Die Gewerkschaften bewegen sich nicht in der Europafrage. Nun wollen SP-Kreise sie mit einem neuen Vorschlag zum Lohnschutz zum Einlenken bringen.
Tut sich da gerade etwas? Nähern sich die Schweiz und die EU einander an? In Bundesbern herrscht erstmals seit langem so etwas wie Optimismus. Der Bundesrat habe endlich begriffen, dass er rasch eine Lösung mit der EU finden müsse, heisst es aus der Wirtschaft – und die EU sei zu Zugeständnissen bereit.
Das Resultat nach den bisherigen sechs Gesprächsrunden zwischen Bern und Brüssel sei «mehrheitlich positiv», sagen die Arbeitgeber. Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU: Sie scheinen zum ersten Mal seit dem Scheitern des Rahmenabkommens in Sichtweite.
Eine einflussreiche Gruppe stellt sich jedoch weiterhin quer: die Gewerkschaften. An ihrer Spitze: Pierre-Yves Maillard, der einflussreiche Chef des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) und Nationalrat der SP. Maillard rücke keinen Millimeter von seinen Forderungen ab, heisst es hinter den Kulissen. Die Gewerkschaften wollen mit allen Mitteln verhindern, dass der Schweizer Lohnschutz bei einer Übernahme von EU-Recht geschwächt wird.
Doch nun geraten die Gewerkschaften unter Druck. Und zwar nicht wie üblich von rechts, sondern von links. Markus Notter, der frühere Zürcher SP-Regierungsrat und heutige Präsident des Europa-Instituts der Universität Zürich, legt einen Vorschlag vor, der die Gewerkschaften zwingt, Position zu beziehen. Die Absicht ist klar: Die Gewerkschaften sollen endlich benennen, unter welchen Bedingungen sie bereit wären, ihren Widerstand aufzugeben.
Notter schlägt Folgendes vor: Die Schweiz soll ihren Lohnschutz ausbauen – und zwar mit Massnahmen, die auch in der EU existieren. Der Lohnschutz sei inzwischen auch ein explizites Ziel der EU, sagt Notter. «Das heutige EU-Recht bietet vielfältige Möglichkeiten, die zum Teil erheblich über den Schweizer Rechtsrahmen hinausgehen. Wir sollten diese nutzen.» Brüssel könnte dies auch dann nicht beanstanden, wenn sich die Schweiz zu einer dynamischen Übernahme von EU-Recht verpflichten würde.
Seine Ideen hat Notter mit den früheren Spitzenbeamten Hans Werder, Walter Steinmann und Hermann Engler zu Papier gebracht. Alle gehören der SP an. Sie fordern:
Kurz: Notter überholt die Gewerkschaften links. «Ihr Widerstand gegen jegliche Änderung des Status quo macht nur Sinn, wenn unser Lohnschutz tatsächlich immer noch so viel besser wäre wie jener in der EU», sagt er. «Das ist aber nicht mehr der Fall.» Seine Vorschläge zeigten, dass es Wege gäbe, den Lohnschutz zu verbessern – und in den institutionellen Fragen trotzdem auf die EU zuzugehen.
Für die Gewerkschaften sind die vorgeschlagenen Massnahmen auf den ersten Blick verlockend. «Vorschläge zum besseren Schutz von Arbeitnehmenden begrüsst der SGB grundsätzlich», sagt Präsident Maillard. Und der Chef von Travailsuisse Adrian Wüthrich hält die Vorschläge für «interessant und löblich».
Dann folgen jedoch zwei Einwände: Erstens seien Mindestlöhne und eine höhere GAV-Abdeckung nicht mehrheitsfähig. «Da gibt es grossen Widerstand aus der Wirtschaft», sagt Maillard. Zweitens löse der Vorschlag das institutionelle Problem nicht. «Wenn Sie Mindestlöhne einführen, müssen Sie auch kontrollieren können, ob sich die Firmen daran halten», sagt Wüthrich.
«Doch unsere Kontrollinstrumente sind eben gerade nicht garantiert, wenn der Europäische Gerichtshof das letzte Wort hat.» Wüthrich verweist auf 24 Verfahren, welche die EU-Kommission mehrheitlich wegen zu strikter Lohnschutz-Massnahmen gegen EU-Länder führt.
Kritik an Notters Vorschlägen kommt auch von den Arbeitgebern. Sie wehren sich generell gegen Eingriffe in die Wirtschaftsfreiheit – wozu Mindestlöhne zählen. Andy Müller vom Arbeitgeberverband betont, dass sich die Sozialpartner grundsätzlich einig seien: Das Schweizer Lohnschutzniveau müsse gehalten werden. Dies sei auch mit EU-konformen Massnahmen möglich. «Wir appellieren erneut an die Gewerkschaften, Diskussionsbereitschaft bei den Lohnschutz-Massnahmen zu zeigen.»
Die Arbeitgeber drücken dazu aufs Tempo. «Es ist zu hoffen, dass die noch offenen Punkte rasch geklärt werden können», sagt Müller. Dann könnte der Bundesrat allenfalls bereits im Frühling 2023 ein Verhandlungsmandat verabschieden.
NZZ am Sonntag, Schweiz