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Antonia Rados: Vielschichtiges Afghanistan

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Liberale Errungenschaft: Frauenschule in Faizabad im Nordosten Afghanistans im Juni 2001. Joel Robine/afp
Liberale Errungenschaft: Frauenschule in Faizabad im Nordosten Afghanistans im Juni 2001. © AFP

Fernsehreporterin Antonia Rados ist immer wieder an den Hindukusch gereist. Sie beschreibt die Umwälzungen in dem geschundenen Land - und ihren Arbeitsalltag. Ein Buchauszug.

Am 7. Oktober 2001 beginnt der Afghanistan-Krieg. Zuvor wurden die Verhandlungen mit den Taliban über die Auslieferung von Osama bin Laden abgebrochen. Die USA haben Artikel 5 des Nato-Vertrags, den sogenannten Bündnisfall, herangezogen, der im Falle eines Angriffes auf ein Mitglied alle übrigen zu den Waffen ruft. Zugleich soll Afghanistan in einen demokratischen Staat umgewandelt werden. Dazu wird im November 2001 eine UN-Konferenz in Petersberg bei Bonn anberaumt. Hier stehen unter anderem Frauenrechte im Mittelpunkt.

Mit der Taschenlampe in der Hand suche ich den Boden der verwahrlosten Villa, in der früher Gotteskrieger aus Pakistan gehaust haben, nach Glassplittern ab. Im Wohnzimmer daneben legt sich mein Kameramann bereits in seinen Schlafsack, und unser Fahrer wickelt sich in seine Decken. Ich darf dort nicht hin. Der magere Greis, der das Haus bewacht, besteht selbst in Zeiten des Umbruchs und der Unsicherheit auf Geschlechtertrennung. Dabei haben um uns herum waffenstrotzende, verwahrloste tadschikische Kämpfer die Nachbarhäuser von ehemaligen Taliban-Unterkünften besetzt, die sicher eine größere Gefahr für meine Sicherheit darstellen könnten als mein Kameramann. Den Alten kümmert das wenig, er hat mir sogar den einsichtigen Eingangsbereich der Villa zugewiesen, wo die Fensterscheiben zerborsten sind und der Boden mit unzähligen Glassplittern gespickt ist, die ich nun zu vermeiden versuche. Wenn der Mann wüsste, was wir hinter uns haben, wäre er sicher gnädiger gewesen.

Parallelen zu heute: Straßenszene in Kabul vor gut 20 Jahren. Imago Images
Parallelen zu heute: Straßenszene in Kabul vor gut 20 Jahren. © imago/photothek

Auf dem Wege von Pakistan nach Kabul blieb unser Wagen ausgerechnet kurz vor Sarobi liegen, wo am Vortag vier westliche Reporter, drei Männer und eine Frau, ermordet wurden. Wahrscheinlich von sich zurückziehenden Taliban. Wir sind mitten im muslimischen Fastenmonat Ramadan, und angeblich hatten die Ausländer, ohne Rücksicht dafür zu zeigen, geraucht. Ob das jedoch der eigentliche Grund für ihren Tod war, wird nie herausgefunden. Die Leichen, von zahlreichen Schusswunden durchsiebt, wurden neben einem VW-Bus auf einer Anhöhe nahe Sarobi von den Dorfbewohnern entdeckt. Wir wurden zum Glück von einem zufällig vorbeifahrenden Taxi aufgesammelt und sicher nach Kabul gebracht. Der Fahrer des Taxis vermittelte uns sogar an seinen Verwandten, den Wächter der Villa, den wir mit einem stattlichen Trinkgeld leicht überreden, uns aufzunehmen.

Ende November 2001 werden die Taliban aus Kabul vertrieben

Wir planen, für eine Nacht hier zu schlafen und uns dann eine permanentere Unterkunft zu suchen. Das Viertel ist zumindest in Ordnung. Es befindet sich abseits der Hauptstraßen, wo man sich weniger beobachtet fühlt. Es dämmert bereits, als wir unser Gepäck ins Innere des Hauses schleppen. Schließlich gebe ich die Suche nach den Glassplittern auf, lege mich in meinen Schlafsack auf den kalten Boden und schlafe sofort ein.

Zu diesem Zeitpunkt, Ende November 2001, werden die Taliban aus Kabul gerade vertrieben und ziehen sich in die ländlichen Paschtunengebiete in Ost- und Südafghanistan zurück. Widerstand leisten sie kaum. Dies wäre angesichts der amerikanischen Übermacht auch Selbstmord, denn die US-Luftwaffe bombardiert seit vier Wochen unaufhörlich Stellungen der Taliban. Sobald deren Front im Norden zusammenbricht, stößt die proamerikanische Nordallianz aus Tadschiken und Usbeken vor. Dabei kommt es zu Massakern, doch die USA und Europa verschließen die Augen davor. Nun beherrschen diese Milizen die Hauptstadt – inklusive des gefürchteten Generals Abdul Raschid Dostum, dem man unzählige Gewalttaten zur Last legt. Der tadschikische General Mohammed Fahim will sich Kabul ebenfalls nicht entgehen lassen, daher sind seine Männer bereits in den Häusern rund um unsere verfallene Villa einquartiert.

Dostum und Fahim haben früher beide gegen die Sowjets gekämpft. Damals nannte man sie Freiheitskämpfer, im Laufe des Bürgerkriegs werden sie zu Kommandanten. Milizen haben in Afghanistan eine lange Geschichte. Einst gab es Schlägertrupps in den Diensten von Landbesitzern, um störrische Bauern zu disziplinieren, die die Pflichtanteile an ihre Herren nicht begleichen wollten. Afghanistan war feudalistisch aufgestellt, und einige Landbesitzer scherten sich wenig um ihre Bauern. Dank einem historisch schwachen Regenten und sehr wenigen staatlichen Institutionen konnten sie ihre Interessen umso leichter durchsetzen, denn ihre Milizen sorgten dort für Ordnung, wo es sonst keiner tat.

Die Taliban sorgten erst für Ordnung, entwickelten dann aber ein Eigenleben

Die Taliban stehen ebenfalls in dieser Tradition. Ursprünglich wurden sie in den 1990er-Jahren von südafghanischen Transportunternehmern angeheuert, um die Transitstraßen nach Pakistan von Banditen freizuhalten, damit die Geschäfte wieder besser liefen. Dies funktionierte besser als erwartet. Danach entwickelten die Taliban ein Eigenleben.

Morgenerwachen. Wir haben eine Reihe von Sorgen. Die erste, einen Übersetzer zu finden, bin ich überraschend schnell los. Junge, hoffnungsvolle Afghanen tummeln sich um das Hotel Intercontinental, das am nächsten Morgen unser erstes Ziel ist. Ich heuere einen jungen Mann namens Latif an, der uns sehr nachdrücklich seine Dienste anbietet. Er friert sehr, sein Gesicht ist von der Kälte gerötet. Er bemüht sich, uns alle Wünsche von den Lippen abzulesen, was ihm meistens gelingt. Allerdings schafft er es nicht, uns im Intercontinental Zimmer zu besorgen. Zu viele Reporter, NGO-Vertreterinnen und Kommandanten sind vor uns aufgetaucht und wachen eifersüchtig über ihre Quartiere. Das Hotel Intercontinental ist besonders gefragt, weil es über Stromgeneratoren und eine stabile Wasserversorgung verfügt. Im Rest der Stadt sind solche grundlegenden Ressourcen Mangelware.

Zur Person

Antonia Rados , 1953 in Klagenfurt geboren, begann ihre Karriere als Fernsehjournalistin beim Österreichischen Rundfunk. Später arbeitete sie unter anderem für WDR, ZDF und lange Jahre für den Privatsender RTL. Auch als FR-Kolumnistin war Rados, die mehrfach für ihre Berichterstattung ausgezeichnet wurde, im Einsatz. Afghanistan bereiste sie immer wieder - über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren hinweg.

Wir müssen also eine weitere Nacht in der trostlosen Villa mit dem Moralwächter verbringen, bis Latif uns einige Zimmer in einem Gebäude in unmittelbarer Nähe zum Intercontinental vermittelt, die wir anmieten. Ich habe einen Auftrag für eine ausführliche Reportage über Frauen in Afghanistan, aber wo soll ich anfangen in diesen Zeiten? Die Frauen von Kabul scheinen wie vom Erdboden verschluckt.

Wir fahren durch Distrikte der Hauptstadt, die aussehen, als wären sie nur noch von Geistern bevölkert. Aber angeblich werden geflüchtete Afghanen bald in Scharen zurückkehren. Noch sind wir scheinbar fast die Einzigen, die sich auf die Straße trauen. Das Gerücht geht um, die Taliban würden sich in verlassenen Gebäuden verstecken und eine Rückeroberung planen, daher müsse man vorsichtig sein. Doch auf unserer Fahrt ist davon nichts zu spüren – die wenigen Taliban, die wir in der Stadt noch entdecken, sitzen bei den neu eröffneten Friseuren von Kabul und lassen sich ihre Bärte abschneiden. Neue Zeiten erfordern eben andere Bartmoden – und wer in Afghanistan alt werden will, musste schon immer ein Überlebenskünstler sein.

Reporterin Rados mit Arbeitsausstattung – hier 2006 im Kongo. M. Gambarini/dpa
Reporterin Rados mit Arbeitsausstattung – hier 2006 im Kongo. © dpa

Die Versorgungslage in der Stadt ist schlecht. Wir finden selbst unter beträchtlichem Aufwand keinen Generator, die Duschen in unserer Unterkunft funktionieren nicht, wärmere Schlafsäcke für die kalten Nächte sind nicht aufzutreiben. An den Ufern des Kabul-Flusses breiten zumindest geschäftstüchtige Händler Kleidung aus, und wir finden auf einem Karren voller gebrauchter Trainingsanzüge einen warmen Second-Hand-Anorak für Latif. Die Züge des jungen Afghanen hellen sich sofort auf und seine roten Wangen werden rund und glänzend, als wir ihm das Geschenk überreichen.

Weil in Kabul nichts voranging, musste ich die Stadt zwischendurch verlassen

Der Hunger lässt sich aber nicht so leicht stillen. Wir leben von Konserven und Brot. Außerdem hat unser Fahrer Probleme, Benzin aufzutreiben – stundenlang versucht er sein Glück auf dem Schwarzmarkt. Noch verzweifelter suche ich allerdings Frauen, mit denen ich für meine Reportage sprechen kann. Die Tage vergehen erfolglos. Nachdem ich zwischendurch die Stadt verlassen musste, weil in Kabul einfach nichts voranging, sieht es zwei Wochen später schon ganz anders aus. Latif hat uns eine neue Bleibe organisiert, bei der zumindest ein Generator auf der verschneiten Terrasse steht. Wir stellen einige günstig erworbene Möbel in die leeren Zimmer, deponieren einen Gaskocher in einem Seitenraum und wärmen uns nachts mit bunten Steppdecken aus Zentralasien. Da es kein heißes Wasser gibt, bitten wir den Besitzer, einen Holzofen zu installieren, dessen Rohr durch ein Loch in der Decke geht. Morgens kommen wir so in den Genuss einer warmen Katzenwäsche – ein wahrer Luxus. Mit neuem Mut nehme ich gemeinsam mit Latif die Suche nach Gesprächspartnerinnen wieder auf.

Das Thema „Frauen in Afghanistan“ beschäftigt die westliche Öffentlichkeit derzeit mehr als Hunger und Elend im Land, aber eine Reportage dazu zu filmen, ist keine einfache Aufgabe. Einige Afghaninnen, die Latif findet, lehnen ab. So gerne sich die afghanischen Männer filmen lassen, so kamerascheu sind die Frauen. Die wenigsten wollen sich zeigen. (…)

Mit Beginn des Afghanistan-Kriegs durch die Amerikaner rücken nun die Afghaninnen in den Fokus. Der amerikanische Präsident George W. Bush setzt sich verbal für sie ein, seine Frau Laura Bush genauso, und auch zahlreiche Frauengruppen erheben ihre Stimmen. Dazu wirft die Autorin Asne Seierstad einen intimen Blick in das Privatleben eines Buchhändlers in Kabul, um daraus einen Weltbestseller zu formen. Der Buchhändler aus Kabul erzählt nach Erinnerungen der Autorin von einem mürrischen Buchhändler, der gegenüber seiner Frau verlogen und brutal handelt. Seierstad bestätigt damit die westliche Welt in ihrer Ansicht, dass die Taliban und vermutlich ohnehin alle Afghanen Frauenfeinde wären, gegen die vorgegangen werden musste. Der Krieg der Amerikaner bekommt so neben der Rache für die verübten Anschläge eine zusätzliche Rechtfertigungsdimension.

Westliche Frauen werden in der muslimischen Welt bedauert

Die andere Seite hat genauso ihre Vorurteile parat. Westliche Frauen werden in der muslimischen Welt bedauert, weil viele davon überzeugt sind, sie würden zur Arbeit gezwungen werden. Es ist die Vorstellung verbreitet, sie würden ein Leben in Unsicherheit führen, niemand kümmere sich um sie. Frauen werden als schutzbedürftig angesehen, und eine wie ich, die ohne Ehemann herumreist, wird als gesellschaftliches Waisenkind betrachtet. Der Zustand der afghanischen Frauen wird dagegen von vielen als begehrenswert dargestellt. Diese Frauen müssten sich um nichts sorgen, Frieden und Sicherheit sei ihnen garantiert. Im Schutz des eigenen Zuhauses sei man vor allen Gefahren sicherer als auf der Straße. Man braucht als westliche Frau eine gute Portion Geduld, um sich all das in aller Ruhe anzuhören.

Eines Morgens finden wir endlich eine muslimische Frau, die sich bereit erklärt mit mir zu sprechen. Entgegen allen Befreiungswünschen des Westens braucht sie keine Hilfe. Ihr Ehemann schreibt ihr nicht vor, wo es langgeht, sondern sitzt als ehemaliger Beamter eines Ministeriums arbeitslos in der gemeinsamen Zweizimmerwohnung im Viertel Makrayon. Daher wird er erst gar nicht um Erlaubnis gefragt. Die Frau hingegen schreitet jeden Morgen mit einem Kopftuch locker auf den Haaren aus dem Haus, um in einer der ersten wiedereröffneten Mädchenschulen nahe beim Flughafen zu unterrichten. Dort hat Latif sie gefunden, und dort möchte ich nun mit ihr reden.

Antonia Rados: Afghanistan von innen. Wie der Frieden verspielt wurde.
Antonia Rados: Afghanistan von innen. Wie der Frieden verspielt wurde. © Brandstätter

In den schlecht ausgestatteten Klassenräumen – Stühle und Tafeln, sonst nichts – drängen sich erstaunlich fröhliche Mädchen. Viele sind in den Taliban-Jahren in Privatwohnungen von Lehrerinnen weiter unterrichtet worden und freuen sich nun, wieder in einer richtigen Schule zu sein. Die Lehrerin spricht nur gebrochen Englisch, aber ihr Russisch ist umso besser. Das weist darauf hin, dass sie vermutlich zur ehemaligen KP-Elite gehörte. Sie erzählt, dass sie ihre Ausbildung in Moskau erhalten habe. Junge Mädchen zu unterrichten entspräche ihren kommunistischen Idealen, die sie mit anderen wenigen Frauenrechtlerinnen in Kabul nicht nur teilt, sondern durchsetzen will.

Afghanistan ist ein vielfach gespaltenes Land

Ihre feministische Grundhaltung macht sie aber noch lange nicht zu einer pro-westlichen Frau. Zwischen den Zeilen drückt sie stets eine große Skepsis aus – vor allem gegenüber den Amerikanern, die sie für alles Schlechte verantwortlich macht. Nun seien sie auch noch in Afghanistan eingefallen, wo sie doch die Islamisten eigenhändig groß gemacht hätten. Und wer dachte an Frauenrechte, als die USA die sogenannten Freiheitskämpfer ins Weiße Haus einluden? Wusste der US-Präsident nicht, dass seine damaligen Helden stockkonservativ waren? Genau diese Gotteskrieger hätten den Kopftuchzwang eingeführt, als sie 1992 Kabul eroberten! Ohne die Amerikaner gäbe es das alles nicht. Die Sowjetunion würde noch bestehen, und Afghaninnen könnten ihre Köpfe stolz hochhalten. Die Taliban haben ihrer Meinung nach die Macht an sich gerissen, weil der Westen geflissentlich wegsah. Das afghanische Volk wurde verraten und vergessen. Die anderen Lehrerinnen in der Schule denken ähnlich. Energievoll organisieren sie in dem Lehrerinnenzimmer den Lehrplan. Sie brauchen dafür keine Hilfe, wollen nicht von den Amerikanern abhängig sein. Aber wenn der Westen nun plötzlich Frauenrechte wichtig findet, umso besser. Eine ganze Reihe von Kabuler Feministinnen denken so.

Afghanistan ist inzwischen jedoch ein vielfach gespaltenes Land – Kommunisten, Islamisten, Kriegsgewinner und Kriegsverlierer, dazu Nostalgiker wie die Taliban. Dazu kommt eine explodierende Demografie, denn inzwischen ist die Hälfte der afghanischen Bevölkerung unter 18 Jahre alt. Latif hat beispielsweise noch sechs Brüder und Schwestern. Er ist der Älteste. Für ihn sind die Kommunistinnen, mit denen wir sprechen, Relikte der Vergangenheit. Er kann mit ihnen nichts anfangen. Mein tragbares Satellitentelefon sowie mein Kurzwellenradio sind dagegen für ihn unbeschreiblich anziehend. Wenn ihm die Amerikaner solche Wunderwerke bringen, umso besser. (Antonia Rados)

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