituzionale n. 2 del 2001.” (5) Öff. Vernehmlassung zum Entwurf des Verfassungsrates für eine neue Verfassung des Kantons Zürich vgl.: http://m4ut3.w4yserver.at/de/images/Dokumente%20ext/vernehmlassungstext_ Kanton_Z%C3%BCrich.pdf (6) Verfassung des Kantons Zürich 2005: http://www2.zhlex.zh.ch/appl/zhlex_r.nsf/0/55E2D9829F971 293C1257B4F002B06C1/$file/101_27.2.05_80.pdf Endnoten 116 117 Modelle für die Weiterentwicklung der Autonomie: der europäische Faktor Esther Happacher I. Einleitung Die Autonomie Südtirols ist in ein Mehrebenensystem eingebettet, in dem die Ebene des Rechts der Europäischen Union eine tragende Rolle spielt. Bereits etwa 60 % des Rechts der Mitgliedstaaten der Europäischen Union werden vom Recht der Europäischen Union determiniert. Dies zeigt auf, wieviel an Souveränität die Mitgliedstaaten im Laufe der europäischen Integration an die Europäische Union übertragen haben. Mit dem Gestaltungsraum der Mitgliedstaaten wird auch der Gestaltungsraum ihrer territorialen Untergliederungen wie Länder und Regionen geringer. Das Recht der Europäischen Union ist durch die Mitgliedstaaten entweder unmittelbar anzuwenden oder auf gesetzgeberischer Ebene bzw. Verordnungsebene umzusetzen und jedenfalls vollumfänglich zu beachten. Ob und in welchem Ausmaß die territorialen Untergliederungen innerstaatlich zur Vollziehung des Unionsrechts zuständig sind, ergibt sich aus der Verfassungsordnung eines jeden Mitgliedstaats. Gegenüber der Europäischen Union ist der Mitgliedstaat für die Beachtung des Unionsrechts verantwortlich. Für das Land Südtirol als Gebietskörperschaft mit verfassungsrechtlicher Gesetzgebungsund Verwaltungsautonomie sind hinsichtlich der Rechtsordnung der Europäischen Union in Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der Autonomie folgende Aspekte von Bedeutung: die Zuständigkeit zur Vollziehung des Rechts der Europäischen Union und zur Beteiligung an dessen Entstehung und damit zusammenhängend die Ausgestaltung der verfassungsrechtlichen Kompetenzen; die Integration des europäischen Faktors in die Beziehungen zwischen den territorialen Ebenen des Autonomiesystems. II. Die Zuständigkeit zur Vollziehung des Rechts der Europäischen Union Längst stellen nicht mehr alle Sachbereiche, die verfassungsrechtlich als autonome Kompetenzen dem Land Südtirol zustehen, autonome Kompetenzen in dem Sinne dar, dass sie die Möglichkeit zu eigenständigen normativen Regelungen innerhalb der verfassungsrechtlichen Vorgaben bedeuten. Verfassungsrechtlich drückt sich die Pflicht des Beachtung des Unionsrechts in folgenden Schranken aus: den internationalen Verpflichtungen gemäß Art. 4 und Art. 5 in Verein mit Art. 8 und Art. 9 DPR Nr. 670/1972 (Autonomiestatut) für die statutarischen Kompetenzen; in der Schranke der Verpflichtungen aus der Rechtsordnung der Europäischen Union gemäß Art. 117 Abs. 1 Verfassung für die neuen Kompetenzen, die auf Art. 10 Verfassungsgesetz Nr. 3/2001 beruhen. Im Verhältnis zum Staat ist das Land Südtirol im Bereich seiner verfassungsrechtlich autonomen Befugnisse für die Vollziehung des Unionsrechts unmittelbar zuständig. Dies wurde be- 118 reits in der Durchführungsbestimmung zum Autonomiestatut DPR Nr 526/1987 anerkannt, die in Art. 6 und 7 die Befugnis zur Durchführung und Umsetzung von Verordnungen und Richtlinien, in Art. 8 die Ausübung der Ersatzgewalt der Regierung im Bereich des damals noch Gemeinschaftsrechts gegenüber dem Land Südtirol regelt. Seit 2001 kodifiziert Art. 117 Abs. 5 Verfassung die Zuständigkeit der Regionen und Autonomen Provinzen zur Vollziehung von Unionsrecht auf Verfassungsebene: diese tragen für die Anwendung und Durchführung der Rechtsakte der Europäischen Union in den in ihre Zuständigkeit fallenden Sachgebieten Sorge. Art. 117 Abs. 5 Verfassung drückt damit sowohl das Recht als auch die Verpflichtung aus, in erster Instanz, also vor dem Staat, für die Vollziehung des Unionsrechts Sorge zu tragen. Aus Sicht der Autonomie ist diese Verpflichtung zur Wahrung der autonomen Sphäre zu erfüllen. Besteht in der Vollziehung des Unionsrechts Gestaltungsspielraum, ist eine rechtzeitige und mit den Vorgaben des Unionsrechts konform gehende Vollziehungstätigkeit des Landes Südtirol grundlegend. Vollzieht das Land Südtirol das Unionsrecht nicht, kommt die einschlägige Ersatzbefugnis des Staates zum Tragen (vgl. nunmehr auch Art. 117 Abs. 5 und Art. 120 Abs. 2 Verfassung). Der Staat kann sich im Falle der Untätigkeit in der Vollziehung des Unionsrechts oder im Falle einer Nichtbeachtung des Unionsrechts von Seiten des Landes Südtirol an dessen Stelle setzen, um seinen Verpflichtungen als Mitgliedstaat der Europäischen Union nachzukommen. Dem Unionsrecht kommt insgesamt gesehen eine vereinheitlichende Kraft zu. So kann es derart ausgestaltet sein, dass es eine einheitliche Umsetzung und Vollziehung auf mitgliedstaatlicher Ebene voraussetzt und folglich für die innerstaatlich zuständigen Gesetzgeber oder Verwaltungsbehörden kein Spielraum bei Umsetzung oder Anwendung besteht. Im italienischen Verfassungssystem kommt hinzu, dass das Unionsrecht auch beim Vorhandensein von Gestaltungsräumen in seiner Umsetzung oftmals als vereinheitlichender Faktor in der Rechtsordnung wirkt. Dies ist dann der Fall, wenn der staatliche Gesetzgeber eine einheitliche Umsetzungsregelung trifft und damit die politische Entscheidung hinsichtlich der Nutzung des vorhandenen Gestaltungsraumes fällt. Diese Umsetzungsregelungen wirken über die Schranken der autonomen Befugnisse auf den Gestaltungsraum des Landesgesetzgebers ein. Als Beispiel kann hier die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit des Staates zum Schutz des Wettbewerbs gemäß Art. 117 Abs. 2 litera e) Verfassung und ihre Ausübung hinsichtlich der Umsetzung der unionsrechtlichen Regelungen im Vergaberecht genannt werden. Die einschlägigen staatlichen Umsetzungsbestimmungen im GvD Nr. 163/2006 geben dem Land Südtirol das Niveau des Schutzes des Wettbewerbs hinsichtlich des öffentlich-rechtlichen Teils des Vergabeverfahrens im Detail vor, auch wenn es auf der Grundlage der in Art. 8 Nr. 1 (Organisation der Landesämter) und Nr. 17 (öffentlichen Arbeiten im Interesse der Provinz) Autonomiestatut geregelten primären Gesetzgebungszuständigkeiten eigenständige Regelungen zur Umsetzung der unionsrechtlichen Vergabenormen treffen kann. 119 Das Unionsrecht bedeutet aber nicht nur Vorgaben für das Land Südtirol. Es eröffnet auch neue Möglichkeiten, die das Land Südtirol autonom nutzen kann. Als Meilenstein in dieser Hinsicht kann das unionsrechtliche Instrument des Europäischen Verbundes für Territoriale Zusammenarbeit EVTZ (eingeführt durch die VO (EG) Nr 1082/2006) genannt werden. Dieses Instrument ermöglicht dem Land Südtirol eine institutionelle Zusammenarbeit über die Grenzen Italiens hinaus und bietet dadurch die Möglichkeit, seinen Handlungsraum in der grenzüberschreitenden und interregionalen Zusammenarbeit, einem typischerweise vom Staat dominierten Bereich, zu erweitern. Das Land Südtirol hat diese Möglichkeit bereits genutzt und arbeitet seit 2011 gemeinsam mit der Autonomen Provinz Trient und dem Bundesland Tirol im EVTZ Europaregion TirolSüdtirol-Trentino zusammen. III. Die Zuständigkeit zur Beteiligung an der Entstehung des Rechts der Europäischen Union Die Übertragung von Zuständigkeiten an die Europäische Union führt innerstaatlich zu einer Erosion der verfassungsrechtlichen autonomen Kompetenzen. Um diese Erosion möglichst abzufedern, ist eine Beteiligung der regionalen Ebene am Rechtsetzungsprozess auf europäischer Ebene erforderlich. Ziel muss sein, nach Möglichkeit Ansätze für eine differenzierte Vollziehung des Unionsrechts einzubringen, um regionale Bedürfnisse durch Gestaltungsspielräume im Unionsrecht zu berücksichtigen. Aus unionsrechtlicher Sicht bedeutet diese Beteiligung eine zielgenauere Ausgestaltung des Unionsrechts, das folglich auch besser vollzogen werden wird, aus verfassungsrechtlicher Sicht die Anerkennung der Autonomie, insbesondere der Gebietskörperschaften mit Gesetzgebungsbefugnis. Auf Ebene der Europäischen Union hat die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten über eine vielfältige regionale und lokale Ausgestaltung verfügen, zu einer verstärkten Berücksichtigung des regionalen und lokalen Element geführt. Die ursprüngliche „Landes-Blindheit“ der Europäischen Union ist seit 1992 deutlich abgeschwächt worden, etwa durch die Einführung des Ausschusses der Regionen. Dem Ausschuss der Regionen (Art 300 ff AEUV) kommt im Rechtsetzungsprozess des Unionsrechts beratende Funktion zu, durch die er die regionale und lokale Komponente in die Entscheidungen auf Unionsebene einbringt. Ein weiteres Beispiel ist die Möglichkeit, dass ein Vertreter der nachgeordneten Gebietskörperschaften den Mitgliedstaat im Rat der Europäischen Union vertritt (vgl. Art 16 As 2 EUV). Allerdings eröffnet das Unionsrecht in diesem Zusammenhang lediglich Möglichkeiten für die territorialen Untergliederungen der Mitgliedstaaten. Wie diese im Einzelnen genutzt werden können, legen die Mitgliedstaaten in ihrer Verfassungsordnung und deren ausführenden Regelungen fest (vgl. z.B. Art. 5 Abs 1 Gesetz Nr. 131/2003). Art. 117 Abs. 5 Verfassung legt fest, dass die Regionen und die autonomen Provinzen in den in ihre Zuständigkeit fallenden Sachgebieten an den Entscheidungen zu beteiligen sind, die zu Rechtsakten der Europäischen Union führen. Die Ausführungsgesetzgebung zu Art. 117 Abs. 5 Verfassung (Gesetz Nr. 131/2003; Gesetz Nr. 234/2012) gestaltet die Beteiligung 120 Südtirols an der Entstehung des Unionsrechts grundsätzlich im Rahmen des System der Konferenzen zwischen Staat und regionalen und lokalen Gebietskörperschaften aus. Das wichtigste Gremium ist für die Ebene Land-Staat die Ständige Konferenz für die Beziehungen zwischen dem Staat, den Regionen und den autonomen Provinzen Trient und Bozen, für die Ebene mit den anderen Regionen die Konferenz der Regionen. Das Konferenzsystem berücksichtigt das Land Südtirol im Rahmen des Kollektivs aller Regionen, allenfalls als Teil der Gruppe der Sonderautonomien. Innerhalb der politischen Vorentscheidungen auf regionaler Ebene, welche im Rahmen der Konferenz der Regionen getroffen werden, werden die Sonderautonomien als solche ebenfalls berücksichtigt. Hier kann eine Berücksichtigung der besonderen Stellung des Landes Südtirol erfolgen, etwa im Verbund mit den anderen alpinen Sonderautonomien. Im Allgemeinen gestaltet sich aber die Vertretung besonderer Interessen im Rahmen der Gesamtinteressen der regionalen Ebene schwierig. Darauf hinzuweisen ist jedoch, dass diese Einbeziehung im Rahmen des Systems der Konferenzen ausschließlich die Ebene der Verwaltung betrifft. Eine bessere Berücksichtigung der Südtiroler Autonomie in der Entstehungsphase des Unionsrechts könnte auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 3 Gesetz Nr. 131/2003 erfolgen. Dieser sieht vor, dass mit Durchführungsbestimmungen zum Autonomiestatut spezifischen Bestimmungen im Bereich der Beziehungen zu der Europäischen Union erlassen werden können. IV. Die Bedeutung der Ausgestaltung der autonomen Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen Die vorangegangenen Ausführungen zeigen klar auf, dass für jegliches Modell zur Weiterentwicklung der Autonomie auch hinsichtlich des europäischen Faktors ausschlaggebend ist, welchen Anwendungsbereich die autonomen Kompetenzen in Gesetzgebung und Verwaltung auf verfassungsrechtlicher Ebene aufweisen. Anders formuliert, geht es auch im Zusammenhang mit der Europäischen Union für die Weiterentwicklung der Autonomie darum, im Verhältnis zum Staat zu definieren, in welcher Breite und in welcher Tiefe das Land Südtirol Regelungen auf normativer Ebene treffen kann und wofür es auf Verwaltungsebene zuständig ist und folglich, in welchen Bereichen ein Beteiligungsrecht an der Entstehung des Unionsrechts bzw. die Zuständigkeit zu dessen Vollziehung besteht. Charakteristisch für das Südtiroler Kompetenzsystem ist, dass der Bereich der Gesetzgebungs- und Verwaltungsautonomie mit dem Instrument der Durchführungsbestimmungen gemäß Art 107 ff Autonomiestatut näher ausgestaltet wird. Die Durchführungsbestimmungen zum Autonomiestatut verwirklichen das Prinzip bilateraler Verhandlungen in den Beziehungen zwischen Staat und Autonomie. Wird im Rahmen der paritätischen Kommissionen der Interessenausgleich zwischen staatlicher und autonomer Ebene erreicht, werden die Beziehungen zwischen den beiden Ebenen entsprechend in den Durchführungsbestimmungen im Detail festgelegt. Auf verfassungsrechtlicher Ebene kann eine Neugestaltung der Autonomie durch eine Änderung des Autonomiestatuts selbst erfolgen, etwa durch eine Reform der Kompetenzka- 121 taloge. Ebenso kann die Landesautonomie durch eine Änderung des Modells der regionalen Autonomie in der Verfassung weiterentwickelt werden, wenn diese Neuerungen auch auf die Sonderautonomie anzuwenden sind. Letztere Variante wurde 2001 im Rahmen des Verfassungsgesetzes Nr. 3/2001 verwirklicht. Gemäß Art 10 Verfassungsgesetz Nr. 3/2001 findet die Reform der allgemeinen Regionalautonomie bis zur Anpassung des Autonomiestatuts nur insofern Anwendung, als sie weitere Formen der Autonomie bedeutet. Vor dem Hintergrund einer Reihe von als transversal bezeichneten ausschließlichen staatlichen Gesetzgebungsbefugnissen wie Umweltschutz und Schutz des Wettbewerbs wurde diese Klausel in der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs allerdings auch dazu verwendet, die statutarischen Kompetenzen inhaltlich stark zu beschränken bzw. durch neue Kompetenzen zu ersetzen, die noch stärker unter den Vorgaben des staatlichen Gesetzgebers stehen. In der von der Regierung Renzi am 31.3.2014 vorgeschlagenen Verfassungsreform ist erneut eine Umgestaltung des allgemeinen Modells der Regionalautonomie vorgesehen, die u.a. neue ausschließliche staatliche Gesetzgebungsbefugnisse vorsieht. Der Staat soll zudem nicht nur in bestimmten Sachbereichen, sondern auch für „Funktionen“ über ausschließliche Gesetzgebungsbefugnis verfügen. Dass Funktionen eine weitaus stärkere Tendenz zu umfassenden und detaillierten Regelungen haben, sieht man bereits jetzt an den transversalen Materien, die auch als funktionelle Materien bezeichnet werden. Eine derartige Formulierung birgt damit die konkrete Gefahr einer weiteren Vereinheitlichung der Regelungen in sich. Als besonders zentralistisch ist zudem die Möglichkeit für den staatliche Gesetzgeber zu werten, auf Vorschlag der Regierung in Sachbereichen oder Funktionen gesetzgeberisch tätig zu werden, die in der Kompetenz der Regionen stehen, wenn der Schutz der rechtlichen oder wirtschaftlichen Einheit oder die Verwirklichung von Programmen oder wirtschaftlich-sozialen Reformen von nationalem Interesse dies erfordern. Damit wird eine bisher nur im Zusammenhang mit der staatlichen Ersatzbefugnis verwendete Formulierung zu einem Aspekt der staatlichen Gesetzgebungstätigkeit, der sich vermutlich besonders stark im Hinblick auf die Umsetzung der rechtlichen wie wirtschaftspolitischen Verpflichtungen aus dem Unionsrecht auswirken wird. Selbst wenn eine Klausel die Anwendbarkeit dieser Bestimmung für die Sonderautonomie aussetzt, ist davon auszugehen, dass sich die einschlägige staatliche Gesetzgebung trotzdem im Wege der Schranken der autonomen Befugnisse als inhaltliche Vorgabe ohne Möglichkeit zur Differenzierung für den Landesgesetzgeber erweisen wird. V. Die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen den territorialen Ebenen im Autonomiesystem Sowohl die Vollziehung des Unionsrechts als auch die Ausübung der Beteiligungsinstrumente an der Entstehung des Unionsrechts liegen beinahe ausschließlich in der Hand der Südtiroler Landesregierung und Landesverwaltung. Dies mag neben der tragenden Rolle der Exekutive auf europäischer und auf mitgliedstaatlicher Ebene auch daran liegen, dass beinahe die gesamten Beteiligungsmechanismen über das System der Konferenzen laufen. 122 Im System der Autonomie fehlt bisher eine nähere Definition der Beziehungen zwischen Landesregierung, Landeshauptmann und Landtag in den Angelegenheiten der europäischen Integration. Das führt dazu, dass sich der Landtag kaum systematisch mit den Fragen der europäischen Integration und ihren Auswirkungen auf Kompetenzen des Landes Südtirol befasst. Dem Landtag sollte jedoch eine wesentlichere Rolle zukommen, nicht nur aufgrund des Demokratiegedankens, sondern auch aufgrund der besonders geregelten Beziehungen zwischen Staats- und Landesgesetzgebung. Wird die Umsetzung des Unionsrechts auf Gesetzgebungsebene vorgenommen, kann durch rechtzeitiges Handeln des Landes der in Art. 2 GvD Nr. 266/1992 vorgesehene Schutzmechanismus zur Anwendung gebracht werden. Auch die Gemeinden befassen sich bisher nicht systematisch mit dem Aspekt der Auswirkungen der Europäischen Union. Eine Möglichkeit zur Berücksichtigung des europäischen Faktors besteht im Rahmen des Rates der Gemeinden. Der Rat der Gemeinden ist als verpflichtend zu befragendes Konsultationsorgan auf Landesebene gemäß Art. 6 ff Landesgesetz Nr. 4/2010 stark in die Entscheidungsprozesse des Landes eingebunden. Hier bietet sich Gelegenheit, die Auswirkungen des Unionsrechts auf die Gemeinden auch auf der Grundlage der Vorschlags- und Äußerungsbefugnis (vgl. Art. 9 Landesgesetz Nr.4/2010) selbständig und aktiv zu berücksichtigen und diese im Rahmen des Autonomiesystems aufzuzeigen. VI. Schlussbetrachtungen Der europäische Faktor wird bei jedem Modell zur Weiterentwicklung der Südtiroler Autonomie umfassend zu berücksichtigen sein. Eine unmittelbare Erweiterung der Autonomiesphäre durch das Unionsrecht ist nicht zu erwarten. Allerdings kann die stärkere Berücksichtigung des regionalen Elements im Rahmen der europäischen Integration durchaus als argumentative Unterstützung für die Autonomie herangezogen werden, da auch die Europäische Union die Bedeutung der regionalen und lokalen Struktur für den Erfolg der europäischen Integration erkannt hat. Die Europäische Union stellt im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Autonomie ein grundlegendes Element dar, sei es hinsichtlich der Zuständigkeit zur Vollziehung von Unionsrecht, sei es hinsichtlich der Teilnahme an der Entstehung des Unionsrechts. Entsprechend sind die einschlägigen Rechte des Landes Südtirol im Rahmen einer allfälligen Änderung des Autonomiestatuts ausdrücklich zu verankern. Damit erhalten auch Durchführungsbestimmungen in diesem Bereich eine eindeutige Grundlage im Sonderstatut und können etwa auf bilateralem Wege besondere Vertretungs- und Zustimmungsregelungen schaffen, um den besonderen Bedürfnissen Südtirols Rechnung zu tragen. Wesentlich ist – wie überhaupt für die Weiterentwicklung der Gesetzgebungs- und Verwaltungsautonomie - die verfassungsrechtliche Kompetenzlage des Landes Südtirol. Zunächst muss das Land Südtirol auf Gesetzgebungs- und Verwaltungsebene zuständig sein, um dann in Ausübung seiner Befugnisse seine Bedürfnisse einbringen und auch differenzierende und als solche autonome Regelungen treffen zu können. Zentralisierende Tendenzen in der Verfassungsreform und damit in den Beziehungen zum Staat sind deshalb abzulehnen. 123 Schlussendlich sollte der europäische Faktor ein tragendes Element der Weiterentwicklung der Autonomie nach innen darstellen. Er ist in den Beziehungen zwischen den Organen Landtag, Landesregierung und Landeshauptmann, aber auch zwischen Land und Gemeinden konsequent, koordiniert und umfassend zu berücksichtigen. Eine Online-Umfrage zu Präferenzen in der Autonomiereform Ein Meinungsbild zur Autonomiereform Thomas Benedikter Prof.in Dr. Esther Happacher, Mag. phil. und Juristin, 1991-1998 in der Südtiroler Landesverwaltung tätig (Präsidium und Abteilung Europa-Angelegenheiten), 1994-1998 Assistentin des Landeshauptmanns im EU-Ausschuss der Regionen, seit 1998 Univ.-Assistentin in Innsbruck, seit 2010 Außerordentliche Universitätsprofessorin für italienisches Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht. Literatur: Happacher E., Südtirols Autonomie in Europa. Institutionelle Aspekte der europäischen Integration (2012). Happacher E., Modelle zur Weiterentwicklung der Autonomie in: Happacher/Obwexer (Hg), 40 Jahre Zweites Autonomiestatut. Südtirols Sonderautonomie im Kontext der europäischen Integration (2013) S. 173 ff. Obwexer W., Die europäische Integration. Auswirkungen auf die autonomen Kompetenzen Südtirols, in: Happacher/Obwexer (Hg), 40 Jahre Zweites Autonomiestatut. Südtirols Sonderautonomie im Kontext der europäischen Integration (2013) S. 57 ff. Palermo F., Der EVTZ als neues Instrument grenzüberschreitender Zusammenarbeit am Beispiel der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino in: Happacher/Obwexer (Hg), 40 Jahre Zweites Autonomiestatut. Südtirols Sonderautonomie im Kontext der europäischen Integration (2013) S. 158 ff. Woelk J., Die Mitwirkung des Landes Südtirol am europäischen Integrationsprozess in: Happacher/Obwexer (Hg), 40 Jahre Zweites Autonomiestatut. Südtirols Sonderautonomie im Kontext der europäischen Integration (2013) S. 108 ff. 124 1. Ziel der Umfrage Nicht weniger als 79 Fragen umfasste die im Rahmen des Bildungsprojekts zur Autonomiereform von POLITiS und SBZ Anfang 2014 durchgeführte Online-Umfrage zum Ausbau der SüdtirolAutonomie. Mit dieser nicht-repräsentativen Umfrage konnten mehr als 500 Personen über verschiedene Kanäle erreicht werden (Näheres zur Methode im folgenden Abschnitt). Die in deutscher und italienischer Version durchgeführte Befragung ist von den lokalen Medien mit einer Ausnahme nicht aufgegriffen worden, was ihr zu vergleichsweise wenig Bekanntheit über diesen Weg verhalf. Auch wenn Autonomiefragen rechtstechnischer Natur ausgeklammert blieben, setzt ein solcher Fragenkatalog Grundkenntnisse zur Südtirol-Autonomie voraus. Angesichts des anspruchsvollen Themas, der Vielfalt der Fragen und des beträchtlichen Zeitaufwands (im Schnitt 25 Minuten) kann die Resonanz insgesamt als zufriedenstellend eingestuft werden. Es ging darum, herauszufinden, wo die BürgerInnen sich Verbesserungen an der Autonomie wünschen, und welchen Vorschlägen sie im Rahmen eines 3. Autonomiestatuts zustimmen könnten, welchen eher nicht. Aus den anonym ausgewerteten Antworten und Vorschlägen sollte ein Bild verbreiteter Meinungen zum Handlungsbedarf bei der heutigen Autonomie gewonnen werden. Die Themen der Umfrage sollten wesentliche Bereiche möglicher Reformen am Statut zumindest im Ansatz abdecken, allerdings ohne Anspruch auf eine erschöpfende Behandlung potenzieller Reformen. Der Nutzen einer solchen Umfrage liegt auch in ihrer propädeutischen Qualität, also mögliche Reformschritte aufzuschlüsseln und die Bürgerbeteiligung an diesem wichtigen politischen Projekt zu unterstützen. 2. Zur Methode Die Umfrage richtete sich grundsätzlich an alle Interessierten. Der von POLITiS erstellte Fragebogen wurde vom Institut für Sozialforschung und Demoskopie APOLLIS mittels einer geeigneten Software implementiert, der Zugang als Link auf dem Nachrichten- und Communityportal www.salto.bz eingerichtet. Der Zugang war völlig offen, das heißt, wer immer sich durch das Thema angesprochen fühlte, konnte an der Befragung teilnehmen. Um eine möglichst hohe Beteiligung zu erreichen, ergingen von Seiten des Auftraggebers Aufrufe zur Teilnahme an mehrere hundert E-Mail-Adressen, die aus verschiedenen Datenbanken stammen (vorzugsweise solche, die mit Politik und Partizipation zu tun haben, sodass ein Interesse an der Thematik bei den angeschriebenen Personen erwartet werden konnte). Auch Presseaussendungen sollten dazu beitragen, die Umfrage bekannt zu machen und interessierte BürgerInnen zur Teilnahme zu animieren. Grundgesamtheit der Untersuchung sind daher alle InternetnutzerInnen. 125 Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass die Befragung keinerlei Anspruch auf Repräsentativität erheben kann. Die Ergebnisse sind daher nur qualitativ zu interpretieren bzw. als Meinung jener, denen die Autonomiereform ein besonderes Anliegen ist und die – wie auch immer – über die Umfrage Kenntnis erlangt haben. Auch die soziodemografischen Angaben erlauben keine Beurteilung der Repräsentativität der Untersuchung. Sie wurden nur zu dem Zweck erhoben, Personenmerkmale und Antworten miteinander zu verknüpfen. Als Erhebungsinstrument diente ein standardisierter, selbst auszufüllender Fragebogen in deutscher und italienischer Sprache (siehe Anhang). Die Online-Umfrage war vom 27. Dezember 2013 bis zum 24. Februar 2014 aktiv geschaltet. Der Zugang war nicht passwortgeschützt, so dass prinzipiell jeder teilnehmen konnte, der die Internetadresse kannte. Die meisten TeilnehmerInnen wurden direkt von POLITiS erreicht bzw. über Bekannte auf diese Umfrage aufmerksam. Über andere Kanäle erfuhren 27% der TeilnehmerInnen, während nur relativ wenige über die Medien bzw. über das Online-Magazin SALTO auf die Umfrage stießen. Insgesamt gab es 503 Zugriffe auf die Online-Umfrage, wobei in 164 Fällen die Befragung vorzeitig abgebrochen wurde. Dies könnte mit der Komplexität und Länge des Fragebogens zusammenhängen. Als gültig wurde ein Fall dann angesehen, wenn der Fragebogen mindestens bis Abschnitt 6, also bis Frage 45 ausgefüllt war. Dies galt in 17 Fällen, während 147 Fälle ausgeschlossen wurden. Damit fließen insgesamt 356 Fälle in die Analyse ein. Die statistische Auswertung besorgte ebenfalls APOLLIS. Die wesentlichen Merkmale der mit dieser Methode erreichten Stichprobe lassen sich folgendermaßen zusammenfassen. 81% sind Männer, nur 19% Frauen interessierten sich für diese Umfrage. 50% der TeilnehmerInnen sind in abhängiger Stellung berufstätig, 28% selbstständig, die Übrigen in Pension oder in Ausbildung. Die TeilnehmerInnen weisen einen durchschnittlich hohen Bildungsgrad auf: 51% haben einen Hochschulabschluss, 28% Matura und 18% ein Fachdiplom (davon 3% ein Meisterdiplom). Beim Alter verteilen sich TeilnehmerInnen gleichmäßig über die Altersgruppen: 26% bis 34 Jahre, 25% 35-44 Jahre, 22% 45-54 Jahre und 27% 55+. Interessant auch die Tatsache, dass einige Auslandssüdtiroler mitgewirkt haben, denn 92% der TeilnehmerInnen sind in Südtirol ansässig und 93% haben die italienische Staatsbürgerschaft. Bei der Sprachgruppe konnte aufgrund einiger widriger Umstände keine der tatsächlichen Zusammensetzung der Bevölkerung entsprechende Verteilung erreicht werden: 86% bezeichneten sich als der deutschen Sprachgruppe, 10% als der italienischen und 2% als der ladinischen Sprachgruppe angehörig (2% andere). Aufgrund der geringen Zahl an ladinischen TeilnehmerInnen, sind diese in der Interpretation nicht getrennt berücksichtigt worden. Kurz gesagt lässt sich festhalten: die Stichprobe weist eine gewisse Schräglage hin zu deutschsprachigen Männern mit höherer formaler Bildung auf. Grafik 1 Welchen Ausbau der Autonomie wünschen sich die TeilnehmerInnen? Welchen Ausbau der Autonomie? Selbstbest. Lösung 46% nur partiell 9% heutig. Stand reicht 2% schon zu viel 2% möglichst weitgehend 41% 13% würden sich mit dem heutigen Stand oder allenfalls mit partiellen Korrekturen begnügen, 87% befürworten einen möglichst weitgehenden Ausbau der Autonomie oder eine Selbstbestimmungslösung. Für letztere treten nicht weniger als 46% der TeilnehmerInnen an der Befragung ein. Diese klare Positionierung der überwiegenden Mehrheit zugunsten eines dezidierten Ausbaus der Autonomie bis hin zur staatlichen Eigenständigkeit Südtirols färbt naturgemäß auf die restlichen Fragen ab, doch gibt es auch innerhalb der Selbstbestimmungsbefürworter zu verschiedenen Aspekten der anstehenden Autonomiereform differenzierte Positionen. Angesichts der besonderen Relevanz dieser grundsätzlichen Haltung stellt die Interpretation der Ergebnisse im Folgenden auch mehrfach auf die Antwortverteilung dieser Einstiegsfrage ab, wobei grob gesprochen drei Gruppen unterschieden werden können: - „Konservative“ (begnügen sich mit heutigem Stand oder partiellen Verbesserungen) - „Reformer“ (befürworten einen weitgehenden Ausbau) - „SB-Befürworter“ (sehen die eigentliche Lösung in der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts) Grafik 2 Wie kann eine Autonomiereform am besten erreicht werden? Wie Ausbau erreichen? Druck von unten 48% Internation. Druck 9% Anderes 3. Allgemeine Fragen Zum Ausbau der Südtirol-Autonomie gibt es verschiedene, zum Teil divergierende Einstellungen in der Bevölkerung. Mit der Einstiegsfrage sollte erfasst werden, welche allgemeine Reichweite eine Reform haben sollte. 126 7% Schritt für Schritt Parteienbündnis 10% 27% 127 Mit welchem Verfahren kann und soll der erwünschte Ausbau der Autonomie erfolgen? Hier stellt sich die breite Mehrheit der TeilnehmerInnen andere Formen des politischen Drucks als die bisher in den Beziehungen zwischen Südtirol und dem Staat üblichen Verhandlungen der Spitzenvertreter der Regierungsparteien vor, nämlich „Druck von unten“ (45%) und ein breites Parteienbündnis (27%). Tab. 1 - In welchen Bereichen sollte die Autonomie Südtirols verbessert werden? - %-Anteil „genannt“ der TeilnehmerInnen (Mehrfachnennung erlaubt) Deutschsprachige Italienischsprachige Mehr Kompetenzen für Provinz 63 17 Harmonie der Sprachgruppen 33 54 Mitbestimmung der BürgerInnen 54 66 Verhältnis Provinz-Region 43 11 Steuern und Finanzen 50 26 anderes 11 6 Insgesamt 58 37 55 40 48 10 An der Spitze der Zustimmung liegt die Erweiterung der autonomen Zuständigkeiten, gefolgt von der demokratischen Mitbestimmung der Bürger und dem Politikfeld “Steuern und Finanzen”. Dies ist ein Hinweis darauf, wo die heutige Autonomie als unzureichend empfunden wird. Bei den spezifisch genannten Bereichen der Verbesserungswürdigkeit werden häufig die Polizei, die Justiz, die Kontrolle der Migration und der Sport genannt. 4. Autonome Kompetenzen Im zweiten Abschnitt ging die Umfrage auf die Territorialautonomie ein. Diesbezüglich verlangt die SVP die sog. Vollautonomie und versteht darunter den Übergang aller Kompetenzen ans Land, mit Ausnahme wesentlicher Staatsaufgaben. Wie bei der Frage zum Ausbau der Autonomie (Grafik 1), gehen hier die Meinungen zwischen Deutsch- und Italienischsprachigen deutlich auseinander. Doch immerhin 60% der Italienischsprachigen stimmen dem aktuellen SVP-Leitbild zu. Tab.2 - Stimmen Sie der Zielsetzung der „Vollautonomie“ zu? - In % der TeilnehmerInnen Ja Nein, das reicht nicht Nein, das geht zu weit Deutschsprachige 41 54 5 Italienischsprachige 60 3 37 Insgesamt 44 48 8 Diese klare Zustimmung für “mindestens Vollautonomie” schlägt sich sehr deutlich bei den Meinungen zu den oben genannten Kompetenzen der autonomen Provinz nieder. Rund 9 von 10 TeilnehmerInnen sind für die Umwandlung aller bisherigen sekundären Landeskompetenzen in primäre Kompetenzen mit Ausnahme der Polizei (nur 64% Zustimmung). Dasselbe gilt für die vom Staat nur delegierten Kompetenzen, die laut über 90% der Teilnehmer definitiv ans Land übergehen sollen. 84% sprechen sich auch für eine 128 explizite Zuständigkeit des Landes für die Regelung und Finanzierung der Hochschulen und der wissenschaftlichen Forschung aus. Andererseits wurden von 69 TeilnehmerInnen Bedenken gegen die Umwandlung von sekundären in primäre Kompetenzen angemeldet. Sehr oft angesprochen wird dabei die Befürchtung, dass in Südtirol zunächst ein voller Ausbau der Demokratie und anderer Kontrollmechanismen erfolgen sollte, weil durch Machtzugewinn neue Gefahren in Form von Machtmissbrauch, Klientelismus, Seilschaften und Missmanagement, m.a.W. durch mehr Autonomie wird eine weitere Machtkonzentration in den Händen der SVP befürchtet. Größere Gewaltenteilung und mehr Kontrolle werden als eine Art Vorbedingung für die Zuteilung von mehr legislativen Kompetenzen verstanden. Tab.3 - Sollte das Land auch die Zuständigkeit für die Polizei, Gerichtsverwaltung, öff. TVRundfunk und das Transportwesen erhalten? - %-Anteil „ja“ der TeilnehmerInnen Deutschsprachige Italienischsprachige Gesamt Landespolizei 77 40 72 Gerichtsverwaltung 90 46 85 Öff-rechtl. Rundfunk und Fernsehen 88 37 81 Transportwesen (inkl. Autobahnmaut) 93 69 90 Eine ganz überwiegende Mehrheit der deutschsprachigen Teilnehmer spricht sich für den Übergang dieser öffentlichen Bereiche ans Land aus, während die Italienischsprachigen diesbezüglich weit zurückhaltender sind. Fast 90% sagen auch JA zu einer autonom verwalteten Post. 5. Die Finanzen In den letzten Jahren haben die einseitig durch Rom verfügten Kürzungen bei den Finanzen für Unsicherheit bei den Landespolitikern und für Unmut unter den BürgerInnen in Südtirol geführt. Anstatt wie bisher einen Teil (meist 90%) der im Land erzielten Staatssteuereinnahmen vom Staat überwiesen zu bekommen, soll Südtirol die Zuständigkeit erhalten, mit einer landeseigenen Agentur für Einnahmen die staatlichen Steuern einzuheben und erst im zweiten Schritt den dem Staat zustehenden Anteil nach Rom zu überweisen. Dem stimmen 90% der Deutschen und 60% der Italiener zu. 84% der Deutschen wollen zudem, dass Südtirol staatliche Steuern selbst regeln kann (vor allem die IRPEF und IRES), während bei den Italienern nur 60% dies befürworten. Tab. 4 - Beteiligung Südtirols am Finanzausgleich zwischen den Regionen und am Staatsschuldenabbau – In % der TeilnehmerInnen Deutschsprachige Italienischsprachige Gesamt Ja zu Beteiligung am Finanzausgleich 39 89 44 Keine Beteiligung am Finanzausgleich 61 11 56 Ja zu Beteiligung am Schuldenabbau 41 86 46 Keine Beteiligung am Schuldenabbau 59 14 54 129 Aus den Antworten zur finanziellen Mitverantwortung Südtirols für den italienischen Staat kann man den Eindruck gewinnen, dass sich die Mehrheit der Südtiroler gerne aus dieser Verantwortung ausklinken würde. Eine deutliche Mehrheit der Deutschsprachigen will Südtirol weder am Finanzausgleich noch am Staatsschuldenabbau beteiligt sehen, und hält sogar den heute gültigen Anteil des Landes am provinzialen Steueraufkommen von 90% für zu gering. Unverkennbar spielt hier der hohe Anteil von Selbstbestimmungsbefürwortern herein, die Südtirol nicht als “finanziell gleich verpflichteten” Teil Italiens betrachten. Für die Italiener passt hingegen zu 63% der heutige Anteil des Landes am Steueraufkommen, für 17% könnte er auch geringer sein. Das Kontrollorgan über die Ausgaben der lokalen Gebietskörperschaften ist der staatliche Rechnungshof. Zwei Drittel der deutschsprachigen TeilnehmerInnen können sich gut vorstellen, den Rechnungshof in ein von der Verwaltung unabhängiges Organ des Landes zu verwandeln. 6. Reformen im Schulsystem und bei den Sprachenrechten Einen zentralen Teil der Südtirol-Autonomie bilden die Regelungen zum Bildungssystem und zur Gleichberechtigung der offiziellen Sprachen und Sprachgruppen. So sieht der Art. 19 des Statuts vor, dass der Schulunterricht in der deutschen und italienischen Schulen in der Muttersprache der SchülerInnen von Lehrpersonen dieser Muttersprache erteilt wird. Soll dieser Artikel so abgeändert werden, dass mehrsprachige Schulen bzw. die gleichberechtigte Verwendung von Deutsch und Italienisch in den Schulen ermöglicht wird? Hier halten sich die Befürworter mit 49%, und Gegner mit 51% die Waage. Nur 44% der Deutschsprachigen sagen dazu ja, 91% der Italienischsprachigen. Der Art. 19 könnte auch so abgeändert werden, dass die italienische Sprachgruppe mehr Spielraum erhält, um an ihren Schulen andere Sprachen als Italienisch als Unterrichtssprachen einzuführen, also z.B. Deutsch. Hier befürworten 78% der TeilnehmerInnen den größeren Spielraum, nur 25% der Deutschsprachigen sind dagegen. Das Recht auf den Gebrauch der eigenen Sprache im öffentlichen Dienst und die damit verbundene Zweisprachigkeitspflicht des Personals gehört zu den Grundregeln der Autonomie. Hier ging es in der Befragung nicht so sehr um Reformen im Statut, sondern darum, ob diese Pflicht schon voll umgesetzt wird, oder Bereiche des öffentlichen Dienstes ausgemacht werden, in welchen die Zweisprachigkeitspflicht nicht ausreichend gewahrt wird. 73% aller TeilnehmerInnen, und gar 81% nur bei den Deutschsprachigen bestätigen dies. Vier Bereiche des öffentlichen Dienstes scheinen im Spiegel dieser Befragung noch erhebliche Probleme bei der konsequenten Umsetzung der Zweisprachigkeit zu haben: die Polizei (96% der Nennungen), die Steuerämter (68%), das INPS-NISF (57%) und die Postämter (53%). Darüber hinaus werden primär von den Deutschsprachigen vor allem folgende Bereiche genannt, in welchen die Zweisprachigkeit unzureichend ist: • Das Gerichtswesen • Das Krankenhaus Bozen und andere Einrichtungen des Gesundheitswesens 130 • Die Dienste der Gemeinde Bozen • Der öffentliche Nahverkehr und vor allem Trenitalia • Die TELECOM und generell alle Telefonanbieter • Im Geschäftsleben, bei Beipackzettel, Versicherungen, Etiketten usw. Überraschend wenig Nennungen hingegen betrafen die Polizei, während erwartungsgemäß kaum Nennungen für die Landesdienste im engeren Sinn erfolgten. Daraus lässt sich schließen, dass die tatsächliche Zweisprachigkeit in Teilen des öffentlichen Dienstes durchaus noch ein Problem ist oder in der alltäglichen Erfahrung als solches wahrgenommen wird. Das Verfahren zur Feststellung der Zweisprachigkeit besteht in Südtirol in der Zweisprachigkeitsprüfung, bezogen auf vier Gruppen von Rangeinstufungen im öffentlichen Dienst. Soll diese Prüfung abgeändert werden? Tab. 5 - Welche Meinungen haben Sie zur heutigen Regelung der Zweisprachigkeitsprüfung? In % der TeilnehmerInnen Deutschsprachige Italienischsprachige Gut, beizubehalten 30 37 Zu wenig streng 23 3 Zu streng 3 9 Ersetzen durch bessere Regelung 45 51 Gesamt 30 21 4 46 Für ein knappes Drittel der TeilnehmerInnen geht die heutige Regelung dieser Prüfung in Ordnung, aber immerhin 46% wollen sie durch eine bessere Regelung ersetzen, ganz gleich ob Italiener oder Deutsche. 7. Vertretungsrechte und ethnischer Proporz Der ethnische Proporz bildet in der Südtirol-Autonomie einen Grundmechanismus, um den gleichberechtigten Zugang zum öffentlichen Dienst und die nach zahlenmäßiger Stärke der Sprachgruppen proportionale Verteilung einiger öffentlicher Ressourcen (Sozialleistungen) zu gewährleisten. Außerdem kommt der ethnische Proporz bei den Vertretungsrechten der Sprachgruppen in verschiedensten öffentlichen und politischen Organen zur Anwendung. Hier bemisst sich der ethnische Proporz jedoch nicht nach numerischer Stärke der Bevölkerung einer Gemeinde oder des Landes, sondern nach der Zusammensetzung des Landtags bzw. Gemeinderats nach Sprachgruppen. Soll in Zukunft die Stärke der Sprachgruppen als Maßstab für die Zusammensetzung der Landesregierung herangezogen werden? 38% der TeilnehmerInnen sprechen sich dafür aus, 62% wären dagegen, mit klarem Unterschied zwischen Deutsch- und Italienischsprachigen: bei den Deutschen sind ein Drittel dafür, bei den Italienern zwei Drittel. Soll der ethnische Proporz bei der Besetzung öffentlicher Stellen noch flexibler werden, also erst greifen, wenn ein offenkundiges Missverhältnis entstanden ist? 46% der TeilnehmerInnen sagen ja zu mehr Flexibilität, wobei bei den Italienischsprachigen 86% das 131 befürworten, bei den Deutschen nur 38%. Auf die Frage, in welchem Sinn bei der Besetzung der öffentlichen Stellen mehr Flexibilität eingeführt werden soll, lautet die überwiegende Meinung: das Hauptkriterium für die Aufnahme in den öffentlichen Dienst sollten primär die Fachkenntnis und die Sprachbeherrschung sein. Grafik 3 Soll der Proporz überwunden werden? Stufenweise Abschaffung Proporz? weiß nicht ja 23% 25% Eine klare Mehrheit der TeilnehmerInnen spricht sich für die volle Gleichberechtigung der Ladiner bei den verschiedenen Ämtern aus, wo dies zur Zeit noch nicht gilt (LandeshauptmannStellvertreter, Verwaltungsgericht, 6er-Kommission). Für die Beibehaltung der 4-jährigen Ansässigkeitspflicht zur Ausübung des aktiven Wahlrechts sprechen sich 77% der TeilnehmerInnen aus, allerdings nur 31% der Italienischsprachigen. Soll der ethnische Proporz bei der Besetzung der Stellen im öffentlichen Dienst stufenweise abgeschafft werden? Von allen Teilnehmern befürworten dies immerhin 25%, 52% lehnen es ab. Bei den Italienern wiederum ein anderes Bild: 69% befürworten es, nur 14% sagen Nein zur Abschaffung des Proporzes im öffentlichen Dienst. Der Rest weiß es nicht, weil die Auswirkungen noch zu wenig bekannt sind. Insgesamt gibt es eine mehrheitliche Ablehnung des Proporzes bei den Italienischsprachigen, während die Deutschsprachigen den Proporz eher beibehalten wollen. Tab.7 - Was soll an die Stelle des ethnischen Proporzes beim öffentlichen Dienst treten? In % der TeilnehmerInnen nein 52% Der ethnische Proporz spielt bei der Vergabe von Sozialleistungen vor allem nur mehr beim sozialen Wohnbau eine wichtige Rolle. Soll er in diesem Bereich abgebaut werden? 40% der TeilnehmerInnen sagen ja. Bei den Deutschsprachigen wollen zwei Drittel den Proporz bei den Sozialleistungen, also vor allem beim sozialen Wohnbau, beibehalten, während dies nur von 20% der Italienischsprachigen gewünscht wird. Tab.6 - Sind die drei Sprachgruppen im Zugang zu folgenden Bereichen des öffentlichen Dienstes gleichberechtigt? - %-Anteil „ja“ der TeilnehmerInnen Öffentliche Stellen bei den Lokalkörperschaften Staatsstellen Öffentliche. Gesellschaften bzw. mit öff. Beteiligung Andere öff. Körperschaften Deutschsprachige 78 Italienischsprachige 37 Insgesamt 73 37 57 40 17 38 53 64 26 60 In der Wahrnehmung der TeilnehmerInnen der derzeitigen Situation im öffentlichen Dienst gibt es somit ganz wesentliche Unterschiede. Bei den Staatsstellen ist sogar weniger als die Hälfte der TeilnehmerInnen beider Sprachen der Meinung, dass es Gleichberechtigung im Zugang gebe. Hier liegt vermutlich eine Verwechslung vor, denn formale Gleichberechtigung im Zugang bedeutet nicht zwingend, dass der Sprachgruppenproporz in jedem Bereich des öffentlichen Dienstes konkret erreicht wird. Er ist z.B. bei den Staatsstellen aus anderen Gründen und nicht etwa infolge einer Diskriminierung bisher nicht erreicht worden. Strengere Zweisprachigkeitsprüfung Längere Ansässigkeit Keine Zusatzanforderung Deutschsprachige Italienischsprachige Gesamt 45 42 48 4 0 2 51 58 49 Auch bei dieser Reformmöglichkeit tritt ein unterschiedliches Bild zwischen Italienern und Deutschen an den Tag, wobei die Aussagekraft der Ergebnisse speziell für die Italienischsprachigen allerdings gering ist. Für die relative Mehrheit beider Sprachgruppen sind jedenfalls bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst künftig keine anderen Kriterien anzuwenden als jene der fachlichen Eignung und der Sprachbeherrschung. Eine periodisch in Volkszählungsjahren wiederkehrende Debatte ist in Südtirol jene rund um die individuelle Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung, die zwecks Anwendbarkeit des Proporzes erfolgt, zuletzt 2011. Die Hälfte der TeilnehmerInnen spricht sich für die Beibehaltung dieses Modus aus, allerdings gibt es je nach Sprache und je nach Einstellung zur Autonomiereform ein differenziertes Meinungsbild zur Frage, wie diese umstrittene Erklärung neu geregelt werden soll. Grafik 4 Soll die Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung in der heutigen Form beibehalten werden? In % der TeilnehmerInnen Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung anderes 18% anonym 10% beibehalten 50% streichen 22% 132 133 Tab.8 - Die Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung neu regeln? - In % der TeilnehmerInnen Beibehalten in jetziger Form Ersatzlos streichen Nur mehr anonym Andere Lösungen Deutsch- Italienischsprachige sprachige 56 3 21 7 16 29 34 34 Konservative 22 Reformer 29 33 29 16 31 10 30 SBGesamt Befürworter 76 50 11 4 9 22 10 18 Für die Beibehaltung der Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung sprechen sich nur 3% der Italienischsprachigen aus, hingegen 79% der Selbstbestimmungsbefürworter. Für die Schaffung einer neuen 4. Kategorie von “Mehrsprachigen” ist nur unter den Italienischsprachigen eine Mehrheit zu haben. 9. Das Verhältnis Trentino-Südtirol und die Zukunft der Region Einen wichtigen Teil der bevorstehenden Reform des Autonomiestatuts wird die Neudefinition der Rolle der Region und des Verhältnisses Südtirols zur Provinz Trient bilden. Ginge es nach der klaren Mehrheit der TeilnehmerInnen an dieser Online-Befragung hätte die Region Trentino-Südtirol in der heutigen Form keine Zukunft. 78% sprechen sich gegen die Beibehaltung der Region aus, die sich auf folgende Optionen aufteilen: 61% wollen sie ganz abschaffen, 17% durch eine Institution mit weniger Kompetenzen ersetzen. Wenn nein: Alternative zur Region? abgeschafft 61% Grafik 5 Was soll aus der Region TrentinoSüdtirol werden? - In % der TeilnehmerInnen 8. Das Verhältnis zum Staat und die Absicherung der Autonomie In diesem Abschnitt ging es sowohl um neue Befugnisse des Landes (insbesondere der beiden Landtage) zur Mitentscheidung bei Autonomiefragen als auch um die Beziehung zum Staat. So sprechen sich 91% der TeilnehmerInnen für das Recht des Landtags aus, dem Parlament eigenständig, also ohne Umweg über den Regionalrat, Vorschläge zur Abänderung des Statuts betreffend Südtiroler Fragen unterbreiten zu können. Ein deutlich weitergehender Schritt wäre die Statutshoheit für Südtirol, was im Konkreten die eigenständige Gestaltung des Autonomiestatuts durch Landesorgane bedeuten würde, mit nachfolgender Ratifizierung dieses Statutsvorschlags durch das Parlament. Eine derartige Statutshoheit genießen heute die Regionen mit Normalstatut, deren Statut allerdings nicht Verfassungsrang hat. 92% der deutschsprachigen TeilnehmerInnen begrüßen eine solche Änderung, aber nur 51% der Italienischsprachigen. ersetzt durch wenige 17% nur mehr konsultativ aufgewertet 1% 20% Tab.9 - Was sollte an die Stelle der Region nach ihrer Abschaffung treten? - In % der TeilnehmerInnen Deutschsprachige 16 Italienisch- Konservative Reformer SBsprachige Befürworter 30 29 29 6 Gesamt Einen permanenten Konfliktgrund bildet die unklare Kompetenzenteilung zwischen dem Staat und dem Land, wobei vor allem bei Rechtsakten der konkurrierenden Gesetzgebung immer wieder das Verfassungsgericht angerufen wird. Soll nun Südtirol nach dem Muster der Region Sizilien eine Art Vorprüfungsstelle des Verfassungsgerichts erhalten? 71% können sich das auch für Südtirol als sinnvoll vorstellen. Ersetzen durch eine weniger aufwändige Institution Ganz abschaffen Aufwerten Institution mit nur beratender Funktion Bisher noch nicht gelungen ist den Südtiroler Vertretern im Parlament die Verankerung eines Vetorechtes einer qualifizierten Mehrheit des Landtags (2/3 oder 4/5) im Falle von einseitigen Statutsänderungen durch das Parlament. Ein solches Recht wird von 87% der TeilnehmerInnen begrüßt, und findet dabei Anklang auch bei der Mehrheit der Italienischsprachigen. Durchgehende Zustimmung (nahezu 90%) findet auch das Ansinnen, die heutige 6er-Kommission, zuständig für die Erarbeitung der Durchführungsbestimmungen zum Autonomiestatut, durch ein transparentes und politisch repräsentativeres Organ zu ersetzen. Naturgemäß gehen die Meinungen in der Frage der Region zwischen Italienisch- und Deutschsprachigen, aber auch zwischen Konservativen, Reformern und Selbstbestimmungsbefürwortern auseinander. Während bei Letzteren die Variante der ersatzlosen Abschaffung dominiert, wollen 26% der Italienischsprachigen und 31% der „Reformer“ sie wieder aufwerten. Andererseits wollen auch 35% der Italienischsprachigen die Region abschaffen und 30% wollen sie durch eine weniger aufwändige Institution ersetzen. Auch in der italienischen Sprachgruppe Südtirols könnte somit eine Mehrheit der heutigen Region skeptisch gegenüber stehen. 134 64 19 0 35 26 9 46 18 7 41 31 0 81 12 1 17 61 20 1 135 Eine Abschaffung der heutigen Institution Region hätte keinesfalls die Einstellung der Zusammenarbeit zwischen den beiden Autonomen Provinzen zur Folge, die in diesem Fall selbst zu Autonomen Regionen aufrücken würden. Diese Zusammenarbeit könnte unter dem Dach der EUREGIO (EVTZ) erfolgen, was 50% befürworten, oder durch freiwillig, also ohne verfassungsrechtlichen Zwang, gebildete Strukturen (30% dafür). Grafik 6 Was sollte an die Stelle der Region nach ihrer Abschaffung treten? - In % der TeilnehmerInnen Zusammenarbeit TN-BZ wie? fallweise 21% Institut. freiwillig 30% 50% Im Schnitt 90% der deutschsprachigen TeilnehmerInnen sprechen sich dafür aus, die heutigen legislativen Kompetenzen der Region definitiv den Ländern zu übertragen (heute zum größeren Teil an die Länder Trentino und Südtirol nur delegiert). 5% Tab.10 - Sollen die BürgerInnen mehr Möglichkeiten auf Mitsprache bei Statutsänderungen erhalten? - In % der TeilnehmerInnen 136 nominiert durch Land 16% Besondere Aufmerksamkeit wurde im Rahmen dieser Befragung auch den demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten der BürgerInnen gewidmet mit sieben derartiger Verbesserungsmöglichkeiten, die im Statut zu verankern wären. Vorausgeschickt werden muss diesbezüglich, dass im geltenden Autonomiestatut keinerlei Rechte der Bürger auf Mitbestimmung bei Statutsänderungen vorhanden sind. Im Rahmen der Statutsreform von 2001 ist zwar die Landeskompetenz zur Regelung der direkten Demokratie eingeführt worden, die allerdings nach Mehrheitsauffassung nur dem Landtag, nicht dem Volk per Volksinitiative zusteht. Ja Nein Wenn Konvent, wie bestellen? anderer Modus 10. Demokratische Beteiligung Italienischsprachige 97 3 Auch der Landtag soll mehr Rechte bei einer zukünftigen Statutsänderung erhalten, z.B. mit qualifizierter Mehrheit solche Änderungen eigenständig, also ohne vorhergehendes Plazet des Regionalrats dem Parlament vorlegen können (91% der TeilnehmerInnen dafür). Derzeit wird in politischen Kreisen im Hinblick auf die notwendigen Reformen des Autonomiestatuts die Einsetzung eines sogenannten „Autonomiekonvents“, also einer statutgebenden Versammlung diskutiert. Ein solcher Konvent kann vom Landtag oder von der Landesregierung ernannt werden, könnte aber zwecks stärkerer politischer Legitimation auch direkt vom Volk gewählt werden. Wie stehen die TeilnehmerInnen zur Möglichkeit, zwecks Ausarbeitung der Reform des Statuts eine direkt gewählte Versammlung einzusetzen? Institut. EUREGIO Deutschsprachige 90 10 90% der TeilnehmerInnen begrüßen grundsätzlich Rechte und Möglichkeiten der Bürger auf direkte Mitsprache und Mitwirkung bei Autonomiestatutsänderungen, ganz gleich welcher Sprachgruppe. Derzeit haben die BürgerInnen in Südtirol kein Recht zur Regierungsform (Wahlrecht, Direkte-Demokratie-Gesetz) Volksinitiativen mit nachfolgender Volksabstimmung zu erwirken. Die einschränkende Interpretation des Art. 47, 2 führt derzeit dazu, dass für diese Landesgesetze nur ein bestätigendes Referendum zugelassen wird. Fast 90% begrüßen eine Änderung des Statuts in dem Sinn, dass die sog. Regierungsformgesetze (Wahlgesetz und Direkte-Demokratie-Gesetz) auch mit echter Volksinitiative geregelt werden dürfen. Konservative Reformer 79 21 90 10 SBBefürworter 94 6 Gesamt 90 10 Grafik 7 Wie soll ein Konvent zur Reform des Autonomiestatuts bestellt werden? direkt zu wählen 79% 79% der TeilnehmerInnen begrüßen ein solches Verfahren, wobei die Zustimmung unter den Italienischsprachigen sogar noch deutlicher ausfällt (92%). Betrachtet man die Meinung zur Direktwahl des Konvents etwas genauer, ergibt sich die höchste Zustimmung zu einer direkt gewählten „Statut-gebenden Versammlung“ (Konvent) bei den Selbstbestimmungsbefürwortern. Die „Reformer“ stehen der Direktwahl am skeptischsten gegenüber (nur 70% Zustimmung). Ein Initiativrecht bedeutet, dass eine Mindestzahl von BürgerInnen das Recht erhalten, einen Vorschlag an den Landtag bzw. ans Parlament zu richten, über den im Fall der Ablehnung 137 durch die betreffende Institution auch von den BürgerInnen abgestimmt werden muss. 84% der Teilnehmer befürworten auch ein eigenständiges Initiativrecht der BürgerInnen zur Abänderung des Statuts. Tab.11 - Soll im Statut die Möglichkeit einer Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit Südtirols verankert werden? - In % der TeilnehmerInnen Ja Nein Deutschsprachige 80 20 Italienischsprachige 51 49 Konservative Reformer 28 72 66 34 SBBefürworter 94 1 Gesamt 76 24 Überraschend das Ergebnis auf diese Frage: soll im zukünftigen Autonomiestatut auch die Möglichkeit vorgesehen werden, über die staatliche Zugehörigkeit Südtirols abzustimmen, also das Selbstbestimmungsrecht verankert werden. Während die allermeisten Fragen des Fragebogens dieser Umfrage sich im Rahmen der heutigen Rechtsordnung (Verfassung, Statut, Durchführungsbestimmungen) bewegen, hatte diese Frage einen eher hypothetischen Charakter, denn die Umsetzung würde eine vorhergehende Verfassungsänderung im gewichtigen Art. 5 voraussetzen (“Italien, eine einheitliche und unteilbare Republik...”). Nun ist eine derartige Bestimmung, die als eine Ausnahmeklausel für eine ganz bestimmte Provinz eingefügt werden müsste, grundsätzlich zwar denkbar, aber eher wenig wahrscheinlich. Während naturgemäß 99% der Selbstbestimmungsbefürworter hier zustimmen, sind es bei den “Konservativen” nur 28%, bei den Reformern 66%, aber sogar die Mehrheit der Italienischsprachigen stimmt hier zu. 11. Sozial- und Wirtschaftspolitik Diesem Aspekt waren aus Platzgründen nicht viele Fragen gewidmet, obwohl die Autonomie durchaus in dieser Hinsicht ausbaufähig ist. Laut Autonomiestatut gibt es bei der Arbeitsvermittlung einen Vorrang der in Südtirol Ansässigen gegenüber nicht ansässigen Personen (Art.10, 3 des Statuts). Aus verschiedenen Gründen wurde auf dieser Regel in der Praxis bisher nicht streng bestanden. Diese Bestimmung künftig streng nach dem Statut gehandhabt wissen wollen 61% der TeilnehmerInnen. Eine weit stärkere Zustimmung findet der Vorschlag zur Einführung einer Kompetenz des Landes zur Festlegung von branchenbezogenen Mindestlöhnen in Südtirol. 88% der Deutschsprachigen und 74% der Italienischsprachigen sind für eine solche neue Kompetenz, die zwar in die Tarifautonomie der Kollektivvertragsparteien eingreifen würde, sich aber aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten und der zu geringen Anwendung der territorialen und betrieblichen Zusatzverträge in Südtirol aufdrängt. des Landes (sozialer Wohnbau, Sozialhilfe, Pflegegeld usw.) an die Dauer der Ansässigkeit in der Provinz geführt. Für verschiedene Sozialleistungen ist derzeit in Südtirol seitens bestimmter Gruppen von Ausländern der Nachweis einer Mindestansässigkeitsdauer auf dem Landesgebiet nachzuweisen. Soll dieses Erfordernis in Zukunft verstärkt werden, um die Migrationsströme besser lenken zu können? Diese Hypothese hängt entscheidend vom EU-Recht ab, das das Prinzip der Personen-Freizügigkeit und freien Arbeitsplatzwahl sowie das Verbot von Diskriminierung von EU-BürgerInnen beim Arbeits- und Sozialrecht verbietet. Die Ablehnung einer solchen Bindung von Sozialleistungen an die Ansässigkeitsdauer ist nur bei Italienischsprachigen deutlich (31%), während insgesamt nur 12% dies ablehnen und die Zustimmung klar überwiegt. Auch die Landeskompetenzen im Bereich der Integration ausländischer Zuwanderer halten 94% der TeilnehmerInnen für zu gering. Tab.12 - Sollen die Sozialleistungen künftig enger an eine Mindestdauer der Ansässigkeit in Südtirol geknüpft werden? - In % der TeilnehmerInnen Ja Ja, aber nur sofern EUrechtskonform Nein Deutschsprachige 49 41 Italienischsprachige 20 49 Konservative Reformer Gesamt 26 57 SBBefürworter 71 26 24 52 9 31 24 17 3 12 46 42 Bei der Sozialversicherung besteht zur Zeit nur eine ergänzende Kompetenz der Region für die Zusatzrentenversicherung, während das Sozialversicherungsrecht an sich vom Staat gehütet wird. Soll das Land die Zuständigkeit erhalten, selbst eine Landesrentenversicherungsanstalt aufzubauen? Hier wird eine hohe Zustimmung bei den Deutschsprachigen (91%) verzeichnet, während eklatant weniger Italienischsprachige (54%) diese Aufgabe der Autonomen Provinz zutrauen. 12. Sonstige Fragen der Autonomie In diesem Abschnitt kamen einige zusätzliche Bestimmungen zur bevorstehenden Reform der Autonomie zur Sprache. Dabei ging es um die Rechte der Autonomen Provinz bei internationalen Beziehungen, um den Schutz Südtirols vor Eingriffen durch die EU und zusätzliche Regeln zum Schutz der Minderheiten. Wie Tabelle 13 zeigt, begrüßen immerhin zwei Drittel der Teilnehmer mehr Schutz der Autonomie gegenüber dem EU-Recht. Zu Rechtsstreit hat immer wieder die Knüpfung der Gewährung bestimmter Sozialleistungen 138 139 Tab.13 - Braucht Südtirol Schutz gegenüber den Eingriffen durch das EU-Recht? - In % der TeilnehmerInnen Deutschsprachige 74 Ja, Autonomiestatut gleichrangig mit den EU-Verträgen einstufen Ja, Italien soll für Südtirol Ausnahmeregelungen erwirken Nein, es braucht keinen besonderen Schutz Italienisch- Konservative Reformer SBGesamt sprachige Befürworter 14 26 57 88 67 9 49 45 13 5 13 17 37 29 29 8 19 Dies soll grundsätzlich durch Ausnahmebestimmungen (wie derzeit für andere autonome Regionen der EU gültig) und durch die Gleichrangigkeit des Statuts mit EU-Verträgen verankert werden. EU-Recht bricht bekanntlich Staats- und Regionalrecht der Mitgliedsländer. Hier gibt es bei den Italienischsprachigen weit weniger Zustimmung. 86% der TeilnehmerInnen würden jedenfalls eine Ausnahmebestimmung für Südtirol (z.B. bei der Subventionierung der Berglandwirtschaft, bei der Autobahnmaut, beim Natur- und Umweltschutz) befürworten, und auch mehr Kompetenzen des Landes bei der Regelung des Zweiwohnungsbaus, die sich 9 von 10 TeilnehmerInnen wünschen. Mehr Bewegungsfreiheit bei seinen internationalen Beziehungen könnte Südtirol durch folgende Alternativen erhalten. Hier sind vor allem die Italienischsprachigen zurückhaltender. Tab.14 - Soll Südtirol mehr Freiheit in der Gestaltung auswärtiger Beziehungen erhalten? %-Anteil „genannt“ der TeilnehmerInnen – Mehrfachnennung erlaubt Durch EUREGIO Einschließlich des Rechts zu Abkommen mit anderen Staaten Nur grenzüberschreitende Zusammen-arbeit Nein, Südtirol soll keine Kompetenzen für internat. Beziehungen erhalten Deutschsprachige Italienischsprachige Gesamt 66 58 37 11 62 52 21 37 22 4 29 7 13. Schlussbewertung Bei einer Gesamtbetrachtung der Ergebnisse dieser Online-Befragung müssen die methodischen Grenzen eines solchen Instruments - wie im Kap. 2 näher ausgeführt gegenwärtig bleiben. Diese Umfrage war völlig offen, also ohne gezielte Stichprobenauswahl und systematisch angewandte Kriterien zur Schichtung nach wesentlichen Merkmalen der Bevölkerung. Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass die Befragung keinerlei Anspruch auf Repräsentativität erheben kann. Ergebnisse sind daher nur qualitativ zu interpretieren bzw. als Meinung jener, denen die Autonomiereform ein besonderes Anliegen ist und die – wie auch immer – über die Umfrage Kenntnis erlangt haben. Allein schon die Kommunikationsschiene Internet und ein einziges wichtiges Online-Magazin schließt von vornherein einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung aus. Auf der anderen Seite gehören gerade die NutzerInnen solcher Tools und LeserInnen von Online-Magazinen zu den politisch sehr interessierten Medienkonsumenten. Die 356 TeilnehmerInnen sind nicht nur überdurchschnittlich qualifiziert (formale Ausbildung), sondern haben auch eine 20 bis 25-minütige Arbeit am Online-Fragebogen auf sich genommen. Naturgemäß werden die Antworten von der politischen Grundeinstellung zur Südtirolfrage konditioniert. Andererseits haben sich 155 SelbstbestimmungsbefürworterInnen auf Einzelfragen und Einzelschritte eines Autonomieausbaus eingelassen. Dies widerlegt die These einer unter diesen Personen verbreiteten Einstellung des “alles oder nichts”, sondern weist darauf hin, dass auch aus dieser Perspektive ein Autonomieausbau begrüßt wird. Die in 70 Einzelfragen aufgefächerten Verbesserungsmöglichkeiten werden jedenfalls von einer großen Mehrheit der deutschsprachigen TeilnehmerInnen, gleich ob “Konservative”, Reformer oder Selbstbestimmungsbefürworter, begrüßt. Bei den Italienischsprachigen ist das Meinungsbild zurückhaltend und skeptischer, aber doch bei vielen Hypothesen zum Ausbau der Autonomie eher positiv. Aus dieser Online-Umfrage kann zudem geschlossen werden, dass in der italienischen Sprachgruppe viel breiter und genauer erfasst werden sollte, welche Bereiche der Südtirol-Autonomie als verbesserungswürdig erachtet werden. Die Mehrheit hält zusätzliche Maßnahmen zum Schutz der deutschen und ladinischen Minderheit für überflüssig, und genauso wenig Anklang findet die Idee, spezielle Vorkehrungen zum Schutz der Interessen der Landeshauptstadt Bozen zu treffen (70% dagegen). 140 141 Entwurf für ein Landesgesetz zur Einrichtung eines Konvents zur Autonomiereform Aufgaben eines Konvents Verschiedentlich ist von politischer Seite die Einsetzung einer „statutgebenden Landesversammlung“, auch Autonomiekonvent (Convenzione), angesprochen worden und von LH Kompatscher in seiner Haushaltsrede im März 2014 angekündigt worden. Dieser Konvent soll die Aufgabe haben, mit demokratischem und partizipativem Ansatz die bevorstehenden Reformschritte des Autonomiestatuts der Region Trentino-Südtirol auf Landesebene vorzubereiten. Ein Landeskonvent muss – wie in anderen Regionen mit Sonderstatut (Friaul Julisch Venetien, Aostatal, demnächst Sardinien) bereits erfolgt – mit Landesgesetz eingerichtet werden, um seine Aufgaben als außerordentliches Organ des Landes innerhalb eines festgelegten Zeithorizonts zu erfüllen. Er ist Träger eines demokratischen Verfahrens, um unter Berücksichtigung der Vorschläge und Eingaben der Bürger und Bürgerinnen ein Abschlussdokument in Artikelform als Vorschlag für die Reform der Autonomie zu erstellen und dann dem Landtag zur Beschlussfassung vorzulegen. Ein beschließender Autonomiekonvent, etwa vergleichbar mit Verfassunggebenden Versammlungen auf Staatsebene, ist in der geltenden Rechtsordnung nicht möglich. Unter Berücksichtigung der Verfassung und des bestehenden Autonomiestatuts obliegt die Beschlussfassung zur Statutsrevision vielmehr dem Südtiroler Landtag und dem Regionalrat, der diesen als Verfassungsgesetzentwurf in der Abgeordnetenkammer in Rom einbringen kann (Art. 103, Abs. 2, Statut). Nach Verabschiedung eines Statutsentwurfs durch den Südtiroler Konvent und den Südtiroler Landtag sowie durch den Trentiner Landtag muss im Regionalrat ein Einvernehmen zwischen dem Trentino und Südtirol für eine gemeinsame verfassungsgesetzliche Initiative seitens des Regionalrats erzielt werden. Dies wird in der Geschichte Südtirols die erste Gelegenheit sein, bei welcher der Landtag und die Landesregierung ihre Befugnisse wahrnehmen, selbst die Reform des Statuts vorzubereiten und einzuleiten. Dabei muss von den neuen Entwicklungen in der Südtiroler Gesellschaft, von den Änderungen im Verhältnis zwischen Staat, Autonomen Provinzen und Region Trentino-Südtirol und den immer deutlicher zu beobachtenden Mängeln der heutigen Autonomie ausgegangen werden. In einem zeitgemäßen Ansatz zur direkten Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen und der politischen Kräfte quer durch die Sprachgruppen kann damit das Statut an die aktuellen Erfordernisse unseres Gemeinwesens angepasst werden. Mit dieser Statutsreform wird die vom Verfassungsgesetz Nr.3/2001 (Art.10) vorgesehene Möglichkeit genutzt, „weitergehende Formen von Autonomie“ einzuführen. Damit ist den Regionalräten (und Landtagen in Trentino-Südtirol) die Initiative zur Anpassung der jeweiligen Statuten übertragen worden. Es geht also darum, „weitergehender Autonomie“ rechtliche Gestalt zu geben. 142 Ein Autonomiekonvent hat allerdings nicht die Aufgabe, das bestehende Statut völlig zu erneuern. Bei seiner Arbeit geht der Autonomiekonvent von einem vorbereitenden Dokument des Landtags (Sonderkommission für Autonomiefragen) aus, das in Zusammenarbeit mit allen in Südtirol gewählten Parlamentariern zu erstellen ist. Darin sollen die der Revision und Neufassung zu unterziehenden Abschnitte und Sachfragen des geltenden Autonomiestatuts benannt und die rechtlichen Grenzen einer Reform aufgezeigt werden. Allerdings muss ein Konvent zur Autonomiereform auch befugt sein, Reformen vorzuschlagen, die eine Abänderung der geltenden Staatsverfassung (Kerntext, vor allem Abschnitt V) mit sich bringen. Dies betrifft z.B. die Zukunft der Institution der Region Trentino-Südtirol. In die Autonomierevision müssen darüber hinaus alle Neuerungen, die mit dem Verfassungsgesetz Nr.2 und 3/2001 eingeführt worden sind, formal ins Autonomiestatut integriert werden. Mit dem neuen Autonomiestatut muss die Aufteilung der primären, sekundären und ergänzenden Zuständigkeiten neu definiert werden, wobei künftig die Kategorie der konkurrierenden Gesetzgebung entfallen soll. Angesichts des legitimen Anspruchs der Zivilgesellschaft auf mehr politische Beteiligung und Kontrolle sollen die Volksrechte, unbeschadet der autonomen Gesetzgebungsbefugnisse bei Wahlrecht für den Landtag und direkter Demokratie, auch im Statut präzisiert und erweitert werden. Künftig soll auch der Südtiroler Landtag genauso wie sein Trentiner Gegenstück in Anerkennung seiner Eigenständigkeit das Recht erhalten, direkt dem Parlament Abänderungsvorschläge zum Statut vorzulegen. Zum Verfahren Da eine solche Versammlung den politischen, sozialen und kulturell-sprachlichen Pluralismus in Südtirol möglichst getreu abbilden und Interesse und Beteiligung der BürgerInnen möglichst fördern soll, kann sie nur durch direkte, freie Wahl zustandekommen. Somit soll dieser Konvent aus 40 (ein Vertreter auf 10.000 Wahlberechtigte) Personen bestehen, die direkt von den Südtiroler Wahlberechtigten gewählt werden. Ausgehend vom Grundanliegen, die Zivilgesellschaft in dieses demokratische Verfahren stärker einzubeziehen, können nicht nur wie bei traditionellen Landtags- und Parlamentswahlen Parteien diese Vertretungsaufgabe wahrnehmen. Vielmehr müssen die verschiedenen Ansätze, Vorschläge und Vorstellungen zur Reform unserer Autonomie auch von frei nominierten Exponenten der Südtiroler Gesellschaft im Konvent vertreten werden. Dementsprechend soll die freie Nominierung der Kandidaten mit möglichst geringen Hürden und formalen Voraussetzungen ermöglicht werden. Die Direktwahl soll mit einem einzigen Wahlkreis ohne Prozenthürden erfolgen. Dem Konvent dürfen keine in Südtirol gewählten Landtags- bzw. Parlamentsabgeordnete angehören, weil diese in der zweiten und dritten Phase des legislativen Prozesses entscheidungsbefugt sind (Vermeidung einer doppelten Entscheidungsbefugnis). Die Konventsmitglieder sollen nach Maßgabe des Gehalts eines Landesbeamten (Stufe Amtsdirektor) vergütet werden. Als pensionsrechtlicher Anspruch kann die geltende Südtiroler Regelung für die Bürgermeister angewandt werden. 143 Außerdem soll durch eine Abänderung des L.G. vom 18.11.2005, Nr.11 (Volksbegehren und Volksabstimmung) die Südtiroler Bürgerschaft das Recht erhalten, zur Entscheidung des Südtiroler Landtags zur Autonomiestatutsreform, die an den Regionalrat zwecks endgültiger Genehmigung weitergeleitet wird, ein bestätigendes Referendum zu verlangen. Dabei ist vom Art. 138, Abs.2 Verfassung (bestätigendes Referendum auf Staatsebene) auszugehen und kann auf die bestehende Regelung des bestätigendes Referendums hinsichtlich der Regierungsformgesetze des Landes (L.G. vom 17.7.2002, Nr.10) zurückgegriffen werden. Bezüglich des rechtlichen Stellenwerts der Entscheidung des Landtags für einen Verfassungsgesetzesvorschlag an das Parlament gemäß Art. 103 Statuts muss geklärt werden, dass dies kein Regierungsformgesetz wäre, sondern nur eine „Motion“ (Beschlussantrag), die vom Regionalrat verabschiedet werden muss, um ans Parlament weitergeleitet werden zu können. Neben der größtmöglichen Qualität an direkter Partizipation der Bürger und Bürgerinnen muss ein Konvent auch in seiner Zusammensetzung und in seiner Geschäftsordnung einige wichtige Kriterien beachten, die im entsprechenden Landesgesetz verankert werden müssen. Das Verfahren der Statutsrevision in Konvent und Landtag muss der Gleichberechtigung der drei konstituierenden Sprachgruppen Südtirols und dem verfassungsrechtlichen Gebot des Minderheitenschutzes Rechnung tragen (Art. 6 Verf.). In diesem Sinn muss die ladinische Sprachgruppe mit mindestens einem Mitglied vertreten sein. Die Gleichberechtigung der Geschlechter soll durch eine Quotenregelung erreicht werden, die eine geringere Vertretung als 40% eines Geschlechts verhindert. Schließlich sollen beim Wahlmodus des Konvents auch die angemessenen Vertretung der jüngeren (bis 30 Jahre) und der älteren BürgerInnen (über 65) durch eine eigene Quote berücksichtigt werden. Wenn im internen Verfahren des Konvents Regeln zur Schlichtung zwischen den VertreterInnen verschiedener Sprachgruppen zum Tragen kommen sollen, müssen die gewählten VertreterInnen bei der konstituierenden Sitzung des Konvents eine ad-hoc-Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung abgeben. Der Autonomiekonvent muss nicht nur den Grundsatz der Transparenz und Öffentlichkeit seiner Arbeiten wahren, sondern alle geeigneten Maßnahmen in Gang setzen, um die Bevölkerung in seine Arbeiten einzubeziehen und das Interesse der Öffentlichkeit zu fördern. Unter Partizipation werden dabei alle Formen der direkten Mitwirkung der BürgerInnen, als Souveräne in der Demokratie, auf der Ebene der Informations-, Petitions- und Vorschlags-, Initiativ-, Anregungs- und Abstimmungsrechte verstanden. In diesem Sinne sollen die Interessengruppen, Vereine und Verbände angehört werden, aber auch präzise Initiativ- und Vorschlagsrechte der BürgerInnen verankert werden. Es sollen moderne Formen der Partizipation, die in anderen Regionen mit Erfolg zum Einsatz gekommen sind, beim Verfahren des Autonomiekonvents zur Anwendung kommen. Dazu gehören: • Anhörungen von ExpertInnen • Vernehmlassungen zu Einzelbereichen der Reform • Forum der Organisationen, Vereine und Verbände 144 • • • Ein Online-Forum (crowd sourcing), das ausgewertet und berücksichtigt werden muss. Formelles Initiativrecht von Gruppen und Einzelnen Repräsentative Umfragen in den Bevölkerung Die Bürger und Bürgerinnen werden nach vorliegendem Vorschlag somit in mindestens vier Phasen des Autonomiekonvents direkt mitwirken können: • der freien Nominierung von Kandidaten und Kandidatinnen, auch unabhängig von Parteien • der direkten Wahl der Mitglieder des Konvents • der Partizipation in obgenannten Formen während der Arbeiten des Konvents • des fakultativen bestätigenden Referendums auf den Beschluss des Landtags zur Autonomiereform. Organisatorische Aspekte Sitz und Tagungsort des Konvents ist der Südtiroler Landtag. Der Autonomiekonvent wird von einem eigenen, beim Landtagspräsidium angesiedelten Organ koordiniert, unter dem Vorsitz des Landtagspräsidenten. Diesem Organ sollen außerdem auch das dreiköpfige Präsidium des Autonomiekonvents und vier Vertreter des Landtags angehören (jeweils zwei von Mehrheit und Opposition). Das Koordinierungsamt hat die verschiedenen Schritte zur Wahl, Einrichtung und Abwicklung des Konvents organisatorisch zu betreuen. Es sorgt für die nötige technische und organisatorische Unterstützung aller anstehenden Arbeiten. Darunter fällt die Bereitstellung des Übersetzungsdienstes und die Betreuung einer eigenen Internetseite, auf welcher alle Dokumente, Erläuterungen, Sitzungskalender veröffentlicht werden. Die Sitzungen und alle Ergebnisse des Konvents sollen öffentlich sein. Das Koordinierungsamt wird auch mit der Aufgabe betraut, eine regelmäßige Verbindung mit den in Südtirol gewählten Parlamentsmitgliedern herzustellen. Außerdem soll eine Koordinierung mit dem in der Provinz Trient mit der Statutsrevison beauftragten Organ hergestellt werden. Das Koordinierungsamt trägt die Organisation der verschiedenen Formen der Partizipation (Information der Öffentlichkeit, Einholung und Auswertung der Vorschläge der Bürgerinnen, Forum der Vereine und Verbände, repräsentative Befragungen, Online-Tools). Der Konvent soll sich auch eines eigenen Komitees für Rechtsberatung bedienen können, das vom Koordinierungsamt beauftragt wird. Zu diesem Zweck wird dieses Amt ermächtigt, geeignete ExpertInnen zu beauftragen mit der Aufgabe, dem Konvent, seinen Kommissionen und den einzelnen Mitgliedern eine hoch qualifizierte Rechtsberatung zu bieten, vor allem für Fragen größerer Komplexität und von besonderer politischer oder verfassungsrechtlicher Bedeutung, immer mit Bezug auf die Revision des Autonomiestatuts. Zu diesem Zweck wird dieses Amt ermächtigt, geeignete ExpertInnen zu beauftragen, die auch für öffentliche Anhörungen zur Verfügung stehen sollten. Dem Landeskonvent sollen ab seiner Konstituierung acht Monate eingeräumt werden, um dem Landtag seine Beschlussvorlage zur Autonomiereform vorzulegen, während der Landtag seinerseits zwei Monate Zeit hätte, um diese Vorlage zu verabschieden. 145 Entwurf eines „Landesgesetzes für den Landeskonvent für die Autonomiereform“ Art.1 - Einsetzung und Unabhängigkeit Zwecks Gewährleistung demokratischer Legitimation und direkter Bürgerbeteiligung bei der Revision des Autonomiestatuts der Region Trentino-Südtirol vom 20.1.1972 (DPR Nr.670/1972) wird der „Landeskonvent für die Autonomiereform“ eingerichtet. Dieser Konvent ist in seiner Tätigkeit unter Berücksichtigung der im vorliegenden Gesetz genannten Auflagen und Kriterien unabhängig, nicht weisungsgebunden und bei der Erfüllung seiner Aufgabe nur sich selbst und dem Südtiroler Landtag verantwortlich. Art. 2 - Aufgabe Der Konvent hat die Aufgabe, das Autonomiestatut der Autonomen Region Trentino-Südtirol insbesondere hinsichtlich aller Südtirol betreffenden Abschnitte zu überarbeiten und einen in Artikel gefassten Reformvorschlag für das Autonomiestatut auszuarbeiten, zu verabschieden und dem Landtag zur Beschlussfassung vorzulegen. Dabei geht der Konvent von einem rechtlichen und inhaltlichen Rahmendokument aus, das der Südtiroler Landtag nach Vorlage eines entsprechenden Entwurfs der Sonderkommission für Autonomiefragen des Landtags mit Zwei-Drittel-Mehrheit verabschiedet. Art. 3 - Zusammensetzung und Wahlverfahren Der Landeskonvent setzt sich aus 40 direkt nach Verhältniswahlrecht gewählten Mitgliedern zusammen. Dabei bildet Südtirol einen einzigen Wahlkreis mit konkurrierenden Kandidatenlisten. Für die Wählbarkeit und Unvereinbarkeit gelten die Bestimmungen des Landtagswahlgesetzes vom 8.5.2013, Nr.5. Nicht wählbar sind darüber hinaus alle Mitglieder des Landtags, der Abgeordnetenkammer und der Versammlung der Autonomien. Die Wahl des Konvents wird mit Dekret des Landeshauptmanns anberaumt und erfolgt binnen 120 Tagen ab Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzes. Die Wahl erfolgt in einem einzigen Wahlgang. Art. 4 - Kandidatennominierung Die Wahl der Konventsmitglieder erfolgt über Listen, die von Parteien, Bürgerplattformen und Bürgerinitiativen vorgelegt werden. Mit Ausnahme der im Landtag vertretenen Parteien müssen zu diesem Zweck von den Listenvertretern mindestens 232 beglaubigte Unterstützungsunterschriften vorgelegt werden. Das Verfahren zur Sammlung der beglaubigten Unterschriften hierzu erfolgt nach Maßgabe des L.G. vom 18.11.2005, Nr.11, Volksbegehren und Volksabstimmung. Art.5 - Wählbarkeit und Wahlmodus Jeder in die Wählerlisten einer der Gemeinden Südtirols eingetragene Staatsbürger ist wahlberechtigt und wählbar. Für die im Ausland ansässigen Wahlberechtigten gelten die Bestimmungen des Landtagswahlgesetzes vom 8.5.2013, Nr.5. Die Wahl des Landeskonvents erfolgt über Briefwahl, wobei die Stimmkuverts sowohl per Post als auch direkt bei den 146 Gemeindewahlämtern abgegeben werden können. Näheres regelt eine Durchführungsverordnung. Art. 6 - Soziale Repräsentativität Zwecks Anwendung der von der Verfassung vorgesehenen Gleichberechtigung der Geschlechter und zur Gewährleistung der sozialen Repräsentativität des Konvents hinsichtlich der Altersgruppen, werden die 40 Mitglieder des Konvents dergestalt gewählt, dass der Konvent mindestens 16 Frauen, mindestens 16 Männer, mindestens 5 Personen der Altersgruppe 18 bis 30 und mindestens 5 Personen über 65 Jahre umfasst. Der Konvent darf insgesamt nicht weniger als 40% Angehörige eines der beiden Geschlechter aufweisen. Zur Umsetzung dieser Bestimmung erhält jeder Wähler 4 Wahlzettel, auf welchen eine Vorzugsstimme für jede der genannten Kategorien abgegeben werden kann. Zu diesem Zweck werden von den wahlwerbenden Listen und Gruppen 4 getrennte Listen für die in Absatz 1 genannten Kategorien eingereicht: Frauen, Männer, Jüngere (<30); Ältere (>65). In der Liste der Jüngeren und Älteren müssen sich zwecks Zulassung der Liste Männer und Frauen in der Reihung abwechseln. Jede/r Wähler/in kann eine Listenstimme und jeweils höchstens eine Vorzugsstimme auf den 4 Wahlzetteln abgeben. Die Sitzverteilung erfolgt nach demselben System der Landtagswahlen gemäß Landtagswahlgesetz vom 8.5.2013, Nr.5. Die höchste Zahl an Reststimmen entscheidet über die Zuteilung eines Reststimmen-Mandats. Dabei müssen die obgenannten Quoten nach Alter und Geschlecht eingehalten werden. Wird die Mindestzahl von 40% Angehörigen eines Geschlechts in der Besetzung der Sitze im Konvent nicht erreicht, rückt der/die jeweils nach absoluter Stimmenanzahl Nächstgewählte/r auf der entsprechenden Liste nach. Dem Konvent muss mindestens 1 Vertreter/in der ladinischen Sprachgruppe angehören. Art.7 - Verfahren und Funktionsweise Die Organe des Konvents sind das Präsidium, die Kommissionen, das Plenum und der Schlichtungsausschuss. Der Landeskonvent wählt ein dreiköpfiges Präsidium bestehend aus jeweils einem Vertreter aller drei Sprachgruppen, von welchen mindestens 1 Vertreter dem jeweils anderen Geschlecht angehören muss. Die Aufgabe des Konventsvorsitzenden wird abwechselnd von Plenarsitzung zu Plenarsitzung von den drei Präsidiumsmitgliedern wahrgenommen. Der Konvent gibt sich eine eigene Geschäftsordnung und Verfahrensregeln, die mit ZweiDrittel-Mehrheit des Plenums verabschiedet werden müssen. Alle Kommissionen wählen ihre jeweiligen Präsidenten. Der Konvent tagt öffentlich. Mit Unterstützung des Koordinierungsamtes gemäß Art. 10 werden die Plenarsitzungen im Internet übertragen und alle Dokumente und Protokolle im Internet veröffentlicht. Art. 8 - Gleichberechtigung der Sprachgruppen Die Gleichberechtigung der Sprachgruppen und der Schutz der Rechte der Sprachgruppen sind im Verfahren des Konvents ein leitendes Prinzip. Bei Konflikten in Fragen des Minderheitenschutzes und der Gleichberechtigung der Sprachgruppen kann ein Schlichtungsver- 147 fahren nach Maßgabe des Art. 56 des geltenden Autonomiestatuts von der Mehrheit der Vertreter einer Sprachgruppe beantragt werden. Diesem Gremium gehören 5 Mitglieder des Konvents an, wovon 2 Mitglieder der deutschen, 2 Mitglieder der italienischen und ein Mitglied der ladinischen Sprachgruppe angehören müssen. Mindestens 2 Mitglieder müssen dem jeweils anderen Geschlecht angehören. Wird in der Schlichtungskommission binnen eines Monats keine Einigung erzielt, bleibt die entsprechende Regelung im geltenden Autonomiestatut unverändert. Zwecks Anwendbarkeit dieses Schlichtungsverfahrens müssen die Mitglieder des Konvents zur konstituierenden Sitzung eine Erklärung ihrer Sprachgruppenzuordnung abgeben. Art. 9 - Partizipation der Bürger und Bürgerinnen Die Partizipation der Bürger und Bürgerinnen an den Arbeiten des Konvents wird in folgenden Formen und mit folgenden Rechten der Bürger gewährleistet: das Recht auf Information durch den Bezug der Vernehmlassungsbroschüre und die Öffentlichkeit der Arbeiten; das Recht auf den Bürgerantrag beim Konvent; das Recht auf Teilnahme an den öffentliche Anhörungen von ExpertInnen; das Recht auf Teilnahme am Forum der Organisationen, Vereine und Verbände; das Recht der Interaktion mit den Konventsmitgliedern im Internet-Forum, was vom Koordinierungsamt betreut und ausgewertet werden muss. Zudem erfolgen repräsentative Umfragen in der Bevölkerung mithilfe der zuständigen Institutionen des Landes. Bei der Umsetzung dieser Rechte der Bürger bedient sich der Konvent der Unterstützung des Koordinierungsamtes. Art. 10 - Recht auf Bürgerantrag Alle in Südtirol für den Konvent Wahlberechtigten haben das Recht, Anträge und Vorschläge in den Konvent einzubringen. Diese Anträge können von einer oder mehreren Personen unterzeichnet werden und müssen binnen 4 Monaten ab Konstituierung des Konvents beim Koordinierungsamt eingebracht werden. Die Antragsteller haben das Recht, dass der Antrag in der zuständigen Kommission des Konvents oder im Plenum behandelt und zur Abstimmung gebracht werden. Art. 11 - Das Koordinierungsamt Zwecks praktisch-organisatorischer Abwicklung des Landeskonvents wird beim Südtiroler Landtag das Koordinierungsamt eingerichtet, der unter der Verantwortung des Präsidiums des Konvents und des Präsidiums des Landtags mit folgenden Aufgaben betraut wird: - es bereitet alle Sitzungen des Konvents vor und gewährleistet die Öffentlichkeit der Arbeiten. - es gewährleistet für alle Mitglieder rechtswissenschaftliche Unterstützung und Beratung. - es ist verantwortlich für die Organisation der Bürgerbeteiligung - es nimmt schriftliche Vorschläge und Anträge der BürgerInnen über alle Kommunikationskanäle entgegen und leitet sie an den Konvent weiter. - es gewährleistet den allen Mitglieders des Konvents zustehenden Rechtsbeistand durch direkt beauftragte ExpertInnen. 148 Zusammen mit den Wahlunterlagen für die Bürger wird allen Haushalten eine Informationsbroschüre über die Aufgaben und Arbeitsweise sowie die Bürgerrechte zugesandt. Art. 12 - Sitz und Dauer Der Konvent hat seinen Sitz beim Südtiroler Landtag. Der Konvent schließt seine Arbeiten binnen 8 Monaten ab seiner Konstituierung mit der Verabschiedung einer Beschlussvorlage für die Revision des Autonomiestatuts für den Südtiroler Landtag ab. Minderheitenberichte sind zulässig. Der Konvent benennt einen oder mehrere Berichterstatter für die offizielle Vorstellung des Abschlussdokuments im Südtiroler Landtag. Art. 13 - Aufgaben des Landtags und bestätigendes Referendum Binnen zwei Monaten ab Vorlage des Abschlussdokuments diskutiert und beschließt der Landtag das vom Konvent vorlegte Dokument mit den für nötig erachteten Abänderungen. Zu diesem Beschluss können mindestens 8.000 Wahlberechtigte das bestätigende Referendum ergreifen. Dieses Referendum wird nach Maßgabe des L.G. vom 17.7.2002, Nr.10 abgewickelt. Hat das Referendum Erfolg, müssen der Konvent und der Landtag ein neues Dokument zur Revision des Autonomiestatuts erstellen. Dieses kann nicht mehr dem bestätigenden Referendum unterworfen werden. Art. 14 - Übermittlung an den Regionalrat und ans Parlament Der vom Landtag verabschiedete Vorschlag zur Revision des Autonomiestatuts wird von diesem, nach Verabschiedung, gemäß Regionalgesetz an den Regionalrat weiter geleitet, der ihn mit dem entsprechenden Revisionsvorschlag der Provinz Trient zusammenführt und einen gemeinsamen Vorschlag aufgrund des Art. 103, Abs.2 des Autonomiestatuts verabschiedet. Der Regionalrat bringt den gemeinsamen Revisionsvorschlag im Parlament zwecks Abwicklung des Verfahrens laut Art. 138 der Verfassung ein. Art. 15 - Finanzierung und Vergütung der Konventsmitglieder Die Deckung aller mit der Einrichtung des Konvents und der Abwicklung seiner Arbeiten verbundenen Kosten geht zu Lasten des Haushalts des Landtags, insbesondere a) die Ausgaben für die Vergütungen der Konventsmitglieder b) die Ausgaben für die Tätigkeit des Koordinierungsamtes c) die eventuellen Ausgaben für ein bestätigendes Referendum Die Konventsmitglieder werden nach Maßgabe der geltenden Entlohnung von Amtsdirektoren der Landesverwaltung vergütet. Die pensionsrechtliche Behandlung erfolgt nach Maßgabe des Dekrets Nr. 267/2000 zur Rentenregelung der Gemeindeverwalter. Die Deckung dieser Ausgaben erfolgt mit eigenen Bereitstellungen zu Lasten des Haushaltsvoranschlages für das Finanzjahr 2015 und folgende, die gemäß Artikel 18 des Landesgesetzes vom 29. Jänner 2002, Nr. 1, ergänzt werden können. Dieser Vorschlag für einen Gesetzentwurf ist von Thomas Benedikter mit Beratung seitens Stephan Lausch ausgearbeitet worden. 149 ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ Anhang POLITiS und Südtiroler Bildungszentrum Weinstr. 60, 39057 Eppan, Tel. 324 5810427, info@politis.it Fragebogen der Online-Befragung zur Autonomiereform Bitte beantworten Sie folgende Fragen 10 Abschnitte nach Themen 1. Allgemeine Fragen 2. Territorialautonomie (Kompetenzen) 3. Finanzielle Aspekte der Autonomie 4. Schulsystem und Sprachenrechte 5. Vertretungsrechte der Sprachgruppen und ethnischer Proporz 6. Verhältnis Staat-Land und Absicherung der Autonomiereformen 7. Verhältnis zwischen Trentino und Südtirol (Zukunft der Region) 8. Demokratische Beteiligung und Verfahren zur Autonomiereform selbst 9. Sozial- und Wirtschaftspolitik, Arbeitsmarkt und Migration 10. Sonstige Fragen zur Reform der Autonomie Zur Person Abschnitt 2: Territorialautonomie (autonome Kompetenzen) 2.1 Die SVP verlangt Vollautonomie und versteht darunter den Übergang aller Kompetenzen, außer den wesentlichen staatlichen Funktionen wie Verteidigung, Außenpolitik, Geldpolitik, Straf- und Zivilrecht. Stimmen Sie dieser Zielsetzung zu? □ ja Örtliche Polizei □ ja Primär- und Sekundarstufe der Schule □ ja Handelskammern □ ja Lehrlingswesen □ ja Kontrolle der Arbeitsvermittlung □ ja Öff. Veranstaltungen und Sicherheit □ ja Gastbetriebe □ ja Industrieförderung □ ja Großwasserableitungen für Wasserkraft□ ja Gesundheitswesen □ ja Sport □ ja Abschnitt 1: Allgemeine Fragen □ Ich wünsche mir einen möglichst weitgehenden Ausbau der Autonomie. □ Ein Ausbau ist sinnvoll, aber es braucht nur partielle Verbesserungen. □ Ein Ausbau ist nicht nötig, es reicht der heutige Stand. □ Eigentlich hat das Land Südtirol schon zu viel Autonomie. □ Ein Ausbau ist sinnlos, weil nur Selbstbestimmung die Lösung bringen kann. 1.2 Wie kann eine umfassende Autonomiereform (3. Autonomiestatut) Ihrer Meinung nach am besten erreicht werden? □ Mit der bisherigen Strategie der kleinen Schritte mit Vereinbarungen zwischen den Regierungsparteien in Rom und Bozen □ Durch ein breites Parteienbündnis aller wichtigen politischen Kräfte in Südtirol □ Durch verstärkten internationalen Druck (Österreich) □ Durch verstärkten Druck von unten (Öffentlichkeit, Bevölkerung, selbstverwaltete Aktionen) □ Anderes................................ 1.3 Wo sehen Sie die Schwerpunkte, bei denen die heutige Autonomie Südtirols am stärksten zu verbessern ist? Mehrfachnennung erlaubt □ Bei der möglichst eigenständigen Gestaltung möglichst vieler Kompetenzen □ Beim möglichst konfliktfreien, harmonischen Zusammenwirken der Sprachgruppen □ Bei den demokratischen Mitbestimmungsrechten der Bürger und der Autonomie der Gemeinden □ Bei der Position Südtirols gegenüber der Region und gegenüber dem Zentralstaat □ Bei den Steuern und Finanzen □ Anderes 150 □ nein, das reicht nicht 2.2 Das Land hat primäre und sekundäre Kompetenzen in der Gesetzgebung. Sekundäre Kompetenzen werden auch als „geteilte Kompetenzen“ bezeichnet, weil sie im Rahmen der Prinzipien der staatlichen Gesetzgebung ausgeübt werden können. Im Prinzip regelt der Staat dabei das Grundsätzliche, das Land die Details (vgl. die Publikationen des Landes Südtirol hierzu auf: http://www.jugend.landtag-bz.org/de/downloads/). Das Land Südtirol hat sogenannte sekundäre Kompetenzen in folgenden Bereichen (Art. 9 Statut): örtliche Polizei, Primär- und Sekundarstufe der Schule, Handel, Lehrlingswesen, Kontrolle der Arbeitsvermittlung, öffentliche Veranstaltungen und Sicherheit, Gastbetriebe, Industrieförderung, Großwasserableitungen für Wasserkraft, Gesundheitswesen, Sport. Welche sollten Ihrer Meinung nach zu primären Kompetenzen werden? -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------1.1 Zum Ausbau der Südtirol-Autonomie gibt es verschiedene Einstellungen. Welche der folgenden Aussagen entspricht am ehesten Ihrer Meinung? □ nein, das geht zu weit □ nein □ nein □ nein □ nein □ nein □ nein □ nein □ nein □ nein □ nein □ nein 2.3 Soll Südtirol die primäre Zuständigkeit für die Regelung und Finanzierung der Hochschulen und wissenschaftlichen Forschung erhalten? □ ja □ nein 2.4 Soll das Gesundheitswesen (heute sekundäre Zuständigkeit) auf die Autonome Provinz Bozen als primäre Zuständigkeit übertragen werden? □ ja □ nein Falls Sie Bedenken gegen die Umwandlung einiger der genannten sekundären Zuständigkeiten in primäre haben, was sind die Gründe dafür? ............................................................................................... 2.5 Im Statut gibt es die sog. „übertragene Gesetzgebung“ (Art. 17). Auch zwecks Kosteneinsparung hat der Staat immer wieder Kompetenzen ans Land delegiert, und zwar bei der Verwaltung und bei der Gesetzgebung (das Land kann die Organisation dieser Kompetenzen mit Gesetz regeln; vgl. die Publikationen des Landes Südtirol hierzu auf: http://www.jugend. landtag-bz.org/de/downloads/). Sollen diese Kompetenzen definitiv ans Land übergehen? (Wenn ja, kann die Übertragung nicht mehr einseitig durch den Staat rückgängig gemacht werden, sondern diese Aufgabe wird eine „echte Kompetenz“ des Landes). Welche der übertragenen Kompetenzen sollen definitiv übergehen? Zivilmotorisierung Arbeitsvermittlung medizinische Notdienste Staatsstraßen □ ja □ ja □ ja □ ja □ nein □ nein □ nein □ nein 151 Dienst- und Besoldungsrecht Lehrpersonal Energie Grund- und Gebäudekataster □ ja □ nein □ ja □ nein □ ja □ nein 2.6 Andere autonome Regionen haben auch die Zuständigkeit für die regionale Polizei (Landespolizei), die Verwaltung der Gerichtsbarkeit, den öff. Rundfunk und Fernsehen, das Transportwesen. Sollte auch Südtirol diese Zuständigkeiten erhalten? Landespolizei □ ja □ nein Verwaltung der Gerichtsbarkeit □ ja □ nein Öff. Rundfunk und Fernsehen □ ja □ nein Transportwesen (einschl. Autobahnmaut) □ ja □ nein Falls Sie Bedenken gegen die Übertragung einiger der genannten Zuständigkeiten haben, was sind die Gründe dafür? ................................................................ 2.7 Soll die Post vom Land Südtirol organisiert werden? □ ja □ nein 2.8 Reichen aus Ihrer Sicht die heutigen autonomen Zuständigkeiten des Landes aus, um das alpine Ökosystem Südtirols ausreichend zu schützen? □ ja □ nein ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ Abschnitt 3 Finanzielle Aspekte der Autonomiereform 3.1 Derzeit werden die meisten Steuern in Südtirol von den staatlichen „Agenturen für Einnahmen“ eingehoben. Wenn die Zuständigkeit für die Steuereinhebung (nicht zu verwechseln mit der Steuerhoheit. also der Zuständigkeit zur Regelung der Steuern) auf das Land übertragen wird, wären Landesfinanzämter für diesen Dienst zuständig. Soll Südtirol die Zuständigkeit erhalten, mit einer landeseigenen Agentur für Einnahmen die staatlichen Steuern einzuheben? □ ja □ nein 3.2 Bestimmte Steuern wie die Mehrwertsteuer und die Treibstoffsteuern werden im Allgemeinen auf höherer Ebene geregelt oder harmonisiert (erstere EU-weit, letztere staatsweit). Soll Südtirol bestimmte Steuern, die heute in Rom gesetzlich geregelt werden, selbst regeln können? □ ja □ nein Wenn ja, welche Steuern? Mehrfachnennung erlaubt □ IRPEF Einkommenssteuer □ Die Schenkungs- und Erbschaftssteuer □ IRES (Steuer auf den Gewinn der Gesellschaften) □ andere: welche...................... 3.3 Soll sich Südtirol am staatlichen Finanzausgleich zugunsten ärmerer Regionen beteiligen? □ ja □ nein 3.4 Soll das Land sich am Abbau der Staatsschulden entsprechend seiner wirtschaftlichen und steuerlichen Leistungskraft beteiligen? □ ja □ nein 3.5 Derzeit kann Südtirol bei den meisten Steuern 90% des Aufkommens im Land einbehalten. Diese Beteiligung bildet den größten Teil der Einnahmen des Landes. Welcher Anteil wäre Ihrer Meinung nach angemessen? 152 □ genau dieser Anteil □ mehr □ weniger 3.6 Das Kontrollorgan über die öffentlichen Ausgaben der lokalen Gebietskörperschaften in Südtirol ist der staatliche Rechnungshof. Soll das Land Südtirol einen eigenen Rechnungshof erhalten? □ ja □ nein ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ Abschnitt 4 Schulsystem und Sprachenrecht 4.1 Der heutige Art. 19 des Autonomiestatuts sieht vor, dass der Schulunterricht in den deutschen und italienischen Schulen in der Muttersprache der SchülerInnen von Lehrpersonen dieser Muttersprache erteilt wird. Soll der heutige Artikel 19 des Autonomiestatuts so abgeändert werden, dass die Errichtung zweisprachiger Schulen mit einer gleichberechtigten Verwendung der Unterrichtssprachen Deutsch und Italienisch nach dem Muster der ladinischen Schule ermöglicht wird? □ ja □ nein 4.2 Soll die italienische Sprachgruppe mehr Spielraum erhalten, für ihre Schule andere Sprachen als Italienisch als Unterrichtssprachen einzuführen (einschließlich Deutsch)? □ ja □ nein 4.3 Gibt es Bereiche des öffentlichen Dienstes, in denen Sie die Zweisprachigkeitspflicht als nicht ausreichend gewahrt und zu verstärken empfinden? □ ja □ nein Falls ja: Welche Bereiche sind das? Mehrfachnennung erlaubt □ Polizei □ Steuerämter □ Postämter □ Sozialversicherung □ andere..................................... 4.4 Was ist Ihre Meinung zur heutigen Regelung der Zweisprachigkeitsprüfung? Ist sie... □ gut, in dieser Form beizubehalten □ zu wenig streng □ zu streng □ abzuschaffen und durch andere Bescheinigungen für die Beherrschung von Deutsch und Italienisch zu ersetzen ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ Abschnitt 5 Vertretung der Sprachgruppen und ethnischer Proporz 5.1 Heute besteht die gesetzliche Verpflichtung, die Landesregierung so zu bilden, dass ihre Zusammensetzung der zahlenmäßigen Stärke der Sprachgruppen im Landtag entspricht. Soll diese Bestimmung dahingehend abgeändert werden, dass die Stärke der Sprachgruppen gemäß Volkszählung als Maßstab für die Zusammensetzung der Landesregierung herangezogen wird? □ ja □ nein 5.2 Seit 1997 gibt es eine „flexible Anwendung“ des Proporzes bei den Stellen im öffentlichen Dienst (Staat, Land, Bezirksgemeinschaften, Gemeinden usw.). 153 Soll der ethnische Proporz bei der Besetzung öffentlicher Stellen noch flexibler erfolgen (etwa erst dann greifen, wenn ein deutliches Missverhältnis zwischen den Sprachgruppen in der Besetzung der Stellen entstanden ist)? □ ja □ nein Wenn ja, in welchem Sinn flexibler?............................ 5.3 Die ladinische Sprachgruppe ist bei der Besetzung verschiedener Ämter heute nicht völlig gleichberechtigt (Verwaltungsgericht, LH-Stellvertreter, 6er-Kommission, andere). Sollen die Ladiner gleichberechtigt sein bei...... Mehrfachnennung erlaubt □ der Besetzung der Richterstellen des Verwaltungsgerichts □ der Ernennung der Landeshauptmann-Stellvertreter □ der Besetzung der 6er-Kommission □ anderes............................................... 5.10 Soll, wie oft gefordert, bei der Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung eine neue, vierte Kategorie für „Gemischtsprachige“ geschaffen werden? □ ja □ nein Abschnitt 6 Verhältnis Staat-Land und Absicherung der Autonomiereformen □ ja □ ja □ ja □ ja □ nein □ nein □ nein □ nein 5.5 Um sich an Wahlen für den Landtag und die Gemeinden in Südtirol beteiligen zu können, ist eine 4-jährige, ununterbrochene Ansässigkeit in einer der Gemeinden Südtirols rechtliche Voraussetzung. Soll die für das aktive Wahlrecht auf Landesebene geltende 4-jährige Ansässigkeitspflicht aufrecht bleiben? □ ja □ nein Falls nein: Soll die Ansässigkeitspflicht …............................? □ verlängert werden □ verkürzt werden □ überhaupt entfallen 5.6 Heute wird der ethnische Proporz vor allem für die Vergabe von Sozialwohnungen angewandt (ausführlich in: http://www.jugend.landtag-bz.org/de/downloads/). Soll der ethnische Proporz bei der Vergabe von Sozialleistungen, vor allem beim sozialen Wohnbau, abgeschafft werden? □ ja □ nein 5.7 Soll der ethnische Proporz bei der Besetzung der Stellen im öffentlichen Dienst stufenweise abgeschafft werden? □ ja □ nein □ Weiß nicht, weil nicht klar, welche Folgen die Abschaffung des Proporzes hätte. 5.8 Falls ja, was soll an die Stelle des ethnischen Proporzes bei der Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst treten? □ eine strengere Zweisprachigkeitspflicht (z.B. öffentliche Wettbewerbe in zwei Sprachen) □ die Voraussetzung bzw. Nachweis einer längeren Ansässigkeit in der Provinz Bozen □ nichts, keine Zusatzanforderung, nur mehr die fachliche Qualifikation soll entscheidend sein. 5.9 Die Anwendung der bestehenden Proporzregelungen erfordert die Abgabe einer Erklärung der Sprachgruppenzugehörigkeit jener Personen, die sich für öffentliche Stellen oder Sozialwohnungen in Südtirol bewerben. Die in Südtirol ansässigen ital. Staatsbürger bzw. 154 □ beibehalten werden wie heute □ ersatzlos gestrichen werden □ nur mehr anonym für statistische Zwecke erfolgen □ anderes........................................... ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ 5.4 Sind die drei Sprachgruppen, Ihrer Meinung nach, im Zugang zu den nachstehend angeführten Bereichen des öffentlichen Dienstes gleichberechtigt oder nicht? - bei den öff. Stellen auf lokaler Ebene (Region, Land, Bezirke und Gemeinden) - bei den Staatsstellen - bei den Gesellschaften und Betrieben mit öff. Mehrheitsbeteiligung - bei anderen öffentlichen Körperschaften EU-Bürger auch „einer der offiziellen Sprachgruppen zuordnen“. Diese Erklärung wird bei den Gerichtsämtern verwahrt. Soll die Erklärung betreffend der Sprachgruppenzugehörigkeit zukünftig 6.1 Heute werden Änderungen am Autonomiestatut ausschließlich vom Parlament nach Anhörung der Region und der Autonomen Provinzen Bozen und Trient beschlossen. Ohne Zustimmung des Regionalrats kann der Südtiroler Landtag keine Anträge zur Abänderung des Autonomiestatuts ans Parlament in Rom richten. Soll das Land die Möglichkeit erhalten, selbst dem Parlament Vorschläge für Änderungen des Autonomiestatuts vorzulegen? (Änderungen am Statut müssen bei der heutigen Regelung auf jeden Fall anschließend vom Parlament verabschiedet werden) □ ja □ nein 6.2 Italiens Regionen mit Normalstatut können ihr Statut selbst festlegen (=Statutshoheit). Wenn Regionalstatuten Verfassungsrang erhalten sollen, müssen sie in einem zweiten Schritt immer vom Parlament mit dem vorgesehenen Verfahren für Verfassungsänderungen verabschiedet werden. Auch wenn Südtirol sein Statut selbst abändern könnte, müsste diese Änderung in einem zweiten Schritt vom Parlament in Rom verabschiedet werden, um Verfassungsrang zu erhalten. Soll auch die Autonome Provinz Bozen (und damit auch die Autonome Region TrentinoSüdtirol sowie die Provinz Trient) eine derartige Statutshoheit erhalten? □ ja □ nein 6.3 Häufig kommt es zu Anfechtungen von Landesgesetzen durch die Regierung beim Verfassungsgerichtshof. Dies führt zu Mehrkosten und Verzögerungen in der Gesetzgebung. Soll in Südtirol eine Vorprüfungsstelle des Verfassungsgerichts entstehen, die vor der Verabschiedung von Landesgesetzen die Verfassungsmäßigkeit überprüft, um Anfechtungen vor dem Verfassungsgericht möglichst zu vermeiden? □ ja □ nein 6.4 Soll bei jeder Änderung des Autonomiestatuts durch das Parlament ein Vetorecht einer qualifizierten Mehrheit des Landtags (2/3 oder 4/5) vorgesehen werden? □ ja □ nein 6.5 Heute wird die Anwendung der Bestimmungen des Autonomiestatuts im Detail von einer 6-köpfigen Kommission geregelt, die zur Hälfte von der Regierung und zur Hälfte vom Landtag nominiert wird (6er-Kommission). Vorentscheidungen dazu fallen allerdings in den Parteispitzen. Es werden Zweifel an der Transparenz und demokratischen Legitimation dieser Kommissionen geäußert. Soll ein transparenteres und repräsentativeres Organ für die Ausarbeitung der Durchfüh- 155 rungsbestimmungen zum Statut geschaffen werden, als es die 6er-Kommission ist? □ ja □ nein ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ Abschnitt 7 Verhältnis zwischen Trentino und Südtirol (Zukunft der Region) 7.1 Soll die bestehende Region Trentino-Südtirol mit dem heutigen Ausmaß an Kompetenzen und Haushaltsumfang (rund 500 Mio. Euro) bestehen bleiben? □ ja □ nein 7.2 Wenn nein, soll die Region □ ersetzt werden durch eine neue, weniger aufwändige gemeinsame Institution □ abgeschafft werden und durch zwei getrennte autonome Regionen ersetzt werden □ die bisherigen Kompetenzen an die Provinzen abgeben, aber nur den Regionalrat als beratendes und verbindendes Organ der beiden Provinzen beibehalten (als Institution aufrecht bleiben) □ aufgewertet werden, also wieder mehr Geld und Befugnisse erhalten 7.3 Die Region Trentino-Südtirol hat laut Autonomiestatut (Art.4) noch folgende primäre Kompetenzen (abgesehen von der Ordnung der eigenen Ämter und des Personals): Ordnung der regionalen Körperschaften, Gemeindeordnung, Enteignung zu öff. Zwecken sofern nicht von Landes- oder Staatsinteresse, Grundbuch, Feuerwehr, Ordnung des Gesundheitswesens, Handelskammern, Genossenschaftswesen, Beiträge zu öff. Arbeiten (vgl. http://www.jugend.landtag-bz.org/de/downloads/). Welche von diesen Kompetenzen sollen auf die Autonomen Provinzen übergehen? Ordnung der regionalen Körperschaften Gemeindeordnung Enteignung zu öff. Zwecken sofern nicht von Landes- oder Staatsinteresse Grundbuch Feuerwehr Ordnung des Gesundheitswesens Handelskammern Genossenschaftswesen Beiträge für öffentliche Arbeiten □ ja □ ja □ ja □ ja □ ja □ ja □ ja □ ja □ ja □ nein □ nein □ nein □ nein □ nein □ nein □ nein □ nein □ nein 7.4 Falls die Region abgeschafft würde, wie sollen die Provinzen Bozen und Trient unabhängig von der Institution Region zusammenarbeiten? □ regelmäßig und institutionalisiert als freie autonome Nachbarregionen mit freiwillig gebildeten Koordinierungsorganen □ institutionalisiert, aber unter dem Dach der EUREGIO bzw. EVTZ als eigenständige Regionen □ nur fallweise und bezogen auf einzelne Aufgaben oder Politikfelder □ sonstiges........... ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Abschnitt 8 Demokratische Beteiligungsverfahren und Bürgerrechte 8.1 Die Bürger und Bürgerinnen (Wähler) Südtirols haben kein Recht auf direkte Mitsprache bei der Änderung des Autonomiestatuts. Sollen sie mehr Möglichkeit erhalten, direkt bei der Änderung des Autonomiestatuts mitreden und mitwirken zu können? □ ja □ nein 8.2 Derzeit haben die Bürger und Bürgerinnen (Wähler) in Südtirol kein Recht, zur Regierungsform (Wahlrecht, direkte Demokratie usw.) echte Volksinitiativen (=propositives Referendum) einzureichen (so die offizielle Auslegung des Art. 47,3, des Autonomiestatuts). Soll das Autonomiestatut so abgeändert werden, dass auch Regierungsformgesetze in Südtirol mit Volksinitiative abgeschafft, abgeändert oder eingeführt werden können? 156 □ ja □ nein 8.3 Soll der Südtiroler Landtag das Recht erhalten, Statutsänderungen mit qualifizierter Mehrheit (zwei Drittel oder drei Fünftel) direkt im Parlament in Rom zu beantragen? □ ja □ nein 8.4 Soll es durch eine Abänderung des Autonomiestatuts ermöglicht werden, in Südtirol eine demokratisch legitimierte „Statutgebende Versammlung“ einzusetzen, die ein neues Autonomiestatut ausarbeitet? □ ja □ nein 8.5 Wenn ja, soll diese „Statutgebende Versammlung“ vom Landtag nominiert werden oder direkt von den Bürgern gewählt werden? □ soll vom Landtag nominiert werden □ soll direkt gewählt werden □ anderer Modus. Welcher............ 8.6 Ein Initiativrecht bedeutet, dass eine Mindestzahl von Bürgern und Bürgerinnen das Recht erhalten, einen Vorschlag an den Landtag bzw. ans Parlament zu richten, über den im Fall der Ablehnung durch die Institution auch von den BürgerInnen abgestimmt werden muss. Sollen die in Südtirol ansässigen Bürger ein Initiativrecht zur Abänderung des Statuts erhalten? □ ja □ nein 8.7 Soll im zukünftigen Autonomiestatut auch die Möglichkeit einer Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit Südtirols unter bestimmten Bedingungen des Minderheiten-schutzes und unter Einhaltung demokratischer Verfahren enthalten sein? □ ja □ nein Abschnitt 9 Sozial- und Wirtschaftspolitik, Arbeitsmarkt und Migration 9.1 Laut Autonomiestatut gibt es bei der Arbeitsvermittlung einen Vorrang der Einheimischen (in Südtirol ansässigen Personen) gegenüber nicht ansässigen Personen (Art.10, Abs.3). Aus verschiedenen Gründen wurde auf dieser Regel in der Praxis nicht streng bestanden. Soll der Vorrang der Ansässigen auf dem Arbeitsmarkt künftig streng nach Gesetz gehandhabt werden? □ ja □ nein 9.2 Südtirol hat höhere Lebenshaltungskosten als andere Regionen. Ein erheblicher Teil der Arbeitnehmer erhält nur den kollektivvertraglichen Mindestlohn. Landeszusatzverträge gibt es bereits heute, werden aber nicht immer abgeschlossen. Soll das Land autonom Mindestlöhne bezogen auf einzelne Kategorien von Branchen und Arbeitnehmern einführen können? □ ja □ nein 9.3 Soll das Land eine verstärkte Zuständigkeit bei der Gestaltung der Integration ausländischer Zuwanderer erhalten? □ ja □ nein 9.4 Derzeit gibt es eine Zusatzrentenversicherung auf regionaler Ebene (Pensplan), nicht aber die Zuständigkeit zur Regelung der Pflichtsozialversicherung, die beim Staat liegt.. 157 Soll das Land auch bei der verpflichtenden Sozialversicherung (Rentenversicherung) zumindest die sekundäre Zuständigkeit erhalten und ein eigenes Landes-Rentenversicherungsinstitut aufbauen können? □ ja □ nein 9.5 Soll die Gewährung von Sozialleistungen des Landes an die Dauer der Ansässigkeit geknüpft werden? □ ja □ ja, aber nur wenn EU-konform □ nein ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ 10. Abschnitt – Sonstige Fragen zur Reform der Autonomie 10.1 In der Vergangenheit waren Bestimmungen der Landesgesetzgebung und der Durchführungsbestimmungen mehrfach Gegenstand von Konflikten mit dem EU-Recht. Welchen Schutz soll die Autonome Provinz Bozen gegenüber Eingriffen durch das EURecht erhalten? □ Aufgrund seiner völkerrechtlichen Absicherung soll das Südtiroler Autonomiestatut gleichrangig mit den EU-Verträgen beachtet werden müssen. □ Italien soll zwecks Gewährleistung der Autonomie gegenüber der EU Ausnahmeregelungen für Südtirol erwirken können □ Es braucht keinen besonderen Schutz Südtiroler Interessen gegenüber der EU 10.2 Soll Südtirol nach dem Muster anderer Regionen innerhalb der EU (Färöer-Inseln, Åland-Inseln) Ausnahmeregelungen bei bestimmten Bereichen von EU-Bestimmungen fordern? (z.B. bei der Subventionierung der Berglandwirtschaft, bei der Bemautung von Straßen und Autobahnen, beim Umwelt- und Naturschutz)? □ ja □ nein 10.3 Soll Südtirol mehr Kompetenzen in der Regelung und Beschränkung des Zweitwohnungsbaus erhalten? □ ja □ nein 10.4 Soll Südtirol mehr Freiheit in der in der Gestaltung internationaler Beziehungen erhalten? Mehrfachnennung erlaubt □ Ja, durch den Ausbau der EUREGIO □ Ja, einschließlich des Rechts mit anderen Staaten und Regionen Abkommen zu schließen □ Ja, aber nur die grenzüberschreitende Zusammenarbeit soll autonom geregelt werden können können □ Nein, Südtirol soll keine Kompetenzen für internat. Beziehungen erhalten 10.5 Braucht es zum Schutz der deutschen und ladinischen Minderheit in Südtirol im Statut zusätzliche Regelungen? □ ja □ nein Wenn ja, welche?.............................................................................................................. 10.6 Braucht es spezielle Regelungen im Statut, um die Interessen der Landeshauptstadt zu wahren? □ ja □ nein Wir danken Ihnen für Ihre Geduld und Mitarbeit! __________________________________________________________________________ 158 Bibliografie Lukas Bonell/Ivo Winkler (Autonome Provinz Bozen), Südtirols Autonomie, 10. Auflage, Jänner 2010. Auch auf: http://www.jugend.landtag-bz.org/de/downloads/ Autonome Provinz Bozen, Das neue Autonomiestatut, auf: http://www.provinz.bz.it Marcantoni Mauro (2013), Trentino e Sudtirolo - L‘autonomia della convivenza, 2013 Baratter, Lorenzo (2011), L‘autonomia spiegata ai miei figli, Trento Marcantoni/Postal/Toniatti (2011), Quarant‘anni di autonomia 1971-2001, Franco Angeli, Milano Antonio Lampis (2009), Autonomia e convivenza in Alto Adige, Istituto Pedagogico 2009, Bolzano Caterina Dominici (2014), L‘autonomia in Trentino - Percorso storico, legislativo, culturale e risvolti attuali dell‘autonomia, Ed. Osiride, Rovereto Günther Pallaver, Demokratie, Partizipation und Kommunikation als Voraussetzung für eine ungeteilte Autonomie, in: Jahrbuch des ital.-deutschen historischen Instituts in Trient, XXXII, Il Mulino Bologna, S.303-322 Francesco Palermo, Regione, Province e forse nuova Regione?, in POLITIKA 12, Jahrbuch für Politik, RAETIA, Bozen 2013, S.183-197 Peterlini, Oskar (2010), L’autonomia che cambia, Gli effetti della riforma costituzionale del 2001 sull’autonomia speciale del Trentino Alto Adige Südtirol e le nuove competenze in base alla clausola di maggior favore, Casa editrice Praxis 3 Bolzano, S. 97-164. Peterlini, Oskar, (2012): Südtirols Autonomie und die Verfassungsreformen Italiens, Vom Zentralstaat zu föderalen Ansätzen: die Auswirkungen und ungeschriebenen Änderungen im Südtiroler Autonomiestatut, New Academic Press (ex Braumüller) Wien, S. 357-363 Peterlini, Oskar (1996), Autonomie und Minderheitenschutz in Trentino-Südtirol, Überblick über Geschichte, Recht und Politik, Autonome Region Trentino-Südtirol, Trient/Bozen Jens Woelk, Francesco Palermo, Joseph Marko (ed., 2008)), Tolerance through Law, Self-Governance and Group Rights in South Tyrol, Martinus Nijahoff, Leiden/Boston Marko/Ortino/Palermo/Voltmer/Woelk (2005), Die Verfassung der Südtiroler Autonomie, EURAC, NOMOS Verlag Esther Happacher/Walter Obwexer (Hg.) (2013), 40 Jahre Autonomiestatut, Südtirols Sonderautonomie im Kontext der europäischen Integration, FACULTAS, Wien Esther Happacher/Roland Riz (2013), Grundzüge des italienischen Verfassungsrechts unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Aspekte der Südtiroler Autonomie, studia Universitätsverlag, Innsbruck Prof. Massimo Carli, dott. Gianfranco Postal, Prof. Roberto Toniatti (PROVINCIA AUTONOMA DI TRENTO), Proposte per l‘approfondimento di possibili linee guida per il terzo Statuto di Autonomia, Trient, Juni 2013 EURAC, Observatory on autonomy: http://www.eurac.edu Senato della Repubblica, XVII Legislatura, Disegno di Legge cost. N.32, d‘iniziativa dei senatori Zeller e Berger, „Modifiche allo statuto speciale per il Trentino-Alto Adige/Südtirol per l‘attribuzione dell‘autonomia integrale alle prov. autonome di Trento e Bolzano, 15-3-2013 Schullian, Alfreider, Gebhard, Plangger e Marguerettaz, Verf.Gesetzentwurf Nr. 107/2013 „Modifiche agli statuti delle regioni ad autonomia speciale, concernenti la procedura per la modificazione degli statuti medesimi“, eingebracht in der Kammer am 15.3.2013. Benedikter, Thomas (2012), Moderne Autonomiesysteme - Eine Einführung in die Territorialautonomien der Welt, Bozen 2012; auf: http://www.gfbv.at/publikationen/weiterepublikationen/Autonomiesysteme_Benedikter_2012.pdf Benedikter, Thomas (2010): Wie könnte die Südtirol Autonomie ausgebaut werden?, in: Matscher, F./ Pernthaler, P./ Raffeiner, A. (Hg.): Ein Leben für Recht und Gerechtigkeit, FS für Hans Richard Klecatsky zum 90.Geburtstag, Neuer Wissenschaftlicher Verlag Wien, S. 78-86. 159 Das Südtiroler Bildungszentrum: ein bürgerschaftliches Projekt. Das Südtiroler Bildungszentrum (SBZ) ist im Jahr 1971 von einer Gruppe aufgeklärter, beherzter Frauen und Männer gegründet worden und damit Ausdruck aktiver Bürgerschaft. Vornehmliches Ziel des SBZ war die Behebung des damaligen Bildungsnotstands durch die Aus- und Weiterbildung von Lehrern sowie von Fachpersonal in verschiedenen Bereichen: Werkstudentenkurse vor allem für Lehrer, Lehrgänge im nicht-ärztlichen Bereich, Ausbildung von Fachärzten, Vorbereitungskurse für Gemeindesekretäre und Rechtsanwaltsanwärter usw. Immer wurde man dort aktiv, wo die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung entsprechende Initiativen verlangte. Dies galt und gilt insbesondere auch im kulturellen Bereich, wo sich das SBZ vor allem für die Errichtung des Museums für moderne und zeitgenössische Kunst, für die Pflege des gehobenen Liedgutes und Förderung der entsprechenden Künstlerinnen und Künstler (Eppaner Liedsommer) und für die Gartenkultur einsetzte und einsetzt. Viele Vorhaben konnten abgeschlossen werden und einige Projekte wurden von der öffentlichen Hand übernommen und weiterentwickelt (z.B. die Fachhochschule für Gesundheitsberufe). Weiterhin tätig ist das Forum für Rechtsvergleichung mit einer Vielzahl an Forschungs- und Lehrtätigkeiten in den Bereichen Internationales Recht, italienisches Steuerrecht, Europarecht, Rechtsvergleichung und Minderheitenrecht. So hat 2012 das SBZ eine hochkarätig besetzte Tagung auf Schloss Prösels zum Thema „Europäische Finanzarchitektur“ veranstaltet. Im heurigen Jahr wird in Zusammenarbeit mit dem neuen Landeshauptmann am 4. und 5. Juli eine Tagung zum Thema „Regionen in EUropa – EUropa der Regionen“ mit einem wissenschaftlichen und einem kulturpolitischen Teil organisiert. Im Frühjahr 2012 wurde das Netzwerk für Partizipation als wichtiger Bereich beim Südtiroler Bildungszentrum angesiedelt. Ziel des Netzwerks ist die Stärkung der Partizipation der Bürgerinnen und Bürger auf allen Ebenen und Bereichen und ihre konkrete Anwendung in Verbindung mit ähnlichen Initiativen im Lande und im gesamten europäischen Raum. 2013/2014 werden im Rahmen des Netzwerks für Partizipation zwei Forschungsprojekte durchgeführt: „Partizipation in ländlichen Gemeinden“ und „Mit mehr Demokratie zu einer vollständigeren Südtirol-Autonomie“. Das SBZ und das Netzwerk für Partizipation haben dem Landeshauptmann darüber hinaus ihre Mitarbeit in Abstimmung mit verschiedenen anderen Gruppen der Zivilgesellschaft bei der Planung und Durchführung des „Landeskonvents zur Reform der Autonomie“ angeboten. Ein starkes bürgerschaftliches Engagement ist mehr denn je notwendig. POLITiS (Politische Bildung und Studien in Südtirol) Eine lebendige Demokratie braucht kritisch denkende, fürs Gemeinwohl engagierte BürgerInnen, die mitreden und mitgestalten wollen. Auch deshalb der griechische Name politis=Bürger für diesen neuen Bildungs- und Forschungsträger. Mitwirken kann man besser, wenn man gemeinschaftlich das nötige Hintergrundwissen erstellen und reflektieren kann. Die Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen schafft Entscheidungskompetenz und befähigt zu qualifiziertem politischem Engagement. Dafür kann POLITiS als freie bürgerschaftliche Organisation wichtige Hilfestellung bieten. POLITiS ist eine unabhängige, dem Gemeinwohl verpflichtete Organisation, die vor allem nicht dominanten Gruppen unserer Gesellschaft Hilfestellung bieten soll. Sie will das bestehende Angebot an politischer Bildung ergänzen und BürgerInnen eine Anlaufstelle bieten für: • Forschung zu aktuellen, die Südtiroler Gesellschaft betreffenden Fragen auf sozial-, wirtschaftsund politikwissenschaftlichem Gebiet. • Forschungsaufträge für Dritte, eigene Forschungsprojekte und Publikationen; • eine breite Palette von Tätigkeiten politischer Bildung für verschiedene Zielgruppen, Politikberatung für Bürgerinitiativen. Die Rechtsform der Sozialgenossenschaft entspricht dem Grundanliegen von POLITiS, der Förderung von Mitbestimmung, Gleichberechtigung und demokratischer Beteiligung. www.politis.it 160