Sieg im wichtigsten Teilstaat Mexikos: López Obradors Morena-Bewegung stösst die ehemalige Einheitspartei PRI in die Bedeutungslosigkeit

Nach 94 Jahren verliert der einst ganz Mexiko dominierende Partido Revolucionario Institucional nun auch seine mächtigste Bastion, den Estado de México. Für die linke Morena-Bewegung sind die Aussichten für die Präsidentschaftswahl 2024 damit sehr gut.

Thomas Milz, Toluca 7 min
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Freude bei Morena: die Wahlsiegerin Delfina Gómez und Präsident Andrés Manuel López Obrador, der die Morena-Bewegung 2011 gründete.

Freude bei Morena: die Wahlsiegerin Delfina Gómez und Präsident Andrés Manuel López Obrador, der die Morena-Bewegung 2011 gründete.

Carlos Jasso / Reuters

Wie oft habe man gehört, der PRI sei im Estado de México nicht zu schlagen, fragt ein Vertreter von Morena die Menge. «¡Sí se pudo!», ruft diese zurück. Nach hundert Jahren sei der PRI besiegt, dank Präsident Andrés Manuel López Obrador und Delfina Gómez, die am späten Sonntag gegen 23 Uhr auf der Plaza de los Mártires im Zentrum von Toluca unter den Rufen «Gobernadora! Gobernadora!» vor ihre Anhänger tritt. Sie werde das in sie gesetzte Vertrauen nicht enttäuschen, verspricht die ehemalige Primarlehrerin. «Räum mit der Korruption auf!», ruft es aus der Menge.

Am 15. September wird Gómez in den Gouverneurspalast einziehen, neben dem sie in dieser Wahlnacht feiert. In der nahen Iglesia de la Santa Veracruz hatte der Priester in der Morgenmesse noch für friedliche Wahlen beten lassen. Er wurde erhört; der Wahltag verlief entgegen Befürchtungen ruhig, ein Beispiel für die Reife der mexikanischen Demokratie.

Verlust des Kronjuwels

Es ist ein historischer Moment: Nach 94 Jahren hat der PRI die Macht im Estado de México, kurz Edomex genannt, verloren. Gómez erreichte 52,7 Prozent, während die PRI-Kandidatin Alejandra del Moral, die ein Wahlbündnis mit den Oppositionsparteien PAN und PRD anführte, auf 44,3 Prozent kam.

Für die 2011 von «Amlo», also López Obrador, gegründete und 2014 zu Wahlen zugelassene «Bewegung der nationalen Erneuerung» (Movimiento Regeneración Nacional, Morena) ist es der grösste Erfolg nach Amlos Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2018. Der Triumph im Edomex hatte sich in Umfragen angekündigt. Angesichts hoher Gewalt- und Armutsraten wollten zwei Drittel einen Wechsel. Der seit 1929 hier regierende PRI wurde für die grassierende Korruption verantwortlich gemacht.

Ein Wahlplakat für Delfina Gómez in einem Wohnquartier von Toluca.

Ein Wahlplakat für Delfina Gómez in einem Wohnquartier von Toluca.

Luis Antonio Rojas / Bloomberg

Bei den Wahlen 2017 hatte Gómez noch gegen den PRI-Kandidaten Alfredo del Mazo verloren. Damals wurde über Manipulationen, Stimmenkauf und Einschüchterungen durch den PRI berichtet. 47 Prozent der Wähler waren den Urnen ferngeblieben. So hatte Morena dieses Mal eigene Beobachter auch an die Wahllokale in den Kleinstädten und Dörfern gebracht, wo es 2017 zu Manipulationen gekommen sein soll. Die Wahlbeteiligung lag dieses Mal bei knapp unter 50 Prozent.

Gómez, die unter Amlo das Bildungsministerium führte, war vor Jahren als Bürgermeisterin ihrer Heimatstadt Texcoco in einen Skandal um illegale Parteifinanzierung verwickelt. Öffentliche Angestellte hätten 10 Prozent ihrer Saläre an Morena abführen müssen. Verglichen mit den Skandalen, die der PRI und seiner Kandidatin Alejandra del Moral im Edomex anhaften, sind das Peanuts.

Millionenverträge mit Scheinfirmen

Tage vor der Wahl hatte der britische «Guardian» über manipulierte Verträge der PRI-Regierung berichtet. Rund 300 Millionen Dollar sollen an Scheinfirmen geflossen sein, die Kandidatin del Moral sei persönlich für einige der Verträge verantwortlich gewesen. Sie bestreitet das. Während der Recherchen war eine mexikanische Journalistin in Toluca kurzzeitig entführt und ihre Archive vernichtet worden. Sie führte die Recherche mithilfe des «Guardian» aus dem Ausland weiter.

Alejandra del Moral, die Wahlverliererin vom PRI, während ihrer Kampagne in Nezahualcóyotl, einem armen Vorort von Mexiko-Stadt.

Alejandra del Moral, die Wahlverliererin vom PRI, während ihrer Kampagne in Nezahualcóyotl, einem armen Vorort von Mexiko-Stadt.

Marco Ugarte / AP

Mexiko gilt als gefährlichstes Land für Journalisten weltweit, allein 2022 wurden 12 Journalisten ermordet, wie die Nichtregierungsorganisation Artículo 19 jüngst erklärte. So kommt der im Edomex lebende Investigativjournalist Francisco Cruz in Begleitung zum Gespräch im Zentrum von Mexiko-Stadt. Über die Geschäfte des PRI im Edomex hatte er 2009 das Buch «Negocios de familia» (Familien-Business) veröffentlicht, 2010 folgte «Tierra narca» über die dortige Verquickung von Politik und Drogenkartellen. Damals sei in sein Büro eingebrochen und Teile seines Archivs zerstört worden, erzählt er.

Der Edomex ist mit 18 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste Teilstaat und für über 9 Prozent des Bruttoinlandprodukts verantwortlich. Nach dem Bundesdistrikt Mexiko-Stadt ist er der wirtschaftsstärkste Teilstaat. 12,6 Millionen Wahlberechtigte leben hier, hauptsächlich im Grossraum des Valle de México rund um die Hauptstadt.

Der Weg von Mexiko-Stadt in das eine Stunde westlich liegende Toluca führt an zahlreichen Industrieparks vorbei. Die ökonomische Stärke des Edomex sei für den PRI stets von zentraler Bedeutung gewesen, da die dortigen schwarzen Kassen die Partei landesweit finanzierten, so Cruz. Um das Kronjuwel Edomex nicht zu verlieren, sei ein weites Patronagenetz gespannt worden, zu dem die 300 000 öffentlichen Bediensteten gehören, von denen Parteitreue gefordert wird, genauso wie von den Teilnehmern am Sozialprogramm «Salario rosa». Zudem würden Lebensmittel oder Haushaltsgeräte verteilt und Sympathisanten von Morena bis zu 4000 Peso geboten, um der Wahl fernzubleiben, wie Cruz in der eigenen Nachbarschaft erlebte.

Der PRI regierte Mexiko über 70 Jahre

Als Partido Nacional Revolucionario hatten sich 1929 Regionalparteien mit Mitte-links-Ausrichtung zusammengeschlossen. Später wurde dieser in Partido Revolucionario Institucional (PRI) umbenannt und stellte bis in die 1980er Jahre hinein sämtliche Gouverneure und bis 2000 alle Präsidenten. Dem Namen «Partei der institutionalisierten Revolution» Ehre machend, hatte er die Institutionen des Staates unterwandert und kooptiert. So wurde der PRI zur Einheitspartei; wer in die Politik wollte, kam an ihm nicht vorbei. Auch Amlo begann dort seine Karriere.

Ab den 1990er Jahren wurde der PRI jedoch zusehends für Armut, Korruption und Kriminalität verantwortlich gemacht. So konnten mit Vicente Fox (2000 bis 2006) und Felipe Calderón (2006 bis 2012) Kandidaten des rechtsliberalen PAN die Präsidentschaft erringen, bevor der PRI mit Enrique Peña Nieto (2012 bis 2018) überraschend in den Präsidentenpalast zurückkehrte.

Der mythische Grupo Atlacomulco dominiert den Edomex

Die starke Stellung der PRI im Edomex erklären die besonders engen Netzwerke, die dort über Jahrzehnte gespannt wurden. Verantwortlich dafür soll der Grupo Atlacomulco sein, ein Zusammenschluss mächtiger Eliten aus der gleichnamigen Stadt im Norden des Teilstaates. Für ihre Kritiker ist die Gruppe der Inbegriff der inzestuösen Beziehung zwischen Politik und Wirtschaft. So feierte Morena am Wahlabend lautstark den Sieg über die Gruppe.

Obwohl deren mutmassliche Mitglieder stets die Existenz der Gruppe bestritten, hat sie in Mexiko quasi mythischen Status. Das liege unter anderem an einer Prophezeiung aus den 1940er Jahren, wonach aus der Kleinstadt sechs Gouverneure und ein Präsident hervorgehen würden, erklärt Cruz.

Die selbst für PRI-Verhältnisse einmalige Stärke der Gruppe beruhte auf drei Säulen: der katholischen Kirche, mächtigen Unternehmern und von der Partei kontrollierten Gewerkschaften. Geld wurde als politisches Schmiermittel angesehen. Der bekannteste Vertreter der Gruppe war der Unternehmer Carlos Hank González, Gouverneur des Edomex von 1969 bis 1975, der das Herrschaftsprinzip einst auf den Punkt brachte: «Un político pobre es un pobre político», ein armer Politiker sei ein schlechter Politiker.

Enrique Peña Nieto, der Vorgänger von López Obrador im Präsidentenamt, stammt aus Atlacomulco.

Enrique Peña Nieto, der Vorgänger von López Obrador im Präsidentenamt, stammt aus Atlacomulco.

Tomas Bravo / Reuters

Während der PRI landesweit ab der Jahrtausendwende an Macht verlor, wuchs der Einfluss der Gruppe. So war die Wahl des in Atlacomulco geborenen Ex-Gouverneurs Enrique Peña Nieto 2012 zum Staatspräsidenten ihr grösster Triumph. Und die Erfüllung der alten Prophezeiung. Mit Alejandra del Morals Niederlage endet nun die Herrschaft des PRI im Edomex. Die 39-Jährige stammt aus dem engen Umfeld Peña Nietos, der ungestört von gegen ihn in Mexiko laufenden Korruptionsermittlungen in Spanien lebt.

Zwar prangert Präsident López Obrador stets die mutmassliche Korruption seiner Vorgänger an. Den von seiner Morena besiegten PRI-Gouverneuren gibt er jedoch gerne einen Botschafterposten zum Abschied. Auch mit dem abtretenden Alfredo del Mazo, einem Cousin Peña Nietos, versteht sich Amlo gut.

Wird Morena zum neuen PRI?

Der PRI stürzt hingegen in die politische Bedeutungslosigkeit. Er regiert nur noch rund 3,7 Millionen Mexikaner in den Teilstaaten Durango und Coahuila. Im letzteren gelang ihm am Sonntag immerhin ein Erfolg. Die mit dem Untergang der PRI heimatlos werdenden Kräfte werden sich dem in fünf Teilstaaten regierende PAN oder direkt Morena anschliessen. Die Bewegung regiert nun in 22 der 32 Teilstaaten über zwei Drittel aller Mexikaner. Das gibt ihr beste Voraussetzungen für die nationalen Wahlen im Juni 2024, wie Umfragen zeigen.

Morena habe die vom PRI verlorenen Räume besetzt und eine landesweite Dominanz der Wählerschaft erreicht, erklärt der Politologe Rogelio Hernández Rodríguez von der Universität Colegio de México. Allerdings fehle Morena die institutionelle Struktur, die den PRI einst ausgemacht habe. Auf Linie könne die innerlich zersplitterte Bewegung nur durch Machtworte ihres Gründers Amlo gebracht werden. So wird der nun anstehende Führungskampf im Hinblick auf die nationalen Wahlen von 2024 Morena heftig durchschütteln.

Laut Verfassung darf López Obrador nach Ablauf seiner sechsjährigen Amtszeit nicht wieder kandidieren. Trotz allen Beteuerungen, sich komplett aus der Politik zurückzuziehen, wird er die Geschicke von Morena weiter mitbestimmen wollen. In den nächsten Tagen soll geklärt werden, nach welchem Verfahren die Kandidatin oder der Kandidat von Morena für die Präsidentschaftswahl ausgewählt wird. Dieser Prozess soll bis Oktober abgeschlossen sein und verspricht spannender zu werden als die Wahl selbst. Er wird auch zeigen, ob die Bewegung sich langfristig zu einer vollwertigen, von ihrem Gründer unabhängigen Partei entwickeln kann.

Machtkampf innerhalb von Morena

Als Amlos Wunschkandidatin gilt die Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum, die Umfragen zum internen Kandidatenrennen sowie zur Präsidentschaft vor Aussenminister Marcelo Ebrard klar anführt. Beide nutzen seit Monaten ihre Ämter, um landesweit auf sich aufmerksam zu machen. Auch in Toluca mischten sich die Plakate mit ihrem Konterfei unter die lokale Wahlwerbung.

Claudia Sheinbaum, die Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt und Vertreterin von Morena, hat zurzeit die besten Aussichten, die nächste Präsidentin Mexikos zu werden.

Claudia Sheinbaum, die Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt und Vertreterin von Morena, hat zurzeit die besten Aussichten, die nächste Präsidentin Mexikos zu werden.

Raquel Cunha / Reuters

Besonders die Personalie Ebrard birgt Sprengkraft für Morena. Genau wie Amlo begann er seine Karriere im PRI, bevor er in mehreren Oppositionsgruppierungen aktiv war und 2018 schliesslich zu Morena stiess. In seinem jüngst veröffentlichten Buch beschreibt Ebrard, wie er Amlo sowohl im Jahr 2000 im Rennen um das Bürgermeisteramt von Mexiko-Stadt als auch bei der Präsidentschaftswahl 2012 den Vortritt als Kandidat der Opposition liess, als beide dem linksgerichteten PRD angehörten. Wieder nachgeben will Ebrard nun offenbar nicht.

Bei einer internen Niederlage gegen Sheinbaum könnte er als Präsidentschaftskandidat der Mitte-links-Partei Movimiento Ciudadano antreten, der er bereits von 2015 bis 2018 angehörte, spekulieren Beobachter. Diese will 2024 gegen Morena antreten. Mit Ebrard als starkem Kandidaten könnte sie die Unterstützung der desolaten und bisher ohne überzeugende Kandidaten dastehenden Oppositionsparteien PRI, PAN und PRD gewinnen. In diesem Fall würde Morena eine ernsthafte Konkurrenz aus den eigenen Reihen erwachsen.

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